Alles eine Frage der Geschwindigkeit

schnellerEs ist, glaube ich, unbestreitbar, dass wir in einer Zeit leben, in der in unserer Gesellschaft alles immer schneller gehen muss. Kommunikation per Mail, Chat, SMS in Sekundenschnelle über tausende Kilometer hinweg, schneller Shoppen im Internet, schneller Abi machen in nur acht statt neun Jahren, schneller studieren … die Liste lässt sich sicher noch um so Einiges fortsetzen.

Wie sehr die Geschwindigkeit unser gesamtes Universum prägt, verbildlicht das französische Graphikstudio Cruschiform auf ganz ungewöhnliche und eindrucksvolle Weise. In dem Bilderbuch Schneller?! ordnen sie in orange-gelb-blauen Illustrationen Tiere, Menschen und technische Errungenschaften der jeweiligen Geschwindigkeit zu. Angefangen beim langsamen Seepferdchen, das gerade einmal 300 Meter pro Stunde zurücklegt, über den Mauersegler mit 200 km/h bis hin zur Sternschnuppe, die mit mehr als 100.000 km/h am Himmel verglüht.

Obwohl es nur im „Nachspann“ kurze, erklärende Texte über die dargestellten Objekte gibt, sind die Doppelseiten mit der km/h-Angabe und der Legende links und den Illustrationen rechts überaus informativ – vor allem die, auf denen Technisches  Natürlichem gegenübergestellt wird. Da kommt zum bloßen Lernen, dass ein Schnellzug mit 350 km/h genauso schnell wie ein Formel-1-Rennwagen sein kann, das große Staunen, dass nämlich auch Wanderfalke und Fregattvogel diese  erreichen können.

Je genauer man hinschaut und je mehr man sich die dargestellten Dinge bewusst macht, umso mehr bekommen manche technische Errungenschaften einen ganz anderen Stellenwert – das Atom-U-Boot „USS Nautilus“ schafft gerade einmal 35 km/h und auch der Luxusdampfer „Queen Mary 2“ ist mit 50 km/h nicht sehr viel schneller. Gleichzeitig ist man jedoch auch beeindruckt, dass der Mensch Dinge wie die Raumfähre „Apollo 11“ bauen konnte, die mit 40.000 km/h ins All flog.

Den größten Respekt jedoch entwickelt der Betrachter unweigerlich für die Großartigkeit der Natur, die in Sachen Schnelligkeit –  und nicht nur darin – vermutlich für immer unschlagbar bleiben wird. Zum Ansehen dieses Buches sei daher Kindern und Erwachsenen jede Menge Muße empfohlen, um all die großartigen Details zu entdecken und zu begreifen.

Cruschiform: Schneller?!, Übersetzung: Barbara Heller, Illustration: Cruschiform, Fischer Sauerländer, 64 Seiten, ab 5, 15,99 Euro

Ein Kleinod

PoesieSprache kann bekanntermaßen Bilder erzeugen. Dies natürlich nur im Kopf von Lesern und Zuhörern. Jeder  macht sich so seine ganz eigenen Bilder zu Worten und Texten. Illustratoren bringen diese inneren Bilder dann aufs Papier und oftmals kommen bei ihrer Arbeit mit Sprache ganz besondere Bilder dabei heraus und werden zu einem eigenen Kunstwerk. Wie in Regina Kehns Buch Das literarische Kaleidoskop.

Siebzehn Gedichte und kurze Texte von bekannten Autoren wie James Krüss, Joachim Ringelnatz, Theodor Storm, Rose Ausländer oder Friederike Mayröcker hat Kehn ausgesucht und in Bilder(-Geschichten) verwandelt. Mit dickem Pinselstrich schreibt sie die Texte direkt in ihre aquarellierten Illustrationen hinein oder stempelt sie auf Packpapier. Mit zarten Bleistiftstrichen zaubert sie die graue Stadt am Meer aufs Papier. Die Worte geraten aus den Fugen und vermitteln dem Betrachter und Leser eine Ahnung davon, was Poesie alles kann. Der arme Sauerampfer leidet zwischen den Bahngleisen, die Krähe verschüttet vor Ärger den Kaffee, das Hühnerding im Garten von Herrn Ming offenbart die Absurdität der Liebe.
Alltägliches und Kurioses wechseln sich hier ab und lassen das Herz aufgehen.
Manche Gedichte sind düster – sowohl in Wort, als auch im Bild. Doch genau das macht die Stärke dieser Anthologie aus. Gerade mit diesen nicht immer lieblichen Kunstwerken macht Regina Kehn auch junge Leser und Betrachter neugierig auf Kunst, Poesie und Literatur. Und die Verbindung, die sie eingehen können.

Wer mag, kann die Originaltexte im Anhang in der konservativen Druckversion und vollständig (Paul Zechs „Traum vom Balkon“) noch einmal lesen. Dann kann man versuchen, sich eigene Bilder zu schaffen, doch die faszinierenden Illustrationen von Regina Kehn tauchen wahrscheinlich vielen beständig vor dem inneren Auge auf. Denn ihre Bilder wird man so schnell nicht wieder los – was durchaus kein Nachteil ist.
Vor allem aber begreift der Betrachter und Leser, wie eng Schrift und Bild zusammengehören können. In solchen Glücksfällen gehen sie eine untrennbare Verbindung ein und schaffen etwas Neues, ganz Kostbares. Genau das ist es, was dieses Buch zu einem Kleinod macht, nicht nur für Kinder.

Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop, Fischer KJB, 2013, 224 Seiten, 16,99 Euro

Für Märchenerzähler

märchenKinderzimmer ohne Märchenbücher sollte es nicht geben. Gibt es wahrscheinlich auch nicht – hoffe ich zumindest.
Zwei ganz entzückende Märchenvarianten sind jetzt für kleine Menschen ab zwei Jahren herausgekommen: Der Froschkönig und Die Bremer Stadtmusikanten.

Das Besondere an diesen Ausgaben ist, dass sie nur über Bilder erzählt werden. Auf den dicken Pappseiten wechseln sich doppel- oder einseitige Illustrationen ab, manchmal sind auch mehrere Panels wie bei einem Comic auf einer Seite zu sehen. Die Kinder können also schauen und blättern und ganz viele Dinge entdecken. Die „Vorleser“ hingegen müssen sich ins Zeug legen und die Märchen in eigenen Worten erzählen. Das mag zunächst anstrengend wirken, doch hat es auch den Vorteil, dass keine Langeweile aufkommt – sowohl beim Erwachsenen als auch beim Kind – denn jedes Mal kommt beim Erzählen eine etwas andere Variante heraus. Man könnte fast sagen, es schult die Flexibilität von Zuhörer und Vortragendem… was ja heutzutage eine sehr gefragte Eigenschaft ist.

märchenScherz beiseite. Es gibt in den beiden Märchen, wunderschön illustriert von Karen Krings und Christiane Hansen, jede Menge Details zu entdecken, die die Erzählungen beeinflussen werden. Denn je nach Entwicklungsstand des Kindes werden andere Akzente beim Erzählen gesetzt werden müssen. Mal werden es die Erbsen mit den Möhrchen, der Trinkhalm oder die Haarbürste der Prinzessin sein, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, oder aber die Musikinstrumente aus der Musikalienhandlung (großartig!) oder der Elchkopf im Räuberhaus, das die Bremer Stadtmusikanten stürmen. Ein Standardvortrag ist somit also nicht zu erwarten.

