[Gastrezension] Eine Frage der Identität

minhEs gibt einen tollen Cartoon des Zeichners Tom: Ein junger Schwarzer schlurft mit Skateboard unterm Arm und Baseballcap auf dem Kopf durchs Bild. Da schnauzt ihn ein dicker, alter Mann mit Lodenhütchen an: „Geh doch nach Hause!“ Gedankenblase über dem Skater: „Was soll ich in Dortmund?“

Genauso würde die 16-jährige Minh Thi, genannt Mini, die Heldin aus dem Roman Im Jahr des Affen, denken: „Was soll ich in Herford?“ Denn für die als Kleinkind aus Vietnam geflohene Chinesin ist die Stadt in Nordrhein-Westfalen längst ihr Zuhause. Sie spricht fließend und akzentfrei Deutsch. Sie denkt auf Deutsch. Mit ihrem Vater wechselt sie nur wenige, einfache Worte auf Chinesisch. Doch dann kommt ihr Onkel Wu zu Besuch und stellt vieles im Leben der Teenagerin in Frage. Dabei spielt die Sprache eine große Rolle im Zusammenprallen der Kulturen und Lebensweisen. Zum Beispiel begrüßen Chinesen sich mit dem Spruch: „Hast du schon gekochten Reis gegessen?“ Mini antwortet ihrem Vater: „Nein, ich habe noch keinen Reis gegessen – aber Kartoffeln.“ Das ist etwa so, als wenn man in Süddeutschland auf die Formel „Grüß Gott“ antwortet: „Mach ich, wenn ich ihn sehe.“ Nur mit dem Unterschied, dass die meisten Menschen am Weißwurstäquator ein bisschen beleidigt sind, wenn man sie beim Wort nimmt. Minis Vater dagegen lacht höflich, obwohl er den Witz seiner Tochter nicht versteht.

Klug beobachtend, mit leisem Humor und einem besonderem Gespür für vielsagende Situationen beginnt die 1974 im südvietnamesischen Saigon geborene und in Deutschland aufgewachsene Chinesin Que Du Luu ihr erstes Jugendbuch (nach zwei Erwachsenenromanen). Dabei hat sie zumindest bei mir von Anfang an leichtes Spiel, beschreibt sie doch im Jahr 1992, dem titelgebenden Jahr des Affen, eine Party, bei der Mini und ihre Freundinnen Sarah und Micha zu Hits wie Marc Almonds Tainted Love, I Just Can’t Get Enough von Depeche Mode und Balladen von Guns’n’Roses tanzen. Mini verliebt sich, ausgerechnet in Bela, für den doch Sarah aufs Melodramatischste schwärmt. Kurz darauf erleidet ihr Vater, überarbeitet von der Schufterei in seinem schlecht laufenden Restaurant einen Herzinfarkt, Mini findet ihn mitten in der Nacht auf der Straße, neben sich eine ausgekippte Schüssel mit extra für sie zubereitetem gebratenen Reis. Und dann kommt Onkel Wu, der in Australien lebt, aber nur Chinesisch sprechen will, und nennt sie eine Banane: Außen gelb, innen weiß.

Obwohl Mini es zu Recht absurd findet, Menschen als „gelb“ zu beschreiben, bringt der Vergleich es für sie doch auf den Punkt. Nach außen ist sie die Chinesin, sie fällt auf, weckt Erwartungen und Vorurteile bei den Leuten – unterscheidet sich aber in ihrem Fühlen und ihren Wünschen nicht von ihren deutschen Freundinnen.

Onkel Wu und die weitläufige Verwandtschaft in Australien dagegen pflegen und leben das Chinesische. Und während der ältere Bruder ihres Vaters an fast allem rummeckert, sich im Café laut palavernd Schnitzel zum Frühstück schmecken lässt und versucht, das Restaurant in Schwung zu bringen, erfährt Mini vieles über ihre Herkunft und ihr Geburtsland Vietnam, wo sich einst viele Chinesen angesiedelt hatten. Hier spielen Küchengötter, Wächterlöwen, Pfirsiche und das Vier-nicht-ähnlich-Tier wichtige Rollen.

Vor allem der störrische, auch nur auf Kantonesisch kommunizierende Koch Bao erzählt ihr, von Onkel Wu aus der Reserve gelockt, von der Flucht in einem wackeligen Motorboot über das Meer, von tagelanger Seekrankheit und der Angst zu kentern und wie sie gerade im vermeintlich sicheren Singapur angekommen, sofort abgewiesen und wieder aufs offene Meer geschleppt worden sind. Vom Auffanglager in Thailand, wo sie ein Jahr lang in provisorischen Hütten aus Planen gehaust hatten. Dramatische Bilder und Erlebnisse, wie sie momentan wieder so aktuell und allgegenwärtig sind.

Und Bao erzählt von einem dunklen Geheimnis, dass Minis Vater mit ihm verbindet.

An all das erinnert sich die Protagonistin genauso wenig wie an ihre nicht weiter erwähnte Mutter. Zum einen, weil sie gerade mal drei, vier Jahre alt war, als die Vietcong sie vertrieben. Zum anderen, weil ihr Vater sich hingebungsvoll um sie gekümmert, sie vor allem beschützt und alles für sie getan hat. Das wird ihr erst jetzt bewusst, nachdem sie sich immer für die mit gespendeten Möbeln ausgestattete Hochhauswohnung, das düstere Restaurant und mit chinesischen Delikatessen ruinierte Geburtstagspartys geschämt hatte. Und sie fragt sich, warum ihr Vater sich in einem ihm fremd gebliebenen Land, fern seiner Familie abmüht, ein Leben, das nur aus Arbeit und erschöpft nachts vor dem Fernseher einschlafen besteht, ohne einen einzigen Freund, einen Menschen, mit dem er reden kann.

In diesem Sommer Im Jahr des Affen ändert sich viel in Minis Leben. Que Du Luu erzählt von Flucht und Fremde, von zu Hause und Familie in einer ganz eigenen Sprache, die noch lange nachhallt und den Leser vieles mit anderen Augen sehen lässt.

Elke von Berkholz

Que Du Luu: Im Jahr des Affen, Königskinder, 2016, 288 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Lesend die Welt erforschen

köllerErstlesebücher finde ich ja ziemlich speziell und schwierig einzuschätzen. Das ändert sich vielleicht, wenn meine Nichte in zwei Jahren in die Schule kommt und ich dann mal aus der Nähe mitbekomme, wie heute das Lesen unterrichtet wird. Bis dahin muss ich mich auf mein eigenes Gespür verlassen. Es hat dieser Tage positiv reagiert, als mir die Reihe Leseforscher von Kathrin Köller in die Hände gefallen ist.

Köller hat diese Reihe  für die jüngsten Leser konzipiert und dabei Neugierde mit Lesetraining verbunden. Unterteilt in drei Lesestufen (A, B und C) richten sich die schmalen Sachbücher an Leseanfänger, geübtere und fortgeschrittenere Leser.

