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Was bleibt

Kurz vorab: Ich tue in Zeiten der Corona-Krise nicht so, als würde ich hier weitermachen wie bisher – ich mache tatsächlich weiter wie bisher. Denn wann hat man mehr Gelegenheit zu lesen, als jetzt, während dieser verflixten Pandemie, die hier auch nur einmal namentlich erwähnt werden soll. Also, los geht’s …

Plötzlich weiß ich es: Solange ich Noa hasse, wird Mama nicht sterben.«
Leas beste Freundin Noa hat das ausgesprochen, was Lea schon lange verdrängt und nicht zu denken wagt: Dass Leas Mutter den Kampf gegen den Krebs verlieren und sterben wird.
Deshalb versucht die Neunjährige das grausame Schicksal ebenso grausam auszutricksen, indem sie Noa, schneidet, ignoriert, wegschubst, beschimpft, mobbt, aus ihrem Leben verbannt. Das ist irrational – aber absolut verständlich.
Wie der drohende Tod Seele und Herz eines Mädchens mit Hass und Schmerz erfüllen – und dann doch ein stärkeres Gefühl sie tröstet und rettet, erzählt die schwedische Autorin Moni Nilsson absolut ergreifend und brillant mit So viel Liebe.

Wie ist es, wenn da nichts und niemand ist?

Man kennt den Kampf eines jungen Mädchens gegen ihre Krebserkrankung aus John Greens mal todtraurigem, mal todkomischem Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Hier blickt die Heldin dem eigenen Tod ins Auge.
Aber wie ist es für Kinder, wenn ein Elternteil stirbt? Wenn da ein großes Nichts ist, wo jemand war, der tröstet, beschützt, Halt gibt, bedingungslos liebt, auf den man sich verlassen kann – der eigentlich immer da sein sollte, solange man noch Kind ist?

Herz kaputt, Hirn zerreißt

Schon für Erwachsene ist es nicht leicht, mit dem Tod geliebter Menschen umzugehen, selbst darüber nur nachzudenken scheuen die meisten. Moni Nilsson beschreibt ungeheuer eindringlich, was diese Angst, die kein Kind erleiden sollte, mit Kindern macht.
»Es ist unbegreiflich.
In einem Monat gibt es Mama nicht mehr.
In einem Monat ist sie tot.
In einem Monat kann sie nicht mehr abwaschen.
Nicht einmal weinen. Oder ihre Lieblingsband hören.
Das ist unbegreiflich.
Es geht einfach nicht.
Mein Gehirn zerreißt.
Mein Herz ist schon kaputt.«
Lea versucht, das Undenkbare nicht zu denken. Aber das geht natürlich nicht. Eigentlich kennt sie ihre Mutter nur krank: »Alle anderen Mamas arbeiten. Meine Mama ist fast immer zu Hause, schon seit ich in die erste Klasse gekommen bin. Sie sagt, ihre Arbeit ist es, gesund zu werden. Und mich rund um die Uhr lieb zu haben.«

Prügeln ist auch keine Lösung

Lea ist extrem wütend auf das Schicksal, das manchmal tatsächlich ein richtig mieser Verräter zu sein scheint. Sie ist wütend über die schreiende Ungerechtigkeit, dass alle anderen gesunde Mütter haben. Und sie ist wütend auf jeden, der Mitleid mit ihr hat und sie bedauernd ankuckt. Da schlägt sie sofort zu.
Jeden Tag verprügelt sie ein Kind auf dem Schulhof. Bis ihr großer Bruder eingreift: »Es ist Lucas, der mich von meiner Prügelkrankheit heilt. Er kommt in mein Zimmer, ohne anzuklopfen, packt mich und drückt mich auf den Boden. Hält mich fest. Sehr fest. Er ist schwer. Ich krieg kaum Luft. Lucas guckt mich fuchsteufelswild an. ›Du hörst verdammt noch mal damit auf, dich wie eine Idiotin zu benehmen, kapiert? Damit machst du es Mama und Papa nur noch schwerer. Du bist nicht die Einzige, die einem leidtun muss, falls du das glaubst.‹«

