Archiv des Autors: Ulrike Schimming

Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Am Meer gibt’s mehr

Trudel

Trudel Gedudel, das Huhn, wohnt auf dem Hühnerhof Das-Gelbe-vom-Ei. Es ist ein netter Hühnerhof, mit Hühnerhaus, Misthaufen, Hahn, anderen Hühnern und den beiden Puten Ete und Petete. Muss man mehr wissen, über das entzückende Bilderbuch Trudel Gedudel purzelt vom Zaun von Eva Muszynski und Karsten Teich?
Aber sicher doch! Denn Trudel ist nicht wie andere Hühner, die nur auf einem Haufen hocken und viel zu spät für den ersten Wurm aufstehen. Trudel geht ihrer eigenen Wege – bis zum Zaun. Und nicht weiter. Denn hinter dem Zaun wohnt der Fuchs, und vor dem hat Trudel Respekt.

An diesem Morgen sitzt jedoch die Möwe Gräten-Käthe auf dem Zaun und schwärmt vom Meer, von Kartoffelchips und Pommes, lauter Leckereien, die es in Das-Gelbe-vom-Ei nicht gibt. »Hinter dem Zaun, Sprudel, da wohnt die Freiheit! Da gibt es Abenteuer und Currywurst!“, erzählt Käthe. Mal ehrlich, wer kann da noch widerstehen, selbst wenn er in Das-Gelbe-vom-Ei wohnt?

Meerchenhaftes Abenteuer

Käthe jedenfalls fliegt wieder davon und fordert Trudel auf, sie mal besuchen zu kommen, beim alten Strandkorb. Und so beginnt für Trudel ein meerchenhaftes Abenteuer, in dem sie zwar dem Fuchs nicht begegnet, zum Glück, dafür aber Herrn Klabautermann und Siegfried & Roy aus Schiszwack. Und diese neuen Freunde entpuppen sich als wahre Bereicherung und werden mit Sicherheit Kumpane fürs Leben.

Auf den Punkt illustriert

Muszynski und Teich haben hier ein Freundes-Trio erschaffen, dass man sich auch fürs echte Leben wünscht: Sie liefern genügend Anregung, um aus dem eigenen Trott und der eigenen Umzäunung auszubrechen, aber auch ein bisschen Frechheit und Gegrummel, wenn es um die Verteidigung des eigenen Lebensbereichs geht, und stehen am Ende doch für einander ein und sorgen sich um den anderen.
Die reduzierten Zeichnungen der tierischen Helden stattet Illustrator Teich mit so passenden Accessoires aus, dass jedem gleich klar ist, wer hier die Hühner-Dame, die Frechmöwe und der grummelnde Ratten-Alte ist. Und so unterschiedlich die Drei auch sind, sie passen bestens zueinander.

Nordisch wortkarg, aber wortverspielt

Texterin Eva Muszynski schafft es dann mit kurzen, lakonischen Sätzen und einer unbändigen Wortspiellust, den nassforschen Humor der Waterkant zu transportieren, sodass Trudel auch des Öfteren mal »Nudel«, »Sprudel« oder »Pudel« genannt wird. Gräten-Käthe wird zu »Gräten-Käse«, und der Klabautermann zu »Klautermann«.
Wenn die Kinder, denen dieses Buch vorgelesen wird, am Ende der Geschichte nicht selbst anfangen zu reimen und zu wortspielen, haben sie wahrscheinlich nicht richtig zugehört oder sich von den Illus ablenken lassen. Doch eigentlichen kann man nach dem Ganzen Trudel Gedudel gar nicht anders als sich zum einen noch Meer-Abenteuer auszudenken, und zum anderen sich auf den Weg zu machen, jenseits des eigenen Umzäuns, jenseits vom eigenen Gelbe-vom-Ei sich die wahren Freunde fürs Leben zu suchen. Ganz im Sinne von Trudels Abschluss-Erkenntnis am Meer: »Es gib hier so viel mehr Wasser.«

Eva Muszynski: Trudel Gedudel purzelt vom Zaun, Illustration Karten Teich, cbj, 2019, 88 Seiten, ab 5, 12 Euro

Tempurasushi des Lebens

Tagame

In Japan sind gleichgeschlechtliche Ehen nicht möglich. Und so ist für Yaichi, Vater der etwa siebenjährigen Kana, die Heirat seines Bruders mit dem Kanadier Mike erst einmal so wie Tempurasushi, etwas das es in Japan nicht gibt – dafür aber in Kanada.
Als Mike, dieser riesige Bärentyp mit Vollbart, Undercut, Holzfällerhemd und haarigen Beinen, plötzlich vor Yaichis Haustür steht, weiß dieser nicht, wie er mit dem Fremden und der gesamten Situation eigentlich umgehen soll.
Mike hingegen will zunächst einmal nur die Heimat seines verstorbenen Mannes, Yaichis Zwillingsbruder, kennenlernen.