Mit diesen Büchern kehren die Märchen quasi wieder zu ihrer mündlichen Erzähltradition zurück, aus der die Brüder Grimm sie vor zweihundert Jahren geschöpft haben. Jeder Erzähler bekommt somit die Chance, seine eigenen Ideen wieder einzubringen, die Geschichten zu erweitern, anzupassen, umzuwandeln.
Aber keine Sorge, wer jetzt meint, sich nicht mehr genau an die Märchen erinnern zu können, der findet auf der letzten Seite den Grimm’schen Text abgedruckt. Als Gedächtnisstütze, sozusagen.

Diese ersten beiden Märchen entsprechen in ihrer farblichen Ausstattung gerade dem Trend, Bücher für Jungs (Die Stadtmusikanten) und Bücher für Mädchen (Der Froschkönig) zu machen. Ich bin da hin und her gerissen, denn sicherlich ist so etwas auch sinnvoll, um die Jungs frühzeitig zum Lesen zu bringen und die Zielgruppen besser zu erreichen. Doch sind die Lehren aus den Grimm’schen Märchen eigentlich so universell, dass sie eine Geschlechtertrennung nicht brauchen. Vielleicht gibt es demnächst dann ja die Märchen, die für alle Geschlechter aufgemacht sind. Das würde ich mir jedenfalls wünschen. Meine fast zweijährige Nichte jedenfalls fand Die Bremer Stadtmusikanten irgendwie interessanter…

Jacob Grimm/Wilhelm Grimm:
Mein allererstes Bildermärchen. Der Froschkönig, Illustration: Karen Krings
Mein allererstes Bildermärchen. Die Bremer Stadtmusikanten, Illustration: Christiane Hansen
beide: Fischer KJB, 2013, 20 Seiten, ab 2, 7,99 Euro

I <3 Großstadttiere

tiereDie Großstadt ist ein Dschungel – altbekannt ist das allemal. Auch dass sich nicht nur Menschen, sondern jede Menge Tiere in der Stadt herumtreiben ist eigentlich nicht besonders neu. Skurrile Nachrichten über Vierbeiner schwirren spätestens im Sommerloch wieder durch die Medien.

Doch nun hat die Künstlerin Nadia Budde unsere tierischen Nachbarn auf eine ganz schräge Art gewürdigt und zwar im Buch Großstadttiere. Darin stellt sie 24 Tierarten vor, die die großen Städte wie New York, Zürich, Berlin, Neu Delhi, Bukarest bevölkern. Sei es Waschbär, Fuchs, Schabe, Regenwurm oder Wildschwein, zu jedem Tier erzählt sie eine kleine, zumeist sehr ungewöhnliche Geschichte. Außer bei den Schaben. Zu diesen Krabbeltieren, die in ihren I-love-Stadtname-T-Shirts die Metropolen der Welt stürmen, gibt es scheinbar nichts zu sagen. In allen anderen Geschichten steckt ein wahrer Kern, manches ist aber auch wunderbar gaga – beispielsweise die Therapiegruppe der Großstadtregenwürmer. Man bekommt sofort Mitleid mit den Sitzriesen und möchte ihren zu Hilfe eilen und gleich mal den Asphalt aufreißen. Auch das Schicksal der Pariser Ratten ist herzergreifend, doch zeigt sich hier vor allem der Sprachwitz, mit dem Budde ihre Texte würzt.

Nadia Budde verleiht den Tieren nicht nur ein persönliches Gesicht, sondern gleich einen ganzen Charakter. Die Eigenwilligkeit der Fledermäuse in Austin/Texas ist fast ein Symbol für die Eigenwilligkeit dieses Bilderschatzes. Dick schwarz umrandet kommen Tiere und auch Menschen daher. Vor zitronenfaltergelben, taubenblauen, eichhörnchenroten, regenwurmrosanen Hintergründen schauen sie lieb, treuherzig, fies, hinterhältig, harmlos, naiv, freundlich, verschlagen, böse, treudoof, traurig, genervt … und dem Leser und Betrachter geht das Herz auf. Man hat sie auf einen Schlag alle lieb – auch die Wölfe aus Moskau, die die Einkaufstüten plündern.

Ganz nebenbei hält Budde dann noch einen Kurs in gelingender Fotografie ab, indem sie einen Exkurs über das Phänomen „Turm auf dem Kopf“ als Folge des Fototourismus einbaut. Sie braucht nur ein paar wenige Sätze und fünf Illustrationen dazu – und mit Sicherheit wird keiner der Leser danach mehr Fotos mit solchen Auswüchsen schießen. Genialer geht’s kaum.

Großstadttiere ist ein herrlich schlauer Spaß, der mit viel Herz alle Bewohner der Städte würdigt und ihnen ihren Raum zugesteht. Die Menschen ermahnt die Autorin mit einem Augenzwinkern, ab und an das Auto stehen zu lassen und stattdessen das Fahrrad zu nehmen – und vielleicht doch mal auf fiese Taubenspikes zu verzichten. In diesem Sinne ist Großstadttiere ein grandioses Bilderbuch für jedes Alter.

Nadia Budde: Großstadttiere, Jacoby & Stuart,  2013, 140 Seiten,  ab 9, 18 Euro

Lehrreiche Leere

erdeBücher mit einem Loch sind definitiv etwas Besonderes. Das ist mir spätestens seit klar, seit ich als Kind vor einem gefühlten halben Jahrhundert Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle „gelesen“ habe. Jede Seite mindestens ein Loch, es war toll.