Brutaler Deal mit dem Schicksal

Lektion verstanden, Prügeln ist keine Lösung. Aber an ihrem brutalen Deal gegen den Tod hält Lea fest: »Ich darf nicht vergessen, Noa zu hassen.«
Die Niederländerin Marjolijn Hof hat von dieser verqueren Logik, die nicht nur Kinder verfolgen, um dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, in der fesselnden Erzählung Buch Tote Maus für Papas Leben erzählt.
Leas Angst ist noch konkreter, erlebt sie doch das langsame, qualvolle Sterben ihrer Mutter hautnah mit. Horrorfilme, die sie selbstverständlich nicht sehen darf, erscheinen ihr harmlos im Vergleich dazu. »Die Wirklichkeit, in der Eltern abends weinen und in der man nicht vergessen darf, seine beste Freundin zu hassen, die sollte für Kinder verboten werden.«

Kraft und Mut, sie sterben zu lassen

Patrick Ness hat in dem bereits verfilmten Sieben Minuten nach Mitternacht diese unerträgliche Wirklichkeit zu einem bizarren, schließlich befreienden Albraum werden lassen. Moni Nilsson bleibt realistisch und ganz nah an ihrer authentischen und sehr sympathischen Heldin.
Leas Mutter gelingt es schließlich zusammen mit dem ebenso traurigen Vater und Bruder Lea zu befreien von ihrer Wut, ihrer Verzweiflung, der Angst und Einsamkeit. Absolut überzeugend und glaubwürdig gibt sie ihrer Tocher das Vertrauen und auch den Mut und die Kraft, sie sterben zu lassen. Denn da ist nicht Nichts. Was bleibt, ist so viel Liebe.

Moni Nilsson: So viel Liebe, Übersetzung: Angelika Kutsch, Carlsen, 2020, 128 Seiten, ab 10, 12 Euro

Weil die Zeiten gerade ungewöhnlich sind, hier auch noch eine zusätzliche Leseempfehlung für junge Erwachsene:

In seinem Roman Die Pest beschreibt Albert Camus sehr eindringlich, was eine tödliche Infektionskrankheit macht mit einer menschlichen Gemeinschaft. Er erzählt, vor allem aus der Perspektive des Arztes Bernard Rieux, einfühlend vom Zwischenmenschlichen in einer isolierten Gemeinschaft. Vom Kampf dieses Arztes gegen die Schöpfung und seinen Weg zur Wahrheit. Vom Umgang mit der Ungewissheit, mit der Zeit, mit Sehnsucht, Angst, Schuld. Von Glauben, Moral, Werten und Überzeugungen. Und vom Tod.
»Was treibt Sie eigentlich, sich damit zu befassen?«
»Ich weiß nicht. Meine Moral vielleicht.«
»Und die wäre?«
»Mein Verständnis.«
Die Pest ist so voller kluger und letztlich erstaunlich optimistischer Gedanken (das unterscheidet den Philosophen und Nobelpreisträger Camus von seinem Kollegen Jean-Paul Sartre), dass man dieses Buch auf jeden Fall lesen sollte, am besten jetzt.

Albert Camus: Die Pest, Übersetzung: Uli Aumüller, Rowohlt, 12 Euro.

Diese ganze Energie stirbt nie

Long

Ein brüllendheißer Julitag. Ein Stau vor New York. Mittendrin eine Familie in einem Mini. Supersympathische Leute, Vater, Mutter, zwei Jungs, der jüngere, Griff Rhyss, hat Geburtstag, 13 Jahre ist er. Hayley Long erzählt aus der Sicht des zwei Jahren älteren Dylan Thomas. Nicht zufällig trägt der den Namen des berühmten walisischen Dichters: Ein Junge sparsam und behutsam ausgewählter Worte und ein faszinierender und pointierter Erzähler.
Die Familie lebt nach längeren Aufenthalten in London, München, Shanghai und Barcelona jetzt in New York und überlegt erstmals zu bleiben. Es sind waschechte Briten, sie sagen Motor- nicht Highway und die Mutter, eine Waliserin, tadelt Griff mit gespielter Empörung, als der stöhnt: »Ich schwitze mir den Arsch ab.«