Welten prallen aufeinander

Und so treffen im Manga Der Mann meines Bruders von Gengoroh Tagame zwei Welten auf einander. Mike als Japan-Fan ist neugierig, will die Kindheitsorte seines Mannes besuchen, freut sich über Tatamimatten und Futons, liebt den Tee und eben Tempurasushi. Yaichi hingegen ist verwirrt, weil er nicht weiß, wie er sich Mike gegenüber verhalten soll. Er fürchtet, dass Mike ihn anmachen könnte, weil er seinem Zwillingsbruder so ähnlich sieht. Dieser Besuch bringt Hetero-Yaichi ziemlich aus dem Konzept und wirft sein wohlgeordnetes Leben ganz schön durcheinander.

Kindliche Offenheit

Doch da ist auch Kana, die mit mangtypischen großen Augen und riesigem Mund, eine Verbindung zwischen diesen beiden Männern aufbaut – und zwar durch ihre liebenswerte unverstellte Kindersicht. Sie wundert sich nicht darüber, dass Männer heiraten können, sondern dass das in einem Land wie Kanada erlaubt ist, in ihrer Heimat Japan aber nicht. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes keine Berührungsängste und krault mit Begeisterung Mikes dichtes Brusthaar. Und Tempurasushi hört sich für sie verlockend an. Jedenfalls empfängt Kana den Onkel aus Kanada – nicht allein wegen dieses Gleichklanges – mit offenen Armen.

Lernfähigkeit von Heteros

Kana wird mit ihrer entwaffnenden Neugierde zu einem Katalysator. Sie entlockt Mike immer mehr Einzelheiten über Yaichis Bruder, sodass dem Leser mehr und mehr klar wird, dass Yaichi seinen Zwilling gar nicht so gut gekannt hat, wie er wohl immer dachte. Ganz nebenbei entlockt Kana ihrem Onkel so einfache Erkenntnisse über die gleichgeschlechtliche Ehe (»Wer von euch beiden war eigentlich der Ehemann und wer die Ehefrau?« Antwort von Mike: »Wir waren beide Husbands«), die Yaichi dann doch über Rollen- und Geschlechterklischees grübeln lassen und letztendlich zum Umdenken bringen. Und damit auch skeptische Lesende – falls es sie für diese Geschichte geben sollte.

Homoerotik in den Panels

Denn neben diesem Aufeinandertreffen von Schwulem und Hetero und dem Abarbeiten der heterosexuellen Vorurteile gegenüber dem anderen, ist dieser Manga auch ganz klar ein Schwulen-Comic. In den Panels findet sich ganz offen eine schwule Blickführung, also wenn Tagame von den zwei Helden den gewölbten Schritt zeigt, Muskelberg Mike unter der Dusche oder Yaichis definierten Körper fast nackt präsentiert. Auch liegen die beiden irgendwann zusammen, wenn auch ungewollt, als Mike sturzbetrunken heimkommt und den Schwager für seinen Mann hält. Das alles hat eine homoerotische Konnotation, ist aber immer noch jugendfrei und nicht pornografisch.

Love is the answer

Tagame zeigt mit seiner Geschichte jedoch vielmehr, dass Zuneigung und Liebe größer sind als Geschlechter- oder Nationenzugehörigkeit. Sie sind universell und sollten so auch respektiert und gewürdigt werden – ganz gleich in welcher Konstellation Menschen zueinanderfinden. Für Japan ist dieser Manga mit Sicherheit ein Plädoyer auch für die gleichgeschlechtliche Ehe.

Was in diesem Auftaktband der Trilogie bis zum Schluss ungeklärt bleibt, ist das Schicksal von Kanas Mutter. Man sieht sie zwar auf einem Foto, erfährt jedoch nichts über sie. Was zu wilden Spekulationen Anlass gibt, denen gegen Ende auch Mike erliegt.
Tagame löst es für den Moment mit einem überraschenden Cliffhanger, der sofort die Neugierde auf Band zwei steigert. Bis dahin – Band 2 erscheint Ende April, Band 3 Ende Juli – sollten alle viel Tempurasushi essen, denn das ist lecker und gut gegen Vorurteile.

