Kein schöner Land

schäubleHerr Böhmermann twitterte in den vergangenen Tagen, kurz nach dem TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, dass nach 60 Jahren nun bald wieder Nazis im Bundestag sitzen werden. Und wir haben es nicht verhindert.

Ein bitterer Tweet. Denn es geht schon nicht mehr darum, ob die AfD in den Bundestag einzieht, sondern nur noch die Frage bleibt, mit viel Prozent. Können wir wirklich nichts mehr dagegen tun? Ich weiß es nicht, ich hoffe, doch.

Was jedoch passieren könnte, wenn eine Partei wie die AfD tatsächlich die Macht in unserem Land übernehmen würde, hat Autor Martin Schäuble weiter gedacht und daraus einen packenden Roman gemacht.
Darin regiert in einer nicht allzu fernen Zukunft die Nationale Alternative, die EU ist abgeschafft, der Euro ebenso, man zahlt wieder mit Mark. Die Atomkraftwerke laufen weiter, erneuerbare Energien werden nicht mehr unterstützt. Die Rentenversicherung ist privatisiert worden, an den Grenzen wurden Mauern hochgezogen. Die Gesellschaft ist überaltert, aber in den Altenheimen fehlen die Pflegekräfte. In diesem düsteren Szenario leisten die Protagonisten Anton und Noah ihren Wehrdienst. Mitten in der Nacht sollen sie sogenannte Invasoren, also Flüchtlinge, an der Grenze abfangen.
Anton steht hinter der Politik der Nationalen Alternative, Noah ist kritisch und sabotiert eine dieser Abfangaktionen.

In einem weiteren Strang lässt Schäuble die jung Äthiopierin Fana von ihrem Leben in Addis Abeba erzählen. Dort ist sie auf eine deutsche Schule gegangen, arbeitet in einem Krankenhaus und muss ihre Eltern unterstützen. Im Land herrscht eine fürchterliche Hungersnot, sodass Fana von einer befreundeten Deutschen schließlich dazu überredet wird, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen.

Fana schafft es tatsächlich bis nach Deutschland, das Noah nur noch „Endland“ nennt, und im Flüchtlingsheim kreuzt sich ihr Weg mit dem von Anton. Der ist von seinem Offizier auf eine geheime Mission geschickt worden, deren ganze Dimension dem Jungen erst vor Ort wirklich aufgeht …

Schäuble schafft es, jugendlichen Leser_innen ein Gespür zu vermitteln, dass das, was heute von Politikern und Populisten diskutiert wird, ganz schnell bittere Wahrheit werden kann und unser aller Leben prägen würde. Die drei Protagonisten, die jeweils als Ich-Erzähler berichten, stehen für die verschiedenen Standpunkte, die man in Sachen Flüchtlingsproblematik einnehmen kann. Durch die rasanten Wendungen im Plot wird deutlich, wie schnell man zum Ausgestoßenen oder Helden, zum Spielball oder Macher der Geschichte werden kann.

Autor Martin Schäuble ist mit dieser Geschichte ganz dicht an den bewegenden Themen unserer Zeit und schärft den Blick für die Ungerechtigkeiten, die sich auf leisen Sohlen immer mehr in unsere Gesellschaft einschleichen. Zudem führt er noch einmal sehr drastisch vor Augen, wie grausam eine Flucht in ein vermeintlich sicheres Land wie Deutschland ist und welche Gefahren die Flüchtenden dafür auf sich nehmen. Das macht die Stärke dieses Buches aus.

Erzähltechnisch geht Schäuble dabei ziemlich zackig vor. In einer nüchternen, fast spröden Sprache treibt er den Plot so rasant voran, dass mir manche Sprünge fast zu schnell gehen. Da tauchen dann die ein oder anderen Fragen auf (wie kommt Fana von Libyen nach Polen?) und manche Nebenfiguren werden so flott eingeführt, dass man sie kaum registriert.
Schäuble zeigt viele Dinge nicht, sondern lässt sie die Figuren erzählen. Das mindert für mich ein wenig das eigene Erkunden und Nach-Denken der Geschichte und wirkt in manchen Momenten ziemlich moralisch (wenn Anton über gewisse Zustände nachdenkt, spürt man den erhobenen Zeigefinger). Das hätte man sicher so darstellen können, dass es die Leser_innen stärker fordert, dann wäre der Roman jedoch wohl doppelt so lang geworden.

So aber ist Schäuble ein rasanter Zeitgeist-Roman gelungen, der junge Leser_innen für Politik und Populismus sensibilisiert. Und ihnen klar macht, dass man von Anfang an wachsam sein muss, damit es nicht so weit kommt. Bleibt nur zu hoffen, dass die Volljährigen unter ihnen auch ihr Wahlrecht wahrnehmen und auf diese doch so einfache Art ein Zeichen setzen!

Martin Schäuble: Endland, Hanser, 2017, 220 Seiten, ab 14, 15 Euro

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Jahreszeitenübergangsrituale

herbstIn diesen Tagen gehen in allen Bundesländern die Sommerferien zu Ende, die nächste Generation von Leser_innen betritt die Schulen, und meteorologisch hat auch der Herbst bereits Einzug gehalten. Da passt die Lektüre des reizenden Erstlesebuchs Finn und Frida halten den Herbst auf von Martin Klein und Kerstin Meyer bestens ins Programm.

An einem Sonntagmorgen stellen darin die beiden Helden erstaunt fest, dass es auf einmal richtig kalt geworden ist und die nackten Zehen plötzlich wehtun. Die Zähne klappern, und um warm zu werden müssen die beiden sich gegenseitig durch den Garten jagen. Und auch den Herbst wollen die Geschwister nicht einfach so hinnehmen. Sie veranstalten einen Sonnentanz mit Poolnudel und Taucherbrille um das Planschbecken herum.

Aber statt Sonnenschein schickt der Himmel Regen auf die Erde, und auch die Blätter hält es nicht mehr an den Bäumen. Aber Finn ist ein schlaues Kerlchen und überredet Frida, den Herbst wieder rückgängig zu machen.

Gerade nach den letzten warmen Sommertagen kann man Finn und Frida so richtig gut verstehen, man möchte all die schönen Dingen des Sommers, das Baden, die Sonnenstrahlen, das kühlende Eis, das Geplansche, die nackten Füße und die wenigen Kleidungsstücke am Leib nicht einfach so von einem Tag auf den anderen aufgeben. Der Übergang fällt schwer, Socken und Pulli engen ein, das Haus oder die Wohnung sind auf einmal viel zu klein. Jede Verlängerung des Sommers wäre also wirklich sehr willkommen!

Und so können Finn und Frida als sehr coole Vorbilder dienen, die sich auch von Unausweichlichem nicht so einfach unterkriegen lassen, die dieser neuen Situation mit kreativen Ideen begegnen und so spielerisch Übergangsrituale erfinden, die das Vergangene würdigen und das Neue wahrnehmen. Auch dies ist eine Art, wie man kann die kommende Jahreszeit schätzen und begrüßen kann.

Dieses Erstlesebuch macht es Leseanfängern zudem einfach, einen Übergang vom Bilderbuch zum längeren Roman zu finden. Die Illustrationen von Kerstin Meyer, die in einer Kombination aus bunten Sommerblumen und warmen Herbstfarben strahlen, bieten genügend Pausen im Text. Sie laden zum Schauen ein und kitzeln die eigenen Erinnerungen an den vergangenen Sommer hoch.
Der Text von Martin Klein wiederum besticht durch verständliche, nicht zu lange Sätzen, in denen aber durchaus ungewöhnliche Worte zu finden sind wie „Sommerregentropfen“ oder „Nordsee-Anfang-Juni-Temperatur“. Langweilig wird das sicher nicht.
Und ich bin ganz neidisch, dass die Schulanfänger von heute mit so coolen und kreativen Geschichten lesen lernen!

Martin Klein: Finn und Frieda halten den Herbst auf, Illustratorin: Kerstin Meyer, Tulipan, 2017, 48 Seiten, ab 7, 8,95 Euro

 

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Der Buchblog-Award 2017

Heute mal etwas in eigener Sache. Dieses Jahr wird auf der Frankfurter Buchmesse zum ersten Mal der Buchbog-Award vergeben. LETTERATUREN steht auf der Longlist, und ab heute könnt Ihr abstimmen, wer von den Nominierten auf die Shortlist soll – und zwar hier: http://www.buchblog-award.de/abstimmen/

Dort sind jede Menge andere Buchblogs aufgeführt – was kein Wunder ist, beschäftigen sich doch über 900 Menschen im Netz mit Büchern. Doch teilt sich diese Leidenschaft dort auch ganz wunderbar auf, wenn man sich die Spezialisierungen der Blogs anschaut: Manche befassen sich mit Fantasy oder Romance, Krimi & Thriller, andere mit Sachbüchern, wieder andere – so wie LETTERATUREN – mit Kinder- und Jugendbüchern.
In jeder dieser Kategorien werden die sieben beliebtesten ermittelt, aus denen dann eine Jury die Gewinner auswählt.

