Archiv der Kategorie: Klassiker

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro

Aktuelles Erbe

Kann man zu Erich Kästner noch etwas sagen, was nicht längst schon gesagt wurde? Wahrscheinlich nicht. Aber man kann und sollte immer wieder an ihn erinnern. Und das will ich heute tun, denn vor 40 Jahren starb Kästner in München, 75-jährig. In memoriam habe ich kurzerhand noch einmal  Das fliegende Klassenzimmer und Das doppelte Lottchen gelesen.

kästner klassenzimmerDas Mutmacher-Buch über Johnny Trotz, Uli, Matze, Justus und den Nichtraucher stammt aus dem Jahr 1933. Kästner verpackt darin nicht nur die damals herrschende Armut in der Arbeiterschaft, sondern auch die Macht der Freundschaft und den Mut zu gesunden Menschenverstand. Gerade dieser Mut liegt Kästner am Herzen. Denn ohne Mut und Klugheit lässt sich das Leben nicht gut bewältigen. Das versucht er, den Kindern eindrucksvoll begreiflich zu machen. Mutig ist es demnach nicht, mit einem Regenschirm vom Turngerüst zu springen und sich dabei ein Bein zu brechen, nur weil man sonst als feige angesehen wird. Viel mutiger – und klüger – ist es, sich dem Druck der Mitschüler zu entziehen und sich im rechten Moment den Erwachsenen anzuvertrauen. Dieses Anti-Mobbing-Konzept gilt im Grunde auch heute noch. Womit man wieder bei dem unschlagbaren Punkt von Kästners Büchern ist: Selbst wenn sie über 80 Jahre alt sind, steckt in ihnen eine Aktualität, die immer wieder neu verblüfft.

kästner lottchenÄhnliches gilt für Das doppelte Lottchen. 1949 geschrieben ist das Lottchen vielleicht nicht ganz so „Problem belastet“. Hier erzählt Kästner die unterhaltsame Zwillings-Tausch-Geschichte um Luise und Lotte. Hinter der oberflächlich lustigen Verwechslungskomödie steckt das Drama von Scheidungskindern. Ist Scheidung per se schon meist eine unschöne Angelegenheit, so toppt Kästner das Elend noch, indem er die Zwillingsschwestern auseinander reißt, etwas, das uns heute unvorstellbar erscheint.
Auch hier hat Kästner ein Phänomen vorweggenommen, das heute immer mehr Familien betrifft, wird doch jede dritte Ehe geschieden. Jährlich stehen so in Deutschland über 130 000 Kinder vor zerbrochenen Familienverhältnissen. Kästner, der Moralist, der immer auf der Seite der Kinder steht, nimmt in seinem Roman die Eltern in die Pflicht. Das Wohl der Kinder hat bei ihm Vorrang vor den (Künstler)Wünschen der Eltern. So schenkt er Luise und Lotte ein herzerwärmendes Happy End.

Gibt es für die Scheidungskinder unserer Zeit meist nicht so einen glücklichen Ausgang, so können sie doch immer noch ein bisschen Trost und Rückhalt bei Erich Kästner finden. Und ohne das sollte kein Kind aufwachsen.

Erich Kästner:
Das fliegende Klassenzimmer,  Illustrationen: Walter Trier, Dressler, 169. Aufl. 2012, 174 Seiten, ab 10, 12 Euro
Das doppelte LottchenIllustrationen: Walter Trier, Dressler, 156. Aufl. 2006, 175 Seiten, ab 10, 12 Euro

 

Mein Lieblingsreporter

tim19Muss man Tim und Struppi noch irgendwem vorstellen? Wohl kaum.

Aber erinnern und hochleben lassen kann man sie eigentlich gar nicht genug. Vor 85 Jahr erschien der erste Band von Hergés rasendem Comic-Reporter und seinem weißen Hund.
Nachdem meine Eltern in den 70er Jahren nicht viel von Micky Maus hielten – und es mich und meinen Bruder ziemlich viel Überzeugungsarbeit gekostet hatte, bis die ersten Disneys bei uns einziehen durften – war es mit Tim und Struppi ganz anders: Mir nichts, dir nichts hatten wir sämtliche Bände im Haus, sie stehen noch heute bei mir im Regal. Woran das lag, dass Hergé die elterliche Zensur so anstandslos passiert hat, weiß ich bis heute nicht. Aber ich bin auch ganz dankbar dafür, denn Tim, Struppi, Käpitän Haddock, Schulze und Schultze, Professor Bienlein, Bianca Castafiore waren aus unserem Kinderzimmer nicht mehr wegzudenken. Und Haddocks Fluchereien bildeten meine erste bewusste Erinnerung an Sprachwitz und Sprachspiel, die eigentlich auch heute noch ihresgleichen suchen.

tim15Mit diesen Figuren bin ich dann also auf Weltreise gegangen, Amerika und Afrika fand ich zwar nicht so spannend, aber es gab ja genug Auswahl. Heute halte ich diese beiden Bände eh für die schwächeren, zumal sie mit ihrem offensichtlichen Rassismus nicht mehr tragbar sind.
Aber die späteren Abenteuer, in denen es Tim nach China, an den Amazonas, nach Arabien, Ägypten, Schottland und auf den Mond verschlägt, habe ich geliebt. Sie zeigten mir diese damals noch ziemlich fernen Länder, die neben den Schurken, Trotteln, verrückten Wissenschaftlern, Bonzen und einfachen Leuten auch immer eine eigene Rolle in den Geschichten spielten.

Heute erkennen wir sie natürlich als schlicht dargestellt, zum Teil mit Klischees behaftet, aber mir gaben sie damals ein Gefühl von Abenteuer und Aufregung und weckten meine Neugierde auf Orte, Geschichten und Lebensarten außerhalb unseres Landes. Denn neben den Schurken gab es in diesen Ländern auch immer liebenswerte Menschen und faszinierende Kulturen, die man auch im richtigen Leben entdecken sollte.

Bis jetzt habe ich im wahren Leben natürlich längst nicht all diese Länder und Kontinente bereist, schließlich bin ich kein rasender Reporter, aber Tim hat nicht wenig dazu beigetragen, dass ich mich immer wieder gern auf Reisen begebe. Seine Abenteuer waren zwar durchweg spannender, aber meine dafür echt.

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Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, welche Einflüsse Hergé mir mit seinen Comics noch auf den Weg gegeben hat, so ist es ganz klar mein Faible für seinen Zeichenstil, die Ligne claire. Sobald mir heute Comics oder Graphic Novels in diesem Stil in die Hände fallen, kann ich meist nicht anders und muss sie haben. Es gibt ganz sicher jede Menge faszinierende, neue und alternative Arten zu zeichnen und zu illustrieren, und ich lasse mich auch gern auf neue Experimente ein und bin von vielen Stilen angetan – aber bei Ligne claire wird bei mir immer dieser wohlige Kindheitseffekt ausgelöst, den ich mit Tim und Struppi verbinde und den ich vermutlich mein Leben lang nicht mehr loswerde. Ich glaube, es gibt Schlimmeres… Dank an Hergé für diese perfekte Kindheitserinnerung und herzlichen Glückwunsch zum 85. Geburtstag.

Hergé: Tim und Struppi, Band 1-23, Carlsen Verlag, je 9,99 Euro

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Von Feldgrauen und Strickstrümpfen

Nesthäkchen2014 wird das Jahr der Weltkriege. Hundert Jahre ist der Ausbruch des ersten, 75 Jahre der des zweiten Weltkrieges her. Doppelter Grund, sich mit dem Thema Krieg ausführlich zu beschäftigen. Zudem ist es ja nicht so, dass unsere Welt im Frieden lebt.