Gengoroh Tagame: Der Mann meines Bruders, Übersetzung: Sakura Ilgert, Carlsen Manga, 2019, 180 Seiten, ab 15, 10 Euro

Von alten Wunden

erbsensuppe

Ich liebe dieses Buch. Das muss ich dieses Mal wirklich als erstes raushauen. Vielleicht bin ich befangen, weil hier ein Thema behandelt wird, dass ich aus meiner Familie sehr gut kenne.
Denn Rieke Patwardhan erzählt auf eine wunderbar entspannte Art von den (Spät-)Folgen einer Flucht. Etwas, an das man zunächst nicht unbedingt denkt, wenn Nils, Evi und Lina eine Detektivbande gründen und einen spannenden Fall lösen wollen.
Eigentlich passen die drei kaum zusammen: Nils ist ruhig und ausgleichend, Evi impulsiv und spontan, und Lina kommt als Neue in die Klasse. Sie ist mit ihrem Vater aus Syrien geflohen und soll nun „integriert“ werden. Doch das gerät ganz schnell in den Hintergrund, denn Lina kann bereits ziemlich gut Deutsch, ist nicht auf den Kopf gefallen und war schon in ihrer Heimat in einer Detektivbande.

Ein Fall muss her

Umso spannender wird es für die drei, als sie merken, dass bei Nils Großeltern, wo die Bande regelmäßig mittags essen kann, etwas nicht stimmt. Immer öfter gibt es angebrannte Bratkartoffeln, weil Opa kochen muss. Oma hat dafür nämlich keine Zeit mehr, denn sie sitzt die meiste Zeit vor dem Fernseher und schaut deprimierende Nachrichten. Wenn sie das nicht tut, geht sie mit Opa einkaufen – allerdings nicht die üblichen Sachen, sondern Erbsensuppe in der Dose, und zwar in solchen Massen, dass irgendwann die ganze Wohnung mit den Dosen vollgestellt ist.
Als Oma auch noch einen großen Koffer mit Winterkleidung, Decken und Kochgeschirr packt, beschließen Nils, Evi und Lina ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Von der Gegenwart in die Vergangenheit

Patwardhan schafft es mit einem Generationsbogen von Großeltern zu Enkel, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Lina als Geflüchtete der Gegenwart erinnert die Großeltern an die eigene Kindheit kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Flüchtlinge aus Ostpreußen bei Familien im Westen einquartiert wurden. Da die Großeltern nicht viel von den schrecklichen Zeiten erzählen, und die Kinder erst einmal auch keinen Grund sehen, intensiver nachzufragen, bleiben wichtige Informationen zunächst ungesagt.
Als erwachsene_r Leser_in ahnt man natürlich rasch, was den Großeltern zugestoßen ist, doch junge Leser_innen können hier auf fast spielerische Art dem Trauma der Großeltern-Generation auf die Spur kommen – ohne selbst traumatisiert zu werden.

Von alten und neuen Traumata

Die Autorin baut eine Brücke zwischen den Ängsten der aktuell Geflüchteten – wenn Lina fürchtet, etwas Illegales zu tun und dann womöglich abgeschoben zu werden – und den tiefsitzenden Traumata der Kriegskinder von damals, die bekanntermaßen auch ein knappes Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende wieder hervorbrechen können – wie bei Nils‘ Großmutter.
Und so entsteht plötzlich ein Verständnis für die anderen, die Alten und die Menschen aus aktuellen Krisengebieten, bei den Figuren im Buch – und hoffentlich auch bei den Lesenden.