Die Aufstellung der nominierten Blogs mag im ersten Augenblick nicht sehr übersichtlich und eher abschreckend wirken. Doch durch die Suchfunktion kommt Ihr ganz schnell zu den Blogs, die Ihr mit Namen kennt und für die Ihr stimmen möchtet.
Falls Ihr die Namen nicht kennt oder Euch inspirierend lassen wollt, dann scrollt gemütlich nach unten und stöbert. Es gibt auf jeden Fall viel zu entdecken!
Bis zum 11. September habt Ihr Zeit abzustimmen.

Allen Nominierten des Buchblog-Award 2017 wünsche ich viel Glück!
Über Eure Stimmen würden Elke von Berkholz, Heike Brillmann-Ede und ich uns auf jeden Fall sehr freuen. Wir sind gespannt, was dabei herauskommt und ob wir es eine Runde weiterschaffen. Ich werde dann berichten …

Herzliche Grüße

Ulrike Schimming

Süße Medizin

Erster Eindruck: Ein hübsches Buch, gewichtig, mit rotem Leinenrücken und pinkem Lesebändchen, auf dem Einband sind sechs kleine, bunte Kinderhelden abgebildet: Sandmännchen, die kleine Raupe Nimmersatt, Tigerente, Paddington Bär, der kleine Prinz und der bunte Elefant Elmar. Sehr interessanter Titel: Die Romantherapie für Kinder nennen die Literaturwissenschaftlerinnen Ella Berthoud und Susan Elderkin ihr Kompendium, ein Ableger ihrer Romantherapie für Erwachsene. Kurz die Sorge, dass in diesem Buch vielleicht wirklich der richtige Roman für jede Malaise steht und Blogs wie LETTERATUREN überflüssig werden.

Das passiert natürlich nicht und ist von den Autorinnen auch nicht beabsichtigt: Berthoud und Elderkin haben nach dem Studium in Cambridge mein privates (Über-)Lebenselexier zur Geschäftsidee gemacht und bieten seit 2008 an der Londoner School of Life Bibliotherapie-Sitzungen an. Daraus entstand 2013 die Romantherapie und jetzt eben, unter Mithilfe der Programmdirektorin der lit.Cologne, Traudl Bünger, das Kompendium für Jüngere.

Die Idee eines umfassenden Ratgebers und einer soliden Hausapotheke gegen die unterschiedlichsten Probleme, Sorgen, Konflikte, Lebenslagen und Leiden ist bestechend und konsequent umgesetzt. Unter Stichworten von A wie Abenteuerlust, Akne oder Apokalypse; Angst haben vor ihr bis Z wie Zimmer teilen müssen, Zündeln und Zweiter Weltkrieg findet man jeweils mindestens zwei Bücher, die einem helfen, weil hier jemand mit denselben Widrigkeiten kämpft und eine Lösung findet. Diese Medizin für das jeweilige Problem ist zwar sperrig, manchmal bitter und überhaupt nicht zu schlucken. Die dazugehörigen Nebenwirkungen sind aber auf jeden Fall erwünscht: Anregung der Phantasie, erweiterter Horizont, gestärktes Selbstbewusstsein sowie Training der Lesefertigkeiten, Vergnügen und Glücksgefühle.

Dazwischen eingestreut sind 74 (falls ich mich nicht verzählt habe) Bestenlisten mit jeweils den zehn besten Büchern für zum Beispiel „heikle Esser“, über Werwölfe oder Vampire, zum Thema Selbstmord oder „um der eigenen Sexualität auf den Grund zu kommen“. Ersteren wird originellerweise mit Enid Blytons Fünf Freunden Appetit gemacht während kluge Gedanken zu Sex und Gender in Cornelia Funkes Die wilden Hühner und die Liebe, Andreas Steinhöfels Mitte der Welt oder neueren Romanen wie George von Alex Gino und Zusammen werden wir leuchten von Lisa Willamson zu finden sind.

Hier zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt der Romantherapie: Ob Klassiker oder Neuerscheinung, es werden fast nur Bücher von deutschen und anglo-amerikanischen Autorinnen und Autoren empfohlen sowie natürlich die üblichen Verdächtigen aus Skandinavien wie Astrid Lindgren oder Mumins-Schöpferin Tove Jansson. Da ist wenig wirklich Überraschendes dabei, man könnte es einen soliden Kanon nennen, bei dem manchmal ein moderner Klassiker in einen ungewöhnlichen, eigentlich merkwürdigen Kontext gestellt wird: So ist John Boynes Der Junge im gestreiften Pyjama unter dem Stichwort „Sinn, nach einem suchen“ einsortiert.

Dagegen fehlt fatalerweise unter E wie „Essstörung“ Mirjam Pressler brillantes Buch Bitterschokolade von 1980, das mich als Jugendliche noch lange beschäftigt hat.
Und zumindest auf die Liste der zehn besten Bücher über Hunde wenn schon nicht auf die, „die in einem Trauerfall helfen“ hätte das herzzerreißende koreanische Bilderbuch Abschied von Aika gehört.

Man findet kaum etwas wirklich bisher Unbekanntes und Neues, ein bisschen gemein gesagt vertraut die Romantherapie auf altbewährte Hausmittel.

Die Darreichungsform ist umso süßer und patientenfreundlicher: In der hübsch aufgemachten Verpackung stecken liebevoll geschriebene Buchbeschreibungen und Empfehlungen, durch die sich aufs Schönste in eigenen Leseerinnerungen und –erlebnissen schwelgen lässt. Allein die bloße Erwähnung des einen oder anderen Romantitels katapultiert Leser in die Kindheit und Jugend zurück und lässt lange Vergessenes neu erleben. Das funktioniert fast so intensiv wie Gerüche, die ja im ältesten Teil der Erinnerungen abgespeichert sind und zu ganz verwegenen Sinneseindrücken führen können. Das macht die Romantherapie auf jeden Fall sehr charmant. Und lässt den abgeklärten erwachsenen Leser, auf den auch die Version für Kinder letztlich zugeschnitten ist, die reichlich naive Sicht, man könnte mit einem Buch überzeugte Nichtleser für Bücher interessieren, verzeihen. Es kann keiner ernsthaft glauben, dass bei den gesondert aufgeführten Leseleiden von „Aufmerksamkeitsspanne, kurze“ bis „Vorgelesen bekommen, es nicht wollen“ Tipps wie „Spielen Sie mit der Buchgröße“, also wahlweise überdimensionierte und winzige Werke in die kleinen Hände zu geben, oder eine die Einführung einer „Vorlesestunde für die ganze Familie“ Abhilfe schaffen kann. Als Mutter eines gerade 16-Jährigen, der nach intensiven Vorlesejahren, unter anderem aller Harry-Potter-Bände, freiwillig nie wieder ein Buch in die Hand genommen hat, weiß ich das realistisch einzuschätzen. Es gibt Leser. Und es gibt hartnäckige Nichtleser, die selbst erzwungene Schullektüre weitestgehend durch Sekundärliteratur und Interpretationshilfen aus dem Internet zu umgehen wissen.

Die Romantherapie für Kinder ist in erster Linie ein Metalesevergnügen für erwachsene Leser. Für lesehungrige Kinder und Jugendliche kann sie in der einen oder anderen Situation sogar hilfreich und heilsam sein. Und obwohl das nun wirklich nicht mehr mein Thema ist, werde ich einer Empfehlung gern folgen und mitfiebern, wenn die Autoren Tom Ellen und Lucy Ivison aus wechselnder Perspektive Sannah & Ham umeinander herumtänzeln lassen, beim Versuch ihre Jungfräulichkeit zu verlieren (Carlsen, Chicken House). Der Roman ist mir 2014 entgangen und scheint ganz besonders sympathisch und bezaubernd mit dem Thema umzugehen. Sex bleibt wahrscheinlich ein Leben lang kompliziert, ein bisschen Medizin zur Entspannung kann nicht schaden.

Elke von Berkholz

Ella Berthoud & Susan Elderkin, mit Traudl Bünger: Die Romantherapie für Kinder, Übersetzung: Katja Bendele und Kirsten Riesselmann, Insel Verlag, 2017, 372 Seiten, 20 Euro

Von der Verführbarkeit

Hin und wieder wird mir mit fast entschuldigenden Worten ein Buch angekündigt, das an einem Tabu rührt, das ganz sicher kontrovers diskutiert werden wird, bei dem man Vorbehalte verstehen könne. All das regt natürlich meine Neugierde an – und zeigt gleichzeitig, wie beeinflussbar und manipulierbar ich bin, und sei es nur bei der Bewertung eines Buches.

Genau um das Thema der Beeinflussung, Verführbarkeit und Manipulation geht es in John Boynes neuem Roman Der Junge auf dem Berg, in der vorzüglichen Übersetzung von Ilse Layer. Ich werde trotz der Ankündigungen versuchen, meine eigene Einschätzung der Geschichte hier abzugeben.