Nachdem ich vor ein paar Monaten bereits über die Erst-Weltkriegs-Geschichte Feldpost für Pauline geschrieben habe, ist mir nun – mehr oder minder durch Zufall – Else Urys Band Nesthäkchen und der Weltkrieg in die Finger gekommen.
Mit den Nesthäkchen-Büchern bin ich groß geworden, als Kind habe ich sie geliebt, von diesem Band habe ich lange nichts gewusst, ist er auch nicht mehr im Buchhandel erhältlich.
Obwohl ich vor ein paar Jahren in Nesthäkchen wieder hineingelesen habe und mich mit der alten Erzählart und dem antiquierten Erziehungskonzept überhaupt nicht mehr anfreunden konnte, war meine Neugierde auf diesen zehnten Band ungebrochen.

Vielleicht liegt das an meiner Leidenschaft, Quellen, soweit es mir möglich ist, im Original zu lesen. So habe ich das Gefühl, unmittelbarer in die Zeit und die Geschehnisse eintauchen zu können. Bei Nesthäkchen und der Weltkrieg ist das eine Gratwanderung und ein zweifelhaftes Vergnügen, denn das Buch wird zu Recht nicht mehr aufgelegt, ist doch der Patriotismus, der aus jeder Seite tropft, für uns erwachsene Nachgeborene kaum zu ertragen. Da wehen beständig die Fahnen des Deutschen Reichs, die Siege der deutschen „Krieger“ werden bejubelt, feindliche Staaten – England, später Italien – verunglimpft, die polnische Mitschülerin Vera von Nesthäkchen als Feindin und Spionin gebrandmarkt. Das liest sich heute nicht schön und ist in keiner Zeile akzeptabel. Selbst wenn sie ihre Protagonisten wegen überzogenem Patriotismus auch immer mal wieder abmahnt und bestraft. Diese so leis geäußerte Kritik an dem ganzen Kriegsgerummel geht in dem Getöse jedoch fast unter, dass man sie leicht überlesen könnten.

Doch fand ich in der Geschichte um die Kriegsjahre 1914 bis 1916 in Berlin auch Details, die Aha-Momente bei mir auslösten. Das waren die Stellen, in denen Else Ury als getreue Zeitzeugin und Dokumentarin den Kriegsalltag der Frauen und Kinder schildert. Da wurden die Schulen zu Lazaretten umfunktioniert, Rohstoffe wie Kupfer und Wolle gesammelt, Lebensmittel rationiert. Nesthäkchen strickt Strümpfe für die Feldgrauen an der Front, sie steht für die eingeschränkte Butterration an, hilft ärmeren Menschen, erlebt den Tod von Bekannten und sieht sich mit dem Leid der Flüchtlinge aus Ostpreußen konfrontiert. Zudem muss sie 1916 erleben, dass die Sommerzeit eingeführt wird, um Ressourcen zu sparen.
Auch der Wandel in der arbeitenden Gesellschaft geht an dem Mädchen nicht unbemerkt vorbei: Auf einmal arbeiten Frauen als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen und Taxichauffeurinnen. Das, was neulich die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Zuge einer Forschungsarbeit über die Darstellung des Krieges im Film festgestellt hat, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts den Frauen „gut“ taten, im Sinne, dass sie Arbeit fanden, erkennt man auch bei Ury.
Die Autorin wertet diesen Wandel allerdings nicht, so kann man also nur vermuten, dass sie diesem Faktum durchaus auch etwas Positives abgewinnen konnte. Denn Else Ury, assimilierte Jüdin, die 1943 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, war geprägt durch die wilhelminische Zeit, erlernte keinen Beruf, weil das damals für Mädchen nicht üblich war – und emanzipierte sich quasi durch ihre Arbeit als Schriftstellerin. So soll sie allein von diesem Nesthäkchen-Band angeblich 300.000 Exemplare verkauft haben. Durch ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ury zu einer der erfolgreichsten und bekanntesten Frauen der Weimarer Republik.

Wie gesagt – ich bin hin und hergerissen, wie Nesthäkchen und der Weltkrieg heute gesehen und gewertet werden kann. Anders als historisch-dokumentarisch eigentlich nicht. Ury gibt trotz all ihrer Naivität und dem Patriotismus, der bei den Intellektuellen der damaligen Zeit ja durchaus nicht ungewöhnlich war, immerhin einen authentischen Einblick in die Zeit des ersten Weltkriegs. Dabei ist ihr Text von der eigenen Biografie als Kind einer gutbürgerlichen Familie durchzogen, das spürt man deutlich. Daneben zeigt sie jedoch auch durchaus menschlich und mitfühlend, wie die Kinder weit entfernt von der Front vom Krieg betroffen waren. Dem patriotischen Nesthäkchen stellt sie die Schicksale vom Flüchtlingskind Max, der armen Trude und der Deutsch-Polin Vera entgegen. Und im Laufe der Zeit und der Lektüre werden die Schrecken des Krieges unmittelbarer, sowohl für Nesthäkchen, die aus ihrer heilen Kinderwelt ein kleines Stück vertrieben wird, als auch für den Leser.

Sind die heute noch erhältlichen Nesthäkchen-Bände von jeglichen Hinweisen auf die Historie bereinigt, so lässt sich in diesem Band die Geschichte nicht herausstreichen, ist sie doch der eigentliche Protagonist. In diesem Sinne kann man diese Nesthäkchen-Episode folglich nur als eines lesen: als einen O-Ton aus dem Jahr 1917.

Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg, Hoch Verlag, 1917/1924.

Ein Kleinod

PoesieSprache kann bekanntermaßen Bilder erzeugen. Dies natürlich nur im Kopf von Lesern und Zuhörern. Jeder  macht sich so seine ganz eigenen Bilder zu Worten und Texten. Illustratoren bringen diese inneren Bilder dann aufs Papier und oftmals kommen bei ihrer Arbeit mit Sprache ganz besondere Bilder dabei heraus und werden zu einem eigenen Kunstwerk. Wie in Regina Kehns Buch Das literarische Kaleidoskop.

Siebzehn Gedichte und kurze Texte von bekannten Autoren wie James Krüss, Joachim Ringelnatz, Theodor Storm, Rose Ausländer oder Friederike Mayröcker hat Kehn ausgesucht und in Bilder(-Geschichten) verwandelt. Mit dickem Pinselstrich schreibt sie die Texte direkt in ihre aquarellierten Illustrationen hinein oder stempelt sie auf Packpapier. Mit zarten Bleistiftstrichen zaubert sie die graue Stadt am Meer aufs Papier. Die Worte geraten aus den Fugen und vermitteln dem Betrachter und Leser eine Ahnung davon, was Poesie alles kann. Der arme Sauerampfer leidet zwischen den Bahngleisen, die Krähe verschüttet vor Ärger den Kaffee, das Hühnerding im Garten von Herrn Ming offenbart die Absurdität der Liebe.
Alltägliches und Kurioses wechseln sich hier ab und lassen das Herz aufgehen.
Manche Gedichte sind düster – sowohl in Wort, als auch im Bild. Doch genau das macht die Stärke dieser Anthologie aus. Gerade mit diesen nicht immer lieblichen Kunstwerken macht Regina Kehn auch junge Leser und Betrachter neugierig auf Kunst, Poesie und Literatur. Und die Verbindung, die sie eingehen können.