Jetzt gibt es wieder ein Buch mit Loch – und  das steht der kleinen Raupe in nichts nach. Zwar hat jede Seite immer nur ein Loch, doch das ist ein ganz besonderes. Es symbolisiert unsere Erde. Und auf der geht es hoch her. Aus einem kleinen Keim erwächst ein dichter Wald, dann kommt der gelbe Bagger und holzt alles wieder ab. Häuser entstehen, zunächst kleine, bescheidene. Doch die reichen ganz schnell nicht mehr und müssen Kran, Bagger, Zementmischer und Hochhäusern weichen. Mehr und mehr Hochhäuser drängen sich auf der Erde. Immer mehr Fabriken kommen hinzu, der Himmel verdunkelt sich durch grauen Rauch, Abfallberge schwellen an, Autos erdrücken alles. Dann schlägt die Natur zurück: Der Eisberg schmilzt, der Meeresspiegel steigt, Häuser, Autos, Müll, alles wird überflutet. Nur der Eisbär steht über allem.
Es folgt die Chance für einen Neuanfang: Ein Mädchen und ein Junge säen, und wieder wachsen Bäume heran, entstehen Häuser, auch Hochhäuser, doch alles in einem harmonischeren Maß, im Einklang mit der Natur. Und am Ende teilen sich Menschen, Tiere, Pflanzen unseren Planeten. Wale fliegen, Regenbögen bringen Farbe ins Leben, Windräder produzieren Energie, ohne die Luft zu verschmutzen.

Es ist zugegebenermaßen ein didaktisches Buch, jedoch eins, das ohne ein einziges Wort auskommt.  Die Illustrationen von Jimi Lee sind Symbole für unsere Maßlosigkeit und unsere Rücksichtslosigkeit. Und die führen dem Betrachter gnadenlos vor Augen, dass es so nicht weitergehen kann. Aber Jimi Lee macht auch Hoffnung, dass ein Wandel möglich ist – wenn wir endlich die Verantwortung für unsere Erde übernehmen.

Das Loch in der Mitte des viereckigen Buches ist Leerstelle und Mahnung zugleich. Man packt automatisch mit den Fingern hinein, hält die Erde also in Händen, und blickt man durch dieses Loch, sieht man immer einen Teil von ihr und wird sich ihr wieder ganz besonders bewusst. Die Leere füllt sich mit dem Idealbild des Globus‘ und wird zur Lehre. Eine schönere Liebeserklärung an die Erde ist mir schon lange nicht mehr untergekommen.

Jimi Lee: Unsere Erde, Minedition, 2013, ab 3, 14,95 Euro

Bilderbücher zum Verlieben

BilderbücherErinnert sich noch jemand an das Bilderbuch Das Haus in der Lindenallee von Bernard Waber? Wahrscheinlich nur noch wenige. Jetzt scheint mir das Krokodil aus der Badewanne wieder auferstanden. Jedenfalls hatte ich ein wunderschönes Deja-vu, als ich Rebecca Cobbs Aufessen?! angeschaut habe.

Darin hat die kleine knuddel-süße Heldin keine Lust aufs Mittagessen. Sie sitzt am Tisch und isst nicht, sie will viel lieber weiter Bilder malen. Plötzlich liegt ihr kunterbuntes Tusche-Krokodil unter dem Tisch und fragt: „Isst du das nicht?“ Dann gesellt sich der Krickelbär dazu und möchte etwas von Suppe und Sandwich ab haben. Und der Wolf ist ganz wild auf den Apfel. Nachdem die drei Bestien erklären, dass sie keine Kinder essen, diese im Gegenteil ganz „ekelhaft“, „abscheulich“ und „widerlich“ finden, dürfen sie sich satt essen. Der Teller ist schön leer, Mama ist zufrieden, die Heldin darf weitermalen. Alle sind glücklich. Nur der Magen der  kleinen Heldin meldet sich am Nachmittag lautstark. Wie gut, dass es bald wieder Abendessen gibt.

Ich weiß nicht, ob man Kinder mit diesem Buch dazu bringt, immer alles aufzuessen. Aber es ist eine Wonne, diese leichten Bilder anzuschauen. Erfrischend ist zudem, dass Rebecca Cobb ohne moralischen Zeigefinger auskommt. Die Mutter schimpft nicht, die Bestien loben das leckere Mittagessen, setzen die kleine Heldin dabei aber nicht unter Druck. Die darf stattdessen erleben, was ein knurrender Magen bedeutet – und sich dann umso freudiger auf das Abendessen stürzen. Ein wunderschöner Weg, um Wertschätzung zu lernen.

Bilderbücher

Wertschätzung der anderen Art bringt die blonde Ich-Erzählerin des Bilderbuches Arme Mama von Vanesa Pérez-Sauquillo ihrer Mutter entgegen: Sie schneidet ein Herz aus Mamas rotem Sommerkleid und schenkt es ihr; malt Mamas Bücher an; schmückt das Wohnzimmer mit Spielzeug; setzt das Badezimmer unter Wasser, damit Mama endlich Schlittschuhlaufen lernt … Auch hier wird nicht einmal geschimpft. Es ist total okay, Chaos zu veranstalten, denn wie die Protagonistin durchaus erkennt, hätte es die Mutter ohne sie vielleicht viel leichter – doch es wäre auf jeden Fall sehr viel langweiliger.

Die doppelseitigen Bilder strahlen in leuchtenden Farben und verströmen auf jedem Zentimeter pure Lebensfreude. Sie sind eine Hymne an die kindliche Kreativität und befeuern die Fantasie der Betrachter mit unzähligen zarten Details. Ob das Ganze eher eine Liebeserklärung an die Mutter oder an das entzückende Kind ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Bilderbücher

Eine Liebeserklärung an einen Freund hingegen ist das zart aquarellierte Büchlein Das platte Kaninchen von Bardur Oskarsson. Ein Kaninchen liegt platt auf der Straße. Hund und Ratte sind erschüttert, als sie es entdecken. Sie wollen Kaninchen irgendwo anders hin bringen, doch wohin nur? Die beiden Freunde gehen in den Park und überlegen. Sie überlegen lange. Dann hat Hund eine Idee. Vorsichtig schälen sie Kaninchen vom Straßenbelag, bringen es in die Hundehütte und basteln einen Drachen. Daran befestigen sie Kaninchen und lassen es am nächsten Morgen über den Dächern der Stadt fliegen.

Hier wird mit keinem Wort über den Tod gesprochen, auch nicht darüber, was das Kaninchen getötet hat. Aber es wird auch kein Tabu aufgebaut. Es ist einfach so. Der Tod gehört zum Leben. Und es gehört auch dazu, dass die Freunde sich um Kaninchen kümmern und es an einen Ort bringen, an dem es ihm gefallen hätte. Einen schöneren und rührenderen Freundschaftsdienst kann man sich kaum vorstellen.

Rebecca Cobb: Aufessen?! Übersetzung: Stephanie Menge, Sauerländer, 2013, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

Miriam Cordes/Vanessa Pérez-Sauquillo: Arme Mama, Minedition, 2013, 32 Seiten, ab 3, 13,95 Euro

Bardur Oskarsson: Das platte Kaninchen, Jacoby & Stuart, 2013, 40 Seiten, ab 5, 11,95 Euro

Mopsologie

ottos mopsIch sage es gleich, reale Möpse sind nicht gerade meine Lieblingshunde. Zu klein, zu überzüchtet, zu asthmatisch, zu hässlich. Würde ich mir nie zulegen. Mops-Besitzer mögen es mir bitte verzeihen.