Frisch herausgekommen ist für die Anfänger gerade der Band Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, in dem der Fuchs Filu – der sich als kleiner Forscher duch alle Bände zieht – Ausflüge zu eben jenen Regionen der Welt und ans Meer unternimmt. Die naturwissenschaftlichen Infos zu den einzelnen Themen sind in kurzen Kapiteln kindgerecht verpackt. Filu unterhält sich mit einem Wüstenfuchs, einem Höhlenbewohner und allen möglichen anderen Tieren, wobei die Dialoge in Sprechblasen verpackt sind und fast wie ein Comic daherkommen. Einfache Sätze, lockere Umgangssprache und große Schrift machen das Lesen für Anfänger – oder Kinder, die nicht sehr geschickt darin sind – einfach. Für fremde Namen werden Aussprachehilfen geliefert (Grän Känjen). Die vermittelten Themen halten zudem kuriose Infos bereit, die man selbst als Erwachsener nicht unbedingt weiß.
Spielerisch lenkt Köller hier zudem den Blick auf den Naturschutz und entwickelt bei den kleinen Lesern ein Gespür für Umweltbewusstsein und Artenschutz.

köllerDie geübteren Leser können sich im Band Vollgas! über die Geschichte der Fortbewegungsmittel der Menschen informieren. Hier werden die Sprechblasen weniger, die Kapitel, Texte und die Sätze länger. Auch der Umfang des Buches wächst.

Inhaltlich können sich kleine Trecker-, Bagger- oder Rennfahrer schlau machen, wie der erste dampfgetriebene Wagen der Welt – ein Fünf-Tonnen-Monster – aussah, warum die Wuppertaler Schwebebahn eigentlich eine Hängebahn ist oder wie schnell die Wikinger-Schiffe waren.

Zu allen Bänden der Leseforscher hat die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ je ein Forscher-Experiment zum Nachmachen geliefert. So können in diesen beiden Ausgaben beispielsweise Tropfsteine oder ein Raketenantrieb nachgemacht werden.
Den Abschluss der Bücher bildet jeweils ein Quiz, in dem das Gelesene auf spielerische Art rekapituliert werden kann. Und am Ende des Leseabenteuers gibt es eine Urkunde für den echten Experten oder fleißigen Leseforscher.

Die Mischung aus den liebenswert-charmanten Illustrationen von Julia Dürr, Fotos und gut verständlichen Texten ist eine der Stärken dieser Reihe. Es gibt für die Leseanfänger viel zu schauen und zu entdecken – das Lesen passiert dann quasi von allein, wenn man verstehen will, wie beispielsweise eine Dampfmaschine funktioniert. Langeweile ist hier also nicht angesagt, Überforderung auch nicht, denn in diesen kleinen Büchern stecken Unmengen von Informationen, bei denen die Kinder nach der Lektüre bestimmt  öfter sagen: „Papa, weißt du …?“

Kathrin Köller: Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016, 48 Seiten, ab 6, 8,95 Euro

Kathrin Köller: Vollgas! Mit Rädern, Rudern und Motoren, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016,  56 Seiten, ab  7, 8,95 Euro

[Jugendrezension] Auch Zaubern will gelernt sein

magieKönnt ihr euch vorstellen, von eurem Vater zur Tante geschickt zu werden, um eine besondere Schule zu besuchen? Sicher nicht …

Doch genau so ergeht es Nory aus Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel von Sarah Mlynowski,  Emily Jenkins und Lauren Myracle. Eigentlich möchte Nory an die „Genie-Akademie“, eine Schule für besonders begabte Kinder, die magische Fähigkeiten haben und an der ihr Vater Schulleiter ist.
Doch bei ihrer Aufnahmeprüfung geht einiges schief. Statt sich in eine schwarze Katze zu verwandeln, wird sie zur „Dratze“, einer Mischung aus Drache und Katze, beißt ihrem Vater kräftig in die Hand und auch andere Aufgaben kann sie nicht wie gewünscht lösen…
Daraufhin muss Nory ihre Familie völlig überraschend verlassen, was sie aber erst erfährt, als ihre Tante im Wohnzimmer von Norys Familie auftaucht, um sie mitzunehmen. Nun soll sie eine Schule in der Nähe des Hauses ihrer Tante besuchen, genauer gesagt soll sie in eine Klasse gehen mit Kindern, die ihre magischen Fähigkeiten noch nicht vollständig unter Kontrolle haben.
Nory ist alles andere als begeistert, ist traurig und fühlt sich abgeschoben. Nur die Ferien kann sie noch mit ihrer Familie verbringen.

Was Nory nun alles in der neuen Schule erlebt, wen sie kennenlernt, ob sie neue Freunde findet und wie sich ihre magischen Fähigkeiten entwickeln, das kannst du in Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel selbst nachlesen. Ich kann dir versprechen, es ist sehr unterhaltsam, spannend und natürlich magisch.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich freue mich schon riesig auf die Veröffentlichung des nächsten Bandes!

Ich empfehle das Buch Jungen und Mädchen ab 8 Jahren, die sich für Magie und Freundschaft interessieren und die gern einmal in eine fremde Haut „schlüpfen“ würden.

Lese-Lotta (8)

Sarah Mlynowski/Emily Jenkins/Lauren Myracle: MurksMagie – Das verflixte Klassen-SchlamasselÜbersetzung: Katrin Segerer, Fischer KJB, 2016, 208 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Variationen eines Kunstwerks

kaefigIn dieser Woche fand die Kinderbuchmesse in Bologna statt, und ich war nach langen Jahren der Abwesenheit mal wieder vor Ort.
Es gab dort für mich nicht nur wunderbaren Input in Sachen neue Jugendbücher aus Italien, sondern ich hatte die zudem die Gelegenheit die beiden großartigen Macher von Der goldene Käfig persönlich kennenzulernen: die italienische Autorin Anna Castagnoli und den flämischen Illustrator Carll Cneut. Wir haben natürlich auf die Nominierung des Goldenen Käfigs für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch angestoßen und uns für den 21. Oktober in Frankfurt verabredet. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.

Beim Nach-Messe-Bummel durch das historische Zentrum von Bologna habe ich mir dann in der Kinderbuchhandlung an der Piazza Maggiore die italienische Variante des Goldenen Käfigs zugelegt – La voliera d’oro. Und wenn man nun denkt: Bilderbuch ist Bilderbuch, egal in welcher Sprache es herausgebracht wird – dem möchte ich hier ein paar Seiten zeigen, die die Unterschiede der beiden Ausgaben illustriert.

Ganz offensichtlich ist zunächst, wie das erste Bild oben zeigt, das kleinere Format des italienischen Buches. In Zahlen: 26,5 x 34,5 cm für die deutsche Version, 24 x 31 cm für die italienische. Gründe dafür kann ich nicht nennen (Verlagsstandards? Kosten?).
Auffällig ist die Anordnung des Titels – der italienische Golddruck geht zwischen den Papageien leider etwas unter. Dafür ist der blaue Papagei rechts unten nicht so sehr beschnitten und besser zu erkennen.