Wer mag, kann die Originaltexte im Anhang in der konservativen Druckversion und vollständig (Paul Zechs „Traum vom Balkon“) noch einmal lesen. Dann kann man versuchen, sich eigene Bilder zu schaffen, doch die faszinierenden Illustrationen von Regina Kehn tauchen wahrscheinlich vielen beständig vor dem inneren Auge auf. Denn ihre Bilder wird man so schnell nicht wieder los – was durchaus kein Nachteil ist.
Vor allem aber begreift der Betrachter und Leser, wie eng Schrift und Bild zusammengehören können. In solchen Glücksfällen gehen sie eine untrennbare Verbindung ein und schaffen etwas Neues, ganz Kostbares. Genau das ist es, was dieses Buch zu einem Kleinod macht, nicht nur für Kinder.

Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop, Fischer KJB, 2013, 224 Seiten, 16,99 Euro

Das überhetzte Rößlein

hesseIm vergangenen Juli verbrachte ich eine wunderschöne Urlaubswoche im Schwarzwald, inklusive Ausflüge nach Calw und Kloster Maulbronn. Da war es fast selbstverständlich, mir mal wieder Hermann Hesses Unterm Rad vorzunehmen. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen.

Meine Erinnerung an die Schullektüre von vor ewigen Zeiten war eher düster und nicht gerade mit Wohlgefühl verbunden.  Mit der um Jahrzehnte erweiterten Leseerfahrung fand ich nun jedoch eine ganz andere Geschichte vor mir.
Sicher sie ist immer noch düster, aber meine Fähigkeit zur Empathie sind scheinbar ebenfalls angewachsen. Jedenfalls tat mir Hans Giebenrath einfach nur leid. Eingezwängt zwischen lauter alten Männern, die nur ihre eigene Eitelkeit befriedigen wollen, kann er sich nicht gegen den Druck wehren. Er lernt rund um die Uhr, selbst in den wohlverdienten Ferien büffelt er weiter, nur um im Priesterseminar eine gute Figur zu machen. Ob er da je hin wollte, hat ihn natürlich niemand gefragt. Und er hat sich natürlich nicht gewehrt. Das stand damals nicht zur Debatte.

Seine Gegenwehr ist folglich eine andere, eine passive. Heute erkennen wir darin das Burnout und den schleichenden Übergang in die Depression. Der Freund im Seminar nutzt ihn nur aus, das Mädchen im Dorf treibt ihr Spiel mit ihm, selbst in der Mechaniker-Ausbildung und beim Saufabend mit den Kollegen kann er nicht mithalten. Sein Vater ist enttäuscht von Hansens Scheitern und überfordert von der „Nervenkrankheit“ des Sohnes. Alles keine guten Voraussetzungen, um den schwierigen Übergang von Kindheit ins Erwachsenenleben zu bewältigen. Die Nöte des Jungen erkennt niemand. Sein Gang ins Wasser – freiwillig oder als Unfall – ist folglich nur konsequent.

Vor ein paar Wochen ging die Pressemeldung über die Freizeit der Deutschen durch die Medien. Eine knappe Stunde haben die Jugendlichen heute pro Tag weniger Zeit für sich. Mit Hesses Geschichte im Hinterkopf kommt einem das Schaudern, sind die Kinder und Jugendlichen heute doch schon so rundum in ihrem Alltag durchgetaktet, dass man sich wirklich fragt, wo sie die nötige Zeit zur Entspannung, zum Spielen, zum Ausprobieren finden. Krass und überzogen gesagt, könnte man den Eindruck bekommen, dass hier die nächste Generation an Burnout- und Depressionspatienten großgezogen wird. Nicht nur das Schicksal von Hans Giebenrath führt uns vor Augen, dass mangelnde Freiräume und übertriebener Ehrgeiz von Erziehungsberechtigten ein schlimmes Ende nehmen können. Falls Hesses Unterm Rad immer noch Schullektüre sein sollte, müsste man eigentlich dafür plädieren, nicht die Schüler damit zu quälen, sondern die Geschichte zur Pflichtlektüre für Eltern und Lehrer zu machen. Zum Wohl der Kinder.

Was mich neben dieser Aktualität von Hesses Text aus dem Jahr 1903 fasziniert hat, war die Sprache. Antiquiert zwar, mit altertümlichen Ausdrücken wie „Sacktuch“ und  „Putzpulverhändler“, aber so klar und auf den Punkt gebracht, dass mir ganz wohlig und heimelig dabei geworden ist. Wenn es so etwas wie eine entschleunigende Lektüre gibt, dann habe ich sie bei Hesse wiedergefunden. Was einfach sehr zu empfehlen ist.

Hermann Hesse: Unterm Rad, Suhrkamp, 2012, 260 Seiten, 9 Euro

Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro

Flucht in eine neue Heimat

kerrManchmal stelle ich fest, dass ich Bücher gar nicht gelesen habe, obwohl ich der Überzeugung bin, das schon längst getan zu haben. Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist so ein Fall. Bis vor kurzem war ich felsenfest davon überzeugt, es zu kennen. So genau erinnere ich mich an die Zeit in den 70er Jahren, als alle von diesem Buch gesprochen haben und ich ganz seltsame Gefühle dabei hatte, die ich gar nicht einordnen konnte.

Jetzt, aus Anlass von Judith Kerrs 90. Geburtstag, habe ich die Lektüre nachgeholt – und dafür auch gleich noch die beiden Nachfolgeromane Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen drangehängt. Es war schon bewegend, endlich die Flucht der Familie Kerr ganz bewusst miterleben zu dürfen.

Annas Sicht der Dinge bringt auch heute noch die Zeit von 1933 und die Schrecken, die schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis einsetzten, dem Leser eindringlich nah. Man ist unmittelbar dabei, wie die anfangs 9-Jährige die Flucht in die Schweiz und nach Frankreich erlebt, bis die Familie schließlich eine neue Heimat in London findet. Zu all den Neuanfängen kommt die Sorge, wie die Familie überleben soll. Denn Annas Vater, der berühmte Schriftsteller und Theaterkritiker Alfred Kerr, findet im Ausland kaum Möglichkeiten zu veröffentlichen. So muss sich vornehmlich die Mutter um den Unterhalt für die Familie kümmern.
In Warten bis der Frieden kommt schildert Anna die Kriegsjahre in London. Die Familie lebt immer noch in beengten Verhältnissen in einem kleinen Hotel. Anna ist zeitweise bei Bekannten untergebracht, ihr Bruder Michael studiert in Cambridge Jura und möchte zur Royal Air Force. Mittlerweile ist Anna alt genug, um ebenfalls eine Arbeit anzunehmen. Zwischen Bombenangriffen und ihrer Arbeit für einen Wohltätigkeitsverein lernt sie zudem das Zeichnen. Und verliebt sich in ihren Zeichenlehrer.
Eine Art Familientreffen schildert eine Woche im Jahr 1953. Annas Vater ist vor vier Jahren gestorben (auch hier folgt Judith Kerr ihrer eigenen Familiengeschichte), die Mutter lebt wieder in Berlin. Anna selbst ist mit einem TV-Redakteur verheiratet. Da erreicht sie ein Anruf, dass die Mutter in Berlin mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegt. Anna reist nach Berlin, trifft dort ihren Bruder und erfährt, dass die Lungenentzündung nur ein Vorwand war und die Mutter eigentlich einen Selbstmordversuch unternommen hat.

kerrVon den drei Bänden ist Eine Art Familientreffen sicherlich der schwächste Teil. Doch rundet er Annas Leben in dem Sinne ab, dass sie mit den Ereignissen der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges abschließen und eine eigene Familie gründen kann.
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist zweifellos immer noch eine wichtige Lektüre, um die Flucht vor den Nazis aus der Sicht eines Kindes mitzuerleben. Allerdings liest sich die Übersetzung von Annemarie Böll aus den 1970er Jahren heute an manchen Stellen etwas betulich. Hier könnte man durchaus mal über eine Neuübersetzung nachdenken.
Warten bis der Frieden kommt besticht durch die authentische Schilderung der Bombardierung Londons. Sie macht deutlich, wie sehr die britische Metropole unter den Angriffen der Deutschen gelitten hat.

