Manchmal spielt einem das Leseleben merkwürdige Streiche. Diesmal aus der Abteilung: ein Thema, zwei Varianten. Automatisch fängt man zu vergleichen und kommt auf die unterschiedlichsten Gedanken.
Gerade habe ich zwei Bücher gelesen, in denen das Asperger Syndrom eine ausschlaggebende Rolle spielt. In de
m Kinderbuch Schwarz-weiß hat viele Farben von Kathryn Erskine, übersetzt von Ingrid Ickler, lebt die 10-jährige Caitlin mit Asperger. Sie muss den Tod ihres älteren Bruders Devon verarbeiten, der bei einem Amok-Lauf an der Highschool erschossen wurde. Trauer ist ihr fremd, Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen kann sie nicht deuten, Worte und Sätze nimmt sie wörtlich. Im Laufe des Buches lernt sie ganz langsam, was es heißt, emphatisch zu sein. Sie lernt, um ihren toten Bruder zu trauern.
Bei Das Rosie-Projekt von Graeme Simsion, übersetzt von Annette Hahn, hingegen sucht Professor Don Tillman eine Frau. Das fällt dem Akademiker nicht leicht, denn er hält sich für anders konfiguriert und bringt das überhaupt nicht mit dem Asperger Syndrom in Verbindung. Um das Verehelichungsprojekt effektiv voranzutreiben, entwickelt er einen Fragebogen für die potentielle Gattin, der jedoch nicht mit menschlich-chaotischem Verhalten kompatibel ist.
Sein Freund Gene schickt daraufhin Rosie zu Don, die so überhaupt nicht den Fragebogen-Parametern entspricht. Sie ist unpünktlich, Vegetarierin, raucht. Und sie sucht nach ihrem leiblichen Vater. Gen-Forscher Don ist abgestoßen und fasziniert zugleich und will ihr helfen, was jedoch durch sein mangelndes Einfühlungsvermögen und sein durchstrukturiertes Leben nicht ganz einfach wird.
Das Rosie-Projekt ist eine charmant-chaotische Lovestory, deren Witz sich aus dem Kontrast nährt, dass unser menschlicher Umgang, selbst im alltäglichen Leben von Empathie und Gefühlen geprägt ist, die Asperger-Menschen nicht lesen und entschlüsseln können. Asperger-Menschen können in Gesichtern und dem Mienenspiel ihrer Gesprächspartner keine Emotionen erkennen. Ebenso können sie mit Doppeldeutigkeiten von Sprache nichts anfangen. Im Rosie-Projekt hält der Australier Simsion diesen Kontrast perfekt bis zum Ende durch, mit jeder Menge Wendungen und Gimmicks. Das ist richtig gute Unterhaltungsliteratur, die man wie im Rausch verschlingt und auf deren Verfilmung man sich bereits freut. Gleichzeitig schließt man Don Tillman mit seiner Asperger-Art so ins Herz, dass man diese „andere Konfiguration“ vorbehaltlos akzeptiert.
Caitlin in Schwarz-weiß hat viele Farben der Amerikanerin Erskine hat es da schon schwerer. Sie weiß ganz genau, dass sie das Asperger-Syndrom hat. Und ihre Umwelt, vor allem die Mitschüler, lässt es sie immer wieder wissen. Da wird sie als „verrückt“ und „bekloppt“ bezeichnet. Niemand möchte mit ihr wirklich befreundet sein. Nur der jüngere Michael findet Caitlin ganz normal. Aber die beiden Kinder teilen das gleiche Schicksal: Sie haben ein Familienmitglied bei einem Amok-Lauf verloren. Das schweißt zusammen. Caitlin hat zudem noch Mrs. Brook, die Schulpsychologin. In Gesprächen versucht sie, Caitlin zu helfen und das Erlebte zu verarbeiten.
Die Parallelen dieser beiden Romane sind unübersehbar: Don und Caitlin leben beide mit dem Asperger-Syndrom, beide haben Ausnahmefähigkeiten (Don als Genetiker, Caitlin kann extrem gut zeichnen), beide haben Schwierigkeiten mit Gefühlen. Aber beide entwickeln sich in den Geschichten weiter. Beide bringen dem Leser Menschen mit Asperger näher. Und das ist toll. Sie zeigen, dass man auch ohne Asperger-Syndrom seine Mitmenschen genauer betrachten sollte, als man das gemeinhin so tut. Caitlin nennt das „dem-Menschen-ins-Gesicht-schauen“. Davon kann sich jeder Leser, egal wie alt er ist, eine Scheibe abschneiden.
Was bei diesen beiden Büchern natürlich sofort auffällt, ist, dass den jungen Lesern vom Schwarz-weiß hat viele Farben eine hammerharte Geschichte zugemutet wird. Zwar wird das Drama um den Amok-Lauf an einer Schule ein kleines bisschen abgemildert, da die Story aus Caitlins Perspektive erzählt wird. Dennoch ist es kein einfaches Kinderbuch, sondern eher ein All-Age-Titel mit Anspruch.
Weitere Schlussfolgerungen über die Themenbearbeitung muss jeder Leser selbst ziehen …
Graeme Simsion: Das Rosie–Projekt, Übersetzung: Annette Hahn, Fischer/Krüger, 7. Aufl. 2014, 352 Seiten, 18,99 Euro
Kathryn Erskine: Schwarz-Weiß hat viele Farben, Übersetzung: Ingrid Ickler, Knesebeck, 2014, 224 Seiten, ab 10, 14,95 Euro