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Bei der Titelei im Buch zeigt sich, wie wichtig die richtige Skalierung von Bildern sein kann. Vogel und Blätter sind zwar bei beiden Büchern gleich groß, nur sind bei der italienischen Version, oben, Vogel und Blatt angeschnitten und wirken gedrängt. Auch der Stil des oberen Blattes geht fast verloren.

Eine Besonderheit zeigt sich hier bereits bei der Handschriftstypo des Titels: Beide in Schreibschrift, die deutsche Variante ist jedoch von Carll Cneut geschrieben worden. Das setzt sich im deutschen Buch fort.

An einigen Stellen gibt es in der deutschen Variante Sätze, die im italienischen Text fehlen. Dies liegt daran, dass mir beim Übersetzen zusätzlich zum Text von Anna Castagnoli das PDF der niederländischen Ausgabe vorlag, die bereits 2014 erschienen ist und in der diese zusätzlichen Sätze eingefügt worden waren. Sie geben der Geschichte der Blutprinzessin einen zusätzlich märchenhaften und poetischen Hauch. Auf dem rechten Bild, unten, wird durch die handschriftlichen Passagen der Inhalt noch ein weiteres Mal herausgehoben und betont.

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Eine größere Änderung sowohl beim Text, als auch beim Bild zeigt sich hier:

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Für diese ganz besondere Seite, die die grausame Neigung der Blutprinzessin illustriert, hat Cneut das „HACK“ der rechten Seite für die deutsche Variante noch einmal ganz neu gemalt – denn ohne das C von „HACK“ würde das flämische „HAK“ wie ein Schreibfehler aussehen und die Leser enorm irritieren.
Im italienischen Text lautet „HACK“ allerdings „ZAC“ – und ich frage mich, ob italienische Leser sich über die Text-Bild-Schere in ihrem Exemplar wundern oder das einfach so hinnehmen.

Dies sind jetzt nur einige wenige Beispiele – schließlich müsst Ihr Euch dieses wunderbare Bilderbuch im Original ansehen, um seine ganze Pracht zu begreifen – aber sie zeigen eindrücklich, wie unterschiedlich in den Ländern mit Bildern und Texten umgegangen wird.
Ich würde jetzt am liebsten auf die Jagd nach allen internationalen Ausgaben gehen und diese Vergleichsliste fortsetzen … je nachdem, in welches Land dieses Märchen noch verkauft wird. Ich hoffe, in sehr viele.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene Käfig, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem, 2015, 48 Seiten, 28,95 Euro

Anna Castagnoli/Carll Cneut: La voliera d’oro, Topipittori, 2015, 48 Seiten, 24 Euro

Konrad und der Bunker

konradGeschichte als Schulfach kann eine ziemlich dröge Angelegenheit sein, die die Schüler regelmäßig zur Verzweiflung treibt. So war es jedenfalls in meiner Erinnerung. Doch sobald man einen persönlichen Bezug zur Geschichte entdeckt, wird es interessant. So erlebt es der Protagonist in Marina Wildners Roman Finsterer Sommer.

Konrad ist 13, hat viel zu lange Arme und kommt sich so kurz vor der Pubertät wie ein unbeholfenes Monster vor. Zusammen mit seinen Eltern und seiner Cousine Lisbeth verbringt er die Sommerferien an der Atlantikküste Frankreichs. Die Mutter wollte aus unerfindlichen Gründen dorthin. Das Wetter ist nasskalt, Erholung Fehlanzeige, die oberschlaue Lisbeth nervt, und Konrad eckt irgendwie überall an. Sommerferien gehen eigentlich anders.

Am Strand vor der Bungalowanlage jedoch liegt ein Bunker halb versunken im Meer. Erstaunlich viele Menschen interessieren sich für den muschelüberzogenen Betonklotz. Eine Joggerin, ein fluchendes Pärchen, das Konrad für Agenten hält, ein seltsamer Mann mit Hund, der behauptet Schriftsteller zu sein. Lisbeth hält Konrad Vorträge über die Bunker an der französischen Westküste, die während des 2. Weltkriegs von der Organisation Todt errichtet worden waren.
Nach und nach kommen Konrad und Lisbeth dahinter, dass dieser Ort etwas mit ihrer Familie und einem Streit zwischen ihren Müttern zu tun hat. Sie sammeln Informationen, beobachten und ziehen ihre Schlüsse. Konrad nicht ganz so schnell wie Lisbeth, was ihn ziemlich wurmt. Schließlich finden sie heraus, was den Bunker (ein wunderbares Bild für die undurchdringliche, unauslöschbare Schuld einer Familie und einer Nation), einen alten einbeinigen Mann und ihren Urgroßvater verbindet – und noch bis heute in ihr Leben nachwirkt.

Martina Wildner, die 2014 mit Königin des Sprungturms den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen hat, ist mit Finsterer Sommer eine überaus vielschichtige und spannende Geschichte mit Krimielementen gelungen, in der sie heutige Familienverhältnisse, Erbstreitereien, Tod und den Wunsch nach schönen Sommerferien mit dem Erbe der Vergangenheit verbindet. Sie lässt Konrad die Erlebnisse erzählen und zeigt so, wie sich die Taten des Urgroßvaters, dessen Namen der Junge nicht einmal kannte, immer noch nachwirken. Konrad formuliert es so: „Aber nun war diese ferne Zeit wieder da, mit einem Schlag, mit diesem Namen, und sie lebte in mir weiter. Ich war verwandt mit einem schlimmen Nazi. Ich fühlte mich hässlich und schmutzig und schämte mich plötzlich, dass so jemand wie ich in Frankreich, das damals von Deutschland einfach erobert worden war, Urlaub machen konnte.“

Eindrucksvoller habe ich das Empfinden von kollektiver Schuld und das Verantwortungsgefühl für die Vergangenheit für junge Leser, die auf der Schwelle zum Teenageralter stehen, bis jetzt noch nicht gelesen.
Wenn Kriegskinder und Kriegsenkel heute glauben, sie haben genügend aufgearbeitet und sich ihrer Vergangenheit gestellt, so zeigt Wildner, dass das nicht genug ist. Auch die Urenkelgeneration, die gerade heranwächst, muss erfahren, was in den eigenen Familien damals passiert ist, mag es für die Kinder auch gefühlt unendlich lange her sein.
Die allgemeine Behandlung der Schrecken der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges ist dabei natürlich unabdingbar, doch den Blick auf die persönliche Ebene zu lenken, auf den kleinsten gesellschaftlichen Nukleus, die Familie, gehört ebenso dazu. Das macht Martina Wildner unmissverständlich klar.