Judith Kerr, die immer noch in London lebt, als Illustratorin arbeitet und sich mittlerweile als vollkommen britisch empfindet, verdanken wir eine der sensibelsten Darstellungen von Flucht. Sie zeigt, dass Kinder sehr viel vom Leid der Erwachsenen mitbekommen, aber auch durchaus in der Lage sind, sich in neue Situationen einfinden und ein glückliches Leben führen zu können. Davor verneige ich mich und gratuliere zum 90. Geburtstag.

Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht, Übersetzung: Annemarie Böll, Ravensburger Buchverlag, 2013, 576 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Für Freiheit und Toleranz

bücherverbrennungIn Berlin erinnert das Deutsche Historische Museum in diesem Jahr mit der Ausstellung „Zerstörte Vielfalt“ an die Vertreibung von Künstlern und Intellektuellen von 1933 bis 1938. Dafür stehen in Mitte und in anderen Stadtteilen Litfaßsäulen mit den Biografien der Vertriebenen und Ermordeten. Schräg gegenüber vom Deutschen Historischen Museum liegt der Bebelplatz, auf dem vor genau 80 Jahren Goebbels die Bücherverbrennung inszeniert hat, ein weiteres Mosaiksteinchen bei der Zerstörung von geistiger Vielfalt.

Der Atrium Verlag hat nun vier Schriften von Erich Kästner, der bekanntermaßen am 10. Mai 1933 vor der Humboldt-Uni stand und von dort aus dem unsäglichen Treiben der Nazis zusah,  unter dem Titel Über das Verbrennen von Büchern neu herausgegeben. Kästner berichtet in den Texten, die von 1946, 1947, 1953 und 1965 stammen, wie er das Ereignis als 34-Jähriger erlebt hat. In seiner klaren, scharfsinnigen Sprache schildert er den Abend des 10. Mai, und die Ungeheuerlichkeiten des Spektakels erscheinen dem Leser bildhaft vor Augen. Man bewundert Kästner für seinen Mut, sich unter die Menge zu mischen und alles mit anzusehen. Er selbst entschuldigt sich in einem Artikel fast für seine Passivität, was er durchaus nicht müsste. Denn schon sein Bleiben in Nazideutschland, wo er „Chronist der Ereignisse“ sein wollte, verlangte jede Menge Mut und verdient höchsten Respekt.

Erschreckender ist dann umso mehr der Text von 1965, in dem Kästner von einer erneuten Bücherverbrennung in Düsseldorf berichtet. Dort hatte eine Jugendgruppe des „Bundes Entschiedener Christen“ mit Genehmigung des Ordnungsamtes am Rheinufer Bücher verbrannt – unter anderem auch die von Erich Kästner. Wieder einmal. Die Jung-Christen hatten sich dabei angeblich auf einen Brief des Apostel Paulus an die Epheser berufen, der die Verbrennung von heidnischen Zauberbüchern forderte. Von der Bücherverbrennung der Nazis hatten sie angeblich nichts gewusst. Man mag es nicht glauben, und es zeigt deutlich, dass wir auch heute noch nicht genug erinnern können.

Das schmale, aber wertvolle Büchlein liefert neben Kästners Texten einen kurzen chronologischen Abriss der Organisation der Bücherverbrennung, die von langer Hand und generalstabmäßig geplant wurde, sowie eine Liste mit den über 140 Autoren und Autorinnen, deren Bücher im Frühjahr 1933 öffentlich verbrannt wurden. Darunter u.a. Alfred Kerr, Joseph Roth, Maxim Gorki, Stefan Zweig, Nelly Sachs, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Carl Zuckmayer, Egon Erwin Kirsch, Schriftsteller, deren Bücher und Werke wir heute selbstverständlich aus dem Regal nehmen (eine erweiterte Liste mit den Namen findet sich auf der Website Bücherlesung). Über das Verbrennen von Büchern macht deutlich, dass es Zeiten gab, in denen das gar nicht selbstverständlich war. Diese Zeiten liegen zwar immer weiter zurück, doch das erlaubt uns nicht, sie zu vergessen.

Kästners vier kurze Texte in Über das Verbrennen von Büchern kommen in diesem Rahmen gerade recht, sind sie doch eine eindringliche Mahnung für Freiheit und Toleranz. Etwas das man nicht oft genug einfordern und verteidigen muss.

Und wer heute über den Bebelplatz in Berlin läuft, sollte den Blick auch nach unten lenken, denn im Boden ist ein Raum mit weißen Bücherregalen eingelassen. In ihnen steht kein einziges Buch.

Erich Kästner: Über das Verbrennen von Büchern, Atrium-Verlag, 2013, 56 Seiten, 10 Euro

Mopsologie

ottos mopsIch sage es gleich, reale Möpse sind nicht gerade meine Lieblingshunde. Zu klein, zu überzüchtet, zu asthmatisch, zu hässlich. Würde ich mir nie zulegen. Mops-Besitzer mögen es mir bitte verzeihen.

Anders liegt die Sache mit Ottos Mops, dem genialen Gedicht des Österreichers Ernst Jandl. Dieser Mops ist eine ausgesprochene Persönlichkeit. Im November 2013 wird dieses geniale Werk und sein Protagonist 50 Jahre alt, man möchte sagen: jung. Denn beide haben nichts von ihrer Frechheit und Frische verloren. Umso schöner, dass das Jubeljahr von Ottos Mops mit einer Neuauflage mit den Illustrationen von Norman Junge gefeiert wird.

Junge, der im vergangenen Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis Sonderpreis Illustration gewonnen hat, begibt sich auf Augenhöhe mit dem Mops. Otto und sein Frühstückstisch wirken riesig, die Wände unendlich, und mit jeder Seite gerät das friedliche Zusammenleben von Hund und Herrchen aus den Fugen. Der trotzige Mops reißt die Tischdecke mit, die Tasse stürzt, die Wände kippen, alles gerät ins Schwanken. Der orange-gelb-rosane Raum taucht nur ein einziges Mal in grün-blaues Licht – der Mops kotzt.

Man muss sich nicht mit Univolkalismus oder Lyriktheorie auskennen, um seine Freude an dem durchgeknallten Hund zu haben – und an dieser kongenialen Kombination aus Jandl und Junge. Selbst, oder gerade weil, sich in Ottos Wohnzimmer, in Junges Interpretation, nur ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, eine Anrichte und ein Bild befinden, bleiben dort genügend Freiräume, die jeder Betrachter nach Belieben mit eigenen Fantasien und Vorstellungen füllen kann. Gleichzeitig gibt es in dieser „Leere“ so viel zu entdecken, dass man mit einmal durchblättern lange noch nicht am Ende der Erkenntnis angekommen ist. Wahrscheinlich ist ein- bis dreimal die tägliche Mindestdosis, mit der man Ottos Mops zwar nicht Gassi führen, aber wertschätzen sollte.

Wie gesagt, ein echter Mops kommt mir nicht ins Haus. Aber dafür habe ich Ottos Mops – und dessen Eskapaden in diesem Bilderbuch liebe ich über alles.