Letzte Hoffnung Wales

Dann passiert ein schrecklicher Unfall. Zurück bleibt ein schwer traumatisierter, zutiefst verzweifelter und todtrauriger 13-Jähriger. Und Dylan Thomas, der sich an den nächstfernen Ort wünscht. Und doch alles versucht, um seinen jüngeren Bruder ins Leben zurückzuholen.
Weil die Familie eigentlich immer nur sich selbst hatte, landen die Brüder zunächst bei der einzigen Freundin in New York, Blessing Knowles, Arbeitgeberin der Eltern, die als Lehrer gearbeitet haben, und Schuldirektorin der Jungs, was an sich schon eine komische Situation ist. Auf der Suche nach Angehörigen landen die Brüder durch Vermittlung des britischen Konsulats schließlich bei der Cousine ihrer Mutter und deren Mann in Wales.
»Aberythwyth war unsere letzte Hoffnung«, sagt Dylan. Obwohl sich Blessing wirklich rührend gekümmert hat und Griff sogar überzeugen konnte, am »Tag des B-Wortes« mitzukommen, »ihr wisst schon Asche zu Asche und Staub zu Staub und so weiter«, der Tag, »an dem mein Hirn wie ein Panik-Tornado davonzuwirbeln droht«, bleibt Griff wie versteinert, ein totenstiller, dunkler Schatten seines früheren überschäumenden Ichs.

Eine Katze wie ein Früchtebrot

Nun also Aberythwyth in Wales, ein Kaff im Vergleich zum gigantischen New York, eingeklemmt zwischen schiefergrauen Bergen, unter einem meist grauen Himmel, am silbergrau schimmernden Meer. Mit einer Sprache, die man nicht versteht und Straßenschildern, deren Schriftzüge man nicht mal aussprechen kann. Bei einem kinderlosen, mittelaltem Paar, das so ganz anders ist als es die lebenslustigen, weltgewandten, viel jünger und wilder, auch verrückter und verliebter wirkenden Eltern es gewesen waren.
Griff erkennt zwar, wie freundlich und liebevoll bemüht Tante und Onkel sind. Aber in ihm drin ist nur Trauer und Verzweiflung, nichts und niemand kommt an ihn ran. Ein winziges bisschen können Tiere ihn trösten, erst Blessings Labrador Marlon, dann in Wales die schwarz und karamellfarbene Katze Bara Brith, benannt nach dem so aussehenden walisischen Früchtebrot, von dem Griff auch noch nie gehört hat.

Tod und Trauer, Leben und Liebe

Ist  Der nächstferne Ort die perfekte Ferienlektüre? Ja! Und zwar nicht, weil es im Juli auf einem kochend heißen Highway in New York beginnt und ein Jahr später, an Griffs 14. Geburtstag im mildem Wales endet. Sondern weil Dylan Thomas so hinreißend und fantastisch erzählt und uns mitnimmt zu ganz besonderen Momenten. Berührend erinnert er sich an Situationen, Orte und Menschen, seine Eltern und seine große Liebe Matilda aus München.
Es ist ein Buch über Verlust und Trauer – und doch voll von unfassbar viel Leben. Und von Liebe, die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die irre peinliche Liebe zwischen den Eltern (»ich und Dylan hätten fast gekotzt, weil unsere Eltern rumgeknutscht haben«), das erste Verlieben, die erste enttäuschte Liebe, die tröstende Liebe zu Tieren, die Kraft der Liebe: »Die Menschen, die man liebt, sind nie wirklich weg«, sagte Griff. »Diese ganze Energie muss schließlich irgendwohin.«

Beach Boys, Oasis und One Direction

Man lernt tolle, ganz unterschiedliche Menschen kennen. Auch Musik, die Magie, die von ihr ausgeht, spielt ein große Rolle: Nicht nur das titelgebende, kaum bekannte Instrumentalstück von den Beach Boys, The Nearest Faraway Place. Auch der kraftvolle, warme Souls Aretha Franklins, Brit-Pop von Oasis und Grunge von Nirwana begleiten die Geschichte. Sogar The Story of my Life der Boyband One Direction gehört dazu. Und ein bisschen Dylan Thomas, also der Originalschriftsteller und sein Poem Clown im Mond. Hayley Long motiviert einen nebenbei, ein paar Musikvideos zu gucken. Oder nach dem Gedicht zu suchen.
Man erfährt auch ein bisschen von anderen Städten und Ländern. Nicht zuletzt ist es eine Liebeserklärung an Hayley Longs Heimat, das spröde Wales und seine eigentümlichen und herzlichen Bewohner. Josefine Haubold übersetzt ganz im Sinne Dylan Thomas’, also des jüngeren Erzählers, warm, einfühlend, witzig und authentisch, jedes Wort treffend, keins überflüssig. »Ich sah, wie ihr Lächeln in sich zusammenfiel. Wie bei jemanden, dessen iPhone gerade in den Gully gefallen ist.«
Das ist nur ein Beispiel, Dylan beschreibt so eine hilflose Krankenschwester. Und »dann schaute eine Traumatherapeutin vorbei, die es tatsächlich fertigbrachte, dass wir uns noch traumatisierter fühlten.«
Leider ist dies auch das letzte Buch aus dem Verlag Königskinder. Was auch noch ein guter Grund ist, Hayley Longs Der nächstferne Ort  in diesen Sommerferien zu lesen und vielen davon zu erzählen.