Finsterer Sommer könnte ich mir als Schullektüre vorstellen. Sprachlich bleibt Wildner durch ihren Erzähler Konrad dicht an der Zielgruppe und schildert somit die geschichtlichen Hintergründe verständlich, ohne die Leser mit den allergrößten Horroszenarien zu schocken.
Lisbeth, die schlaue Cousine, macht deutlich, dass Wissen wichtig ist und es hilfreich sein kann, auch mal im Duden einen Begriff nachzuschlagen. Hier treiben nicht die nervigen Eltern zum Lernen an, sondern Lisbeth lebt es Konrad auf Augenhöhe vor – was am Ende wirkungsvoller ist alle möglichen elterlichen Ermahnungen.
Von diesem didaktischen Kniff mal abgesehen, wird meiner Ansicht nach jede/r junge Leser/in nach dieser Lektüre Nachforschungen anstellen wollen, was in der eigenen Familie vor über 70 Jahren geschehen ist. Die Aufarbeitung und Bewahrung von Historie sowie die Vorbeugung vor Wiederholung des Schreckens könnten somit nicht besser in der Urenkelgeneration verankert werden.

Martina Wildner ist die bewundernswerte Meisterleistung gelungen, eine spannende Geschichte für Jungen und Mädchen mit Tiefe, historischer Aufklärung und dem Bezug zu unserer Gegenwart zu schaffen, die auch nach dem Lesen weiterwirkt.

Martina Wildner: Finsterer Sommer, Beltz & Gelberg, 2016,  238 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

[Gastrezension] Die pubertäre Vorhölle

fuckfischErinnert sich noch jemand an Helene Hegemann? Die Kernzielgruppe des sogleich vorgestellten Romans Fuckfisch von Juliette Favre ist noch nicht gemeint, die war damals noch in der Grundschule.

Im Januar 2010 veröffentlichte die damals 17-jährige Helene Hegemann ihr Romandebüt Axolotl Roadkill. Die Medien überschlugen sich geradezu und feierten die furiose Tour de Force einer knapp 15-jährigen, wohlstandsverwahrlosten Heldin zwischen Berliner Boheme, Patchworkfamilienbande und Technoclubs hymnisch. Nur um die Autorin bereits einen Monat später, als bekannt wurde, dass es sich bei einigen nächtlichen Szenen um Plagiate handelte, abgeschrieben aus einem Blog, um so vehementer zu verreißen; oder fast noch schlimmer, altväterlich wohlwollend und moralinsauer zu tadeln, ihr aber jedes Talent umgehend wieder abzusprechen. Was schreiend ungerecht war!

Die Erinnerung an Hegemann liegt nahe, veröffentlicht Juliette Favre nun ebenfalls als 17-Jährige ihr Debüt Fuckfisch im noch jungen Verlag Punktum. Darin erzählt sie tagebuchartig von der 14-jährigen Viktoria, die in den Sommerferien von ihrem Freund abserviert und in der Klasse zunächst ziemlich gemobbt wird. Dabei umgeht Favre, die das Buch mit 14 geschrieben hat, geschickt die Berghain-Falle. Sie beschreibt einfach nichts, was eine 14-Jährige unmöglich selbst erlebt haben kann, schon allein, weil sie nicht am Türsteher vorbei gekommen wäre.

Das macht ihr Debüt unspektakulärer als das von Hegemann, dafür aber umso authentischer: Absolut unverstellt, gnadenlos ehrlich und peinlich präzise beschreibt Favre das pubertäre Gefühlschaos zwischen Liebeskummer, Schulstress, Partys und Besäufnissen mit derben Wahrheit-oder-Pflicht-Spielen, testosteronstrotzenden Jungs und mal mehr, mal weniger ziemlich besten Freundinnen.

Favre und ihre Heldin Vicky bewegen sich im selben Milieu wie Hegemann, Tochter des Dramaturgen Carl Hegemann: zwischen Theaterwelt, Premierenparties und Patchworkfamilie. Ihre Stiefschwester ist gleichzeitig ihre beste Freundin. Erwachsene sind bestenfalls gute Kumpel, ansonsten ein bisschen albern und häufig angeschickert.

Vicky pendelt zwischen emotionalen Extremen – es gibt tieftraurige und ganz kurz auch euphorische Momente. Vor allem aber wird sie getrieben von einer ungeheuren Wut auf ihren Ex, auf ätzende Mitschüler, falsche Freunde, auf sich und auf die ganze Welt .

Vicky ist nicht zuletzt eine gute Beobachterin, auch sich selbst nimmt sie gelegentlich erfrischend selbstironisch unter die Lupe. Manchmal merkt man ihre Unreife und Unsicherheit, etwa wenn sie von ihrer „Mumu“ spricht. Solche albernen Verballhornungen wurden schon zu recht sogar in „Fack Ju Göhte 2“ veräppelt. Andererseits gibt es Witze, die echt knallen, scharfzüngige Blitzabrechnungen mit unrealistischen Mädchenbüchern und wirklich kluge Tipps: „Verliebt euch nie in einen Jungen aus eurer Klasse. Ich wurde dadurch zu Hackfleisch verarbeitet.“ Lässt sich nahtlos aufs Arbeitsleben übertragen: keine Affären im Job – sonst Hackfleisch.

Für jüngere Leser oder eher Leserinnen wird dieses Buch lustig und tröstlich sein, beruhigend, dass sich andere genauso peinlich benehmen und Liebeskummer immer völlig ätzend ist, aber hey, man überlebt es. Fuckfisch ist übrigens eine witzige Neuinterpretation des altmodischen Ausdrucks Backfisch, eine Bezeichnung für unreife Mädchen.

Für Erwachsene ist Favres schnodderig-ehrliches Debüt ein prima Schauerroman, eine gruselige Zeitreise: Man erinnert sich mit Grausen an die eigene Jugend, als man sich permanent selbst im Weg stand. Eigentlich war man damals extrem klarsichtig, voller Wut und Energie, die man hätte nutzen können, um wirklich etwas zu verändern. Stattdessen hat man sich mit nichtsnutzigem Liebeskummer, Haut- und Gewichtsproblemen rumgeschlagen. Die Aufforderung „Verschwende deine Jugend!“ ist überflüssig, weil leider ärgerliche Normalität.

Das klingt furchtbar altersarrogant, herablassend und desillusioniert. Aber es ist leider so, jetzt wieder mit den eigenen pubertären Kindern neu zu durchleiden. Oder um es mit der 17-jährigen Hegemann ganz abgeklärt zu sagen: „Vierzehn sein ist ja ganz schrecklich.“

Nicht zuletzt ist dieses Buch hübsch anzusehen und angenehm zu lesen: Handlich, in kräftigem Türkisgrün, mit aufgedrucktem, kleinem Mittelfinger-Ikon und stilvollem Lesebändchen in Pink. Die monochromen Einbände mit stilisierten, thematisch passenden Vignetten sind das Markenzeichen des Punktum Verlags, der Juliette Favre entdeckt hat. Fuckfisch ist kleiner Roman mit großer Wirkung, zum Glück ohne Skandal und Knalleffekt. Nicht so brillant wie Axolotl Roadkill, aber sehr vielversprechend. Für Helene Hegemanns weitere Werke hat sich kaum jemand interessiert. Juliette Favre jedoch steht die Welt noch offen.