Ernst Jandl/Norman Junge: ottos mops, Tulipan, 2013, 36 Seiten, ab 4, 14,95 Euro 

Das Dilemma

Die aktuelle Diskussion über die Modernisierung von Otfried Preußlers Die kleine Hexe hat mich kurzfristig dazu bewogen,  das Original zu lesen. Ich vermute, dass ich das Buch in meiner Kindheit zumindest einmal in der Hand hatte – die Illustrationen kamen mir jedenfalls sehr vertraut vor – aber an die eigentliche Geschichte konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Jetzt bin ich inhaltlich wieder im Bilde: Die kleine Hexe ist mit ihren 127 Jahren noch zu jung für die Walpurgisnacht, will aber unbedingt mittanzen. Sie schleicht sich ein, wird erwischt und anschließend übel bestraft. Wenn sie im nächsten Jahr mitmachen will, muss sie beweisen, dass sie das auch verdient. Also strengt sie sich über ein Jahr an, eine gute Hexe zu werden und die Hexenprüfung zu bestehen. Angestiftet vom Raben Abraxas hext sie fortan nur gute Dinge, hilft Armen, Verfolgten, Geschundenen. Die Prüfung besteht sie schließlich mit Links, nur ist sie leider doch keine gute Hexe, weil sie nur Gutes getan hat, was eine gute Hexe, die nur Böses tut, eben nie tun würde. Mit ihren neuen Fähigkeiten schafft sie es dann jedoch, die bösen Althexen zu überlisten und doch Walpurgisnacht zu feiern.

Das Kapitel, das nun einer Modernisierung unterzogen wird, beschreibt eine Fastnachtsszene bei den Kindern, die sich so exotisch wie möglich verkleiden: als Türke, Chinese, Eskimo, Neger, Hottentotte. Sicher, all das liest sich heutzutage schon befremdlich – und dennoch habe ich meine Schwierigkeiten damit, wenn hier nach 55 Jahren in den Text eingegriffen wird. Die kleine Hexe ist ein Kind ihrer Zeit, und das merkt man dem Buch nicht nur in diesem einen Kapitel, sondern im ganzen Text an. Nichtsdestotrotz ist Die Kleine Hexe ein Gesamtkunstwerk. Und Kunstwerke sollten so genommen werden, wie sie sind. Man ändert ja auch nichts an Gemälden oder schneidet bei alten Filmen unliebsame Szenen heraus. Man ordnet sie ein. Gemälde werden wissenschaftlich zu geordnet und erklärt. Filme in Retrospektiven dem heutigen Publikum zugänglich gemacht. Und manches verschwindet auch schon mal in der Versenkung. Und das ist dann auch okay.

Die kleine Hexe nun ist eine Dame im besten Alter, und dieses Alter darf man ihr auch ruhig anlesen. Es ist auch gar nicht zu überlesen, selbst wenn die Negerlein und das Durchwichsen verschwinden, der Schindelmacher und der Bierkutscher jedoch bleiben. Viele Begriffe und Redewendungen bei Preußler zeugen von einer vergangenen Zeit, die so gut wie nichts mehr mit unserer Gegenwart zu tun hat. Eine Text-Modernisierung, so vorsichtig sie auch sein mag, kommt mir ein bisschen vor wie das Face-Lift von eitlen Damen. Die mögen durch straffe Hautpartien im Gesicht scheinbare Jugend zu zeigen, doch spätestens wenn man auf die Hände achtet, lässt sich das eigentliche Alter nicht mehr verbergen.
Kindern sollte man dieses Alter erklären, anstatt es zu leugnen. Das ist beim Vorlesen sicherlich hinderlich, aber ein Gespräch außerhalb dieser Situation könnte durchaus funktionieren. Es ist ja nicht so, dass man Kindern nichts zutrauen darf. Sie werden heute in so vielen Situationen bis zum Anschlag gefordert – Frühförderung, Musikunterricht, Museumspädagogische Führungen, Englisch oder gar Chinesisch schon im Kindergarten – nur die Geschichte unserer Gesellschaft gehört scheinbar nicht dazu. Doch diese Geschichte hat uns geprägt, ist die Wurzel unserer Gegenwart. Diese historische Wurzel abzukappen, und sei es nur auf der Sprachebene, empfinde ich als eine Verarmung.
Sicher ist der Gebrauch von einem Wort wie „Neger“ heute nicht mehr tragbar, doch im Kontext eines alten Textes wird es zu einem Marker für die Entstehungszeit. Solche Marker, man könnte sie auch Stolpersteine nennen, machen aufmerksam. Sie bieten eine Reibungsfläche, mit der man sich auseinandersetzen muss. Das erfordert per se erst einmal die Anstrengung, sich aus der Komfortzone eines geglätteten Denkens heraus zu bewegen. Die Trägheit des Geistes muss überwunden werden, wenn man so ein Wort einem kleinen Menschen erklären muss. Und man wird gezwungen, sich Nachfragen zu stellen und sich womöglich mit seiner eigenen Haltung erneut auseinanderzusetzen. Bequem ist das sicher nicht.
Ich kann verstehen, dass Eltern dieses Wort nicht vorlesen möchten, weil ihr Kind es in der Kita einem Spielkameraden an den Kopf werfen könnte. Das mag man wirklich nicht wollen. Hier liegt das Dilemma. Doch es nicht vorzulesen, es nicht zu erklären verschiebt das Problem nur um eine gewisse Zeit und baut derweil ein Tabu auf, was möglicherweise eine ganz fatalere Verlockung entwickeln kann, die dann das genaue Gegenteil von dem bewirkt, was die erzieherische Intention beabsichtigt hatte.

Möchte man solche Themen aussparen, sollten die Vorleser sich überlegen, auf die alten Texte zu verzichten, die ihre eigene Kindheit geprägt haben. Es wäre ein Abschied von der Nostalgie und der Sentimentalität – und von der eigenen Kindheit. Vielleicht hängen wir Erwachsenen deshalb immer noch so an den Klassikern, die WIR den Kindern vorschlagen, weil wir unsere eigene Kindheit auch über die alten Kinderbücher idealisieren. Sich davon zu verabschieden fällt immer schwer. Aber die Auswahl an neuen Kinderbüchern ist riesig und bietet den nächsten Generationen genügen Fantasie- und Identifikationsgeschichten, die ihre Kinderjahre prägen werden.
Die kleine Hexe ginge dann irgendwann den Weg, den alle Klassiker einschlagen, respektiert, in Würde gealtert, aber vielleicht auch vergessen.

Otfried Preußler: Die kleine Hexe, Illustrationen: Winnie Gebhardt-Gayler, Thienemann Verlag, 1957, 127 Seiten, ab 6, 11,90 Euro

Mein Sommer mit Rodari

mein sommer mit rodariNach meinem Urlaub fand ich in meiner Post die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Eselsohr. Normalerweise freue ich mich auch so schon immer über die neuesten Rezensionen und Hintergrundartikel zu Kinder- und Jugendbüchern, doch dieses Mal kommt noch etwas Besonderes hinzu. Ich durfte die Rubrik VdÜ-Spot füllen, wo Übersetzer aus ihrem Arbeitsalltag berichten.

Und so habe ich dort von der Entstehung meiner Neuübersetzung der Gutenachtgeschichten am Telefon von Gianni Rodari berichtet. Wer das Eselsohr nicht bezieht oder irgendwo anders lesen kann, hat hier die Gelegenheit, meinen Artikel Mein Sommer mit Rodari nachzulesen.

Gianni Rodari: Gutenachtgeschichten am Telefon, Übersetzung: Ulrike Schimming, Illustration: Anke Kuhl, S. Fischer Verlag, 2012, 207 Seiten, 14,99 Euro

Die Bibel für Hobbitologen

Bildgewaltige Kinoerlebnisse werfen ihre Schatten voraus. Peter Jackson hat abgedreht, und am 13. Dezember dieses Jahres kommt der erste Teil seiner Hobbit-Verfilmung in unsere Kinos. Der Trailer im Netz verspricht bereits wieder großartige Unterhaltung.