John Boyne, der seit seinem Roman Der Junge im gestreiften Pyjama bekannt dafür ist, die deutsche Historie um den Nationalsozialismus aufwühlend anders darzustellen, erzählt nun in drei Teilen von dem Jungen Pierrot, der in Frankreich geboren wurde. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Deutscher, der im ersten Weltkrieg gekämpft und dort traumatisiert wurde.
Im ersten Teil verfolgen wir die frühe Kindheit Pierrots in Paris, seine Freundschaft zu dem tauben Nachbarsjungen Anshel, die häusliche Gewalt, die der trinkende Vater an der Mutter auslässt, das Verschwinden des Vater und den Tuberkulose-Tod der Mutter. Pierrot kommt in ein Waisenhaus, erlebt dort weitere Gewalt durch einen anderen Jungen. Schließlich findet sich die Schwester von Pierrots Vater, Tante Beatrix, die den Jungen bei sich aufnimmt.

Dieses „bei sich“ ist jedoch speziell, denn Tante Beatrix arbeitet als Hauswirtschafterin auf dem Berghof Adolf Hitlers in Berchtesgaden.
In den Teilen 2 und 3 des Romans, die die Jahre 1937 bis 1945 umfassen, schildert Boyne das Leben Pierrots auf dem Berghof und wie er sich von einem mitfühlenden Jungen in ein gefühlskaltes, karrieregeiles „Nazi-Spielzeug“ verwandelt.
Zunächst versteht Pierrot noch nicht viel von den Vorgängen auf dem Berghof, wundert sich, warum seine Tante und der Chauffeur ihm einen neuen Namen geben – Peter – und ihm einschärfen, dass er nie von seinem jüdischen Freund Anshel erzählen soll. Doch mit der Zeit, in der Pierrot immer öfter mit Hitler spricht, den Führer mit seinem zackigen Hitlergruß und seiner Ergebenheit beeindruckt, gerät er immer weiter in den Einflussbereich des Diktators.
Das geht so weit, dass er selbst den Chauffeur und damit auch seine Tante verrät, die vor den Augen des Jungen hingerichtet werden.

Mit anderen Worten, der Junge, dem man im ersten Teil alle Sympathien schenkt, wird zu einem echten Kotzbrocken und im Grunde zu einem Mittäter. Dies wird Pierrot am Ende des Krieges schließlich klar, doch seine Reue ist dann nur noch Teil des Epilogs.

Boyne, der konsequent aus der Sicht von Pierrot schreibt, ist ein Meister der Andeutung. Oft beschreibt er Dinge, die er nicht benennt, die er jedoch im Leser evoziert. Diese Art des Erzählens schätze ich sehr, lässt sie doch dem Leser genügend Spielraum, fordert ihn nachzudenken – und hält ihn somit bei der Stange. So leidet man anfangs mit Pierrot unglaublich mit, dessen Leben aus Verlust und Gewalt besteht. Man bekommt eine Ahnung, warum der Junge so von Uniformen begeistert ist, und erschrickt gleichzeitig, wenn der Chauffeur erklärt: „Uniformen erlauben es uns, unsere Grausamkeit auszuleben, ohne jemals Schuld zu empfinden.“
Und jeder, der in dieser Geschichte eine Uniform trägt, übt Gewalt aus.

Für mich sind es solche Sätze, die manchmal noch mehr als die Geschichte selbst, Messages transportieren, über die wir genauer nachdenken sollten.
Die Verführbarkeit die Boyne anhand von Pierrot schildert, ist ebenso wichtig, aber durch die Ausnahme-Kombination von „Junge trifft Führer und wird zum Nazi“, auch eher unrealistisch. Genau deshalb wird sein Roman schon als Parabel bezeichnet, aber Parabeln zeichnen sich auch durch den Abstand zum Leser aus. Man kann diese Geschichte dann wegschieben und sagen: „Ist ja nur Fiktion.“
Dass jeder Mensch verführbar ist, und Kinder ganz besonders, ist nicht unbedingt etwas Neues. Jedes Gespräch mit anderen, jeder Werbespot, jede Rede, jede Predigt, jedes Bild kann uns verführen. Die Frage ist, wie wir dem begegnen können. Vor allem, wenn es um die Manipulation durch Populisten geht. Die Wirkung solcher Geschichten wäre sicher nachhaltiger und fruchterregender als diese Parabel.

Zumal Boynes Geschichte im ersten Teil durch einen erzählerischen Kniff die deutsche Leserschaft etwas irritierend dürfte. Pierrot ist da bereits auf dem Berghof angekommen und für eine ganze Weile sprechen die Angestellten nur von dem „Herren“ und der „Herrin“, statt vom „Führer“ und von Eva Braun. Das ist so offensichtlich auf Spannung geschrieben, dass es mich immer wieder hat stolpern lassen und schon etwas genervt hat. In Teil 2 und 3, wo Boyne tatsächlich stattgefundene Begebenheiten auf dem Berghof verarbeitet hat (hier können sich Historiker über den Wahrheitsgehalt der Szenen auslassen), wechselt dann die Anrede, und es klingt sofort authentischer.

Sich darüber aufzuregen, dass Boyne Hitler fiktive Dialoge in den Mund legt, ist meines Erachtens unnütz. In diesem Sinne darf Fiktion einiges, was uns in genügend Filmen zu dieser Person bereits vorgeführt wurde. Das schockiert mich nicht. Pierrot sieht in Hitler zwar eine Vaterfigur, doch das macht den Diktator mitnichten sympathisch. Boyne gelingt es immer wieder, den Horror des Nazionalsozialismus‘ durchscheinen zu lassen, zudem konfrontiert er Pierrot immer wieder mit Menschen, die nicht für Hitler sind – was der Leser besser begreift als der verblendete Junge.

Man liest dieses Buch sehr schnell, durch die exzellente Erzählkunst Boynes und die geschmeidige Übersetzung von Ilse Layer, dennoch lässt es einen nicht so schnell wieder los. Auch wenn ich das eine oder andere anzumerken habe, habe ich lange gegrübelt. Anderen wird es womöglich ähnlich gehen.
Die Form der Parabel böte sich natürlich hervorragend an, diese Geschichte im Schulunterricht zu diskutieren. Allerdings nur mit der Einschränkung, dass umfassend über den Nationalsozialismus aufgeklärt wird, damit das gesamte Unrecht eingeordnet wird und die Schüler mit dem Schrecken nicht allein bleiben. So finden sie dann möglicherweise eine Haltung und einen Weg, sich gegen die allgegenwärtigen Verführer in unserer heutigen Gesellschaft zu wappnen.

John Boyne: Der Junge auf dem Berg, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer, 2017, 304 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

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Anleitung zum Hinterfragen

bernardyIm Grunde sind wir doch alle Philosophen, jedenfalls im Alter von vier oder fünf sind wir Meister im Fragenstellen. Erinnert Ihr Euch? Merkt Ihr es an Euren Kindern, Enkeln, Nichten oder Neffen? Ständig fragen sie: „Warum?“ Sei es aus Neugierde oder aus Protest, die Wissensgier der kleinen Menschen ist schier unerschöpflich.
Irgendwann werden diese Fragen weniger – vielleicht, weil man meint, die Welt nun endlich mal verstanden zu haben.
Nun ja, das ist hoffentlich nur eine Phase, die rasch wieder vergeht …

Damit Kinder gar nicht erst aus dem Fragemodus rauskommen, bieten sich Jörg Bernardys Philosophische Gedankensprünge ganz hervorragend an. In zehn Kapiteln liefert Bernardy neben philosophischem Grundwissen vor allem eins: Unmengen an Fragen. Die Antworten dazu bleibt er schuldig, und genau so soll es sein. Denn so animiert er die Leser_innen sich den wichtigsten Fragen des Lebens und Zusammenlebens zu stellen. Und eigene Schlüsse zu ziehen.

Es fängt scheinbar harmlos beim Ich an: Wer bin ich eigentlich? Was ist der Körper, was Geist, was Seele? Schon da kann man vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Was ist real? Was ist Projektion? Was ist der Mensch, was das Tier? Was ist schützenswerter? Und bevor man es richtig merkt, steckt man in ethischen Dilemmata, für die Philosophen seit Jahrtausenden nach Antworten und Lösungen suchen. Vermeintliche Sicherheiten, an die man sich möglicherweise seit Jahren geklammert haben, geraten auf einmal ins Wanken. Vielleicht muss man sich eingestehen, dass man doch nicht so viel weiß und dass es eben keine einfachen Antworten gibt.

Bernardy sensibilisiert jedoch nicht nur für Moral und Ethik, sondern thematisiert auch unseren Umgang mit Sprache und den neuen Medien. Mit manchmal durchaus provokanten Gedankenspielen regt er zum Nach-Denken der Dinge und Zustände an, die wir im Alltag mal so lässig über Smartphones in die Welt blasen. Was lösen unsere Worte aus? Was folgt aus ihnen? Was will ich mit meiner Selbstdarstellung erreichen?
Spätestens hier begreift auch der Letzte, wie wichtig philosophische Gedanken und Überlegungen für unser tägliches Leben sind – und das Philosophie kein abgehobenes Zeug für Intellektuelle und Professor_innen ist, sondern uns alle angeht: Sei es beim Einkauf im Supermarkt oder bei der Bewertung von Nachrichten und Medien.