Anders liegt die Sache mit Ottos Mops, dem genialen Gedicht des Österreichers Ernst Jandl. Dieser Mops ist eine ausgesprochene Persönlichkeit. Im November 2013 wird dieses geniale Werk und sein Protagonist 50 Jahre alt, man möchte sagen: jung. Denn beide haben nichts von ihrer Frechheit und Frische verloren. Umso schöner, dass das Jubeljahr von Ottos Mops mit einer Neuauflage mit den Illustrationen von Norman Junge gefeiert wird.

Junge, der im vergangenen Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis Sonderpreis Illustration gewonnen hat, begibt sich auf Augenhöhe mit dem Mops. Otto und sein Frühstückstisch wirken riesig, die Wände unendlich, und mit jeder Seite gerät das friedliche Zusammenleben von Hund und Herrchen aus den Fugen. Der trotzige Mops reißt die Tischdecke mit, die Tasse stürzt, die Wände kippen, alles gerät ins Schwanken. Der orange-gelb-rosane Raum taucht nur ein einziges Mal in grün-blaues Licht – der Mops kotzt.

Man muss sich nicht mit Univolkalismus oder Lyriktheorie auskennen, um seine Freude an dem durchgeknallten Hund zu haben – und an dieser kongenialen Kombination aus Jandl und Junge. Selbst, oder gerade weil, sich in Ottos Wohnzimmer, in Junges Interpretation, nur ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, eine Anrichte und ein Bild befinden, bleiben dort genügend Freiräume, die jeder Betrachter nach Belieben mit eigenen Fantasien und Vorstellungen füllen kann. Gleichzeitig gibt es in dieser „Leere“ so viel zu entdecken, dass man mit einmal durchblättern lange noch nicht am Ende der Erkenntnis angekommen ist. Wahrscheinlich ist ein- bis dreimal die tägliche Mindestdosis, mit der man Ottos Mops zwar nicht Gassi führen, aber wertschätzen sollte.

Wie gesagt, ein echter Mops kommt mir nicht ins Haus. Aber dafür habe ich Ottos Mops – und dessen Eskapaden in diesem Bilderbuch liebe ich über alles.

Ernst Jandl/Norman Junge: ottos mops, Tulipan, 2013, 36 Seiten, ab 4, 14,95 Euro 

Die Untiefen der Psyche

sauerdropseDer Mensch ist ein wunderliches Wesen. Warum sind manche unserer Zeitgenossen immer gut drauf, während andere Trübsal blasen, den Kopf hängen lassen oder extrem miese Laune verbreiten? Leider ist es uns meistens nicht vergönnt, hinter die Fassaden schauen zu können. Die Beweggründe bleiben uns verborgen. Und doch sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass hinter jedem Verhalten ein durchaus ernsthafter oder gar trauriger Auslöser stecken kann.

Genau dies tut das Erzählbilderbuch Die Sauerdropse von den Niederländern Jaap Robben und Benjamin Leroy, wunderbar übersetzt von Birgit Erdmann. Die Brüder Harry und Hubert Sauerdrops, zwei schon ältere Herren, leben in einem grauen Haus, mit grauen Wänden, grau-betonierten Hof, dessen einziges kleines Rasenstück sie nicht betreten dürfen. Sie essen am liebsten saure Heringen, Bennnesseltee und Hühnersuppe, sie interessieren sich für künstliche Gebisse, ihre eigenen legen sie abends sorgfältig in Essig ein, und täglich um fünf Uhr rufen sie die Beschwerdestelle im Rathaus an. Der Bürgersteig vor der Haustür wird täglich gestaubsaugt. Besucher sind nicht willkommen, weil Mutter oben schläft. Alles was irgendwie bunt, laut, lebendig ist, wird von den Gebrüdern Sauerdrops gehasst. Sie sind also richtig, richtig mies drauf. Mieser geht es kaum.

Wie es in Bücher dann so ist, wird diese skurrile Tristess eines Tages durchbrochen, von einem unerträglich bunten Brief, der auch noch Musik macht. Die Brüder schieben den Brief tagelang hin und her, hoffen, dass er auf der Straße vom Wind weggeweht wird. Doch stattdessen taucht Gertie Bock von der Beschwerdestelle im Rathaus auf und bringt den Brief wieder zurück. Die Sauerdropse sind geschockt, zum einen, dass jemand auf ihre Beschwerdeanrufe reagiert, zum anderen, weil Gertie der Mutter von Harry und Hubert wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die beiden alten Herren sind ziemlich verwirrt, lassen es aber zu, dass Gertie immer öfter vorbeikommt und etwas Farbe in das graue Leben bringt.
Schließlich taucht auch noch Niko, der Cousin der Brüder auf. Er hat den bunten Brief geschrieben, um seiner Tante, also Harrys und Huberts Mutter, zum 111. Geburtstag zu gratulieren und seinen Besuch anzukündigen. Die Sauerdropse sind völlig überfordert, denn Mutter schläft doch oben und darf auf keinen Fall gestört werden. So versuchen sie, sich aus der Bredouille zu schummeln, indem sie sich als Mutter verkleiden. Während Gertie eine Geburtstagsparty vorbereitet, bricht bei den neuen Nachbarn, die das Nebenhaus renovieren, eine Wand zu den Sauerdropsen ein, und plötzlich stehen lauter Unbekannte bei den Brüdern im Haus. Ihre Verkleidung funktioniert nicht (vier Beine sind schon sehr verdächtig) und in all dem Chaos müssen die beiden schließlich zugeben, dass die Mutter schon lange tot ist. Als der Nachbarhund aus dem Rasenstück im Hof dann auch noch einen menschlichen Unterarmknochen ausgräbt, flüchten die Bewohner und die Sauerdropse bleiben allein zurück. Erleichtert kehren sie zu ihrem geregelten grauen Leben zurück.

In diesen Plot, der voller überraschender Knaller steckt (die Brüder machen Urlaub, streiten sich so, dass die Kunstgebisse zu Bruch gehen), haben Autor und Illustrator auf ganz großartige Weise die psychologischen Abgründe der beiden Hauptfiguren verpackt. Der Leser erfährt, wie es bei Sauerdrops zuging, als der Vater noch lebte und als Bestatter bis zur Erschöpfung arbeitete. Schon damals schlief die Mutter immer, vernachlässigte die Jungs und setzte ihnen ausschließlich Hühnersuppe vor. Die Todesursache des erschöpften Vaters ist eine der absurdesten, die mir je untergekommen ist und die ich hier nicht verraten möchte, um den Spaß nicht zu verderben.
Die abwesende und doch permanent anwesende Mutter erinnert im Laufe der Lektüre die Erwachsenen unwillkürlich an Hitchcocks Psycho. Eine Dimension, die kleinen Lesern wahrscheinlich entgehen mag, doch das Gefühl, dass da etwas mit der Mutter ist, steigert sich im Laufe des Buches immer mehr und zeigt auf sehr eindrucksvolle Weise, wie sehr der Mensch unter dem Einfluss seiner Eltern steht und sich teilweise noch nicht einmal im hohen Alter davon lösen kann. Hier stecken zwei kleine Jungs in den Hautsäcken alter Männer und haben es nicht gelernt, sich von den Vorgaben und Verboten der höchstwahrscheinlich depressiven Übermutter zu verabschieden. Eigentlich traurig, und gleichzeitig doch so aufrüttelnd, die eigenen verinnerlichten Regeln einer genauen Prüfung zu unterziehen, ob sie auch der eigenen Überzeugung entsprechen.