Um sich die Zeit bis dahin entsprechend zu verkürzen und das Abenteuer von Bilbo Beutlin, den Zwergen, Gandalf und dem Drachen Smaug schon vorab zu lesen (falls man das noch nicht getan hat), kann man sich jetzt in die annotierte Fassung von John R.R. Tolkiens Der Hobbit vertiefen. Neben dem kompletten Text, in der Übersetzung von Wolfgang Krege, finden sich in dem opulent aufgemachten Buch alle wichtigen historischen Informationen zu dem Werk selbst.

Douglas Anderson, renommierter Tolkien-Forscher, referiert die Entstehungsgeschichte des Textes, er umreißt Tolkiens Biografie und zeigt auf, was davon in dem Text Eingang gefunden hat. Ebenso zeichnet er die Verlagsgeschichte des Buches nach, nennt Auflagenzahlen und verweist auf Rezensionen und Rezeption.

Tolkiens Text begleiten dann unzählige Anmerkungen, farblich in petrolblau abgesetzt, die über Hobbitkunde, den berühmten ersten Satz („In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“), das genaue Aussehen des kleinen Helden, Tolkiens Skizzen und Bezüge zu Der Herr der Ringe informieren. Zeichnungen, Stiche, Illustrationen und Faksimiles aus anderen internationalen Übersetzungen bereichern die Lektüre. Im Innenteil finden sich die farbigen Cover der deutschen Hobbit-Ausgaben.

Die Übersetzerin und Editorin der Anmerkungen, Lisa Kuppler, hat zudem einen Abriss über die Verlagsgeschichte des Hobbits in Deutschland beigesteuert. Hierin erfährt man auch, wie Tolkien auf den von ihm, für eine geplante deutsche Ausgabe 1938, geforderten Arier-Nachweis reagiert hat – nämlich brillant und scharfzüngig. Es ist eine wahre Genugtuung, dass dieser Brief, der nie nach Deutschland geschickt wurde, so endlich auch der breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde.

Das Buch ist folglich ein aufschlussreiches und gelungenes Muss für alle Hobbitologen und Fans von Bilbo, Smaug und Gandalf.

Lisa Kuppler, begeisterter Tolkien-Fan, hat mir ein paar Fragen zu diesem umfangreichen und kleinteiligen Übersetzungsprojekt beantwortet.

Wie sind Sie zum Hobbit gekommen? Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen?

Wie wahrscheinlich die meisten, habe ich den Hobbit mit 12, 13 Jahren gelesen, Mitte der 70er Jahre. Ich bin über den Herrn der Ringe zu Tolkien gekommen, und als ich die drei Bände durch hatte, habe ich alles verschlungen, was es sonst noch aus der Welt von Mittelerde zu lesen gab. Der Hobbit war mein zweites Tolkien-Buch.

Was macht für Sie die Faszination der Hobbit-Geschichte aus?

Als jugendliche Leserin war der Hobbit für mich immer die Vorgeschichte zu den Ereignissen des Herrn der Ringe: Wer ist dieser Bilbo Beutlin? Wie ist er zu dem Einen Ring gekommen, den nach ihm Frodo trägt? Was hat der Ring mit ihm gemacht? Das waren die Fragen, die mich interessierten. Wenn ich den Hobbit heute lese, fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie wir Leser mit Bilbo auf diese seltsame Reise gehen, zusammen mit der kuriosen Truppe an Zwergen und Gandalf. Heute kann ich den Humor des Hobbits viel mehr schätzen. Und die große moralische Entscheidung, die Bilbo am Ende des Buches treffen muss, wenn er Bard und dem Elbenkönig den Arkenstein bringt, um Frieden zwischen den Menschen und den Zwergen zu erzwingen.

Ist der Hobbit eigentlich immer noch ein Kinderbuch? Oder liegt hier ein ewiges Missverständnis vor?

Ja, der Hobbit ist immer noch ein Kinderbuch. Dass man ihn auch mit 30, mit 40 und wahrscheinlich auch noch mit 70 Jahren mit Freude immer wieder lesen kann, und dabei etwas Neues daran entdecken – das ist es, was den Hobbit zu einem Klassiker macht.

Das Missverständnis, der Hobbit sei „eigentlich“ ein Buch für Erwachsene, kommt daher, dass man in Deutschland von Kinderbüchern einerseits eine deutlich erzieherische Botschaft erwartet, andererseits Kinder vor so genannten Erwachsenenthemen „schützen“ will. Kinderbücher werden hierzulande als eine spezielle Art von Literatur gesehen. Tolkien betrachtete seine Bücher als Märchen, als „fairy tales“, die er für Leser jeden Alters schrieb, die Geschichten liebten und sich auf das Eintauchen in eine Fantasiewelt einlassen wollten. Er steht damit in der Tradition von Lewis Carrolls Alice im Wunderland oder auch Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden. Ihm ging es um das Spielerische – vor allem mit Sprache und literarischen Traditionen – und das Fantasieren im „Experimentalraum Buch“, was für Tolkien kein Eskapismus war, sondern ein für jeden Menschen notwendiger Freiraum.

Worin lagen die Schwierigkeiten, diese z.T. sehr kleinteiligen Annotationen zu übersetzen?

Eine Herausforderung bei der Übersetzung waren die vielen unterschiedlichen Textformen der Anmerkungen, die Douglas Anderson akribisch zusammengetragen hat: Das Große Hobbit-Buch enthält Lexika-Einträge, Zitate aus Sekundärliteratur, Biografien und den Briefen Tolkiens, Werbe- und Rezensionstexte, mittelalterliche Gedichte, isländische Märchen, Romanauszüge, Passagen aus etymologischen und linguistischen Abhandlungen usw. usw. Als Übersetzerin war es meine Aufgabe, die verschiedenen Stile und Textformen überzeugend ins Deutsche zu übertragen.

Im Großen Hobbit-Buch werden einige Romane und Märchen zitiert, die Tolkien beeinflussten – das in Deutschland weitgehend unbekannte Märchen Puss-cat Mew oder E. A. Wyke-Smiths The Marvellous Land of Snergs – die noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Hier konnte ich also auf keine publizierten Übersetzungen zurückgreifen.

Darüber hinaus sind im Großen Hobbit-Buch Gedichte von Tolkien abgedruckt, die zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht werden. Der Verlag hatte sich entschlossen, diese Gedichte sowohl im englischen Original als auch in einer Prosaübersetzung (also nur dem Inhalt nach, nicht in Gedichtform) abzudrucken. Ich war für die Prosaübersetzungen verantwortlich, was sehr aufregend war.

Eine andere Herausforderung lag darin, dass es im Deutschen zwei Übersetzungen des Hobbit gibt, die eine davon zudem noch in zwei recht unterschiedlichen Fassungen. Da die meisten Leser den Hobbit nur auf Deutsch kennen, war es mir ein Anliegen, auch auf Unterschiede oder Kuriositäten in den Übersetzungen hinzuweisen. So wurden zum Beispiel die Orks in der ersten Hobbit-Übersetzung noch „Kobolde“ genannt, und die Sackheim-Beutlins, Bilbos missgünstige Verwandten, hießen dort noch „Beutelstadt-Baggins“.

Spannend zu übersetzen waren für mich alle Anmerkungen, in denen auf die englischen Wortursprünge und Worthintergründe eingegangen wird. Dort habe ich versucht, zusätzlich deutsche Entsprechungen und Ergänzungen zu finden, speziell auch beim Rätselspiel zwischen Bilbo und Gollum. Ich war überrascht, wie viele deutsche Rätselsammlungen es gibt, in denen Worträtsel zu finden sind, die denen, die Tolkien im Hobbit verwendet, sehr ähnlich sind.

