Archiv der Kategorie: Klassiker

Purzelchen und Appetitis

gutenachtgeschichten am telefonHeute erreichte mich das erste Exemplar eines ganz entzückendes Buchs: Gutenachtgeschichten am Telefon. Dass ich mich bannig über dieses Buch freue, liegt an daran, dass ich im vergangenen Jahr die Favole al telefono von Gianni Rodari neu übersetzt habe. Und die Frucht dieser Arbeit liegt nun endlich vor mir.

Ausnahmsweise muss ich hier in eigener Sache schreiben und die Gelegenheit nutzen, mich zu bedanken. Die Arbeit an der Übersetzung hat richtig viel Spaß gemacht und war zugleich eine anspruchsvolle Herausforderung. Die Leichtigkeit von Rodaris Sprache, der charmante Humor, der Wortwitz, die italienischen Besonderheiten waren nicht immer leicht zu übertragen. Anfangs war ich sogar felsenfest davon überzeugt, dass zwei Geschichten nicht zu übersetzen sind. Zu speziell erschienen mir die Geschichten „Il paese con l’esse davanti“ und „Processo al nipote“. Vor allem letztere zeichnet sich durch ein Wortspiel aus, in dem ein vergessenes Apostroph die Bedeutung eines Wortes (l’ozio/der Müßiggang) in eine völlig andere verschiebt (lo zio/der Onkel). Was also tun, wenn das betreffende Sprichwort auf Deutsch lautet „Müßiggang ist aller Laster Anfang“? Wie soll man da einen Onkel unterbringen?

Wochenlang war ich ziemlich ratlos. Und habe schön um diese Geschichte herumübersetzt. Doch zum Glück war ich als Übersetzerin nicht allein und hatte zwei aufschlussreiche Begegnungen mit Kollegen, die ebenfalls aus dem Italienischen übersetzen.

Im Sommer 2011 durfte ich an der Übersetzer-Werkstatt ViceVersa in Settignano bei Florenz teilnehmen. Dort stellten zwölf italienisch-deutsch Übersetzer ihre aktuellen Texte vor. Stundenlang diskutierten wir über Wortbedeutungen, Intentionen von Autoren, Syntaxmonster, Reime und Poesie. Es war manchmal anstrengend, aber hauptsächlich anregend. Unglaublich anregend.

Fortgesetzt habe ich die Diskussion ein paar Wochen später in Berlin beim italienischen Übersetzertreffen. Und auch hier wurde wieder kein Blatt vor den Mund genommen, alles wurde auseinandergenommen, angeschaut, gewendet, gedreht, gelobt, geknickt, geklärt … und so hielten Alte Sprichwörter, Purzelchen und Appetits Einzug in die Texte.

Angeregt durch diese intensiven Arbeitsrunden konnten meine Hirnwindungen dann das Denken und Rumprobieren nicht mehr lassen, bis auch die Lösungen für die beiden scheinbar unübersetzbaren Geschichten plötzlich da waren. Und so finden sich jetzt in diesem Buch auch „Im Lande Frei“ und „Der Neffe vor Gericht“ …

Den Organisatoren von ViceVersa, den Kollegen, die in der Villa Morghen mitdiskutiert haben, und den Berliner Italienischübersetzern gilt mein allerherzlichster Dank!!

In dieser Ausgabe liegen nun also alle 70 Geschichten von Rodaris Favole al telefono in einer einheitlichen Übersetzung vor. Geadelt werden die fünfzig Jahre alte Geschichten durch die luftig-leichten, märchenhaft-schönen Illustrationen von Anke Kuhl. Sie machen dieses Buch zu einem Gesamtkunstwerk – wie ich finde.

Gianni Rodari: Gutenachtgeschichten am Telefon, Übersetzung: Ulrike Schimming, Illustration: Anke Kuhl, S. Fischer Verlag, 2012, 207 Seiten,  14,99 Euro

Schätze und Vampire

Roald DahlManchmal bescheren einem die Verlagsankündi-gungen unerwartete Reisen in die eigene Kindheit. Ein solch vergnüglicher Rückblick wurde mir jetzt mit dem Hinweis auf das 40-jährige Jubiläum der roro-Rotfuchs-Reihe aus dem Rowohlt Verlag zuteil.

Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, die weißen Taschenbücher mit den Fotos auf der Vorderseite und dem dreiteiligen Comic-Strip mit dem Rotfuchs auf der Rückseite. Diese Bücher mit ihren packend realistischen Geschichten waren feste Begleiter meiner frühen Jugendzeit. Sie stillten meinen Lesehunger, und in der rückblickenden Mystifizierung könnte ich jetzt behaupten, die Comic-Strips haben meine Liebe für Graphic Novels geweckt …

Rowohlt hat jetzt im Rahmen ihres Jubiläums zwei meiner Kindheits- und Jugendbegleiter in neuem Kleid herausgebracht. In Die große Roald Dahl Schatzkiste findet man die Perlen des Walisers mit dem fiesen schwarzen Humor. Ich kannte von Ronald Dahl vor allem seine skurrilen Küsschen-Küsschen-Geschichten und habe jetzt mit Wonne die Storys von der leseverrückten Matilda, Willy Wonka, Mr. Fox oder vom schüchternen Herrn Hüpfenstich verschlungen.

Ergänzt werden die fantastischen Geschichten durch Ausschnitte von Dahls autobiografischem Text Boy sowie mit rotzfrechen Rezepten des Autors, die aus der Lektüre ein umfassend sinnliches Erlebnis machen, wenn man sofort in die Küche eilt und Karamellmilch und Theo-Torfkopp-Schokotorte zubereitet.

Diese wunderbare Melange ist so überaus liebevoll wie schräg von dem großartigen Quentin Blake illustriert, dass kleine Zuhörer beim Vorlesen jede Menge zu schauen und zu  entdecken haben. Dieses Buch ist ein wahrer Schatz, nicht nur eine Schatzkiste.

der kleine VampirDas zweite Rotfuchs-Déjà-vu ist Der kleine Vampir von Angela Sommer-Bodenburg. In einer erweiterten Neuausgabe sucht Rüdiger von Schlotterstein neu ummantelt mit blutigen Illustrationen von Amelie Glienke den Jungen Anton heim.

Bei allem Vampir-Hype der vergangenen Jahre ist es richtig erholsam, mal wieder einen klassischen Blutsauger im schwarzen Umhang und mit einer Familiengruft als Zuhause zu erleben. Böse Tanten, Vampir-ärgere-dich-nicht, Blutvergiftung beim Vampir und ewig pubertierende Jung-Vampire ergeben noch immer eine charmante Mischung aus Grusel und Grinsen. Fast wünscht man sich, Anton möge sich gegen die Avancen von Anna, Rüdigers Vampir-Schwester, nicht so sträuben. Doch selbst wenn Rüdiger jetzt schon 33 Jahre durch die Buchregale und Kinderzimmer flattert, hat er nichts an Frische und Biss verloren. Und wer dann doch noch eine „richtige“ Vampirliebesgeschichte braucht, der findet mittlerweile ja schön bissige Romane dieser Art im Buchhandel …

Roald Dahl: Die große Roald Dahl Schatzkiste, Übersetzung: Inge M. Artl/Dorothee Asendorf/Roswitha Fröhlich u.a., Illustrationen: Quentin Blake, Rowohlt, 2011, 349 Seiten, ab 6, 19,99 Euro

Angela Sommer-Bodenburg: Der kleine Vampir, Illustrationen: Amelie Glienke, Rowohlt, 2011, 159 Seiten, ab 6, 10,00 Euro

Das Rotzgör

ur-pippiVor zehn Jahren starb Astrid Lindgren. Mit ihren Büchern bin ich erst ziemlich spät in Berührung gekommen. Meine Mutter drückte mir als Kind lieber der Reihe nach die Bände von Else Urys Nesthäkchen in die Hand. Damals habe ich die Geschichten aus Berlin geliebt – heute ertrage ich sie leider nicht mehr, zu konservativ ist die gutbürgerliche Welt der Ury.