Hayley Long: Der nächstferne Ort, Übersetzung: Josefine Haubold, Königskinder, 2018, 328 Seiten, ab 14, 19,99 Euro

Tempurasushi des Lebens

Tagame

In Japan sind gleichgeschlechtliche Ehen nicht möglich. Und so ist für Yaichi, Vater der etwa siebenjährigen Kana, die Heirat seines Bruders mit dem Kanadier Mike erst einmal so wie Tempurasushi, etwas das es in Japan nicht gibt – dafür aber in Kanada.
Als Mike, dieser riesige Bärentyp mit Vollbart, Undercut, Holzfällerhemd und haarigen Beinen, plötzlich vor Yaichis Haustür steht, weiß dieser nicht, wie er mit dem Fremden und der gesamten Situation eigentlich umgehen soll.
Mike hingegen will zunächst einmal nur die Heimat seines verstorbenen Mannes, Yaichis Zwillingsbruder, kennenlernen.

Welten prallen aufeinander

Und so treffen im Manga Der Mann meines Bruders von Gengoroh Tagame zwei Welten auf einander. Mike als Japan-Fan ist neugierig, will die Kindheitsorte seines Mannes besuchen, freut sich über Tatamimatten und Futons, liebt den Tee und eben Tempurasushi. Yaichi hingegen ist verwirrt, weil er nicht weiß, wie er sich Mike gegenüber verhalten soll. Er fürchtet, dass Mike ihn anmachen könnte, weil er seinem Zwillingsbruder so ähnlich sieht. Dieser Besuch bringt Hetero-Yaichi ziemlich aus dem Konzept und wirft sein wohlgeordnetes Leben ganz schön durcheinander.

Kindliche Offenheit

Doch da ist auch Kana, die mit mangtypischen großen Augen und riesigem Mund, eine Verbindung zwischen diesen beiden Männern aufbaut – und zwar durch ihre liebenswerte unverstellte Kindersicht. Sie wundert sich nicht darüber, dass Männer heiraten können, sondern dass das in einem Land wie Kanada erlaubt ist, in ihrer Heimat Japan aber nicht. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes keine Berührungsängste und krault mit Begeisterung Mikes dichtes Brusthaar. Und Tempurasushi hört sich für sie verlockend an. Jedenfalls empfängt Kana den Onkel aus Kanada – nicht allein wegen dieses Gleichklanges – mit offenen Armen.

Lernfähigkeit von Heteros

Kana wird mit ihrer entwaffnenden Neugierde zu einem Katalysator. Sie entlockt Mike immer mehr Einzelheiten über Yaichis Bruder, sodass dem Leser mehr und mehr klar wird, dass Yaichi seinen Zwilling gar nicht so gut gekannt hat, wie er wohl immer dachte. Ganz nebenbei entlockt Kana ihrem Onkel so einfache Erkenntnisse über die gleichgeschlechtliche Ehe (»Wer von euch beiden war eigentlich der Ehemann und wer die Ehefrau?« Antwort von Mike: »Wir waren beide Husbands«), die Yaichi dann doch über Rollen- und Geschlechterklischees grübeln lassen und letztendlich zum Umdenken bringen. Und damit auch skeptische Lesende – falls es sie für diese Geschichte geben sollte.

Homoerotik in den Panels

Denn neben diesem Aufeinandertreffen von Schwulem und Hetero und dem Abarbeiten der heterosexuellen Vorurteile gegenüber dem anderen, ist dieser Manga auch ganz klar ein Schwulen-Comic. In den Panels findet sich ganz offen eine schwule Blickführung, also wenn Tagame von den zwei Helden den gewölbten Schritt zeigt, Muskelberg Mike unter der Dusche oder Yaichis definierten Körper fast nackt präsentiert. Auch liegen die beiden irgendwann zusammen, wenn auch ungewollt, als Mike sturzbetrunken heimkommt und den Schwager für seinen Mann hält. Das alles hat eine homoerotische Konnotation, ist aber immer noch jugendfrei und nicht pornografisch.