In diesem Sinne sind die Philosophischen Gedankensprünge von Jörg Bernardy nicht nur etwas für Jugendliche, sondern auch für Erziehungsberechtigte, die sich auf die nächste Phase voller Fragen wappnen und für heiße Diskussionen am Abendbrottisch gut vorbereitet sein möchten.
Das wir alle als Gesellschaft aus diesen kommenden Diskussionen dann etwas haben werden, davon bin ich überzeugt, denn das einmal gestärkte Bewusstsein für das Hinterfragen von bestehenden Zuständen wird im Leben der jungen wie alten Leser_innen nicht mehr verschwinden. Es wird sich viel mehr auf unseren Umgang mit anderen Menschen, Tieren und Natur, unseren Konsum und unser Wahlverhalten auswirken.
Es gibt also Hoffnung auf eine andere Zukunft.

Jörg Bernardy: Philosophische Gedankensprünge, Beltz & Gelberg, 2017, 140 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

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Kunstklau gegen Raubkunst

cat dealNur mit den Fingerspitzen hängt sie am Fenstersims einer Londoner Stadtvilla, zehn Meter über dem Asphalt, die Alarmanlage schrillt trommelfellzerfetzend, aus den unteren Stockwerken schlagen Flammen – schon mit der ersten actiongeladenen, Bond-dynamischen und schnodderig kommentierten Szene hat sich Catherine Burke alias Cat Deal, Fassadenkletterin und Meisterdiebin, in mein Leserherz gestohlen. Zwei Seiten später erfährt man in Kate Freys packendem Krimi nebenbei ganz undramatisch, dass Cat eine Waise ist und die Geschichte brandaktuell, bestiehlt die tollkühne 16-Jährige doch gerade einen „Typen, der seine Regierung um Milliarden betrog. Mit dem Geld kaufte er Immobilien in ganz London. Und seine verzweifelten Landsleute in Griechenland brachten ihre Kinder in SOS-Dörfern unter, weil sie sie nicht ernähren konnten. Und das in Europa!“

Cat Deal ist eigentlich die klassische Einzelkämpferin, die nur sich selbst vertraut und auf sich selbst verlässt. Mit Ausnahme ihres pelzigen Freunds Simon, einer Ratte (später gibt’s noch ein Lob für die unterschätzten Anpassungs- und Überlebenskünstler: „Diebe sind wie Ratten, dachte Lord Peter bei sich, und das war in keiner Weise abwertend gemeint. Ratten sind hochsensible, intelligente Tiere, die Gefahr förmlich riechen und sich dann schnellstens aus dem Staub machen.“ Kluge Einschätzung, Mylord). Aber diesmal, in der brenzligen Eröffnungsszene, ist trotz der wortwörtlich minutiös zu Musikstücken von Cat geplanten, choreographieren und geprobten Klaupläne etwas schief gelaufen: Auf dem Dach hat ihr jemand die Beute abgejagt. Und jetzt steht sie beim Auftraggeber in der Schuld. Immerhin ging ihr ein millionenschweres, juwelenbesetztes Platinarmband flöten. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit Peter Charles Michael William Haversham der Vierte, Baron von Leonwood Castle, dessen jungem pakistanischen Assistenten und Hackergenie Asim und Butler Vincent zu arbeiten. Mit Cats Hilfe will Lord Peter (ältere Leser wie ich erinnern sich bei dem Namen wohlig an den sympathisch exzentrischen Detektiv Lord Peter Wimsey der scharfsinnigen englischen Krimiautorin Dorothy L. Sayers) aus dem Archiv der Tate Modern ein Bild des Dadaisten Kurt Schwitters entwenden und es der von den Nazis enteigneten, rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben.

Und so arbeitet die 16-Jährige erstmals in einem Team – im besten Sinne. Eine Handvoll Individualisten und Außenseiter, die kooperieren, weil sie jeweils die Besten ihres Fachs, ihrer Kunst sozusagen, sind und damit das Optimale, sogar das Unmögliche erreichen. Und weil sie, wenn nötig, flexibel reagieren und Alleingänge wagen, anstatt sich starr an Planungen und Absprachen zu klammern und gegenseitig auszubremsen.

Mit Cat erfahren wir einiges über Raubkunst und den mehr als halbseidenen Kunstmarkt. Der Fall des Kunstsammlers Gurlitt wird angedeutet; das Drama um Gustav Klimts berühmtes Bild „Die goldene Adele“ spielt eine Schlüsselrolle, vor ein paar Jahren packend mit Helen Mirren als um Gerechtigkeit kämpfende Erbin verfilmt.

Grandios sind auch die elegant geplanten Einbrüche, die in ihrer Raffinesse und bestechenden Intelligenz an cineastische Klassiker wie Rififi, Ocean’s Eleven oder den absolut sehens- und liebenswerten deutschen Film Schrotten! heranreichen.

Man erfährt Wissenswertes über Selbstverteidigung, insbesondere als Frau und wie sie die Schwäche in Stärke verwandeln, also vermeintliche Unterlegenheit zu ihrem Vorteil ausnutzen kann; und über das Explosionspotenzial von Haushaltsreinigern. Man lernt London kennen und seinen Untergrund. Man taucht ein ins Darknet. Oder exklusive Adelskreise und deren Gepflogenheiten. Auch aktuelle Politik kommt zur Sprache: „Lord Peter hatte gegen den Brexit gestimmt, musste aber nun mit dem Ergebnis leben. Wie alle anderen auch. Auch die, die nicht zur Wahl gegangen waren, weil sie dachten, es wäre nicht nötig. Diesmal hatten die gewonnen, die es verstanden Ängste zu schüren.“

Dazu kommen in diesem furiosen Husarenstück noch spritzige, schlagfertige Dialoge. Mit „rote Backsteine sind rote Backsteine sind rote Backsteine“ lässt Gertrude Stein ironisch grüßen. Außerdem ist es ein bisschen eine Coming-of-Age-Story, ein Hauch Liebesgeschichte und ein Schuss Familiendrama (was fast ein bisschen zu deutlich zum Schluss im Raum steht, ein subtilerer Cliffhanger hätte es auch getan).

Also, liebe Leser, lasst Euch von dieser modernen Robin Hood des Kunstmarkts etwas Zeit stehlen, Ihr bekommt es zigfach zurück und seid anschließend um viel mehr als nur das schiere Lesevergnügen reicher. Das Gute ist, weil ich das Buch erst jetzt vorstelle, müsst Ihr nur kurz warten, bevor Ihr Euch ab dem 18. August mit Cat & Co. Nach allen Regeln der Kunst (so der Titel des zweiten Bands) ins nächste Abenteuer stürzen könnt.

Elke von Berkholz

Kate Frey: Cat Deal – Die Kunst zu stehlen, Ueberreuter, 2017, 315 Seiten, ab 12, 14,95 Euro

Gegen den Hass

Wie soll man mit Polizeigewalt umgehen? Diese Frage stellte sich Hamburg nach den Ausschreitungen beim G20 Anfang Juli. Eine Antwort ist noch nicht gefunden und langsam geraten die Geschehnisse, die zum Glück relativ glimpflich ausgegangen sind, wieder in Vergessenheit.

Anders sieht es in den USA aus, wo die Gewalt von vornehmlich weißen Polizisten viel zu oft schwarze Mitbürger trifft, oftmals ohne jeglichen Anlass. Genau so einen Fall schildert die Autorin Angie Thomas in ihrem eindrucksvollen Debüt The Hate U Give, kurz THUG.

Die 16-jährige Ich-Erzählerin Starr lebt mit ihrer Patchwork-Familie in einem sozialen Brennpunkt, einem Schwarzen-Ghetto, in einer amerikanischen Großstadt. Seit sie mit zehn erlebt hat, wie ihre beste Freundin aus einem Auto heraus erschossen wurde, geht sie jedoch auf eine private High School in einem Viertel von wohlhabenden Weißen. So führt sie quasi zwei Leben, ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Hood mit ihrem Slang und ihrem coolen Auftreten als einzige Schwarze an der Reichen-Schule, wo sie sich zurücknimmt, um nicht als Bitch angesehen zu werden.

Auf einer Party in ihrem Wohnviertel trifft sie ihren Kindheitsfreund Khalil wieder. Als es zu einer Schießerei kommt, hauen die beiden im Auto ab. Weil ein Rücklicht nicht funktioniert, werden sie von einem Streifenwagen angehalten und kontrolliert. Die beiden verhalten sich ruhig und kooperativ, dennoch es kommt zur Katastrophe. Der Polizist erschießt Khalil von hinten.