Umso mehr habe ich sehr viel später die Geschichten von Michel, Bullerbü und natürlich Pippi verschlungen. Der Respekt für die Kinder und der offene Antikonformismus lagen mir näher. Pippi war dabei natürlich unübertroffen: stark, schlagfertig, unabhängig und so unglaublich lebensklug. Tommy und Annika, die „lieben kleinen karierten Kinder“ (Ur-Pippi), konnten dagegen einpacken.

Als dann der Oetinger Verlag 2007 die Ur-Pippi herausbrachte, las ich die Geschichte noch einmal, mit erwachsenen Augen und dem Blick der Literaturstudierten. Und hier präsentierte sich auf einmal eine Pippi, die noch frecher und vorwitziger war, als im Standardtext. Die Ur-Pippi ist sprachlich ungeschliffener und nicht so glatt. Die Heldin wiederum ist noch unabhängiger, hat sie doch keine „Mama im Himmel“ und keinen Vater als „Negerkönig“. Sie verschafft sich mit einem Fingerstupser Respekt vor mobbenden Jungs (wie man das Verhalten heute nennen würde) und führt die Erwachsenen noch rigoroser vor. Herrlich.

Der Kommentar, der dem Urtext folgt, klärt über die Entstehungsgeschichte und die Widerstände gegen diesen anarchischen Roman auf. Hier wird die ursprüngliche Kompromisslosigkeit Lindgrens bei der Verteidigung der Kinderrechte deutlich. Sie entlarvt die Unverschämtheiten und Beleidigungen der Erwachsenen – und deutet die Grandezza von Pippi an, die sie in ihrer späteren mythischen Form erlangt.

Die  Ur-Pippi liefert einen literaturwissenschaftlich aufschlussreichen Blick in die Entstehung des Pippi-Langstrumpf-Kosmos‘ – für eingeschworene Pippi-Fans im Erwachsenenalter ein Muss.

Astrid Lindgren: Ur-Pippi, Übersetzung: Angelika Kutsch und Cäcilie Heinig, Oetinger Verlag, 2007, 176 Seiten, 14,90 Euro 

Der Bund der Stiefmüttergeschädigten

Der Eiserne KönigAn Jahresanfängen lassen sich sehr gut neue Pläne schmieden und Vorsätze fassen: Meiner für dieses Jahr lautet, die Märchensammlung der Brüder Grimm neu zu lesen. Denn am 20. Dezember jährt sich das Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen zum 200. Mal, und die gehört seit 2005 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Eine sehr passende Gelegenheit den Gründungsvätern der Germanistik meine Reverenz zu erweisen.

In den vergangenen Wochen hat mir bereits ein aktuelles Buch unglaubliche Lust auf die Grimm’schen Märchen gemacht. Der Eiserne König von John Henry Eagle ist nämlich so etwas wie die Fortsetzung der klassischen Märchensammlung. Hans und Sneewitt sind erwachsen geworden und müssen sich neuen Aufgaben stellen, jenseits von gefräßigen Hexen und bösen Stiefmüttern. Das Reich Pinafor ist in Gefahr. Der Eiserne König droht, wieder aufzuerstehen und die Macht an sich zu reißen. Die Protagonisten brauchen die Hilfe eines kleinen Mädchens, auf dessen Rücken ein Labyrinth tätowiert ist. Dieses führt sie zur lebensspendenden Esche. Unterstützt von Reineke Fuchs, Rumpenstünz und weiteren Gefährten ziehen die Helden durch ein verwunschenes Reich, um den drohenden Weltuntergang und die Schreckensherrschaft des Eisernen Königs abzuwenden.