Benjamin Leroys Bilder tragen ganz besonders zu dem Gelingen dieser tiefgründigen Geschichte bei. Sie sind eine Mischung aus Federzeichnung, Aquarell und Collage, die sich mit dem Voranschreiten der Erzählung und all den ungewöhnlichen Erlebnissen der Brüder vom Grau zum Bunt wandeln. Dabei haben die Bilder nicht nur die Aufgabe zu illustrieren, sondern sie erzählen Dinge, die die Texte nicht verraten. Sie zeigen die Träume der Brüder, ihre Erinnerungen an die Mutter oder den Spaß der Fußballjungs, die eines Tages im Hof der Sauerdropse kicken.

Robben und Leroy ist mit Die Sauerdropse eine an der Oberfläche sehr skurrile, lustige und chaotische Geschichte gelungen, die Spaß beim Vorlesen und Anschauen macht. Durch die psychologischen Hintergründe erlangt sie jedoch einen solchen respektvollen Tiefgang bei der Zeichnung der Hauptfiguren, dass man davor nur den Hut ziehen kann.

Jaap Robben/Benjamin Leroy: Die Sauerdropse, Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 2013, 168 Seiten, ab 10, 14,90 Euro

Von Monstern und Schleuderprogrammen

psychische krankheitenPsychische Krankheiten könnte man als eine der Geißeln unserer technisierten, schnelllebigen Gesellschaft bezeichnen. Der Umgang mit diesen Übeln ist nicht leicht, weder für die Betroffenen noch für deren Angehörige. Von den Kindern betroffener Eltern oder Geschwister ganz zu schweigen. Kinder aber deshalb zu unterschätzen und mit ihnen nicht über die Zustände von Vater, Mutter oder Bruder zu sprechen wäre fatal. Denn dass die Kinder jede Menge mitbekommen und sich dazu ihre eigenen Gedanken machen, ist hinreichend bekannt. Dennoch werden die Kinder noch viel zu oft aus dem Geschehen herausgehalten, oft mit der Folge, dass sie sich die Schuld an der Krankheit des Elternteils geben. Und selbst noch mehr leiden. Damit es nicht soweit kommt, ist Offenheit immer noch das beste Mittel.

Hilfestellung bei der Erklärung von psychischen Krankheiten – die ehrlich gesagt auch für Erwachsene meisten nicht in aller Vollständigkeit zu begreifen sind – bieten drei kleine, aber sehr schlaue Bilderbücher aus der Reihe Kids in Balance. In Mama, Mia und das Schleuderprogramm lebt die 7-jährige Mia mit ihrer Mutter und Katze Yuki zusammen. Mia würde am liebsten zum Zirkus gehen. Aber Mama leidet am Borderliner-Syndrom und bekommt in der Folge ihre Gefühle nicht mehr in den Griff, so dass sie sich irgendwann selbst verletzt. Ohne zu schockieren erklärt eine Ärztin Mia, dass die Gefühle bei Mama wie im Schleuderprogramm der Waschmaschine so durcheinander gewirbelt werden, dass sie sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Mama sucht sich Hilfe beim Arzt, und gemeinsam mit Mia macht sie schließlich bei einer Zirkusgruppe mit, die Eltern und Kindern in schwierigen Situationen im Leben hilft.

psychische krankheitenIn Mamas Monster muss die 5-jährige Rike erfahren, dass Mama plötzlich nur noch im Bett liegt und ganz traurig ist. Sie spielt nicht mehr mit Rike und ihrem kleinen Bruder, bringt sie auch nicht ins Bett und kann gar nicht mehr arbeiten. Rike denkt, dass sie etwas falsch gemacht hat, aber Mama erklärt Rike, dass sich bei ihr ein Monster eingenistet hat, dass die Gefühle klaut. Mit Hilfe eines Arztes und von Medikamenten vertreibt Mama das Monster jedoch wieder. Das dauert zwar ein paar Wochen, und Rike ist in dieser Zeit total wütend, weil sie nicht helfen kann. Doch schließlich ist das Monster so weit verjagt, dass Mama Rike wieder ins Bett bringen kann.

psychische krankheitenMein großer Bruder Matti hingegen erzählt die Geschichte von Matti. Er ist so stark, dass er ständig alles umwirft und kaputt macht. In der Schule kann er nicht still sitzen, stört den Unterricht und hört nicht richtig zu. Mattis hat ADHS.
In diesem Buch wird dem jüngeren Bruder Julius erklärt, warum bei Matti Gefühle wie Wut, Trauer oder Freude viel stärker ausgeprägt sind, als bei anderen Kindern. In Mattis Hirn gibt es nämlich zu wenige „Postboten“, die die vielen Informationen an die richtigen Adressen bringen. Zusammen mit einem Psychologen lernt Matti jedoch jede Menge Tricks, wie er zum Beispiel gegen die aufsteigende Wut angehen kann. Und auch Julius kann jetzt das Verhalten des großen Bruders besser einordnen und hofft, dass er trotzdem ganz viel Zeit mit seinem großen Bruder verbringen kann.

Alle drei Bücher erklären mit leicht verständlichen Texten und liebevollen Illustrationen überaus schwierige und belastende Situationen in den Familien. Wut und Tränen gehören dazu, es wird nichts tabuisiert. Die Bitte um Hilfe und ihre Annahme in Form von Therapiestunden wird als etwas Notwendiges, aber vor allem auch Selbstverständliches dargestellt. Niemand muss sich schämen, wenn er zum Psychologen geht oder das Jugendamt eine Mitarbeiterin vorbeischickt.
Die Kinder von Betroffenen erleben so, dass niemand Schuld an diesen psychischen Krankheiten hat und dass es Möglichkeiten der Behandlung gibt. Für erkrankte Elternteile erleichtern diese Bücher ein offenes Gespräch über die eigene Krankheit.