Love is the answer

Tagame zeigt mit seiner Geschichte jedoch vielmehr, dass Zuneigung und Liebe größer sind als Geschlechter- oder Nationenzugehörigkeit. Sie sind universell und sollten so auch respektiert und gewürdigt werden – ganz gleich in welcher Konstellation Menschen zueinanderfinden. Für Japan ist dieser Manga mit Sicherheit ein Plädoyer auch für die gleichgeschlechtliche Ehe.

Was in diesem Auftaktband der Trilogie bis zum Schluss ungeklärt bleibt, ist das Schicksal von Kanas Mutter. Man sieht sie zwar auf einem Foto, erfährt jedoch nichts über sie. Was zu wilden Spekulationen Anlass gibt, denen gegen Ende auch Mike erliegt.
Tagame löst es für den Moment mit einem überraschenden Cliffhanger, der sofort die Neugierde auf Band zwei steigert. Bis dahin – Band 2 erscheint Ende April, Band 3 Ende Juli – sollten alle viel Tempurasushi essen, denn das ist lecker und gut gegen Vorurteile.

Gengoroh Tagame: Der Mann meines Bruders, Übersetzung: Sakura Ilgert, Carlsen Manga, 2019, 180 Seiten, ab 15, 10 Euro

Der Junge im schwarzen Anzug

„Aber das immer Gleiche war die Art, wie der Mensch, der dem Toten am nächsten stand, reagierte. Tag für Tag, Woche für Woche, Beerdigung für Beerdigung, suchte ich nach diesen Menschen und beobachtete, wie sie damit umgingen. Wie sie verzweifelt um Hilfe baten in einem Raum voller Menschen, die helfen wollten, aber nicht wussten wie. Weil sie nicht helfen konnten. Nichts hilft.“
Matt arbeitet in einem Beerdigungsinstitut und ist bei einer Menge Trauerfeiern dabei. Aber nicht ein perverses Vergnügen am Schmerz anderer treibt den Jungen in Jason Reynolds Roman Love oder meine schönsten Beerdigungen. Matthew Miller ist selbst voller Trauer und Schmerz, seit seine Mutter vor wenigen Monaten an Krebs gestorben ist.

Eigentlich hätte der 17-Jährige mit Schule, Pubertät, Zukunftspläneschmieden, Mädchen und altersentsprechendem Herzgebreche genug Probleme. Doch jetzt ist seine Mutter, zu der das Einzelkind eine liebevolle Beziehung hatte, tot. Und sein Vater ertränkt seinen Kummer (und die Sorgen wegen der Krankenhausrechnungen) in Alkohol und erleidet bald einen schweren Unfall. Allein in seinem Leid, hilft Matt „das bloße Wissen, dass wir alle mit derselben Sache zu kämpfen haben, und dass mein Leben nicht das einzige war, dem etwas fehlte, was es nie mehr zurückbekommen würde“.

Deshalb jobbt Matt anstatt in seinem Lieblingsimbiss beim benachbarten Bestatter. Und da er sich jetzt in der Schule sowieso wie ein Freak fühlt, weil bis auf seinen besten Freund es niemand schafft, normal mit ihm umzugehen, und weil es zum Job passt, beginnt er tagein tagaus seinen schwarzen Anzug zu tragen – wie eine Mischung aus Uniform des Schmerzes und schützender, weil abgrenzender Hülle. The Boy in the Black Suit heißt das Buch des US-amerikanischen Schriftstellers Reynolds im Original. Ein sehr viel passenderer Titel, wesentlich individueller und assoziationsreicher, als die gewollte Eindeutschung, eine Mischung im Stil von Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand und Die wunderbare Welt der Amelie. Über verkorkste Buch- und Filmtitel könnte man ein eigenes Stück schreiben.

Jason Reynolds hat eine furiose, tragikomische und berührende Geschichte über Trauer und den Verlust geliebter Menschen geschrieben, über den Schmerz und wie man damit umgehen und weiterleben kann. Matt erfährt, dass Leute, von denen er es nicht gedacht hat, harte Schicksalsschläge erlitten haben. Manche wirft es aus der Bahn, manche können ihren Kummer auf einen symbolischen Ort konzentrieren. Beerdigungen geraten auch mal mehr zur Komödie als zum Trauerspiel, bei anderen bricht Chaos aus.