Generationskommunikation

Das Schöne an Forschungsgruppe Erbsensuppe ist aber auch, dass Linas Status als Geflüchtete im Laufe der Geschichte schon fast in den Hintergrund rückt. Sie ist selbstverständliches Mitglied der Bande, hier wird nicht auf irgendeine Tränendrüse gedrückt, weil die Zustände im Flüchtlingsheim möglicherweise ganz klischeemäßig fürchterlich sind. Das alles jedoch, ohne den unsäglichen Zustand von Duldung herunterzuspielen. So eine Darstellung ist immer eine Gratwanderung, hängen doch menschliche Schicksale daran, aber Patwardhan gelingt dieser Spagat.
Und so liefert sie eine Geschichte Anregungen in vielen Richtungen: Die Kommunikation unter den Generationen weiter fördert. Denn vermutlich werden nach der Lektüre die Kinder erst einmal ihre Großeltern über deren Kindheit befragen. Was beiden Seiten nur guttun kann, wenn die Jungen begreifen, was die Großeltern als Kinder durchgemacht haben, welche Schicksalsschläge sie geprägt haben.
Die Kinder, die von diesen Erfahrungen wissen, können dann vielleicht in der Gegenwart geflüchtete Mitschüler viel selbstverständlicher in ihre Cliquen aufnehmen und ihnen das Leben in einer neuen Heimat etwas leichter machen.

Rieke Patwardhan: Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen, Illustration: Regina Kehn, Knesebeck Verlag, 2019, 144 Seiten, ab 8, 13 Euro

Schwer erziehbare Eltern

Eltern können ganz schön nerven. Die Ansprüche. Die Vorstellungen. Nie kann man es ihnen recht machen. Die Erpressungen. Der neunjährige Jonathan Schreckster kann davon unzählige Geschichten erzählen. In Katalina Brauses Roman Die Bartfrau dreht es sich genau darum: Was erwarten Eltern von ihren Kindern?
Jonathan jedenfalls entspricht so gar nicht dem, was seine Eltern sich vorgestellt haben. Er ist zu dumm. Sein Zeugnis ist einfach nichts Besonderes. Und das trotz all der Extra-Kurse, die ihm die Eltern finanzieren: »Frühgotisch for Fun«, »Geiz und Gier, Teil 38«, »Komponieren für Kosmopoliten«. Er ist »das Durchschnitt« – und das ist nicht nett gemeint.

Das Problem Kind

Für solche »Problemkinder« gibt es in der Stadt Mumpitz jedoch eine Lösung: Und zwar die Bartfrau. In jedem Haus steht ein schwarzes Telefon mit direkter Leitung zur Bartfrau. Sie bringt die Lösung für solche Probleme – denken die Eltern und heben den Hörer ab.

Optimisation

Und so erscheint die Bartfrau im Hause Schreckster: groß, massig, mit einer Kaninchenohrenmütze auf dem Kopf, Puschen and den Füßen und einem langen Bart. Sie macht es sich im Schreckster-Heim gemütlich und beginnt schließlich mit der Arbeit: der »Optimisation«, also der Erziehung von »gar nicht erziehbaren, schwer erziehbaren und anders erziehbaren« … Eltern.

So viel darf verraten werden über diese Geschichte, die ein ganz wundervoller (Vor-)Lesespaß ist. Mit einem Hauch Magie und der Hilfe des Hamsters Speedy bekommen die Schreckster-Eltern ihr Fett weg, Jonathan darf auf einem Mammut reiten und all seine ausgefallenen Geburtstage werden nachgefeiert.
Vater Schreckster begreift schneller als seine Frau, was sie ihrem Sohn mit ihren überzogenen Ansprüchen angetan haben, und wandelt sich. Denn das Glück seines Sohnes liegt ihm dann doch am Herzen.

Sinnloser Perfektionismus

Katalina Brause nimmt in diesem Kinderroman die Anspruchshaltung so mancher Eltern gehörig aufs Korn. Das, was den Kindern heute oftmals neben der Schule noch alles zugemutet wird, lässt aber auch am Menschenverstand zweifeln. »Selbstoptimierung« und Perfektion in jungen Jahren braucht wirklich niemand, ganz egal, welche Traumata die Eltern möglicherweise erlebt haben. In späteren Jahren braucht man sie übrigens auch nicht.
Das Plädoyer für eine glückliche, spielerische Kindheit wird hier ganz groß geschrieben und das ist sehr fein. Wenn dieses Buch in durchgetakteten Kinderleben für ein wenig Chaos und Freiheit sorgt, ist schon sehr viel erreicht.
Den jungen Leser_innen wird dieses Buch bannig Spaß machen und manchen Eltern vielleicht etwas zu denken geben.

Katalina Brause: Die Bartfrau, Illustration: Kai Schüttler, Rowohlt, 2019, 160 Seiten, ab 8, 9,99 Euro

Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

Das Leben ist Veränderung

geschwister

In den nächsten Tagen werde ich zum dritten Mal Tante. Welche Freude!
Bei meiner Nichte, 7, und meinem Neffen, 4, steigt momentan der Aufregungspegel ganz enorm, auch wenn so keiner von uns – auch die Erwachsenen – es sich noch nicht richtig vorstellen kann, wie es mit so einem neuen Baby sein wird. Die Geschwisterkonstellation wird sich auf die eine oder andere Art verschieben. Und das wird eine ziemlich interessante Angelegenheit.