Elke von Berkholz

Juliette Favre: Fuckfisch, Punktum Verlag, 2015, 204 Seiten, ab 14, 14,90 Euro

AusLese 2016

cneutNach fünf Jahren Abwesenheit hat es mich dieses Jahr mal wieder auf die Leipziger Buchmesse getrieben. Pressekollegen und Auftraggeber treffen, Hallenluft schnuppern, Cosplayer bewundern, Bücher bestaunen und auf Inspirationssuche gehen. Zusätzlich stand die Nominierungsveranstaltung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 auf dem Programm. Die Verleihung habe ich in Frankfurt bereits mal erlebt, aber noch nie die Nominierung.

Das Schöne an der Sache war dann, dass diese Nominierungen für mich zu einer ganz persönlichen Freude wurde. Denn in der Kategorie Bilderbuch ist „Der goldene Käfig“ von Anna Castagnoli und Carll Cneut der Bohem Press ausgewählt worden – in meiner Übersetzung. Ein absolutes Glücksgefühl! Dieses opulente Bilderbuch habe ich hier auch schon mal vorgestellt.

Die Nominierungen waren jedoch nicht nur deshalb für mich interessant, denn ich nehme sie, seit ich diesen Blog betreibe, als Anlass noch einmal zurückzudenken und zu vergleichen, welche Bücher ich gelesen und hier rezensiert habe. Bei etwas 8000 Neuerscheinungen im Jahr im Bereich von Kinder- und Jugendbuch kann ich natürlich neben meinem normalen Job nicht alles lesen, und auch mit Hilfe von meinen Gastrezensentinnen kommen wir lange nicht auf alle preiswürdigen Titel. Doch im vergangenen Jahr haben wir ein ganz gutes Näschen gehabt, wie ich finde. Dazu trägt aber auch die Wahl der Jugendjury bei, die erstaunlich harte und politische Bücher ausgewählt hat – für die ich ein Faible habe. So waren da die Überschneidungen am höchsten.

Ein paar der noch nicht gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Monaten bis zur Preisverleihung noch nachholen, und eventuell darüber berichten.

Hier kommen jetzt aber erst einmal alle Nominierten – samt der Links zu den Rezensionen auf letteraturen.

Bilderbuch

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Marcelo Pimentel (Illustration): Eine Geschichte ohne Ende. Ein Bilderbuch aus Brasilien, Baobab Books, 2015, 20 Seiten,  ab 2, 14,90 Euro

Marianne Dubuc (Text, Illustration): Bus fahren, Übersetzung: Julia Süßbrich, Beltz & Gelberg, 2015, 40 Seiten, ab 3, 13,95

Anja Mikolajetz (Text, Illustration): Das Herz des Affen, Aladin, 2015, 32 Seiten, 16,95 Euro

Emmanuelle Polack (Text)/Barroux (Illustration): Kako, der Schreckliche, Übersetzung: Babette Blume, mixtvision, 32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Edward van de Vendel (Text)/Anton van Hertbruggen (Illustration): Der Hund, den Nino nicht hatte, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Press, 2015, 40 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Anna Castagnoli (Text)/Carll Cneut (Illustration): Der goldene Käfig oder Die wahre Geschichte der Blutprinzessin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten, ab 6, 28, 95 Euro

 

Kinderbuch 

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Uwe-Michael Gutzschhahn (Herausgeber)/Sabine Wilharm (Illustration): Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, cbj Verlag, 2015, ab 6, 19,99 Euro

Frida Nilsson (Text)/Anke Kuhl (Illustration): Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!  Übersetzung: Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt Verlag, 2015, 304 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Stefanie Höfler (Text)/Franziska Walther (Illustration): Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg, 2015, 140 Seiten,  ab 11, 12,95 Euro

Ann M. Martin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2015, 240 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

Ross Montgomery: Alex, Martha und die Reise ins Verbotene Land, Übersetzung: André Mumot, Carl Hanser Verlag, 2015, 336 Seiten,  ab 11, 14,90 Euro

 

Jugendbuch

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Erin Jade Lange: Halbe Helden, Übersetzung: Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, 2015,  ab 12, 16,95 Euro

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Königskinder, 2015, 368 Seiten, ab 12, 17,99 Euro, besprochen hier.

Mariko Tamaki (Text)/Jillian Tamaki (Illustration): Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 12, 29,00 Euro

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute, Rowohlt Rotfuchs, 2015, 464 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Rainbow Rowell: Eleanor & Park, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, 2015, 368 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

 

Sachbuch

abc.de ShackletonwetterleibnizEislandsamia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Iwona Chmielewska (Text, Illustration): abc.de, Gimpel Verlag / Verlag Warstwy 2015, 96 Seiten, ab 6, 19,90 Euro

William Grill (Text, Illustration): Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015,  80 Seiten, ab 8, 19,99 Euro, besprochen hier.

Britta Teckentrup (Text, Illustration): Alle Wetter, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 9, 24,95 Euro

Jean Paul Mongin (Text)/Julia Wauters (Illustration): Leibniz oder die beste der möglichen Welten, Übersetzung: Heinz Jatho, Diaphanes Verlag, 2015, 64 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Kristina Gehrmann (Text, Illustration): Im Eisland, Hinstorff Verlag, 2015, 224 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Reinhard Kleist (Text, Illustration): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen Verlag, 2015, 152 Seiten, ab 14, 17,90 Euro, besprochen hier.

 

Preis der Jugendjury

du neben mirtrain kids

nuri

 

bellmont
tagebuch
khmer

 

 

Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt, Übersetzung: Simone Wiemken, Dressler Verlag, 2015, 336 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Dirk Reinhardt: Train Kids,  Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro, besprochen hier.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger Verlag, 2015, 528 Seiten, ab 14, 19,99 Euro, besprochen hier.

Matthew Quick: Goodbye Bellmont, Übersetzung: Knut Krüger, dtv, 2015, 256 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem Herzen, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2015, Seiten, ab 16, 14,99 Euro, besprochen hier.

Herzlichen Glückwunsch allen Nominierten!

Die Gewinner werden am 21. Oktober 2016 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt – in doppeltem Sinne …

 

[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro

[Jugendrezension] Pirateske Schatzsuche

61dHKVlRYXL._SX324_BO1,204,203,200_Was würde man machen, wenn auf dem Supermarktparkplatz plötzlich ein riesiges Piratenschiff auftaucht? Vor diese Frage wird das Mädchen Marill im Buch Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte von Carrie Ryan und John Parke Davis gestellt. Auf den insgesamt 476 Seiten wird die Frage gelöst, aber alles ist noch viel komplizierter, als es am Anfang erscheint.