So weit, so schrecklich. Doch was Starr nach diesem Erlebnis durchmachen muss, ist nicht weniger empörend. Die Polizei, bei der Starr eine Aussage macht, verdreht ihr quasi die Worte im Mund, macht die Jugendlichen zu Tätern und den Beamten zum Opfer. Khalil wird in der Öffentlichkeit als Drogenhändler und Gangmitglied hingestellt, so dass der Tenor aufkommt, es wäre quasi okay, dass er erschossen wurde. Denn er war ja also selbst schuld daran.
Bis schließlich eine Staatsanwältin Starr anhört und ein Geschworenengericht über eine Anklage des Polizisten entscheiden soll, vergehen Wochen, die mit Ausschreitungen im Ghetto enden.

Starr ist in dieser Zeit völlig verunsichert. Sie fürchtet um ihr Leben, kann mit ihren Freunden nicht über ihr Erlebnis reden, weil niemand wissen soll, dass sie die Zeugin ist. Doch entsprechen ihrer Erziehung – ganz im Sinne der Black Panthers – ist sie auch bereit, die Stimme zu erheben, um für Khalil und die schwarze Community zu kämpfen. Schließlich nimmt sie allen Mut zusammen.

Angie Thomas gelingt es, auch dank der großartigen Übersetzung von Henriette Zeltner, den hiesigen Lesern einen tiefgründigen Einblick in das Leben der Schwarzen in den USA zu vermitteln. Sie verarbeitet darin vor allem die Umdeutung des Begriffes „thug life“ („Gangsterleben“) durch den 1996 verstorbenen Rapper Tupac.
Dabei steht das titelgebende Akronym für: „The Hate U Give Little Infants Fucks Everyone“, was so viel bedeutet wie: „Der Hass, den man seinen Kindern mit auf den Weg gibt, schadet allen“. Ganz im Sinne Tupacs zeigt Thomas, wie die Kinder in einem Schwarzen-Ghetto durch gesellschaftliche Intoleranz und Rassismus zu Kriminellen werden, was diese eigentlich gar nicht wollen. Doch oftmals haben sie einfach keine andere Chance, um zu überleben.

Thomas entschuldigt jedoch nichts. Sie zeigt Missverhältnisse auf, weist auf Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten hin. Und in all der schier ausweglosen Tristesse keimt doch Hoffnung auf, wenn die Menschen zusammenstehen, über die Grenzen der Hautfarbe hinweg, wenn sie die Gelegenheit zum Ausstieg aus kriminellen Strukturen nutzten und Rückhalt bei Freunden, Familie und Nachbarn finden.
Und daran können wir uns ein Beispiel nehmen. Deutschland ist zwar von diesen speziellen amerikanischen Verhältnissen noch ein gutes Stück entfernt, doch Parallelwelten von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen gibt es auch hier. Da sind viele schnell mit Vorurteilen und Ablehnung zur Stelle, und der Schritt zur Gewalt ist dann manchmal nicht weit. Hier ist es unsere Aufgabe, innezuhalten und darüber nachzudenken, was jeder von uns dazu beitragen kann, damit wir unseren Kindern nicht diesen zerstörerischen Hass mitgeben.

Was The Hate U Give zusätzlich faszinierend macht, ist der sprachliche Umgang mit dem Slang der Black Community. Da werden gewisse Ausdrücke nicht übersetzt und fügen sich doch ganz selbstverständlich in den Text ein. Übersetzerin Henriette Zeltner ist hier ein cooler Spagat zwischen diesen Originalbegriffen und lockerer deutscher Umgangssprache gelungen, die die Eigenheiten von Starrs Familie und ihrer Hood zeigen. Ein Glossar am Ende des Romans listet dann noch einmal alle speziellen Begriffe auf und bringt einem das Leben im Ghetto mit seinen Facetten aus Politik, Rap, Gangs, Basketball und Südstaatenküche näher.

Junge Leser bekommen mit diesem Roman einen eindrucksvollen Eindruck davon, dass hinter einer coolen Fassade (junger amerikanischer Schwarzer) mehr steckt als harte Rappmusik, die neuesten Sneakers (Starr steht voll auf Basketballtreter) und sexy Dancemoves. Die Angst ums eigene Leben, die Angst um die Familie, die Unsicherheit, wenn man einem Polizisten begegnet, sind für Starr allgegenwärtig. Und dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Starke Starr!

Angie Thomas: The Hate U Give, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbt, 2017, 512 Seiten, ab 14, 17,99 Euro

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Für die Liebe

Seit ein paar Wochen ist bei uns in Deutschland die Ehe für alle eine beschlossene Sache, und ich freue mich, dass alle Liebende, egal, welche sexuellen Präferenzen sie haben, heiraten können, wenn sie das denn wollen.

Mit dem Beschluss der Ehe für alle haben jedoch in gewissen Kreisen die Diskussionen und die Ablehnung der Ehe für Homosexuelle nicht aufgehört, sondern nehmen zum Teil echt absurd maßlose Züge an, wenn pauschal Homosexuellen pädophile Neigungen unterstellt werden. Man fasst sich an den Kopf und möchte diese Menschen eigentlich nur schütteln. Alternativ könnte man ihnen jetzt auch das Buch Väterland des Franco-Algeriers Christophe Léon in die Hand drücken, damit sie alle noch mal genau überlegen, was sie da eigentlich von sich geben.

In Väterland beschreibt Léon ein dystopisches Frankreich, in dem einst die Ehe für alle üblich, also eigentlich nicht der Rede wert war. So haben George und Phil vor 15 Jahren geheiratet und dann Gabrielle als Baby aus Somalia adoptiert. Jahrelang führen die beiden Künstler und das Mädchen ein unbeschwertes Familienleben. Gabrielle liebt ihre beiden Väter über alles.
Doch nach und nach ändert sich die Stimmung im Land. Die Nachbarn schauen das Paar anders an, Gabrielle wird in der Schule von Mitschülern beschimpft, ehemalige Freunde meiden die Familie. Die Regierung veranlasst, dass Homosexuelle neue Pässe bekommen, mit dem offensichtlichen Vermerk ihrer sexuellen Ausrichtung. Die Betroffenen werden gezwungen, eine rosa Stoffraute an der Kleidung zu tragen, und müssen schließlich aus der Pariser Innenstadt in ein Ghetto am Stadtrand ziehen.

Spätestens hier kommen definitiv unangenehme Assoziationen hoch, an die Zeiten vor über 70 Jahren, als die Nazis genau das in unserem Land getan haben. Nur dass sie die Homosexuellen nicht ins Ghetto, sondern gleich ins Konzentrationslager deportiert haben. Doch auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Diskriminierung von Homosexuellen hier noch lange nicht aufgehört. Trotz Ehe für alle sind wir, meines Erachtens, noch weit von einer Gesellschaft entfernt, in der es völlig egal ist, welche sexuellen Vorlieben man hat, und in der man gelassen und ohne journalistischen Voyeurismus damit umgeht. So lange das jedoch nicht erreicht ist, kann die Stimmung immer wieder umschlagen, und genau das zeigt Christophe Léon.

In seinem kurzen Roman schafft er sehr rasch eine bedrohliche Atmosphäre von Angst und Überwachung. Er nutzt dafür die Ich-Erzählung der 12-jährigen Gabrielle, die davon berichtet, wie ihre Väter unerlaubterweise nach Paris fahren, um ihr ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Auf dem Weg in die Stadt haben die Väter einen Unfall und flüchten verletzt durch die Straßen – auf Hilfe von Mitbürgern können sie nicht hoffen. Diese rufen vielmehr sofort die 666 – eine sehr schöne teuflische Metapher –, damit die Miliz sofort mit der Jagd auf die „Rosa Rauten“ beginnt. George und Phil versuchen, den allgegenwärtigen Überwachungskameras und Abfangbrigaden zu entgehen und wieder zu ihrer Tochter zu gelangen …

Schon nach den ersten Seiten finden sich die Leser in einem orwellschen Kosmos in der Gegenwart wieder, den man so überhaupt nicht möchte. Der jedoch, wenn wir ehrlich sind, gar nicht so weit entfernt ist. Dieses Unbehagen an der allgegenwärtigen Überwachung paart sich mit der so großartigen Liebe zwischen George, Phil und Gabrielle, so dass man das gesamte Buch mit den dreien mitfiebert. Man leidet mit, wenn die Väter verfolgt werden, man empört sich, wenn sie die Raute tragen sollen, man freut sich, wenn sie ihre Tochter mit hintersinnigem Witz verteidigen oder eine letzte große Ausstellung eröffnen.
Am Ende, das dann fast viel zu schnell kommt, möchte man die drei gar nicht loslassen, will wissen, wie es mit ihnen weitergeht, und hofft, dass sie es den Häschern entkommen.

Und genau so soll Literatur für mich sein. Sie soll mich gefühlsmäßig aufwühlen und gleichzeitig für gesellschaftliche Zustände sensibilisieren, die ganz schnell wieder in fürchterliche Extreme kippen können. Wehret den Anfängen, möchte man rufen, nicht nur angesichts von Rechtsrockkonzerten mit Tausenden von Nazis, sondern auch von verbohrten Menschen, die in Vorurteilen und Angst (vor was?) verhaftet geblieben sind und sich keine Liebe jenseits von Mann und Frau vorstellen können.

