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Kluge Kämpferinnen

Abendliche Plauderei vor einiger Zeit mit einer jungen, früheren Kollegin, die ein Philosophiestudium begonnen hat: »Gibt es gar keine Philosophinnen?«, überlegt sie laut. Mir fällt spontan Hannah Arendt ein. Obwohl ich kaum etwas über die streitbare und kluge Frau wusste. Damals hatte ich noch nicht Ken Krimsteins grandiose Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt gelesen.
Vielleicht noch Simone de Beauvoir? Aber war das nicht eher eine Feministin und Schriftstellerin? Genau solche Überlegungen machen das von Rebecca Buxton und Lisa Whiting herausgegebene Kompendium Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte so spannend und wichtig.

Nie »nur« Philosophinnen

Natürlich sind die 20 in diesem, auch optisch sehr attraktiven Band vorgestellten Frauen alle Philosophinnen. Aber nie »nur« Philosophinnen. Sie alle, vom alten Griechenland bis in die Gegenwart, vereint etwas sehr Handfestes, Praktisches, Lebensnahes und Kämpferisches. Das zeigen die komprimierten, vielschichtigen, teils sehr anspruchsvollen, doch immer gut lesbaren und flüssig übersetzten Porträts, geschrieben von 20 Gegenwartsphilosophinnen. Im Gegensatz zu den oft sehr abgehobenen und realitätsfernen, männlichen Kollegen, die eher dem Klischee des verkopften Geisteswissenschaftlers in seinem Elfenbeinturm entsprechen.

Für ihren Intellekt respektiert und bewundert

Schon Hypatia, die im antiken Griechenland circa von 350 bis 415 n. Chr. gelebt hat, war außergewöhnlich vielseitig: Sie war Mathematikerin (von wegen Mädchen können kein Mathe, ihr Vater Theon unterrichtete sie von klein auf und schon bald stellte sie ihn in den Schatten, wie Quellen belegen), Astronomin und Philosophin, außerdem versiert in Rhetorik und Dialektik. Hypatia unterrichtete in Klassenzimmern und auf öffentlichen Plätzen die Lehren Platons, Aristoteles‘ und anderer Philosophen. Sie wurde bewundert von ihren Studenten, war eine charismatische Rednerin und für ihren Intellekt respektiert.

Von Gegnern gefürchtet und brutalst ermordet

Skurril ist die Anekdote, wie Hypatia sich eines besonders hartnäckigen Verehrers erwehrt hat. Nachdem es ihr nicht gelang, den jungen, schmachtenden Mann mit stundenlangem Musizieren abzuwimmeln, »zog sie ein mit Menstruationsblut verschmiertes Tuch hervor, das sie dem jungen Mann unter die Nase hielt und ihm erklärte, es sei nur ihre Lust, die er begehrte, und diese sei in ihrer Schönheit nicht annähernd vergleichbar mit ihrem Intellekt und dem Wunder der Philosophie.«
Außerdem war Hypatia eine kluge politische Ratgeberin und setzte sich sehr für das Gemeinwohl ein. Vor allem Orestes schätzte ihre Unterstützung so sehr, dass sie von Schergen seines Gegners brutalst gefoltert und ermordet wurde. Bis dahin galten Philosoph:innen als unantastbare Figuren des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Stadt Alexandria stand damals unter Schock. Es dauerte Jahrhunderte bis erneut Philosophinnen auf den Plan traten.

Durch die Lehre vom Sinn des Lebens dem Leben Sinn geben

Was bereits Hypatia auszeichnete gilt auch für die herausragenden Frauen, die ihr folgten: Sie sind Feministinnen, Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Kämpferinnen. Philosophie ist die Lehre vom Sinn des Lebens. Und das bedeutet für Frauen auch dem Leben Sinn zu geben und durch kluges Handeln die Welt zu verändern. Hannah Arendt bezeichnete sich selbst nie als Philosophin – sondern als politische Denkerin. Eines ihrer großen, viel zu wenig beachteten Themen war, auch aufgrund persönlicher Erfahrung, der Status von Geflüchteten und Staatenlosen. Arendt sagt, dass jeder »das Recht hat, Rechte zu haben.«

Philosophie nicht nur Selbst(darstellungs)zweck

Eine der interessantesten Philosophinnen ist die von Ellie Robson porträtierte Mary Midgley (1919–2018). Bis zum Alter von gut 50 Jahren war Midgley vor allem Lehrende, Wissenschaftlerin und Mutter dreier Söhne. Dem ureigenen Gesetz des Wissenschaftsbetriebs zum Trotz – »wer schreibt, der bleibt« – begann sie erst zum Ende ihres Berufslebens, philosophische Texte zu veröffentlichen. »Davor wusste ich nicht, was ich dachte.«
Für Midgley war Philosophie nie nur Selbst(darstellungs)zweck. Während sie bei ihren männlichen Kommilitonen beobachtete, wie diese in Wortgefechten vor allem die eigene Intelligenz zur Schau stellten, hatte Midgley ein praxisorientiertes Interesse und ging mithilfe der Philosophie lösungsorientiert alltägliche Sorgen an.