Zwar habe ich mich manchmal in den vielen Kämpfen und Winkelzügen im Märchenwald etwas verlaufen, doch die herrliche Respektlosigkeit, die Sprachgewalt und der Witz, mit denen Eagle das große Abenteuer erzählt, zogen mich immer wieder neu in den Bann. Der Autor spielt geschickt mit den Hausmärchen, weckt Kindheitserinnerungen und kitzelt den Ehrgeiz, die Figuren richtig einzuordnen. Mir ist das – ich gebe es zu – nicht in allen Momenten gelungen. Umso mehr also jetzt das Verlangen, die Original-Märchen noch einmal genau nachzulesen.

Ganz wunderbar kann man das schon mal mit der bebilderten Fassung von Schneewittchen. Der französische Illustrator und Comic-Autor Benjamin Lacombe hat die Königstochter und die sieben Zwerge in surreal-poetischen Bildern neu erschaffen. Unschuldige Schönheit trifft dabei auf eine gruselig düstere Atmosphäre, in der Raben, Geier und Pelztiere interpretatorische Fragen aufwerfen … So mag das dünne Buch schnell wieder weggelegt sein, in Gedanken bleibt man jedoch lange bei den rätselhaften Bildern.

Eagles Märchen hingegen ist einfach eine fantastische Verneigung vor dem Werk von Wilhelm und Jacob Grimm.

John Henry Eagle: Der eiserne König, Fischer FJB, 2011, 650 Seiten, 19,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Schneewittchen, Illustration: Benjamin Lacombe, Jacoby & Stuart, 2011, 48 Seiten, 16,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Es war einmal … Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte. Hrsg. v. Heinz Rölleke und Albert Schindehütte, Die Andere Bibliothek, 2011, 435 Seiten, 79 Euro

Alles andere als verwahrlaust

Pünktchen und AntonImmer wenn ich mal eine Pause von all den Neuerscheinungen brauche, greife ich zu einem Klassiker. Momentan ist Erich Kästner mein liebster Autor. Daher habe ich neulich endlich mal Pünktchen und Anton gelesen. Gehört hatte ich die Geschichte als Kind auf einer Schallplatte bei Oma. Aber erinnern konnte ich mich eigentlich nur noch an das herzzerreißende „Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer“.

Umso schöner und überraschender war jetzt die Lektüre. Kästners Kinderroman erschien bereits 1931, und trotz seiner 80 Jahre hat dieser Text nichts an Frische und Klarheit eingebüßt. Schnörkellos, ohne ein überflüssiges Wort, aber überaus warm und herzlich erzählt Kästner die Geschichte von Luise, genannt Pünktchen, aus gutem Hause und Anton, der sich bis zum Umfallen um seine kranke Mutter kümmert.

Die Kinder lernen sich beim Betteln auf der Weidendammbrücke in Berlin Mitte kennen – nur betteln sie aus völlig verschiedenen Gründen. Anton, um zu überleben, Pünktchen, weil ihr Kindermädchen Fräulein Andacht, sie zwingt. Gemeinsam mit Anton kommt das Mädchen dann den üblen Machenschaften von Fräulein Andachts Liebhaber Robert auf die Spur.

Kästner hat zwischen die Kapitel so genannte „Nachdenkereien“ eingeschoben, in denen er über Fragen der Moral, über Freundschaft, Mut, Neugierde, Armut und das Leben überhaupt schreibt. Solche erzieherischen Anliegen können verdammt schnell zu moralinsauren Predigten ausufern und einem den Spaß am Lesen verderben, doch nicht bei Kästner. Der schafft es, ohne erhobenen Zeigefinger, den Leser zum Nachdenken zu bringen – vor allem über die Vielschichtigkeit der Figuren, die nie nur gut oder nur böse sind, sondern sich durch ihre Zwischentöne auszeichnen und somit überaus menschlich sind.

Was mich dann restlos entzückt hat, war Pünktchens Spleen, sich neue Worte wie „Wärmometer“ oder „verwahrlaust“ auszudenken. Einfach großartig!

Erich Kästner: Pünktchen und Anton. Ein Roman für Kinder. Illustrationen: Walter Trier, Dressler Verlag, 129. Auflage 2011, 154 Seiten, ab 10, 12 Euro