Nach etwa der Hälfte taucht erst die so prominent gesetzte Love auf, ein charismatisches Mädchen mit diesem selbst für US-Verhältnisse ungewöhnlichen Vornamen. Die 17-Jährige hat selbst vor sieben Jahren ihre Mutter und jetzt auch ihre Großmutter verloren, geht aber ganz anders damit um als Matt. Die beiden nähern sich auf ungewöhnliche Weise an, eine reizvolle Liebesgeschichte beginnt.

Nicht zuletzt spielt New York, und Brooklyn im Speziellen, eine Rolle in diesem Roman. Dazu gehören auch schöne Betrachtung von Flora und Fauna, Straßenbäumen und Typen in der Stadt.

Klaus Fritz hat als Übersetzer einen guten Job gemacht: Die Sprache ist jugendlich, aber kein aufgesetzter Jargon, frisch und lebendig. Den verunglückten Titel hat wahrscheinlich der Verlag gedichtet. Loben möchte man Fritz für ein mittlerweile nicht selbstverständlich richtig übertragendes „Hat aber keinen Sinn“, anstatt des inflationär und dumpf benutzten „das macht Sinn“. Doch schon auf der nächsten Seite stolpert man über „Blumenbuketts“. Die sind zwar laut Duden richtig, lesen sich aber wie eimerweise („bucket“) Blumen. Was wurde aus dem französischem Lehnwort „Bouquet“?

Blumen, ihre morbide vergängliche Schönheit, und die Entdeckung einer besonders robusten Pflanze illlustrieren auch Matts Weg aus der vereinsamenden, totalen Trauer. Reynolds zweiter Jugendroman ist ein todkomisches, kluges und liebenswertes Buch.

Elke von Berkholz

Jason Reynolds: Love oder meine schönsten Beerdigungen, Übersetzung: Klaus Fritz, dtv Reihe Hanser 2017, 288 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Kinder brauchen Tiere

schomburgKinder und Tiere gehen in den (sozialen) Medien ja bekanntlich immer. In Kombination sind sie eigentlich unschlagbar.

Drei wunderbare Kinder-Tier-Geschichten haben mich in den vergangenen Wochen bezaubert. Etwas länger harrt hier schon Chamäleon Ottilie. Es scheint fast, als habe sich das Bilderbuch von Andrea Schomburg so unsichtbar gemacht, wie deren Hauptdarstellerin … Nein, im Ernst: Andrea Schomburg erzählt von Paul und Anna Sausebier aus Bonn. Die beiden Geschwister wünschen sich sehnlichst ein Tier, aber es ist wie so oft, die Eltern sagen Nein: Tiere machen Dreck und alles kaputt, sind zu groß oder zu gefährlich. Kennt man ja, diese Bedenken.

Dabei hat sich bei Familie Sausebier schon seit einiger Zeit ganz unbemerkt das Chamäleon Ottilie eingenistet. Durch seine Mimikri-Funktion verschmilzt es mal mit dem Sofakissen, mal mit dem Teddybären, der Tapete oder dem Mantel der Tante. Bis es eines Tages zur Katastrophe kommt und das Karo-Muster von der Bettwäsche nicht mehr weggeht. Anna und Paul entdecken Ottilie sofort… Na, wenn das mal gutgeht!

Nicht nur die Wahl des Chamäleons als Haupt- und Haustier ist außergewöhnlich und eine Herausforderung für die kleinen Leser, denn sie müssen das Tierchen auf jeder Seite erst einmal ausfindig machen, auch die Reime von Andrea Schomburg sind ein weiteres Mal so famos und leicht fließend, dass es eine Freude ist, sie laut vorzulesen. Fast möchte man nach Ende der Lektüre ein Chamäleon als Haustier anschaffen!

Ein ganz anderes Haustier wird hingegen in Jan Bircks Buch Zarah & Zottel zur Rettung für die junge Heldin.
Zarah ist mit ihrer Mutter in eine neue Wohnung gezogen. Unten im Hof, wo die Kinder spielen, kennt sie noch niemanden – und niemand will mit ihr spielen.
Zarah wünscht sich dringend einen Freund, doch der ist hier erst mal nicht zu finden. Sie träumt von einem Pferd, denn sie steht auf Indianer, doch ein Pferd passt leider nicht in eine Etagenwohnung – aber vielleicht ein Pony, wenn es klein genug ist.