Väterland ist eine bittere Lektüre, doch vielleicht trägt sie zu mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit von anderen Lebens- und Liebesformen bei.
Das wünsche ich mir jedenfalls.

Christophe Léon: Väterland, Übersetzung: Rosemarie Griebel-Kruip, Mixtvision, 2017, 116 Seiten, ab 14, 9,90 Euro

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Geschwister und andere Katastrophen

Da kann man sich tausendmal vernünftigerweise sagen, dass Blut nicht dicker als Wasser ist und nur weil man mit jemandem genetisch verwandt ist, man nicht automatisch mit ihm verbunden ist: Die Beziehung zwischen Geschwistern ist und bleibt speziell, zwischen Schwestern, die sich altersmäßig kaum unterscheiden, extrem.

Lauren Oliver hat mit Als ich dich suchte ein besonderes Buch über zwei Schwestern geschrieben. Ein Roman, der gleichzeitig auch Krimi, Psychothriller und zarte Liebesgeschichte ist. Ein Buch, das einen gleich packt und nicht mehr loslässt, weil es provokativ beginnt: „Das Komische daran, beinahe gestorben zu sein, ist, dass anschießend alle meinen, du müsstest ununterbrochen auf dem Glückstrip sein, Schmetterlingen im grünen Gras nachjagen oder in jeder Ölpfütze auf dem Highway einen Regenbogen entdecken. Das Leben ist ein Geschenk, um das du nie gebeten hast, das du dir nie gewünscht hast, nie haben wolltest.“

Wer jetzt glaubt oder auch fürchtet, dass nach diesem lakonisch-abgeklärtem Auftakt die große Glücksbärchi-Geschichte folgt und zum Schluss die Erzählerin Nick mit Schmetterlingen tanzt und das Leben begeistert umarmt, dass es nur so kracht, der wird zum Glück enttäuscht. Zur Zeit ist es bei Prominenten jeden Alters angesagt, permanent von „Demut“ zu sprechen, die sie angesichts ihres Lebens empfinden, von „Dankbarkeit“ für das, was sie haben.

Nick aber hat allen Grund, stinksauer auf ihr Leben zu sein: Ihre knapp ein Jahr jüngere Schwester Dara, die immer im Mittelpunkt steht, die alle lieben, die jeden haben könnte, hat ausgerechnet Nicks besten Freund seit Kindertagen geküsst. Ihr Vater hat die Familie für eine schönheitsoperierte, flachsinnige Witwe verlassen, die Mutter ist seitdem ein tablettengesteuerter Schatten ihrer selbst. Beide Schwestern hat es aus der Bahn einer glücklichen Kindheit geworfen. Dann erleiden die Mädchen einen schrecklichen Autounfall und fortan spricht Dara nicht mehr mit Nick. In Rückblenden und Zeitsprüngen wird aus der Sicht von Nick und Dara erzählt, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist. Parallel sorgt das rätselhafte Verschwinden eines neunjährigen Mädchens für zusätzliche Spannung. Und irgendwann ist auch Dara nicht mehr da. Vanishing Girls lautet der Originaltitel von Olivers neuem Jugendroman. Als ich dich suchte trifft es jedoch fast besser, weil Nick nicht nur ihre Schwester wiederzufinden versucht. Und nicht zuletzt ist da auch noch Nicks Freund, der Nachbarsjunge Parker …

Das alles verknüpft Lauren Oliver virtuos und erzählt mitreißend und unprätentiös, treffsicher übersetzt von Katharina Diestelmeier. Wiederholt finden sich so kluge, hellsichtige Sätze und Beobachtungen wie „das ist das Blöde an Therapeuten: Man bezahlt sie dafür, dass sie einem denselben Quatsch erzählen, den andere umsonst sagen.“ Oder: „Ist dir schon mal aufgefallen, dass wirklich glückliche Paare nicht das Bedürfnis haben, andauernd miteinander rumzuhängen?“

Neben dem echten Krimi, der mutmaßlichen Entführung einer Grundschülerin, spielt das wahre Drama zwischen den so unterschiedlichen Schwestern: Wie können sich zwei Menschen so nah und doch so fern sein? Nie ausgesprochene Eifersucht, Neid, Groll, Bewunderung und angeeignete Rollen führen zu grotesken Missverständnissen.

Die Lösung und gleichzeitig Katharsis der Geschichte kommt überraschend. Cineasten fühlen sich an einen Psychothriller vom Ende der 90er Jahre erinnert, aber der ist für die jugendliche Zielgruppe sicher entschieden zu lange her. Als ich dich suchte startet durch seine atmosphärisch dichte Erzählweise, plastische Charaktere und intensiv beschriebenen, widersprüchlichen Gefühle sofort ganz großes Kopfkino. Und sollte auch dieses Buch wie aktuell Lauren Olivers Debüt Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie (Carlsen 2010, Originaltitel Before I fall) verfilmt werden, wird es selbst für begnadete Schauspielerinnen schwer, die emotionale Vielfalt zu spielen.

Dieser mit schlagkräftiger Direktheit, lakonischem Witz und berührender Zartheit geschriebene Roman über Geschwisterhassliebe, Schuld und Sühne ist ein Plädoyer fürs Lesen. Und nicht zuletzt hervorragende Ferienlektüre.

Elke von Berkholz

Lauren Oliver: Als ich dich suchte, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen, 2017, 368 Seiten, ab 13, 19,99 Euro

Menschlichkeit im Unmenschlichen

ravensbrückHeute stelle ich nach sehr langer Zeit mal kein Kinder- oder Jugendbuch vor, auch wenn der Titel von Valentine Gobys Roman das vermuten lassen könnte. Doch Kinderzimmer ist alles andere als ein Kinderbuch.

Die Französin Goby nimmt den Leser hierin auf eine überaus bittere Reise ins Konzentrationslager Ravensbrück mit. Dort kommt im Frühjahr 1944 die junge Suzanne Langlois, genannt Mila, an. Mila war im französischen Widerstand tätig, hat Nachrichten für den Untergrund kodiert (mit einem Notensystem, das Übersetzerin Claudia Steinitz im Detail nachgebildet hat, was eine Heidenarbeit gewesen sein muss) und für eine Nacht einen Widerstandskämpfer versteckt. Von ihm ist sie schwanger. Schwanger im KZ.

Mila, deren Mutter sich umgebracht hat, als sie klein war, befindet sich in einem fast unvorstellbaren Zustand des Nicht-Wissens: Sie weiß nichts über die Vorgänge in ihrem Körper, sie weiß nichts über den Vater des Kindes, sie weiß nicht, wo sie in Deutschland ist oder wie das Leben in einem KZ laufen soll. Sie versteht kein Deutsch. In diesem Nicht-Wissen ist sie zunächst auf sich allein gestellt und erlebt den ganzen Horror im Frauenlager: Den Austausch der Kleidung, das Rasieren der Haare, die unsensible gynäkologische Untersuchung, dazu der tägliche Kampf um das Essen, um den Schlafplatz, die Zahnbürste, die Blechschüssel. Mila ahnt, dass sie schwanger ist, wagt es jedoch nicht, ihren Bauch zu betrachten. Dieser Bauch, der durch die Entbehrungen und den Hunger nicht richtig wächst.

Valentine Goby erzählt von Milas Schicksal in kurzen, oftmals fast schon nüchternen Sätzen, von Claudia Steinitz höchst feinfühlig ins Deutsche gebracht. Goby schönt nichts. Sie benennt den Hunger, die Auszehrungen, die drangvolle Enge in den Baracken, die Krankheiten, die Ausscheidungen, den Gestank, das Sterben, die ausgemergelten Toten. Die Bilder, die sie dadurch im Leser heraufbeschwört, sind kaum zu ertragen.
Und mittendrin Mila, in der ein kleiner Mensch heranreift.
Man wagt es kaum zu hoffen, doch Mila bringt ihren Sohn tatsächlich zur Welt. Anfangs ist James noch rosig, hat schwarzes Haar. Zusammen Teresa, einer Polin, die zu Milas bester Freundin wird, und ein paar anderen Frauen, versucht sie, James durchzubringen.
Doch James ist nicht das einzige Baby in Ravensbrück. Es gibt ein Kinderzimmer, in dem etwa 50 Babys untergebracht werden. Sie liegen aufgereiht auf Strohmatratzen, pro Kind gibt es nur eine Windel. Die Kinder dämmern folglich in ihren Exkrementen vor sich hin und verwandeln sich, je älter sie werden, in winzige Greise. Es gibt nicht genug Nahrung für sie, denn die meisten Mütter haben keine Milch. Auch Mila muss James irgendwann einer anderen Frau zum Stillen geben. Sie versuchen, sich gegenseitig zu helfen. Doch neben dem Hunger setzt auch die Kälte im Winter den Kleinsten zu. Kohlen für das Kinderzimmer gibt es nicht.

In all diesem Elend wird James zur Stütze für Mila und für Teresa. Er ist der Einbruch des freien Lebens in das Lager. Er ist der Hoffnungsschimmer auf ein Leben nach dem KZ, für ihn bleiben die Frauen stark.