Als Marill das Schiff entdeckt hat, fragt ein Mann sie viele Dinge, von denen sie nichts weiß. Als sie erfährt, dass es sich um Magier handelt, die Menschen heilen können, klettert sie an Bord, da ihre Mutter krank ist. Jedoch war das Schiff schon wieder im Aufbruch, und plötzlich befindet sie sich in einer anderen Welt, die ziemlich verwirrend ist. Um wieder nach Hause zu kommen, braucht Marill die Überallkarte.

Kurz zur Erläuterung, da diese Parallelwelt sehr kompliziert aufgebaut ist, und sehr vereinfacht gesagt: Es gibt den Großen Strom, an oder in dem alle Dinge dieser Welt liegen. Um als Mensch wieder zurück in die Menschenwelt zu kommen, benötigt man die Überallkarte. Diese besteht aus einer Windrose, einer Karte, einem Band usw.

Zum Glück hat Marill durch die Piraten Helfer, die mit ihr nach der Karte suchen. Und Fin, ein Meisterdieb aus Charrot Quay, einem sehr, sehr verrückten Ort, wo einige Menschen fliegen können, schließt sich auch noch an. Zuerst suchen Marill & Co. nach der Windrose und begeben sich damit auf eine Reise, die bis ins tiefste Eis führt. Doch sie sind nicht die Einzigen …

Ich fand das Buch sehr schön, obwohl ich eher selten derartige Geschichten aus dem Fantasybereich lese. Es gibt aber einen großen Kritikpunkt: Das Buch ist viel zu kompliziert. Man braucht sehr lange, bis man die Welt von Fin und den Piraten versteht. Trotzdem kann ich das Buch vor allem für schnell denkende Menschen durchaus weiterempfehlen.

Ich halte das Buch für Leser ab 10 oder 11 Jahren geeignet. Für Jüngere ist es einfach zu verworren und zu aufregend, vielleicht sogar zu gruselig.

Lector03 (12)

Carrie Ryan/John Parke Davis: Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte, Übersetzung: Wolfram Ströle, Fischer Sauerländer, 2015, ab 10, 480 Seiten, 14,99 Euro

[Jugendrezension] Die Beobachtungsexpertin

suniMenschen beobachten … Das macht Suni Stern, die Heldin aus Die geheime Welt der Suni Stern von Annette Mierswa, am liebsten. Es ist Sunis einziges Hobby.

Seit Suni Stern mit ihrer Familie nach Trutzingen gezogen ist, muss sie ihre Beobachtungen allerdings allein machen, denn ihre bisherige Freundin und Komplizin ist ja leider noch in Hamburg. Doch auch wenn Suni nun allein ist, in einer noch unbekannten Stadt wie Trutzingen, gibt es natürlich endlos viel zu entdecken.
Hat Stella wirklich ein zweites Gesicht? Was für ein Geheimnis steckt hinter den ausgebeulten Taschen von Tom? Fragen über Fragen. Bisher gibt es allerdings zu wenige Antworten. Und selbst, wenn Suni meint, die Lösung für eine Frage gefunden zu haben, muss diese nicht immer richtig sein …

Wenn euch nun weitere Fragen und auch die dazugehörenden Antworten interessieren, müsst ihr einmal selbst in die Geheime Welt der Suni Stern eintauchen und das Buch lesen. Das Buch ist nicht nur spannend, sondern es gibt auch Ereignisse, die mir wie ein schöner Traum vorkamen. Außerdem konnte ich mir die Orte der Handlung sehr gut vorstellen, da sie sehr anschaulich beschrieben sind.

Ich empfehle das Buch Mädchen und Jungen ab 8 Jahren, die sich gern den Kopf über geheimnisvolle und ungewöhnliche Dinge zerbrechen und die selbst viel Fantasie haben.

Lese-Lotta (8) 

Annette Mierswa: Die geheime Welt der Suni Stern, Tulipan, 2015, 160 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

Fukushimas absurd-unerträgliches Erbe

fukushimaVor fünf Jahren erlebte unsere ach so fortschrittlich technisierte Welt eine Kombination von katastrophalen Umständen, die sich so bis dato nicht einmal Hollywood hatte ausdenken können – unsägliche B- und C-Movies ziehe ich hier jetzt mal nicht in Betracht.

Der Tsunami infolge eines Seebebens war für sich schon verheerend, doch die Explosion mehrerer Atomreaktoren im japanischen Fukushima toppte dann das Undenkbare. Die genauen Abläufe von Kernschmelzen und Notabschaltungen, Austritt von radioaktiver Strahlung kann man dieser Tage an anderen Stellen ausführlich nachlesen. Die Schäden an Mensch und Umwelt sind immer noch immens, die Zahl der Toten und Geschädigten immer noch unklar. Die Kernkraft ist seitdem als Energielieferant erst recht nicht mehr tragbar. Das ist alles bekannt. Was uns hier so gut wie unbekannt ist, sind die momentanen Zustände in Fukushima und die Strapazen der Aufräumtrupps vor Ort.

Hier setzt der Manga Reaktor 1F von Kazuto Tatsuta an. Der Zeichner hat sich unter diesem Pseudonym vor ein paar Jahren als Arbeiter in Fukushima verpflichtet, um die Lage vor Ort mit eigenen Augen zu überprüfen und sich nicht mehr auf die Falschinformationen von Regierung und Betreiberfirmen verlassen zu müssen. In klaren, nüchternen Panels entwirft Tatsuta ein Panorama unglaublicher Tristess. Immer noch sind die Reste der Reaktoren verstrahlt und die Männer, die dort aufräumen, müssen sich einem Marathon von Schutzmaßnahmen unterziehen, bevor sie auch nur einen Handschlag tun können.
Detailliert beschreibt Tatsuta die An- und Umkleideprozeduren, vom Mundschutz über die Socken, die doppelten Schutzanzüge und die Überschuhe, Baumwollhandschuhe unter Gummihandschuhen, Atemmasken, die mit Klebeband befestigt werden müssen. In jeder Pause muss das verstrahlte Zeug entsorgt werden, neues wird angezogen. In der versiegelten Montur muss jede Nahrungsaufnahme, jede Zigarette, jeder Gang zur Toilette aufgeschoben werden, der Schweiß läuft in Strömen im Winter, im Sommer ertrinken die Männer fast im eigenen Schweiß. Die Nase juckt, kratzen unmöglich.
Um die zulässige tägliche Strahlendosis nicht zu überschreiten, trägt jeder Arbeiter ein Dosimeter am Leib. Dieses Gerät fiept, wenn gewisse Dosen erreicht werden. Nach dem vierten Fiepen ist Schichtende, damit die Männer keine gesundheitlichen Schäden davontragen. Manches Mal kann dies bereits nach einer Stunde der Fall sein. Weit kommt man so mit den Aufräumarbeiten nicht – und so wundert es einen auch nicht mehr, wenn von 30 bis 40 Jahren die Rede ist, bis alle verstrahlten Anlagen, Wassertanks und Gebäude zurückgebaut sein werden.