Christiane Tilly/Anja Offermann/Anika Merten: Mama, Mia und das Schleuderprogramm. Kindern Borderline erklären, Balance buch + medien, 2012,  40 Seiten,  ab 4, 12,95 Euro

Erdmute Mosch: Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los? Balance buch + medien, 4. Auflage 2011, 44 Seiten, ab 3, 12,95 Euro

Anja Freudiger: Mein großer Bruder Matti. Kindern ADHS erklären, Balance buch + medien, 2013, 28, Seiten, ab 5, 12,95 Euro

Kunterbunter Erkenntnisgewinn

fabelhafte Entdeckung Ranga Yogeshwar34 Sätze. Mehr stehen nicht in diesem Buch. Gut, es ist ein Bilderbuch, da braucht man meist nicht viele Sätze. Aber diese 34 Sätze reichen aus, eine der universellen Weisheiten auf eine herzallerliebste  Weise zu erzählen.

Der Physiker und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar hat zusammen mit der Illustratorin Nina Dulleck ein indisches Märchen in das lebenskluge Bilderbuch Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung verwandelt. Darin ziehen die beiden Hunde Kala und Lakshimi durch den Wald. Kala ist klein und ängstlich. Lakshimi stolz und furchtlos. Sie kommen an einen Tempel und im Inneren erleben sie Sonderbares. Kala trifft dort lauter knurrende Hunde, die ihn fürchterlich anfletschen. Als Lakshimi jedoch hineingeht begegnet sie nur netten schwanzwedelnden Artgenossen. Die Auflösung ist großen und auch kleinen Lesern, wie ich neulich beim Vorlesen feststellen musste, natürlich sofort klar: Die Hunde stehen in einem Spiegelsaal. Und der wird zum Sinnbild unseres Sprichwortes „Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es hinaus“.

Ist diese Geschichte an sich schon eine ganz wunderbare Fabel, so wird sie durch die Illustrationen zu einem wahrlich fabelhaften Kunstwerk. Bereits das erste der doppelseitigen Bilder versetzt den Betrachter in den indischen Dschungel – und macht klar, dass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen. In dem grünen Blattwerk lauert nicht nur der Tiger, sondern flattern Schmetterlinge und andere großäugige Insekten zwischen wunderschönen Blumen. Im Hintergrund schimmern märchenhafte Paläste. Flora und Fauna werden immer vielfältiger und exotischer, ganz allmählich schleicht sich ein Elefant ins Bild, hangelt sich ein Affe herab. Es ist eine Wonne. Die beiden Helden sehen zudem so knuffig aus, dass man sie auf der Stelle adoptieren möchte. Und wenn am Ende noch Chamäleon, Pfau und Tapir Lakshimis liebvoll vorgetragener Moral lauschen, hat man sein Herz vollends an dieses Bilderbuch verloren und freut sich ungemein aufs erneute Vorlesen und Entdecken.

Ranga Yogeshwar/Nina Dulleck: Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung. Ein indisches Märchen, Fischer Schatzinsel, 2012, 32 Seiten, Kindergartenalter, 14,99 Euro

Suppenglück und Märchenmacht

suppe satt es war einmalJetzt ist es draußen wieder dunkel, grau und ungemütlich, da braucht der Mensch etwas Warmes. Sowohl für den Leib, als auch für die Seele. Suppe ist bekanntermaßen ideal für den Leib und wärmt so richtig schön durch. Die Seele findet immer wieder in Märchen Trost und Erbauung. Eine Kombination aus beiden ist also die perfekte Winterwohltat – und die findet man in dem Bilderbuch von Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal.

Mathilda lebt mit ihrer Mutter im Wald. Draußen heulen die Wölfe und würden am liebsten Ziegen und Hühner fressen und die Kinder aus dem Dorf rauben. Doch Mathilda hat keine Angst vor den Wölfen, auch als ihre Mutter weit weg zur Königin muss und das Mädchen für einige Zeit allein lässt. Denn Mathilda hat von ihrer Großmutter drei mächtige Worte gelernt: „Suppe“, „satt“ und „es war einmal“. Und so kocht sie am Abend einen großen Topf Linsensuppe mit Speck, füllt die Wölfe damit ab, dass die so satt sind, dass sie weder Ziege noch Huhn anrühren. Danach erzählt das Mädchen den struppigen Vierbeinern eine Geschichte.  Erst am nächsten Morgen schickt sie die Wölfe fort. Nur der kleinste versteckt sich unter Mathildas Bett und will nicht mehr raus.

So geht es nun Abend für Abend, bis schließlich alle Wölfe unter Mathildas Bett stecken. Sie stellt fest, dass es so nicht weitergehen kann. Also packt sie die Wölfe unter ihren warmen Wintermantel und verteilt die gebändigten Tiere im Dorf. Nachbarn, die sich weigern einen Wolf aufzunehmen, droht sie damit, ihn wieder in die Kälte zu entlassen, wo er wieder wild und feindselig werden würde. Dieses Risiko will natürlich kein Dorfbewohner eingehen.

Winter, Wölfe, Ziegen – man denkt natürlich unweigerlich an das Grimm’sche Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein. Und wird dann von Kristina Andres mit einer ganz feinen und sehr leckeren Märchen-Variation überrascht. Ihre federleicht gezeichneten und anheimlig kolorierten Bilder versetzen den Betrachter in eine kuschelige Winterhütte, in der es jede Menge zu entdecken gibt. Denn Mathildas Häuschen beherbergt jede Menge Bewohner, und die machen es sich in allen möglichen Ecken und Winkeln bequem. Der alte Holzofen, auf dem die Suppe überkocht, verbreitet eine behagliche Wärme, die an den Wänden aufgehängten Kräuter und Tannenzweige verströmen würzigen Duft. Man kann die Wölfe verstehen, die sich vor dem Fenster drängen, dass sie in dieses kleine, behagliche Winterparadies möchten. Die Frechheit der Miniziege, die die Eindringlinge schließlich mit Äpfeln beschießt, nehmen sie dafür stoisch – oder sollte man sagen, pappsatt – in Kauf.

Suppe, satt, es war einmal von Kristina Andres geht ans Herz, wärmt das Gemüt und hat das Potential, zur Lieblingsspeise in Sachen Vorlese-Bilderbücher bei den Kindern zu werden. Denn an den Bildern kann man sich gar nicht satt sehen, immer findet man etwas Neues, und dass Mathilda den allerkleinsten Wolf schließlich „Hund“ tauft, fügt diesem Märchen einen menschheitsgeschichtlichen Aha-Effekt hinzu, der einfach genial ist.

Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal, Bloomsbury Verlag, 2012, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

Ausgezeichnet!

patrick Ness sieben minuten nach MitternachtZurück von der Buchmesse 2012 – ich bin noch ganz berauscht von den Buch- und Menschenmassen. Viele Termine, viele Gespräche, viele Ideen und Anregungen haben die vergangenen Tage bestimmt, und die muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. Außerdem muss ich unbedingt noch ein paar Bücher lesen: Denn gestern Abend wurden der Deutsche Jugendliteraturpreis 2012 verliehen – und ich habe von den Gewinnern erst zwei gelesen (auch das passiert, wenn man vor lauter fesselnder Neuerscheinungen überhaupt nicht hinterher kommt mit der Lektüre …).