Geschwisterliebe

Nun ist gerade ein Bilderbuch von Rocio Bonilla erschienen, dass dieses Thema auf den Punkt bringt. Zwei Geschwister, eine große Schwester und ein kleiner Bruder, berichten darin von ihrem Leben mit dem/der jeweils anderen. Das quadratische Buch ist ein so genanntes Wendebuch, das von vorn wie auch von hinten gelesen werden kann. Je nachdem, wo man das Buch aufschlägt, erzählt entweder die Schwester oder der Bruder ihre oder seine Sicht der Dinge. Und die ist am Anfang nicht besonders schmeichelhaft.

Das ist der Bruder der blöde Affe, der einfach alles nimmt und kaputt macht. Er ist eine Qual und eine Heulsuse. Die Schwester hingegen macht, dass der Bruder sich klein fühlt und wütend wird. Sie ist langweilig und eine Qual.
Aber sie baut auch die höchsten Türme und bringt dem Lütten Fahrradfahren bei, und ohne den Bruder fühlt sich die Schwester einsam.
Da schwingt das ganze Programm von Geschwister-Alltag und Geschwisterliebe mit. Trotz aller Differenzen und nervigen Eigenarten der/s Anderen sind die beiden sich einig, dass es gar nicht so schlecht ist, zu zweit zu sein.

Achtung, Spoiler!

Und kommt man dann als Leser_in in der Mitte des Buches an, hinter der halbgeöffneten Tür ertönt das Gebrüll … von … ja: Geschwisterchen Nr. 3! Sorry, für diesen Spoiler, aber anders kann man dieses herzallerliebste Bilderbuch nicht präsentieren. Denn hier geht es um die Veränderung in einem eingeschworenen Team. Nichts wird ab jetzt so sein, wie es bis dahin war. Etwas Neues, etwas Schönes bricht in den Alltag ein und verändert ihn fundamental.

Noch ist das Baby nur ein windeltragender Schreihals, mit dem die Geschwister nicht viel anfangen können. Die Frage, wie es nun zu dritt für sie weitergeht, beantwortet Bonilla nicht, sondern er überlässt es den Betrachter_innen, sich nun zu überlegen, wie das Leben wohl weitergeht.
Hier bietet sich nicht nur eine vorzügliche Vorlage über die jeweiligen Sichtweisen von Geschwistern auf den/die andere zu reflektieren, sich vielleicht selbst wieder zu erkennen, das Schöne und das Nicht-So-Schöne zu benennen, sondern auch für alle, bei denen das dritte Kind im Anmarsch ist, eine Gelegenheit über den Wandel in der nächsten Zeit zu sprechen. Wie wollen sich die Geschwister verhalten? Wird sich ihr Verhältnis zueinander verändern? Wird es Konkurrenz geben? Wird das Team wachsen? Wird der Spaß bleiben? Oder wird es mehr Streit geben?

Entzückend illustriert

Die Offenheit dieser Geschichte kombiniert Bonilla mit entzückenden Bildern, in denen der Bruder die Schwester als balletttanzendes Nashorn mit Tutu sieht, sich in den Zimmern Eisenbahn, Bauklötze oder Plüschtiere stapeln. Das Chaos, das die Gören im Badezimmer anrichten, ist jedem bestens bekannt, der mal versucht hat, kleine Wasserratten wieder aus der Wanne zu bekommen. Dazu die genervten, gelangweilten, wütenden, fröhlichen, erstaunten, traurigen, hämischen, verträumten, erschrockenen, stolzen Gesichtsausdrücke der beiden zu sehen, ist großartig und vermittelt die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle, über die dann auch geredet werden kann.

Ohne farbliche Geschlechterklischees

Eins muss noch zusätzlich betont werden, weil es (leider immer noch!) keine Selbstverständlichkeit ist: Die Farbgebung in diesem Bilderbuch ist spitze! Jenseits aller rosa-hellblauer Geschlechterklischees. Das Mädchen trägt Grün, der Junge Rot und auch schon mal das rosa Tutu der Schwester. Klar, spielt er Darth Vader und mit einer Eisenbahn, aber er frisiert genauso die Puppen der Schwester. Sie hingegen bringt ihm Backen und Fahrradfahren bei und beschützt ihn vor nächtlichen Schlafzimmermonstern. Und auch das Baby kommt ohne farbliche Geschlechtszuordnung aus – ein echter Gewinn!