Goby verhandelt in diesem Buch nichts weniger als die Essenz des Lebens, die das Sterben so lange hinauszuzögern weiß, wie es nur geht. Selbst unter den unmenschlichsten Umständen. Doch dazu braucht der Mensch Hoffnung und das Mitgefühl anderer Menschen. So erlebt Mila immer wieder Hilfe und eben dieses Mitgefühl. Die gefangenen Frauen bauen sich gegenseitig auf, so gut es eben geht, sie bringen sich Deutsch bei, singen Lieder, erzählen sich Geschichten, teilen das Wenige, wärmen sich. Natürlich gibt es auch Eigennutz, doch der geht letztendlich in der Menschlichkeit unter, die die Frauen zusammenschweißt.
Doch auch von den Frauen, die Mila helfen, überleben nicht alle. Zu heftig wüten Ruhr, Cholera und Flecktyphus, zu niederschmetternd ist es, das eigene Kind zu verlieren. Mila jedoch hält sich an ihrem Kind fest, klammert sich an das Leben und schafft es schließlich wieder nach Frankreich zurück.

Trotz aller Grausamkeiten, die Mila in Ravensbrück erlebt, die einem sehr, sehr nahe gehen und bedrücken, konnte ich dieses Buch nicht weglegen. Denn man hofft und bangt mit ihr. Man erlebt, wie sie von der Nicht-Wissenden zur Wissenden wird, und wie sie schließlich am Ende ihr Wissen um die Vorgänge in Ravensbrück weitergibt.
Denn auch darum geht es bei Valentine Goby: Wissen weitergeben, erinnern, immer wieder erinnern, jeden Tag.

Und wer jetzt sagt, so etwas darf man auf fiktive Art aber nicht, dem erwidert Mila:
„Man braucht Historiker, um über die Ereignisse zu berichten; Zeugen, die ihre persönliche Geschichte erzählen, und Schriftsteller, um zu erfinden, was für immer verschwunden ist: den Augenblick.“

Valentine Goby holt viele Augenblicke zurück, die so oder so ähnlich nicht nur in Ravensbrück stattgefunden haben. Damit wir, die Nachgeborenen, ein unmittelbareres Gefühl für die Zustände in einem KZ bekommen, damit wir das Leid der Insassen auch heute noch verspüren, es nie wieder vergessen und nicht zulassen, dass auch nur ansatzweise so etwas wieder passiert. Hier oder anderswo.

Für dieses eindrucksvolle Buch ist die Autorin mit dem Prix des Libraires 2014 und dem Annalise-Wagner-Preis 2017 ausgezeichnet worden.

Traut euch, es zu lesen.

Valentine Goby: Kinderzimmer, Übersetzung: Claudia Steinitz, ebersbach & simon, 2017, 234 Seiten, 19,95 Euro

Noch mal…

Bilderbücher sind ja angeblich eine schnelle Sache. Wenige Seiten, meistens große, sehr entzückende Bilder, kaum Text. Da ist man schnell durch und kann sich gleich das nächste schnappen. Denkste. Hier gibt es nun zwei Bilderbücher, die es in sich haben und die bei jedem Lesen anders erscheinen.

So stellt der französische Illustrator Olivier Tallec die vermeintlich harmlose Frage Wie war das?, die uns im Alltag eigentlich ständig herausrutscht, wenn wir mal wieder abgelenkt, unaufmerksam oder multitaskingmäßig unterwegs waren. In Tallecs querformatigem Bilderbuch werden nun die Betrachter_innen auf jeder Doppelseite mit einer Frage konfrontiert: Wer trägt einen gelben Schal? Wovor hat Olive Angst? Wer versteckt sich unter der Bettdecke?
Neben den Fragen tummeln sich charmante Figuren, Kinder, bebrillte Langohrhasen, ein Löwe, ein Wolf, Monster, Plüschtiere mit oder ohne Kappen oder Unterhosen auf den großen Köpfen. Schon allein der Anblick dieser Gesellen ist ein Wonne.

Doch diese Fragen, diese so simplen Fragen, dürften die meisten Betrachter_innen in so manche Verlegenheit bringen. Denn immer bezieht sich die Frage auf die Seite, die man gerade umgeschlagen hat. Und wenn man zuvor nicht genau geschaut hat, steht man ganz schön auf dem Schlauch: Zähne? Hatte das Monster etwa Zähne? Ja, hatte es, man muss nur achtsam sein und alles intensiv ansehen.
Je nach Aufmerksamkeitsspanne der Kinder kann es ganz schön dauern, bis man die Lösungen so präsent hat, dass das Buch langweilig wird. Bis es so weit ist, trainieren die Lütten hier ganz spielerisch die Konzentration und das Gedächtnis.

Und selbst, wenn man immer wieder falsch liegt, so entdeckt man bei dem Vor- und Zurückblättern ständig neue Details der Rasselbande. Und hat jede Menge Spaß.

Auch im Bilderbuch der niederländischen Illustratorin Mies van Hout sollte man genau hinsehen. Hier werden die Betrachter_innen jedoch auf andere Art gefordert. So ziehen anfangs ein Junge, ein Mädchen und eine Katze los zum Spielplatz.

Auf großen aquarellierten Doppelseiten suchen sich die kleinen Helden ihren Weg durch verschiedene, wunderbar quietschbunte Labyrinthe, einen Garten, durch Baumwipfel, über einen Krokodilfluss. Und nicht immer ist der richtige Weg auf den ersten Blick zu erkennen.

Da dürfen beispielsweise die Vögel in den Nestern nicht gestört werden oder die Wege durch die Brombeeren enden in dornigen Sackgassen. Doch es gibt zumindest eine kleine Orientierung in Form von roten Pfeilen, links und rechts an den Seitenrändern, die die Richtung anzeigen.

Zunächst ist man so mit der Wegefindung und dem Ausweichen beschäftigt, dass man erst am Ende merkt, dass die Kinder auf einmal nicht mehr allein unterwegs sind. Und schon schaut man noch mal, wo die vielen Spielgefährten denn so plötzlich hergekommen sind.
Allerdings sollte man kleinen Spielplatz-Erobern keine Stifte in die Hand geben, mit denen so gern die Weg eingezeichnet werden. Denn ist die Lösung erst einmal unauslöschlich in das Bilderbuch hineingemalt, ist der Reiz fürs nächste Mal leider weg.

Rein optisch mag ich an beiden Büchern, dass die Cover mit so viel Weißraum gestaltet sind und so schon auf den ersten Blick diese Leichtigkeit vermitteln, die sich dann in ihren spielerischen Inhalten wiederfinden lässt.

Olivier Tallec: Wie war das?, Ü: Miriam Zimmer, Gerstenberg, 2017, 32 Seiten, ab 3, 9,95 Euro

Mies van Hout: Spielplatz, Aracari Verlag, 2017, 32 Seiten, ab 3, 14,90 Euro

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Kunstwerk mit Köpfchen

Neulich unterhielt ich mich sehr ernsthaft mit meiner fünfjährigen Nichte über Kopfschmerzen. Sie berichtete, dass sie eigentlich sehr genau weiß, was bei ihr Kopfschmerzen auslöst. Ich war beeindruckt. Denn das weiß ich bei mir selbst manchmal nicht.

Dass der menschliche Kopf eine geniale Angelegenheit ist und sowohl unsere Sprache, wie auch unsere Kunst beeinflusst, beweisen die Tschechen David Böhm und Ondrej Buddeus in ihrem Bilder-Sachbuch Kopf im Kopf, ins Deutsche übertragen von Doris Kouba.

In einer Mischung aus kurzen Texten und Bildern von menschlichen Köpfen in allen Formen, Farben und Arten erfährt man so allerhand, angefangen bei den Redewendungen, in denen wir alle Teile des Gesichtes – also Nase, Mund, Augen, Ohren, Lippen – für unsere Kommunikation nutzen.
Ausklappbare Seiten erzählen großformatig von den Vorgängen in unserem Gehirn, entführen ins fiktive Kopfland oder zeigen das Portfolio eines Detektivs in Sachen Phantombild. Halbe Seiten hingegen offenbaren, was hinter Masken, Tüchern, Burkas, Astronautenhelmen stecken kann. Und ganz nebenbei erfährt man die Geschichten von Phantomas oder oder El Hijo el Santo.

Zwischendrin erzählt ein auf dem Kopf stehender Comic vom Ettamogah, der in seinem riesigen Kopf all das Wasser der Erde sammelt und erst durch den Vogellippler dazu bewegt wird, es wieder freizugeben. Das ist definitiv rätselhaft, aber so ein Wonne zum Anschauen, zum Blättern und Erkunden, dass sich jede_r Betrachter_in seinen/ihren eigenen Kopf dazu machen kann.

Man findet Hinweise, wie man sich Zahlen leichter merken kann, findet gereimte (Un-)Sinnssprüche, bekommt eine Karte der Hirnarealen. Die Mischung aus physiologischen und psychologischen Fakten mit charmant witzigen Kopfbildern führt kleine Betrachterinnen ganz wunderbar an die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper heran. Und der menschlichen Sprache.