Tatsutas Geschichte ist im Grunde ziemlich unspektakulär, in manchen Teile etwas redundant, was jedoch die Unerträglichkeit der Zustände beim Lesen noch erhöht. Dumpinglöhne und geschäftsgeile Subunternehmer, die in anderen Zusammenhängen die kompletten Aufreger und eine Geschichte für sich wären, ranken sich zusätzlich um dieses Post-Katastrophen-Szenario.
Das Brisante beziehungsweise Unfassbare an dieser Geschichte ist der tatsächliche Aufwand, mit dem die Folgen dieser Katastrophe immer noch beseitigt werden müssen. Ich weiß nicht, was eigentlich schlimmer ist in diesem ganzen Horrorszenario, die vielen Toten, deren genaue Zahl man heute immer noch nicht weiß, die verstrahlten und zerstörten Häuser und Landschaften, oder der absurde, aber lebensnotwendige Aufwand, mit dem die Arbeiter ihren Job verrichten müssen. Allein die Einweg-Ausrüstungen der Arbeiter, die nach einem kurzen Einsatz kontaminiert sind, erzeugen immense Sondermüllberge – zusätzlich zu den gecrashten Reaktoren.

Eigentlich fasst man sich auf jeder Seite dieses Mangas an den Kopf.  Akute Katastrophen sind das eine, sie sind immer schrecklich. Das andere sind Folgen, die im Grunde vermeidbar gewesen wären, wenn. Über all diese Wenns fängt man bei der Lektüre von Reaktor 1F unweigerlich an zu grübeln. Und wünscht sich, dass die Technikgläubigkeit der Menschen weniger blind wäre. Hier offenbart sich eines der menschlichen Dilemmata: Ingenieure und Wissenschaftler machen uns mit ihren Erfindungen und Entwicklungen das Leben in der westlichen Welt oft sehr angenehm und bequem, doch die Folgen, mit denen wir umgehen müssen, wenn die Naturkräfte wirken, können wir dennoch nicht absehen.

Tatsutas Manga ist somit nicht nur eine großartige Dokumentation, sondern ein sehr gelungener Denkanstoß, dass wir solche Szenarien in Zukunft – wie auch immer – vermeiden sollten.

Kazuto Tatsuta: Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima Bd.1, Carlsen Manga! 2016, 208 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

[Gastrezension] Bildgewaltige Expedition

ShackletonAlti, Amundsen, Blackie, Bob, Bo’sun, Bristol, Brownie, Buller, Bummer, Caruso, Chips … so lauten die Namen von elf der insgesamt 69 Hunde, die Ernest Shackleton auf seine Expedition zum Südpol mitgenommen hat. Und die der junge Illustrator William Grill alle auf einer Seite mit Buntstift gezeichnet hat. Das ist nur eines der höchst interessanten und liebevoll aufgeführten Details mit denen Grill seine packende Abenteuergeschichte Shackletons Reise beginnt.

Große, imposante Figuren in Uniform oder Pelzjacke, mit Werkzeug, auf Skiern, mit Kamera und Arzttasche, der Polarforscher seitengroß in lässiger Pose und seine 27-köpfige Mannschaft, gemalt in Schwarz und Brauntönen, mit kleinen Köpfen, mit roten, spitzen Nasen und schwarzen Knopfaugen – Grill zeigt jeden einzelnen dieser außergewöhnlichen Männer, die Shackleton aus 5000 Bewerbern ausgewählt hat. Dabei achtet der kühne Seemann nicht nur auf handwerkliche Fähigkeiten oder Navigationstalent, sondern auch darauf, ob die Männer singen oder ein Musikinstrument spielen können. Das zeigt die kluge Vorausschau des Abenteurers Shackleton und wird im Verlauf der zweijährigen Reise sehr wichtig. Der 1874 als zweites von zehn Kindern in Irland geborene Shackleton wird weniger als Antarktisforscher in die Geschichte eingehen, dafür aber als außergewöhnlich mutiger und verantwortungsbewusster Expeditionsleiter.

Shackleton nimmt an Robert Scotts Discovery-Expedition Anfang des 20. Jahrhunderts in die Antarktis teil. Doch der Norweger Roald Amundsen gewinnt 1911 das Rennen und erreicht als erster den Südpol. Und Ernest Shackleton ist klar, dass „die erste Durchquerung des antarktischen Kontinents, von einer Meeresküste zur anderen über den Pol“ die letzte große Aufgabe ist. Tatsächlich wird diese Expedition eine der größten menschlichen Herausforderungen.

Am 8. August 1914 sticht die speziell für das Polarmeer umgebaute Endurance mit Shackleton und seinen Mannen von Plymouth aus in See, zunächst mit Kurs auf Buenos Aires. Am 5. Dezember ist laut Shackleton dann endlich „die lange Zeit der Vorbereitung zu Ende und das Abenteuer liegt vor uns“: Von South Georgia bricht das Schiff zu den südlichen Sandwichinseln auf. Und stößt auch gleich auf das erste Packeis.

Und man sieht ein erstes von William Grills grandiosen, doppelseitigen Panoramabildern: Eisschollen soweit das Auge reicht und ganz unten links am Bildrand, winzig klein die Endurance, die noch einige Zeit ihrem Namen „Ausdauer“ alle Ehre machen wird.

Schon bald bleibt das Schiff stecken, kompaktes Eis trennt es vom offenen Wasser. Die erste Planänderung: Die Endurance wird zum Winterlager, die Männer trainieren die Hunde auf dem Eis, jagen Pinguine, um ihre Vorräte aufzustocken, befreien das Schiff von Eisschichten, liefern sich rasante Schlittenrennen, überstehen Schneestürme, die mit 150 Stundenkilometern über Eis fegen und halten sich für alles bereit. Aber am 27. Oktober kommt es zur Katastrophe – und das tapfere Schiff (so empfindet man es mit den todunglücklichen Besatzungsmitgliedern) wird von den Eismassen zerdrückt und sinkt.

Jetzt beginnt das wirklich größte Abenteuer ihres Lebens und mit noch einigen mutigen Entscheidungen, erstaunlichem Motivationstalent und Gewaltmärschen gelingt es Shackleton schließlich, alle seine Männer zu retten und nach über zwei Jahren nach Hause zurückzubringen. William Grill erzählt nüchtern und klar und niemals heroisierend, von Harald Stadler ebenso unprätentiös übersetzt.

Shackletons Reise ist ein fantastisches Leseabenteuer mit umwerfenden Bildern, an denen man sich kaum satt sehen kann, eine ebenso unglaubliche wie wahre Heldengeschichte.

Elke von Berkholz

William Grill: Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015, 75 Seiten, ab 7, 19,99 Euro

[Jugendrezension] Die Hoffnung ist ein Apfelkuchen

ApfelEinen Apfelkuchen, wie den aus Das Apfelkuchenwunder oder Die Logik des Verschwindens von Sarah Moore Fitzgerald, möchte wohl jeder einmal essen.