Am nächsten Tag macht sich Zarah zum „Laden für alles“ auf, und der patente Verkäufer weiß Rat bzw. hat ein zotteliges vierbeiniges Tier für sie. Zarah steigt auf und reitet auf Zottel nach Hause. Dass Zottel Pfoten statt Hufe hat, an der Ampel das Bein zum Pinkeln hebt und die Kinder im Hof über Zottel lachen, stört sie nicht. Zottel passt in den Aufzug und in die Wohnung. Nur leider hat Mama kein Geld, um Zottel zu bezahlen. Doch auch dieses Problem lässt sich lösen …

Mit dem Zottelponyhund zeigt Jan Birck jungen Lesenden, dass es in einer Freundschaft ganz und gar unwichtig ist, was man ist oder wo man herkommt. Zusammenhalt über die Grenzen von Anatomie oder Gattung ist wichtiger, als die genauen Definitionen von Herkunft und Abstammung. So kann ein Hund durchaus auch als Pony durchgehen, und was die Hautfarben von Menschen angeht, so sind die nicht der Rede wert, wie es Jan Birck hier ganz selbstverständlich macht. Dass ich das hier extra erwähnen muss, zeigt allerdings, dass es immer noch nicht normal und eben nicht selbstverständlich ist, dass eine Bilderbuchheldin eine dunklere Hautfarbe hat als ihre Mama und die Kinder im Hof. Von solchen Heldinnen sollte es viel mehr geben, so dass die Diversität unserer Gesellschaft in den Büchern tatsächlich ein Abbild findet.

So schön das Zusammenleben mit Tieren auch sein kann, irgendwann kommt unweigerlich der Tag, an dem die Hausgenossen sterben. Dann wird aus Freude plötzlich Trauer und man stolpert in die Trauerpfützen.

So erklärt es der Kinderarzt der kleinen Leni, deren Hund Frieda neulich gestorben ist, im Bilderbuch von Hannah-Marie Heine. Zuhause erinnert Leni vieles an Frieda, und schwupps laufen ihr schon wieder die Tränen aus den Augen und der Bauch zieht sich zusammen. Aber ganz schnell hopst Leni auch wieder aus der Trauerpfütze heraus, genießt ein Stück Zuckerkuchen von Oma und schaut in die Sterne. Von dort oben kuckt Frieda ihr vielleicht zu …

Einfühlsam zeigt Hannah-Marie Heine kleinen Tierfreundinnen, dass es ganz normal ist, dass man seinem vierbeinigen oder geflügelten Freund nachtrauert. Gefühlsschwankungen gehören zum Abschied dazu, aber nach der Trauer kommt auch die Freude wieder. Wenn man dann noch die Erinnerungen an das geliebte Tier in einen würdigen Rahmen kleidet, kann man sicher sein, dass es auch weiterhin bei einem ist.

Dass Verlust und Tod Teil unseres Lebens sind, erfahren Kinder hier durch ganz alltägliche Szenen – wunderbar lässig von Katharina Vöhringer gezeichnet –, und genau die können helfen, so schwierige Momente zu bewältigen, wenn die geliebten Tiere plötzlich nicht mehr da sind.

 

Andrea Schomburg: Neu in der Familie: Chamäleon Ottilie, Illustration: Barbara Scholz, Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jan Birck: Zarah & Zottel – Ein Pony auf vier Pfoten, Sauerländer, 2017, 64 Seiten, ab 5, 9,99 Euro

Hannah-Marie Heine: Leni und die Trauerpfützen, Illustration: Katharina Vöhringer, Kids in Balance, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

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Der kalte Hauch des sozialen Untergangs

410wW6LIryL„Doch sein Herz war im Schmerz gestorben, weil er es nicht geschafft hatte, Essen nach Hause zu bringen – und weil er dachte, seine Familie würde glauben, er hätte sie im Stich gelassen. Das stimmte nicht! Er hatte alles versucht, mit aller Kraft und all seinem Mut! Aber das wusste niemand. Und so blieb das Herz des Mannes aus Eis auch nach seinem Begräbnis im Gletscher gefangen.“

Mythisch-poetisch beschreibt die 15-jährige Erzählerin in Carla Maia de Almeidas Bruder Wolf, wie ihr Vater sich durch Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrise in Portugal vom heiß geliebten und bewunderten Familienoberhaupt „Schwarzer Elch“ in einen unnahbaren, innerlich toten Mann verwandelt. Mit mittlerweile 15 Jahren beginnt Bolota zu verstehen, was vor einigen Jahren mit ihrer Familie passiert ist und warum sich ihr Leben damals verändert hat. Und sie erinnert sich an eine letzte gemeinsame Fahrt mit ihrem Vater im Sommer, als sie acht Jahre alt war und ihr Vater für immer verschwunden ist.