Die Verleihung im Saal Harmonie des Frankfurter Congress Centrums war mit 1200 Gästen proppenvoll, und die Spannung war förmlich zu spüren. Zurecht bezeichnete Nils Mohl die Veranstaltung als „Folter“. Für seinen Jugendbuchroman Es war einmal Indianerland und vier weitere Titel ging das etwa ein einhalbstündige Martyrium dann aber mit einem Preis, der Momo, aus. Ganz besonders hat mich die Wahl der Jugendjury gefreut, die sich für Sieben Minuten nach Mitternacht von Patrick Ness entschieden hat.

Diesen berührenden Roman habe ich vor genau einem Jahr nach der Buchmesse 2011 gelesen. Und daraufhin diesen Blog eingerichtet, um meine Begeisterung darüber unmittelbar teilen zu können. So hat sich gestern für mich nach einem Jahr Bloggen ein Kreis geschlossen. Was ich nun als gutes Omen für dieses Unternehmen hier deute und das mich anspornt, weiter über wundervolle Bücher zu schreiben. So stapeln sich auf meinem Schreibtisch auch schon die nächsten Romane und Bilderbücher, die ich demnächst in diesem Rahmen vorstellen werde. Zudem haben sich in den vergangenen Tagen schon die nächsten spannenden und vielversprechenden Titel angekündigt. Schöner kann eine Buchmesse eigentlich nicht laufen!

Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2012 möchte ich, auch wenn ich nicht alle bis jetzt gelesen habe, hier dennoch nennen:

deutscher jugendliteraturpreis 2012

In der Sparte Bilderbuch: Pija Lindenbaum: Mia schläft woanders, Übersetzung: Kerstin Behnken, Oetinger Verlag, 2011, 40 Seiten, ab 4, 12,95 Euro.

Die Jury meint: „Eine ganz alltägliche Kindererfahrung wird […] gegen den Strich gebürstet und in beeindruckende Bilder un einen klugen Text gefasst.“

 

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Kinderbuch: Finn-OleHeinrich/Ran Flygenring,: Frerk, du Zwerg! Bloomsbury Verlag, 2011, 96 Seiten,  ab 7, 16 Euro.

„Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs mit den frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings ist Quatsch in seinem allerbesten und feinsten Sinne“,  sagt die Kritikerjury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Sachbuch: Oscar Brenifier: Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? Illustrationen: Jacques Després, Übersetzung: Norbert Bolz, Gabriel Verlag, 2011, 96 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Dieses ungewöhnliche Philosophie-Buch „plädiert für eine Denkkultur, die in einer an Informationen und Fakten überreichen Welt auf eine Tiefe setzt, die nur aus der ‚Langsamkeit‘ analogen Denkens heraus entstehen kann“ – so die Jury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Jugendbuch: Nils Mohl: Es war einmal Indianerland, Rowohlt Verlag, 2011, 345 Seiten, 12,99 Euro.

Die Jury hält diesen Roman für kunstvoll gebaut, „der mit seinen zahlreichen Neologismen auch sprachlich innovativ und überzeugend ist. Er bietet dem Leser eine neue und aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte.“

Und schließlich der Preis der Jugendjury: Patrick Ness/Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht, Übersetzung: Bettina Abarbanell, cbj Verlag, 2011,   213 Seiten,  ab 12,  16,99 Euro.

Die Jugendlichen meinen, dass „die mächtigen sprachlichen Bilder und die Illustrationen eine perfekte Atmosphäre für die diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte liefern.“

Der Sonderpreis für das Gesamtwerk ging dieses Jahr an den Illustrator Norman Junge, der spätestens seit Fünfter sein von Ernst Jandl in fast allen Haushalten präsent sein dürfte…

Herzlichen Glückwunsch allen Autoren, Übersetzern, Illustratoren und Verlagen!

Worte zu Bildern

tipp tappLernen in Verbindung mit Technik übt eigentlich auf alle Altersklassen immer wieder eine gesteigerte Faszination aus. Das ist jedenfalls meine ganz persönliche, sicherlich nicht repräsentative Beobachtung. Gerade am Anfang kann man die Finger nicht von dem neuen Spielzeug lassen, meint, vermeintlich besser und schneller zu lernen, als antiquiert mit Büchern, Stift und Papier. Meist verfliegt der Reiz des Neuen ganz schnell, und der Computer wird wieder für angeblich vergnüglichere Dinge benutzt.

Ein interaktives Lernspiel aus diesem Frühjahr hat jedoch gute Chance zu einem Dauerbrenner zu werden: Das interaktive Bildwörterbuch tipp tapp der französischen Illustratoren und Grafiker Boisrobert und Rigaud. Schiebt man die mitgelieferte CD in einen Computer (PC oder Mac), öffnet sich ein Programm, mit dem der Nutzer/die Nutzerin Worte tippen kann. Hört sich erstmal langweilig an. Doch bei jedem Wort, das richtig eingetippt wird, ploppt auf dem Bildschirm die entsprechende Figur oder der jeweilige Gegenstand auf. Und wie von Zauberhand entsteht nach und nach ein Bild. Das Bilderbuch zeigt, welche Dinge auf dem Bildschirm auftauchen können: Mädchen, Junge, Berge, Kühe, Schafe, Bäume, Grashalme, Kleingetier und vieles mehr.

Doch dabei bleibt es nicht, denn das Getier bewegt sich: Schnecken kriechen durchs Bild, Mücken sausen herum, alles ist irgendwie in Bewegung. So entstehen Landschaften, Flüsse, Bauernhöfe, Picknick-Partys, Fantasiewelten. Tippt man „Winter“ oder „Herbst“ ein, verlieren die Bäume beispielsweise die Blätter oder verändern ihre Farbe. Lässt man es regnen, schneien oder stürmen, weht es schon mal die Figuren um. Herrlich! tipp tapp ist wie eine Wundertüte, die unzählige Überraschungen bereithält.

Der Stil der Illustrationen, sowohl im Buch als auch der Figuren auf dem Bildschirm, erinnern mich an Bilder, die man in früheren Zeiten aus Pergamentpapier gebastelt hat. Leicht und durchscheinend sehen die Figuren aus. Überlagern sich zwei Farben, entsteht eine dritte. Die reduzierten Formen aus Kreis, Dreieck und Viereck, verleihen den Figuren abstrakte Klarheit. Überflüssig zu sagen, dass man auch die Farben verändern kann, indem man „rot“ oder „blau“ usw. eingibt.

