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Folge dem grunzenden Kaninchen

Cato

Als Cato auf die Welt kam, hat ihre Mutter sie verlassen. »Natürlich hatte sie es nicht mit Absicht getan, aber die Sache war nun mal eindeutig: Wäre Cato nicht geboren worden, würde ihre Mutter noch leben. Manchmal fühlte sie Abscheu und Wut auf sich selbst. Manchmal fühlte sie Wut auf alles und jeden, auf die ganze Welt. Als ob sich die Wirklichkeit vom Moment ihrer Geburt an gegen sie verschworen hätte.«
Eine ziemliche Last, die die Zwölfjährige ihr ganzes Leben mit sich herumschleppt. Bei der sie niemand entlastet. Denn ihr Vater ist nur noch eine traurige, funktionierende Hülle, völlig im eigenen Schmerz vergraben. Dabei lässt er außer Acht, dass seine Tochter niemanden hat.

Mutter- und vaterseelenallein

Cato ist mutter- und vaterseelenallein. Von ihrer Mutter, die sie nie kennenlernen konnte, ist ihr nur ein rotes Kleid und ein Foto geblieben. Darauf ist ihre Mutter in eben jenem Kleid, schwanger und mit einem strahlenden Lächeln zu sehen.

Zu allem Elend kommt täglich die fiese, spießige Nachbarin Cornelia, umgeben von einer Wolke widerlich süßem Parfüm, zum Putzen und Kochen vorbei. Sie mischt sich in alles ein, diffamiert Catos Gefühle, ihre Wut, ihren Trotz, ihre Zweifel, als »Gewühle«, das im Kopf weggesperrt gehört. Und tut scheußlich vertraut mit Catos Vater. Eine  Möchtegern-Stiefmutter par excellence.

Kraft der Erinnerungen

Mit dieser herrlich ätzenden Ausgangslage in bester Roald-Dahl-Tradition beginnt Yorick Goldewijks traurig-schöner Roman Cato und die Dinge, die niemand sieht. Aber dann  tritt Frau Kano in Catos Leben. Laut ihrer Visitenkarte zeigt sie im alten, schon seit Jahren geschlossenen Kino, Filme, die  nirgends laufen, die du aber schon immer sehen wolltest. Aus Neugier heuert Cato bei der rätselhaften Frau an, putzt das Kino, bringt die Reklame an der Fassade wieder zum Leuchten, kocht wie gewünscht rabenschwarzen, schauerlichen Kaffee und wird Frau Kanos Assistentin. So lernt sie die Bedeutung und Kraft von Erinnerungen kennen.

Lust auf Neues, Unbekanntes

Gleichzeitig entdeckt die Liebhaberin von Kung-Fu-Filmen und Zombie-Comics ihre besonderen Superkräfte: »Dieser Blick. Nur wenige Menschen besitzen ihn. Denn man muss natürlich ein bisschen speziell sein«, wie Frau Kano an Cato beobachtet. »Sich trauen, das Fremde zu umarmen. Du bist genau wie ich früher, Cato. Auch ich war immer schon neugierig auf all die Dinge, die alle anderen lächerlich fanden. Und ich war genauso schlau wie du und genauso starrköpfig. Wenn du dir die Neugier lange genug erhältst, dann findest du Dinge heraus, die du selbst nie für möglich gehalten hättest.«

Nach betrunkenem Kung-Fu-Meister benannt

Neugier (die im niederländischen Original ebenso heißt) bekommt hier eine positive Konnotation, nicht Gier, sondern das Interesse an und die Lust auf Neues, Unbekanntes ist eine wichtige Triebfeder für Menschen, die etwas bewegen und ändern wollen.
Cato findet Normalität, die es tatsächlich vom Moment ihrer Geburt für sie nicht gab, keinen erstrebenswerten Zustand. Deshalb trägt sie unterschiedliche Socken. Und fotografiert Dinge, die keiner bemerkt. Oder hat ihr ebenfalls eigenwilliges, weil grunzendes Kaninchen nach dem betrunkenen Kung-Fu-Meister Beggar So aus einem Jackie-Chan-Film benannt. Cato ist meist ein freier, unabhängiger Geist. Eine Erziehungsexpertin hat es soeben im Interview so auf den Punkt gebracht: »Frei ist, wer missfallen kann.« (und darf)