Die portugiesische Schriftstellerin Carla Maia de Almeida gibt Bolota eine außergewöhnlich bildhafte Sprache. Das klingt nach indianischen Sagen und Überlieferungen: „Es war der Sommer der Großen Überquerung der Todeswüste. Oder einfach der Sommer der Großen Durchquerung.“ Mit diesen Assoziationen und Umschreibungen kann Bolota die Erinnerung an ein Trauma, an den großen Schmerz, der ihr als Achtjährige widerfahren ist, heraufbeschwören und erträglich machen.

Andere Metaphern und Umschreibungen stammen aus der Geographie: Da ist von tektonischen Platten die Rede, die sich unterirdisch, anfangs von der Familie noch unbemerkt, verschieben und zu immer größeren Beben und Erschütterungen führen, die schließlich alle, Vater, Mutter, drei Kinder, also Bolota sowie ihre ältere Schwester Miss Kitty und den erstgeborenen Bruder, das Fossil genannt, auseinanderreißen und zu einem Archipel vereinzelter Inseln werden lassen.

Ganz neu und ungeheuer eindringlich wird hier erzählt und von Claudia Stein sehr nachfühlbar übersetzt, wie der soziale Abstieg Menschen zerstört, Familien den Boden unter den Füßen wegzieht und auseinandertreibt, und die Gesellschaft verändert. Immer wieder muss Bolotas Familie in immer kleinere Wohnungen, immer weiter weg vom Meer ziehen, jedes Mal ganz schnell, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Ihr geliebter Husky ist eines Tages verschwunden, angeblich zu anderen Leuten mit Garten gebracht. Die Achtjährige schnappt auf, wie man über sie sagt, sie sei „zur falschen Zeit geboren“. Ihre älteren Geschwister erzählen von glücklichen Zeiten und gemeinsamen Restaurantbesuchen mit unbeschwerten und glücklichen Eltern.

Sie selbst hat kaum solche Erinnerung. Nur ein Foto zeigt, dass es schönere Zeiten gibt: Die ganze Familie an einem Tag am Strand, und alle haben mit Sonnencreme Streifen auf die Wangen gemalt, wie eine familieneigene Stammesbemalung. Diese fast traumhaften, auch albtraumhaften Erinnerungen sind auf blaues Papier gedruckt. Auf weißen Seiten steht die Erzählung von der „Großen Durchquerung“, jener weniger Tage mit Zwischenstopps bei Verwandten, als ihr Vater sich mit ihr zum familieneigenen Haus auf dem Land aufmacht, sie aber nur noch eine Ruine vorfinden und ihr Vater endgültig alle Hoffnung verliert und nie mehr zurückkommt.

Zu etwas Einzigartigem und Unvergleichlichem wird dieses Buch durch Jorge António Gonçavalves Illustrationen in Blau, Schwarz und Weiß. Sie wirken wie Bildausschnitte und Detailaufnahmen. Auch sie haben etwas Traumhaftes, so wie man sich manchmal beim Aufwachen wundert, warum man sich gerade an jene Szene so genau erinnert oder einem im Traum ausgerechnet dieser Moment so plastisch vor Augen gekommen ist. Und gleichzeitig seine Bedeutung versteht.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass Illustrationen in Jugendbüchern nichts verloren hätten, oder das Ganze gleich eine Graphic Novel sein soll. Dieses stimmige, ergreifende Gesamtkunstwerk aus bildhafter Sprache und vielsagenden Bildern beweist das Gegenteil. Als hätten der düstere Punkpoet Nick Cave und die explizit und gnadenlos ehrliche Künstlerin Tracey Emin gemeinsam ein Kinderbuch geschrieben.

Elke von Berkholz

Carla Maia de Almeida: Bruder Wolf, Übersetzung: Claudia Stein, Illustration: Jorge António Gonçalves, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 12, 14,99 Euro