Die Ergebnisse einer Session kann der Künstler, Schüler, Spieler abspeichern und ausdrucken. So geht nichts von dem Lern- und Spielspaß verloren. Das Bildwörterbuch selbst kann natürlich unabhängig vom Computer als Bilderbuch angeschaut und durchgeblättert werden. Die Geschichten dazu muss man sich dann eben selbst ausdenken …

Manche Worte scheinen mir für die kleinen Computerfreaks fast ein wenig zu lang zu sein, wie beispielsweise „3 FEUERWERKSRAKETEN“, doch hat man sich durch diese Bandwurmworte getippt, wird man mit einem ganz entzückenden Feuerwerk belohnt. Aber wahrscheinlich ist der Lerneffekt so groß, dass gerade auch solche Wortmonster so anregend sind und solch eine Herausforderung darstellen, dass man eben immer weiter mit tipp tapp macht, bis man alle Varianten durchprobiert hat. Mit so einem Programm macht Lernen also nicht nur Laune, sondern auch noch Kunst.

Anouck Boisrobert/Louis Rigaud: tipp tapp. Mein interaktives Bildwörterbuch, Jacoby & Stuart 2012, 48 Seiten mit CD-ROM, ab 4, 19,95 Euro

Ein Fest für Augen und Ohren

Herzlichen Glückwunsch, kleines HuhnNeulich hatte ich seit langem mal wieder eine wohlige Gänsehaut. Als die ersten Takte von „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ aus meinen Boxen tönten, ahnte ich, dass mich hier etwas ganz Besonderes erwartet. Nach einer knappen Stunde war ich völlig hingerissen.

Das Kinderliederbuch Herzlichen Glückwunsch, kleines Huhn! erzählt in 24 ganzseitigen Bildern und ebenso vielen Liedern auf einer beigelegten Audio-CD die Geschichte einer großen Party. Von der Mühle am Bach berichtet das Eichhörnchen Eddie in einer 24-Stunden-Übertragung aus dem Baum-Studio, wie sich Mutter Huhn auf den Schlupf ihres Kükens freut und alle Bewohner der Mühle eine zünftige Geburtstagsfeier vorbereiten. Zu den Gästen gehören allerdings nicht nur hiesige Zwei- und Vierbeiner, sondern auch Affe, Elefant und Krokodil.

Auf jedem der Bilder von Illustratorin Franziska Biermann gibt es Unmengen zu entdecken, von den Thymian-Töpfen, den Kokosnusstours bis zu den Spiegeleiern, die merkwürdigerweise auf dem Sonnenschirm brutzeln. Es wimmelt so unglaublich, dass man schon ganz genau hinschauen muss, um mitzubekommen, dass aus einem Ei plötzlich drei werden, aus denen kleine kroko-gänse-hühnchenartige Geburtstagskinder schlüpfen.

Die Musik zu den Bildern tut ihr Übriges, damit die Party richtig rockt. Altbekannte Kinderlieder, neubetextete Melodien und zwei Eigenkompositionen von Nils Kacirek und Franziska Biermann zeigen aufs Schönste, dass Kinderlieder alles anderes als getragen und eintönig sein müssen.

Das ist sicherlich keine neue Erkenntnis, aber die Arrangements zwischen Jazz, Swing, Country oder Latin von Nils Kacirek und Jörg Hochapfel packen die Zuhörer vom ersten Takt an. Da bleibt niemand auf dem Sofa hocken, sondern alles tanzt, wippt, hampelt. Denn die Bläsersätze grooven, das Akkordeon entführt nach Paris und das Katzenduett animiert zum Mitsingen.

Überhaupt singen: Man kann gar nicht anders, man muss einfach mitsingen. Das wird einem zusätzlich leicht gemacht, da Texte und Noten der Lieder mitgeliefert werden. Die Ausrede der mangelnden Textkenntnis zählt nicht mehr. Die Dichtungen von Hoffman von Fallersleben, Herder oder Matthias Claudius erklingen hier in zeitgemäßem Gewand. Das Spiel mit Texten und Melodien zeigt wie das Prinzip volkstümlicher Musik funktionieren muss: Aus Altbewährtem etwas Zeitgemäßes machen, das einen Bogen von Vergangenheit und Tradition zu den Bedürfnissen und Hörgewohnheiten der Gegenwart schlägt. Das ist hier vortrefflich gelungen.

Und das Schöne an diesen Liedversionen ist, dass man sie sich nicht so schnell überhört. Da wird es auch die Erwachsenen gar nicht stören, wenn die Kinder nicht mehr von Buch und Musik lassen können und die CD in die Endlosschleife schicken.

Franziska Biermann/Nils Kacirek/Susanne Koppe: Herzlichen Glückwunsch, kleines Huhn! Die 24 schönsten Kinderlieder zum Anschauen, Hören und Mitzwitschern! Carlsen, 2013, mit Audio-CD, ab 4, 19,95 Euro

Familienglück

Am Wochenende habe ich hier in Berlin die ersten grünen Triebe und Schneeglöckchen entdeckt. Ganz zart und leise machen sie sich breit. Es wird Frühling. Und genau dazu passt das total liebenswerte Bilderbuch Wunschkind von Lilli L’Arronge.

Denn im Frühling wird gebaut und gegründet. Zuerst die Nester dann die Familien. Eichhörnchen und Rotkehlchen finden das wunderbar und beschließen, ebenfalls eine Familie zu gründen. Sie bauen ein Nest – und warten auf das Ei. Denn das kommt ja von selbst, man braucht nur etwas Geduld.

Und Recht haben sie. Eines Tages liegt ein riesiges Ei im Nest. Es ist „ganz genau richtig“. Rotkehlchen und Eichhörnchen brüten und verteidigen, bis das Küken schlüpft. Es ist prächtig, mit einem Schnabel wie der von Rotkehlchen und einem Fell in der Farbe wie die von Eichhörnchen, also „einfach ganz genau richtig“. Allerdings ist eine Familie zu haben anstrengender als gedacht. Aber sie macht glücklich.

Und genau das kann man auch von diesem Buch sagen: Es macht glücklich!

Es ist eine Liebeserklärung an die Familie, und zwar auch an die Patchwork-Gemeinschaften aus eigentlich nicht ganz kompatiblen Familienmitgliedern. Auch sie finden ihr Glück – mit Fleiß, Geduld und der Offenheit, auch ein Kuckuckskind als „ganz genau richtig“ zu akzeptieren.

Die Bilder in den leuchtenden Farben mit dem leicht kantigen, kräftigen Strich sind auf das Wesentliche reduziert und erzählen von der ungewöhnlichen Liebe der kleinen, zusammengewürfelten Familie.

Die kurzen Texte in einer frech-unperfekten Stencil-Schriftart sehen wie gestempelt aus und geben dem Ganzen einen frischen Touch.

Perfekt zum Vorlesen, gemeinsamen Anschauen und einfach großartig!

Lilli L’Arronge: Wunschkind, Jacoby & Stuart, 2012, 32 Seiten, ab 3, 12,95 Euro