Und auch das Thema Kopfschmerz hat seinen Platz in diesem Buch. Ich werde das Buch   beim nächsten Besuch meiner Nichte zeigen, mal sehen, was sie davon hält…

Sehr zu recht ist dieses Kunstwerk für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 in der Sparte Sachbuch nominiert.

David Böhm & Ondrej Buddeus: Kopf im Kopf, Übersetzung: Doris Kouba, Karl Rauch Verlag, 2016, 120 Seiten, ab 4, 25 Euro

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Der Junge im schwarzen Anzug

„Aber das immer Gleiche war die Art, wie der Mensch, der dem Toten am nächsten stand, reagierte. Tag für Tag, Woche für Woche, Beerdigung für Beerdigung, suchte ich nach diesen Menschen und beobachtete, wie sie damit umgingen. Wie sie verzweifelt um Hilfe baten in einem Raum voller Menschen, die helfen wollten, aber nicht wussten wie. Weil sie nicht helfen konnten. Nichts hilft.“
Matt arbeitet in einem Beerdigungsinstitut und ist bei einer Menge Trauerfeiern dabei. Aber nicht ein perverses Vergnügen am Schmerz anderer treibt den Jungen in Jason Reynolds Roman Love oder meine schönsten Beerdigungen. Matthew Miller ist selbst voller Trauer und Schmerz, seit seine Mutter vor wenigen Monaten an Krebs gestorben ist.

Eigentlich hätte der 17-Jährige mit Schule, Pubertät, Zukunftspläneschmieden, Mädchen und altersentsprechendem Herzgebreche genug Probleme. Doch jetzt ist seine Mutter, zu der das Einzelkind eine liebevolle Beziehung hatte, tot. Und sein Vater ertränkt seinen Kummer (und die Sorgen wegen der Krankenhausrechnungen) in Alkohol und erleidet bald einen schweren Unfall. Allein in seinem Leid, hilft Matt „das bloße Wissen, dass wir alle mit derselben Sache zu kämpfen haben, und dass mein Leben nicht das einzige war, dem etwas fehlte, was es nie mehr zurückbekommen würde“.

Deshalb jobbt Matt anstatt in seinem Lieblingsimbiss beim benachbarten Bestatter. Und da er sich jetzt in der Schule sowieso wie ein Freak fühlt, weil bis auf seinen besten Freund es niemand schafft, normal mit ihm umzugehen, und weil es zum Job passt, beginnt er tagein tagaus seinen schwarzen Anzug zu tragen – wie eine Mischung aus Uniform des Schmerzes und schützender, weil abgrenzender Hülle. The Boy in the Black Suit heißt das Buch des US-amerikanischen Schriftstellers Reynolds im Original. Ein sehr viel passenderer Titel, wesentlich individueller und assoziationsreicher, als die gewollte Eindeutschung, eine Mischung im Stil von Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand und Die wunderbare Welt der Amelie. Über verkorkste Buch- und Filmtitel könnte man ein eigenes Stück schreiben.

Jason Reynolds hat eine furiose, tragikomische und berührende Geschichte über Trauer und den Verlust geliebter Menschen geschrieben, über den Schmerz und wie man damit umgehen und weiterleben kann. Matt erfährt, dass Leute, von denen er es nicht gedacht hat, harte Schicksalsschläge erlitten haben. Manche wirft es aus der Bahn, manche können ihren Kummer auf einen symbolischen Ort konzentrieren. Beerdigungen geraten auch mal mehr zur Komödie als zum Trauerspiel, bei anderen bricht Chaos aus.

Nach etwa der Hälfte taucht erst die so prominent gesetzte Love auf, ein charismatisches Mädchen mit diesem selbst für US-Verhältnisse ungewöhnlichen Vornamen. Die 17-Jährige hat selbst vor sieben Jahren ihre Mutter und jetzt auch ihre Großmutter verloren, geht aber ganz anders damit um als Matt. Die beiden nähern sich auf ungewöhnliche Weise an, eine reizvolle Liebesgeschichte beginnt.

Nicht zuletzt spielt New York, und Brooklyn im Speziellen, eine Rolle in diesem Roman. Dazu gehören auch schöne Betrachtung von Flora und Fauna, Straßenbäumen und Typen in der Stadt.

Klaus Fritz hat als Übersetzer einen guten Job gemacht: Die Sprache ist jugendlich, aber kein aufgesetzter Jargon, frisch und lebendig. Den verunglückten Titel hat wahrscheinlich der Verlag gedichtet. Loben möchte man Fritz für ein mittlerweile nicht selbstverständlich richtig übertragendes „Hat aber keinen Sinn“, anstatt des inflationär und dumpf benutzten „das macht Sinn“. Doch schon auf der nächsten Seite stolpert man über „Blumenbuketts“. Die sind zwar laut Duden richtig, lesen sich aber wie eimerweise („bucket“) Blumen. Was wurde aus dem französischem Lehnwort „Bouquet“?

Blumen, ihre morbide vergängliche Schönheit, und die Entdeckung einer besonders robusten Pflanze illlustrieren auch Matts Weg aus der vereinsamenden, totalen Trauer. Reynolds zweiter Jugendroman ist ein todkomisches, kluges und liebenswertes Buch.

Elke von Berkholz

Jason Reynolds: Love oder meine schönsten Beerdigungen, Übersetzung: Klaus Fritz, dtv Reihe Hanser 2017, 288 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Die Facetten der Frauenpower

Es hat in meinem Leben tatsächlich mal eine Zeit gegeben, da dachte ich, den Feminismus brauche ich nicht. Dabei war ich durchaus dankbar, dass die Frauen in den Generationen zuvor für Wahlrecht, Gleichberechtigung und Gleichstellung gekämpft hatten. Ich hielt es für selbstverständlich, die Errungenschaften zu genießen. Wie naiv ich war!

Natürlich schätze ich diese Rechte immer noch, sehe aber auch die Pflichten darin (zur Wahl zu gehen, beispielsweise, was jedoch für jede_n gilt, der in einer Demokratie lebt). Vor allem aber habe ich erkennen müssen, dass wir den Feminismus immer noch brauchen und dass jede von uns auf ihre Art dafür kämpfen muss. Was ich aber auch erkannt habe, dass es nicht nur einen Feminismus gibt, sondern jede Menge Strömungen, Moden und Facetten. Einen richtig guten Überblick, über das, was der Feminismus heute alles beinhaltet, liefert nun Sonja Eismann, Mitbegründerin des Missy-Magazins.

In Ene, mene, Missy! hat sie all die Vielfältigkeit der Frauenbewegung zusammengestellt und liefert die nötigen Hintergründe und Zahlen. Allein das Kapitel über die verschiedenen Feminismen machen deutlich, dass man heute eigentlich nicht mehr von „dem“ Feminismus reden kann. Automatisch fragt man sich beim Lesen: Bin ich Anarchafeministin? Cyberfeministin? DIY-Feministin? Oder marxistische Feministin? Mag sein, dass frau erst mal verwirrt ist, doch so zeigt sich, dass das Leben, auch das private, in jedem Fall politisch ist. Wir können dem nicht entgehen. So ist es sinnvoll, dass auch die heranwachsenden Mädchen genau wissen, wo und wie sie sich engagieren und unsere Gesellschaft zum Besseren verbessern können.

Eismann belässt es jedoch nicht nur bei den Kategorisierungen, sondern bietet zudem Hilfestellungen für die täglichen Anfeindungen, denen Mädchen und Frauen immer noch ausgesetzt sind, wenn sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollen. So macht sie Vorschläge, was frau auf „die allerblödesten Fragen zum Feminismus“ antworten oder wie der Feminismus uns im Alltag helfen kann, wenn man gegen überkommene Rollenbilder und Schönheitsnormen angeht.

Die Mischung aus Rückblicken auf historische Protestformen, emanzipatorische Mode oder feministische Manifeste und den Statements prominenter Feministinnen der Gegenwart, macht die Lektüre abwechslungs- und aufschlussreich. Die Kapitel über Mansplaning, über den Male Gaze und den Bechdel-Test sensibilisieren für männliche Überlegenheitsstrategien und zeigen, wie frau dagegen vorgehen kann.

Diese Einführung in eine feministische Lebensweise mit all ihren Facetten, mit ihrer Kunst, ihrer Lebensfreude und ihrem politischen Anspruch sollte eigentlich jedes Mädchen lesen – und jeder Junge. Das Kapitel mit den Fragen an die Männer ist da der passende Anfang. Schließlich sollte feministische Aufklärung für alle Geschlechter gelten, denn nur so kann im Endeffekt ein friedliches und wahrhaft gleichberechtigtes Zusammenleben in Zukunft gelingen.

Aber vielleicht bin ich immer noch naiv.

Sonja Eismann: Ene, mene, Missy! Die Superkräfte des Feminismus, Fischer, 2017, 256 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

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