Pointierte Schimpftiraden

Mit Frau Kano kommt zwar etwas Magisches in die Geschichte. Was aber Goldewijks Heldin so liebenswert macht, ist, dass sie so lebendig, authentisch und menschlich ist. Auch Cato ist zum Beispiel zunächst zu feige, sich für den gemobbten Lehrer stark zu machen. Wer kennt das nicht? Lesenswert sind auch ihre erfrischend pointierten Schimpftiraden auf ihren Vater. Und die Nachbarin. Und gemeine Mitschüler, zwei Ekelpakete. Sonja Fiedler Tresp hat das kreativ und witzig übersetzt. Im Trottel etwa spielt sowohl Catos Verachtung als auch Mitleid für ihren Vater mit. Knalltüte neckt Cato später liebevoll ihren unverhofft gewonnen, einzigen Freund.
In Cato und die Dinge, die niemand sieht versteckt sich so viel, was man zunächst nicht erkennen kann. Und dann umso erhellender und freudig überraschter wahrnimmt. Dagegen ist dieses Buch schon auf den ersten Blick auch ein sehr hübscher Hingucker, wegen des Titelbilds und des schicken orangenen Schnitts. Die famose Cato sollte wirklich jede und jeder sehen.

Yorick Goldewijk: Cato und die Dinge, die niemand sieht, Übersetzung: Sonja Fiedler Tresp, Dragonfly, 240 Seiten, 15 Euro, ab 10

[Gastrezension] Fantastico!

mathildeAcht Geschichten versammelt dieser von Ulf K. pfiffig bebilderte Band der norwegischen Schauspielerin und Sängerin Andrea Bræin Hovig rund um die sechsjährige Wilde Mathilde und ihren Papa, den Christel Hildebrandt knackig und frech übersetzt hat.

Mathilde und Papa leben allein, wo Mama ist, spielt keine Rolle. Es geht um die Beziehung Tochter-Vater, um Mitmenschen, Ausflüge, Feste. Da wird aus dem nörgeligen Nachbarn Iversen, dem stets alles zu laut ist, plötzlich ein Rock-Fan. Weil ihn die Begeisterung der luftgitarrenspielenden Mathilde so mitreißt? Beim Arzt trifft Mathilde auf Dr. Mari Sville, die derart überarbeitet ist, dass sie alle Wörter verdreht und selbst das Bett hüten müsste. Kurzerhand assistiert die fieberkranke Patientin und zeigt Frau Doktor erst einmal, wie sie ihr Stethoskop richtig benutzt. Später begegnet sie Mari zusammen mit deren Nichte Liv im Schwimmbad. Papa meint, seine Tochter müsse schwimmen lernen, doch der graust es vorm Wasser. Als es Mathilde schließlich zu bunt wird, erklärt sie dem Schwimmlehrer mutig-laut, dass sie Angst habe und deshalb nicht weiter mitmachen werde. Der turbulente Tag endet bei heißem Kakao mit Liv, Mari und Papas gerötetem Gesicht. Ist der vielleicht verliebt?

Mathilde erkennt die Wahrheit oft fixer als Papa, auch bei ihrem Zeltausflug. Hat Papa wirklich Ahnung? Nun, das Zelt will nicht stehen, dazu regnet es in Strömen. Zum Glück entdeckt sie ein hell beleuchtetes Haus mitten im Wald, und der schrullige Besitzer gewährt Obdach. Zupacken, das kann die Wilde Mathilde auch im Osterurlaub, als Papa unbedingt Ski fahren will. Aber die Piste ist nix für sie, deshalb wird gestreikt – und es folgen lustige Tage ohne Sportgedöns. Doch nicht nur Papa lernt dazu. Als Mathilde Weihnachten mit fremden Menschen feiern soll statt mit Onkel Torstein, zieht sie aus Protest ihr Zwiebelkostüm an. Papa nimmt’s gelassen, und Mathilde erlebt ihr schönstes Fest mit Riesentanne, Geschenketausch und Scharade.

Mathilde und Papa sind ein absolutes Traumpaar – herzumgarnend, ehrlich, liebevoll. Sie probieren vieles aus, lernen voneinander, vertrauen sich, selbst wenn es manchmal Missverständnisse gibt. Und weiß Mathilde einmal keinen Rat, dann wackelt sie einfach mit dem Po und ruft: „Ich bin fantastico.“

Zum Nachahmen empfohlen!

Heike Brillmann-Ede

Andrea Bræin Hovig: Die Wilde Mathilde. Geschichten zum Vorlesen, Illustration: Ulf K., Übersetzung: Christel Hildebrandt, Gerstenberg Verlag, 2016, 120 Seiten, ab 5, 12,95 Euro