Denn der Apfelkuchen von Oscar scheint ein ganz besonderer zu sein. Er lässt Probleme vergessen und die Welt mit einem Mal viel besser aussehen. Doch als Oscar Schwierigkeiten bekommt, die auch der Apfelkuchen nicht verschwinden lässt, bekommt er es mit der Angst zu tun und taucht ab.
Als seine beste Freundin Meg aus dem Urlaub wiederkommt, ist sie überzeugt davon, dass er nicht, wie alle anderen sagen, Selbstmord begangen hat, sondern nur ein bisschen Abstand von allem braucht. Sie macht sich mit Oscars Bruder, der als einziger ihre Meinung teilt, auf den Weg, um Oscar zu suchen.
Abwechselnd wird aus Megs und Oscars Sichtweise beschrieben, wie Oscar gesucht wird und warum er „abgehauen“ ist. Doch ob er letztendlich gefunden wird, kann nur im Buch nachgelesen werden!

Ich fand das Buch Das Apfelkuchenwunder oder Die Logik des Verschwindens sehr spannend und unterhaltsam und es spricht nicht nur das große, doch eher unwahrscheinliche Problem, sondern auch die vielen kleinen Alltagsschwierigkeiten an, wodurch es dann sehr realitätsnah erscheint. Mir gefällt die Spannung, die aufgrund des Verschwindens entsteht, aber auch die Tatsache, dass die Hoffnung immer bestehen bleibt.

Ich empfehle das Buch Mädchen im Alter von 11 bis 15 Jahren. Besonders Romanliebhaberinnen, die gern über Freundschaft und Liebe lesen, werden das Buch mögen.

Bücherwurm (13)

Sarah Moore Fitzgerald: Das Apfelkuchenwunder oder Die Logik des Verschwindens, 
Übersetzung: Adelheid Zöfel, Fischer KJB, 2015, 256 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

[Gastrezension] Wenn Wünsche Flügel kriegen − oder Schuppen?

krokodil

Odd – der Held von Taran Bjørnstads Roman Der Krokodildieb – ist neun und eher sonderbar, feige und dick, so seine Selbsteinschätzung.
Daheim wird er als Jüngster oft übersehen, in der Schule wählt ihn keiner in seine Mannschaft, und die coole Nova nutzt jede Gelegenheit, ihn zu mobben. Da kann auch Mette, die Odd heimlich verehrt, nicht helfen. So träumt er von Superkräften und wittert eines Tages seine Chance.
Bei einem Projekttag im Aquarium präsentiert Tierpfleger Rolf den jungen Kaiman Zack – und Odd ist der Einzige, der sich traut, das Tier zu streicheln. Bewunderung allenthalben, Odd wächst über sich hinaus. Und plötzlich kann er nur noch an eins denken: Zack verleiht ihm Kraft, deshalb muss er ihn stehlen. Das Unmögliche gelingt!
Daheim klebt Krokodildieb Odd zur Abschreckung der Familie ein großes Schild an seine Tür, dann lässt er Zack frei und bewegt sich nur noch „oberirdisch“: vom Schreibtisch auf den Stuhl und hoch aufs Etagenbett, denn Zack verschlingt, was sich ihm bietet. Ein Handy beendet schließlich das Abenteuer: Der Kaiman streckt alle Viere von sich, und Odd kriegt Angst. Stirbt das Tier? Ihm bleibt nur eins: Zack muss zurück ins Aquarium …

Gleichberechtigt neben dem überzeugenden Text, in der Übersetzung von Maike Dörries, stehen die Illustrationen, meist in Schwarzgraugrün mit gezielten Ausflügen in andere Farbwelten. Das großzügige Layout und das besondere Format des Buches lassen dem Zeichner Raum, fast wie in einer Graphic Novel. Ungewöhnlich sind die Perspektiven und Bildausschnitte. Anrührend porträtiert ist Odd mit übergroßer Brille und von gestauchter Statur, der so überzeugend schwach und stark ist. Freundin Mette im Afrolook verkörpert das pralle Leben, Nova die geballte Übermacht. Großartig Tierpfleger Rolf mit Tattoos, Glatze und feinem Gespür. Fast lebensecht Kaiman Zack, dessen runzlige Haut man zu berühren meint und dessen Anatomie (samt Mageninhalt!) auf einer Doppelseite ebenso fasziniert wie das Aquarium mit riesigen Mantarochen und zehn verschiedenen Haiarten. Ein wenig skandinavisch schräg – und so gut!

Heike Brillmann-Ede

Taran Bjørnstad/Christoffer Grav (Illu): Der Krokodildieb, Übersetzung: Maike Dörries, Beltz + Gelberg, 2016, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

 

 

[Jugendrezension] Die unsichtbare Freundin

lunaWillst du wirklich eine Prinzessin wie Luna-Lila als Freundin haben, so wie Wilma in dem Buch Luna-Lila – Das allergrößte Beste-Freundinnen-Geheimnis von Anu und Friedbert Stohner?
Überlege es dir gut, denn nicht alle Prinzessinnen sind lieb und immer gut gelaunt …

Eine von diesen launischen Prinzessinnen ist Luna-Lila, die im Übrigen für alle Menschen unsichtbar ist, allerdings nicht für Wilma, ihre Freundin. Wilma hat seit ein paar Wochen Probleme, die sich um ihre oberfiesen, neuen Mitschüler, die Zwillinge und „Klassenmacker“ Ulli und Olli drehen. Die Beiden machen sich dauernd wichtig, ärgern ihre Klassenkameraden und setzen sie unter Druck. Eines Morgens verschwindet dann auch noch der Darth-Vader-Anspitzer der Jungen, die Wilma und ihre Freundin Ellen beschuldigen, den Anspitzer – ein wichtiges Erinnerungsstück, weggenommen zu haben. Zum Glück hat Luna-Lila einen Plan, wie sie ihrer Freundin helfen kann.
Allerdings funktioniert der Plan nicht genau so, wie sie es sich vorgestellt hat … denn manchmal kommt es eben anders als man denkt!
Was genau das für ein Plan ist und ob Wilmas Probleme gelöst werden können, das müsst ihr selbst herausfinden.

Das Buch hat mir gut gefallen, da es interessant und witzig und an manchen Stellen auch spannend war. Durch die genauen Beschreibungen konnte ich mir die Orte, an denen die Kinder unterwegs waren, sehr gut vorstellen.
Ich empfehle dieses Buch vor allem Mädchen im Alter von 7 bis 10 Jahren, die sich für das Thema Freundschaft interessieren und die sich vielleicht „im Geheimen“ manchmal auch einen unsichtbaren Helfer wünschen …

Lese-Lotta (8)

Anu Stohner/Friedbert Stohner: LunaLila. Das allergrößte BesteFreundinnen-Geheimnis, Illustration: Pe Grigo, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 8, 10,99 Euro