Wie Wasserleitungssystem – grundlegend und lebenswichtig

Anschaulich ist ihr Vergleich der Philosophie mit dem Wasserleitungssystem. »Beides sind grundlegende Strukturen, die unverzichtbar sind, weil sie Menschen mit lebenswichtigen Mitteln versorgen.« Und es ist die Aufgabe des Philosophen, wie ein Klempner »den Fußboden aufzureißen«, unsere fehlerhaften Konzepte unter die Lupe zu nehmen und sich dranzumachen, das Problem zu beheben.
Allein Midgleys mittreißende Lebensgeschichte lohnt bereits, Philosophinnen zu lesen. Die versammelten herausragenden Denkerinnen weiten den Blick, machen Mut, motivieren nachzudenken, sich zu informieren und einzufühlen. Und zeigen, dass Philosophie keinesfalls nur abgehobener Intellektuellenfirlefanz ist. Sondern im Gegenteil elementar für das menschliche Zusammenleben. Und Philosophinnen haben einen mindestens ebenso großen Anteil wie die bekannten männlichen Protagonisten. Sie machen bloß nicht so ein Gewese drum. Und nutzen ihre klugen Gedanken für viel Sinnvolleres als den reinen Selbstzweck.

Rebecca Buxton und Lisa Whiting (Hg.): Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte, Übersetzung: Roberta Schneider, Daniel Beskos, Nefeli Kavouras, mairisch, 2021, 240 Seiten, 22 Euro, ab 16 Jahre

Lieben, Denken, Handeln

Die Banalität des Bösen« kommt einem als erstes in den Sinn, wenn man an Hannah Arendt denkt. Für diese Erkenntnis angesichts des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Hitlers Organisator des industrialisierten Massenmordes, ist die außergewöhnliche Denkerin heftigst kritisiert worden.
Was Hannah Arendt mit dem Begriff »Banalität« gemeint hat, ihre Analyse zur Entstehung totalitärer Regime, ihr Gegenentwurf freier, vielfältiger  Menschen, ihr umfassendes Denken und ihre turbulente Biografie zeigt Ken Krimstein in seiner grandiosen Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt.

Eine gefährlich kluge Frau

Drei Leben…, das klingt irreführenderweise wie eine Mischung aus sich-immer-wieder-neu-erfinden und einer Katze. Im Original hat Krimstein seine Geschichte The Three Escapes of Hannah Arendt. A Tyranny of Truth genannt – und das trifft es. Arendt musste fliehen und entkam ihren Häschern, weil sie eine gefährlich kluge Frau, immer auf der Suche nach Wahrheit, und weil sie Jüdin war.
Nach dem Philosophiestudium in Marburg bei Martin Heidegger (und einer verstörenden Liebesbeziehung mit ihm) kommt sie 1933 nach Berlin. Dort trifft sie im Romanischen Café auf die gesamte intellektuelle und kulturelle Elite, Künstler, Regisseure, Dramatiker und Theoretiker.
»Es war die Geburtsstätte der modernen Welt«. Eine Enklave der Freiheit in einem immer repressiveren und gewalttätigeren und unfreieren Deutschland. Allerdings auch hier: »Ismen prallen hier auf Ismen, wohin man auch blickt.« Futurismus, Dadaismus und Expressionismus, Sozialismus, Marxismus und Zionismus.

Nie mit einem Ismus gemein gemacht

Das Besondere, Einzigartige bei Hannah Arendt ist, dass sie sich nie mit einem Ismus gemein gemacht hat. Als junge Studentin ist sie zwar noch fasziniert vom attraktiven Heidegger, »einer, der zum ersten Mal die Kühnheit hat, die Seinsfrage zu stellen«.
Aber schon sehr bald ist sie als scharfsinnige Beobachterin sehr viel weiter, der Elfenbeinturm akademischen Denkens war nie ihr Ding. Als in diese Welt »Geworfene« verlässt Arendt das Café, wird tätig – und aus der Staatsbibliothek raus von der Gestapo verhaftet.
Aus der Untersuchungshaft gelingt es ihr zu entkommen. Mit ihrer Mutter flieht sie sofort über Tschechien nach Paris. Dort erfährt sie nicht nur vom allgemein zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, selbst Heidegger biedert sich den Nationalsozialisten an, wird zunächst mit deren Hilfe Universitätsrektor – und distanziert sich auch nach Kriegsende nie wirklich von der Ideologie, geschweige denn, dass er sich entschuldigt.