Wie rechercheaufwendig war die Arbeit an der Übersetzung?

Das Große Hobbit-Buch war von vornherein nicht nur als bloße Übersetzung von Douglas Andersons Buch geplant, sondern es sollte auch speziell für die deutsche Leserschaft editiert werden. Deshalb ist in diese Übersetzung einiges mehr an Recherche geflossen als üblich.

Eine Besonderheit des Großen Hobbit-Buches sind die vielen Hobbit-Illustrationen, die das Buch bebildern. Douglas Anderson hat Kurzbiografien der Tolkien-Illustratoren zusammengetragen, und dabei ihre im englischen Sprachraum wichtigsten Werke aufgeführt. Die meisten dieser englischen Ausgaben sind nie ins Deutsche übersetzt worden. Wo immer möglich habe ich nun Andersons Angaben ergänzt um deutsche Titel, die ebenfalls von den jeweiligen Illustratoren bebildert wurden. Allein schon diese Ergänzungen waren mit sehr viel Recherchearbeit verbunden.

In der Mitte des Großen Hobbit-Buches befindet sich ein Bildteil, der in der deutschen Ausgabe um elf Cover von deutschen Hobbit-Ausgaben erweitert wurde. An die Cover der zum Teil nur noch teuer antiquarisch zu erstehenden Ausgaben bin ich nur durch die Mithilfe des Projekts Deutsche Tolkien-Bibliographie, einer Gruppe von Fans und Buchliebhabern, gekommen, die alle jemals in Deutschland erschienene Hobbit-Ausgaben sammeln.

Einiges an Recherche war auch für das Nachwort nötig, in dem ich die Veröffentlichungsgeschichte des Hobbits in Deutschland skizziert habe. Ich habe drei Interviews geführt, vor allem um die Hintergründe der Ost-West Doppel-Edition des Hobbit von 1971 herauszubekommen, die so vorher noch nicht bekannt waren.

Welche Annotation oder Anekdote im Buch ist Ihre liebste?

Ich kann mich kaum für eine Lieblings-Anmerkung entscheiden. Alles ist interessant. Doch besonders faszinieren mich die Anmerkungen zum Kapitel 5 „Rätsel im Dunkeln“, in denen Douglas genau die Änderungen nachvollzieht, die Tolkien erst 1951 im Text des Hobbit korrigierte. Die Erstausgabe des Hobbit von 1937 war, in Bezug auf Gollum und die Ereignisse von Kapitel 5, noch anders als die Fassung, die wir heute lesen. Tolkien selbst hat hier 14 Jahre nach dem Erscheinen des Hobbit Revisionen vorgenommen, weil er inzwischen am Herr der Ringe schrieb, und die Handlung angleichen wollte. Mich fasziniert dabei, wie sich die Geschichte im Buch in der Publikationsgeschichte spiegelt: Die Erstfassung des Hobbit von 1937 entspricht der nicht ganz wahrheitsgetreuen Geschichte Bilbos, die er zuerst den Zwergen auf die Nase bindet; die Fassung des Hobbit von 1951 entspricht der Geschichte vom Ringfund, wie er sich wirklich zugetragen hat. Heute wären solche Änderungen an einem schon längst erschienen Buch einfach nicht mehr möglich.

Eine Anekdote, die in einer Fußnote der Einführung erzählt wird, hat mich sehr beeindruckt. Sie vermittelt schlaglichtartig etwas vom Alltagsleben des Autors Tolkien, der immer mit Geldsorgen zu kämpfen hatte. 1938 erhielt Tolkien einen Kinderbuch-Preis, der von der New York Herald Tribune gestiftet wurde und mit 250 US-Dollar dotiert war. Das Preisgeld wurde ihm per Brief geschickt, und seine Kinder John und Priscilla erinnern sich noch eindrücklich daran, wie Tolkien das Geld aus dem Brief nahm, um es seiner Frau Edith zu reichen, die damit eine ausstehende Arztrechnung begleichen konnte.

Auf welche Anmerkungen hätten Sie gern verzichtet?

Es gibt keine einzige Anmerkung, die ich gerne gestrichen hätte; im Gegenteil: Manche editorische Notiz Douglas‘ – also Hinweise auf rein sprachliche Korrekturen in den englischsprachigen Ausgaben – hätte ich am liebsten auch noch mit ins Große Hobbit-Buch aufgenommen, obwohl das für deutsche Leser vielleicht langweilig gewesen wäre oder aus Platzgründen unmöglich. Immer, wenn in solchen Notizen Inhaltliches eine Rolle spielte, habe ich sie übersetzt. So zum Beispiel Anmerkung 9 im Kapitel 1, wo Douglas berichtet, dass in der Erstausgabe des Hobbit noch von bösen Gerüchten die Rede war, der eine oder andere Tuk hätte vor Urzeiten einmal in eine Ork-Familie eingeheiratet. In der Ausgabe von 1966 wurde dieser Satz gestrichen, es blieb das Gerücht, ein Vorfahre der Tuks müsse wohl einmal eine Elbin geheiratet haben.

Welche fehlt Ihrer Meinung nach?

Wenn Weihnachten 2013 beide Verfilmungen des Hobbit in den Kinos laufen, könnte man natürlich auch die Film-Interpretation und Informationen zur filmischen Adaption in den Anmerkungsapparat zum Hobbit einbauen. Es ist also definitiv noch Material da für Überarbeitungen und Ergänzungen des Großen Hobbit-Buchs.

War es nicht manchmal auch ein bisschen dröge nur die Anmerkungen einzudeutschen? Hätten Sie nicht viel lieber den Hobbit selbst neu übersetzt?

Ganz ehrlich: nein. Es gibt zwei Hobbit-Übersetzung, die unterschiedlich sind, aber beide auf ihre Art sehr gut. Es braucht keine neue, dritte Hobbit-Übersetzung, und wenn, dann erst in fünfzehn, zwanzig Jahren.

Ich habe mit viel Begeisterung die Einführung und die Anmerkungen übersetzt. Aber bei jedem Originalgedicht Tolkiens, für das ich eine Prosaübersetzung angefertigte, hätte ich mir ein paar Tolkienkenner zur Seite gewünscht, mit denen ich Wortwahl und Bedeutung diskutieren hätte können. Ich habe riesigen Respekt für Tolkiens Lyrik-Übersetzer, allen voran Ebba-Margareta von Freymann, die die Gedichte im Herrn der Ringe übersetzte. Da nie alle Gedichte des Hobbit vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, hat der Verlag für das Große Hobbit-Buch Joachim Kalka beauftragt, der noch fehlenden Strophen wundervoll ins Deutsche übertragen hat.

Gibt es ein weiteres Tolkien-Projekt auf Ihrem Schreibtisch?

In enger Zusammenarbeit mit dem Lektor Stephan Askani vom Klett-Cotta Verlag habe ich gerade die Übersetzung des Herrn der Ringe von Wolfgang Krege auf Fehler durchgesehen und behutsam korrigiert. Das war ein äußerst spannendes Projekt, weil wir zwar Fehler beseitigen, aber den besonderen und eigenwilligen Ton und Stil Kreges erhalten wollten. Die Neuausgabe wird im Herbst erscheinen.