Denker großer Unordnung

In Paris begegnet Hannah Arendt den beiden für sie wichtigsten Menschen. Das, was sie für die beiden einnimmt, beschreibt Arendt sehr treffend. Der eine ist Walter Benjamin, ein entfernter Verwandter ihres ersten Ehemanns. »Walter Benjamin ist ein Flaneur, ein antirationaler, alles empfindender menschlicher Schwamm, vor allem der Denker großer Unordnung«.
Der andere ist »ein stämmiger Freund Benjamins. Er ist kein Jude, war früher Kommunist, hat nie ein Buch zu Ende gelesen – ein Pfeife rauchender, unabhängiger Kopf.« Kurze Zeit später heiratet sie diesen brillanten Autodidakten, Heinrich Blücher, er wird sie zeitlebens lieben und unterstützen.

Pariser Triptychon

»Ich lebe ab jetzt drei Leben gleichzeitig: Lieben, Denken, Handeln« beschreibt Arendt ihr Dasein, ihr Triptychon in Paris. »Die Arbeit für die Jugend-Aliyah, die sich um den sicheren Transport von jüdischen Kindern aus Europa kümmert, wird in meinem Pariser Leben die wichtigste«. Arendt war nie religiös. Aber weil sie als Jüdin angegriffen wird, verteidigt sie sich als Jüdin. Später wird sie sich für eine jüdische Armee im Kampf gegen die Nationalsozialisten stark machen.
Am 5. Mai marschieren die Deutschen in Frankreich ein. Arendt wird als Deutsche verhaftet und kommt ins französische Internierungslager in Gurs. Auch von dort entkommt sie. Schließlich emigriert sie auf abenteuerlichen, lebensgefährlichen Wegen mit Blücher über Marseille und Lissabon nach New York.

Lebendiges Grün als roter Faden

Bestechend klug, stark und wütend, geistig immer unabhängig, zu jüdisch, dann wieder nicht jüdisch genug – Ken Krimstein zeigt diese faszinierende Frau in allen Facetten. Mit feinem Strich, puristisch in Schwarzweiß, zeichnet der Karikaturist des New Yorker und Wall Street Journal, ein ganzes bewegtes und bewegendes Leben. Einziger Farbtupfer ist ein lebendiges Grün für Arendts Kleidung, der sich wie ein roter Faden durchzieht. Pointiert umrissen sind auch die vielen Charakterköpfe, denen Hannah Arendt im Laufe des Lebens begegnet ist. Im Original sind die biografischen Angaben zu den zahlreichen Persönlichkeiten gleich als Fußnoten angefügt. In der von Hanns Zischler modern und mitreißend übersetzten deutschen Version füllen diese Daten sechs eng beschriebene Seiten im Anhang.

Allgegenwärtige Rauchschwaden wie Gedankenwolken

Ein optisch genialer Kunstgriff sind auch die allgegenwärtigen Rauchschwaden, die Hannah Arendt und ihre Begleiter umgeben, über die Seiten wabern, über Umrandungen und Bildgrenzen schweben wie freie Gedanken. Man muss kein Raucher sein, um die Versinnbildlichung permanenten Sinnierens und Durchdenkens zu verstehen und zu schätzen. Wie viel ehrlicher ist diese authentische Darstellung vergangener Rauchkultur als die groteske Helmut-Schmidt-Euromünze mit seiner sinnlos positionierten, leeren Hand.
Biografische Graphic Novels gibt es viele, die meisten über Männer, Aktivisten, Sportler, Künstler, Musiker, auch sehr gute wie die über Nick Cave oder aktuell über David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust. Die drei Leben der Hannah Arendt aber ist brillant, die beste, wenn man nur eine lesen sollte, dann diese.

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt, Übersetzung: Hanns Zischler, dtv, 2019, 244 Seiten, 16,90 Euro

Hannah Arendt hat nicht nur viel gedacht, sondern auch viel gelesen. Und nicht erst die famose Autorin Simone Buchholz schätzt den Kriminalroman als Spiegel der Gesellschaft. Tatsächlich inspirierten Krimis Arendt zu ihrem genialen Fluchtplan aus einem Hotel in Marseille. Vor allem durch Georges Simenons Maigret-Erzählungen habe sie verstanden, wie die französische Polizei tickt – und konnte sie so austricksen. Also am besten mit Maigrets erste Untersuchung anfangen. Dann vielleicht mit Maigret und die Bohnenstange weitermachen. Und natürlich sind alle Bücher von Simone Buchholz mit der schnodderig charismatischen Chastity Riley unbedingt zu empfehlen. Auch Adrian McKintys Romane um Raubein Sean Duffy im nordirischen Belfast der 80er Jahre sind eine Wucht. Hannah Arendt hätte sie bestimmt auch gern gelesen und studiert.

Georges Simenon: Maigrets erste Untersuchung, Übersetzung: Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Kampa Verlag, Zürich, 2019, 240 Seiten, 16,90 Euro