John R. R. Tolkien: Das große Hobbit-Buch. Der komplette Text mit Kommentaren und Bildern. Herausgegeben von Douglas Anderson, Übersetzung: Wolfgang Krege, Übersetzung und Edition der Anmerkungen: Lisa Kuppler, Klett-Cotta, 2012, 418 Seiten, 29,95 Euro

Buntes Wiedersehen

2012 mausert sich zum Jahr der Jubiläen: 50 Jahre Gutenachtgeschichten am Telefon von Gianni Rodari, im Dezember jähren sich die Hausmärchen der Brüder Grimm zum 200sten Mal, und dieser Tage feiert Räuber Hotzenplotz  von Otfried Preußler seinen 50sten. Jetzt könnte man denken, dass der Räuber in die Jahre gekommen ist – doch mit der aktuellen Auflage der dreibändigen Kasperlgeschichte hat man viel mehr den Eindruck, er hätte sich einer Frischzellenkur unterzogen. In der Automobilbranche wird so etwas „Facelift“ genannt.

Was ist passiert? Die Geschichte um Großmutters gestohlene Kaffeemühle, Kasperls und Seppels Unternehmung, den Räuber zu fangen, ihre Begegnung mit dem großen und bösen Petrosilius Zwackelmann sowie die fabelhafte Befreiung der Fee Amaryllis hat sich natürlich nicht verändert. Einer Zeitreise gleich in die 1970er Jahre fieberte ich auch jetzt mit den beiden Freunden bei ihren gefährlichen Abenteuern mit, kicherte über Kasperls Namensverdrehungen von Zeprodilius Wackelzahn, Eprolisius Dackelschwanz und Spektrofilius Zaschelschwan, hatte kein Mitleid mit dem widerborstigen Zauberer, sondern war erneut ganz fasziniert von dem goldenen Kleid der Fee und ihrer wilden Haarmähne.

Letztere ist nur auf den Illustrationen von Franz Josef Tripp zu sehen. Diese gab es auch in meiner Uralt-Ausgabe schon, und sie waren damals schon einprägsam und emotional aufwühlend: die großen, nackten Käsemauken von Hotzenplotz als Verkörperung des Unholds schlechthin, die Warzen auf Zwackelmanns Nase auf den Punkt gebrachte Verschlagenheit, Seppel in kurzen Lederhosen für mich als Norddeutsche ein ganz klares Zeichen, dass ich zum Glück weit weg vom Einzugsgebiet des Räubers wohnte. Heute würde man all dies wohl ikonografisch nennen. Jedenfalls trugen diese Zeichnungen dazu bei, dass ich nie eine andere Darstellung des Hotzenplotz’ und seiner Mitstreiter ertragen konnte.

Und nun das: Alles ist bunt! Kunterbunt! Sehr liebevoll und anheimelnd hat Mathias Weber Tripps Illustrationen koloriert. Endlich ist Kasperls Zipfelmütze richtig rot, und das grüne Hemd des Räubers passt wie die Faust aufs Auge. Petrosilius in magisches Blau zu kleiden lag vielleicht auf der Hand, aber mit den grünen Nuancen scheint sein Zaubermantel schier seidig zu glänzen. Die Fee strahlt natürlich in blendendem Goldgelb. Und der Wald … der Wald wird zu einem sonnendurchschienen Traumort, in dem eigentlich gar kein böser Räuber hausen kann. Die Illus treten in ihrer neuen Plastizität förmlich aus dem Buch heraus. Die Farben unterstreichen die Charakterzüge der Figuren aufs treffliche. Ein schöneres Geschenk hätte man dem Räuber und seinem Schöpfer wohl nicht machen können.

Eine weitere Neuerung für mich sind passenderweise die Hörspiele zum Räuber Hotzenplotz, die jetzt in einer Hörspielbox noch einmal gesammelt bei Universal Music erschienen sind. Dietmar Bär leiht darin dem Titelhelden sein überzeugend gutmütig-böses Sprachorgan, Johanna von Koczian würde ich als Großmutter sofort adoptieren, und Ilja Richter macht Zwackelmann noch unsympathischer, als der eh schon ist. Die Erzählerstimme von Peter Striebeck beruhigt die aufgewühlten Gemüter jedoch sofort wieder. Und Kasperls Lachen – aus dem Mund von Oliver Reinhard – ist einfach nur ansteckend. Auch das ist zum 50. Jubeltag von Hotzenplotz eine fesselnde und gelungene Umsetzung von Preußlers Meisterwerk. Denn dieser Hörspaß verbindet sich mit den frisch eingefärbten Illustrationen der Bücher zu einem sehr sinnlichen (Lese-Hör-und-Seh-)Genuss und gehört einfach in jeden Haushalt mit Kindern!

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz, Thienemann Verlag, 2012, 120 Seiten, ab 6, 12,95 Euro.

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz – die große 6 CD-Hörspielbox, 6 Audio-CDs, Universal Music, 2012, 340 Minuten, Sprecher: Dietmar Bär; Ilja Richter; Johanna von Koczian; Peter Striebeck u. a. , ab 5, 19,99 Euro

Die Welteinrichter

allerleirauhGibt man bei Amazon den Begriff „Kinderreime“ ein, erhält man momentan über 1700 Treffer. Meist ist dieser Begriff im Titel der Bücher mit einem Adjektiv kombiniert: die ersten, schönsten, liebsten Kinderreime. Poesie für Kinder muss scheinbar immer noch mit Superlativen an die vorlesenden Eltern gebracht werden.

Dabei gibt es seit über fünfzig Jahren eine umfassende Sammlung von Abzählreimen, Ringelreihen und Schabernack, die ohne Übertreibung auskommt und schlicht Allerleirauh heißt.

Wie der Pelzmantel aus dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm „tausenderlei Rauhwerk“ vereint, hat Hans Magnus Enzensberger hier 777 Kinderreime versammelt und sich dabei aus 77 Quelltexten bedient. Die Reime kommen dabei nicht nur weich und kuschelig daher, sondern sind durchaus auch rau, widerborstig und gehen gegen den Strich der häuslichen Harmonie.

In den Reimen wird gehungert, gestorben, gelogen und Schabernack getrieben. Kinder und Tiere suhlen sich im Dreck, Väter drohen Schläge an, Nonnen betrinken sich, man spricht Kauderwelsch oder in Rätseln. Manchmal ist das harter Tobak und gleichzeitig poetisches Manna. Als erwachsener Leser begibt man sich unwillkürlich auf die Suche nach alten Bekannten und findet meist Varianten.

Doch genau das ist ganz in Enzensbergers Sinne – die Freiheit des Gebrauchs der ursprünglich zu meist mündlich übermittelten Reime. Jeder kann sie umdichten, weiterentwickeln, anpassen, denn „ein guter Reim ist immer zu brauchen“. Und gut ist nach Enzensberger, „was dem Kind Welt als Sprache zuträgt und kenntlich macht: jede Silbe eine Überraschung, ein winziges Wunder“ (S. 359). Verzichtet hat er dabei auf so genanntes Schmuggelgut, also auf die moralinsauren Kinderlieder, „das Falschgeld der Gefühle“ (S. 358), die die Kinder zu braven angepassten Marionetten erziehen wollen.

Und so ist diese Versammlung, die nun in gebundener Form als Neuauflage zu haben ist, immer noch eine Wundertüte voll anarchischem Humor, (Wieder)Entdeckungen, Reisen in Vergangenheit und Phantasie. Man staunt, lacht, singt und freut sich an den Welten, die sich auf wenigen Zeilen eröffnen.

Fehlten meinem kleinen, manchmal noch literaturwissenschaftlich tickenden Herzen anfangs die genauen bibliografischen Angaben zu den einzelnen Texten, so unwichtiger wurde das Wissen um Herkunft und Entstehungszeit, je weiter ich in die Verse eintauchte. Die Reime entfalten einen Zauber, der einem im Hier und Jetzt das Herz aufgehen lässt. Alles andere ist unwichtig.

Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime versammelt von Hans Magnus Enzensberger, 380 Seiten mit 391 alten Holzschnitten, Insel Verlag, 2012, 24,95 Euro