Mit so einer Bilderbuchvorbereitung sollte der Familienzuwachs bei den großen Geschwistern also bestens ankommen und der Spaß auf jeden Fall weitergehen! Ich werde es am Wochenende bei Nichte und Neffe überprüfen…

Rocio Bonilla: Geschwister, Übersetzung: Renate Loew, Jumbo, 2019, 56 Seiten, ab 3, 15 Euro

Befreit euch

wegeVor kurzem haben wir das 100-jährige Frauenwahlrecht gefeiert. Eine lang erkämpfte Errungenschaft, die von den heutigen Generationen oftmals als selbstverständlich und daher vernachlässigbar zu sein scheint, im Sinne, der Gang an die Wahlurne wird auch mal ausgelassen. Eine fatale Haltung, die den falschen Parteien nützt.

Dass unser heutiges Dasein als Frauen nicht selbstverständlich ist (und auch noch immer nicht paritätisch und gleichberechtigt) verbildlicht Julia Zejn in ihrer Graphic Novel Drei Wege auf eine stille, fast poetische Art.
Darin schneidet sie die entscheidende Momente aus den Biografien dreier junger Frauen gegeneinander, die im Abstand von je fünfzig Jahren leben. Ida tritt 1918 eine Stelle als Hausmädchen bei einer Arztfamilie in Berlin an, Marlies lernt 1968 den Studenten Wolfgang kennen, und Selina dümpelt 2018 nach dem Abi vor sich hin, ohne zu wissen, was sie aus ihrem Leben machen soll.

Machtvolle Männer

Idas und Marlies‘ Lebenswege sind noch den männlichen Machtstrukturen ausgesetzt. Hatte Ida ein gutes Verhältnis zur Hausherrin, solange deren Mann noch im Krieg war, so ändert sich das schlagartig, als der Gatte zurückkehrt und mit harter Hand das kaisertreu geprägte Regiment in der Familie wieder übernimmt. Mit seiner dix-haft gezeichneten Physiognomie ruft er sofort eine Reihe von militaristisch-patriarchalen Assoziationen in mir auf, die ohne viele Worte die bedrückende Stimmung in einem damaligen Haushalt evozieren.
Auch Marlies, ein Arbeiterkind, muss sich mit den erzkonservativen Ansichten ihres Vaters auseinandersetzen. Der hält Wolfgang für einen Gammler mit zweifelhaften Ansichten. Dass Marlies sich den Studentenprotesten anschließt, passt den Eltern gar nicht, es kommt zu familiären Eklat. Aber auch der scheinbar progressive Wolfgang entpuppt sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als konservativ, was sein Verhältnis zu Frauen angeht. Marlies kämpft als quasi an zwei Fronten.

Heutige Zwänge

Selina hingegen scheint von den Männern unbehelligt zu sein, der Vater lebt weit weg in Vancouver, ihr bester Kumpel ist schwul, ihre Mutter macht Yoga und postet auf einem Foodblog gesunde Super-Lebensmittel. Doch heute sind es andere Zwänge, die das junge Mädchen verunsichern. Ihre beste Freundin Alina erzählt, dass sie an die Columbia Uni in New York gehen wird. Dass diese jedoch eine Lüge ist, kommt erst heraus, als Alina versucht, sich umzubringen. Selina möchte ihr beistehen, doch die Freundin ist gefangen in dem Zwang von guten Noten, bester Ausbildung und der gesellschaftlichen Forderung nach einem stringenten, erfolgreichen Lebenslauf. Für Freundschaft und Freiheit bleibt da nicht viel Platz. Als Selina das alles erkennt, macht sie sich frei.

Lebendige Wurzeln

Was scheinbar unverbunden daherkommt, verwebt Zejn äußerst geschickt. Jeder Erzählstrang mit seinen zarten Bleistiftzeichnungen ist einer anderen Pastellfarbe gefärbt, sodass man als Leserin immer gleich weiß, bei wem man gerade ist. Doch die Wege der drei Frauen sind zudem über verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Verhältnisse miteinander verbunden. So wird klar, dass wir alle das Erbe unserer Vorfahren immer noch in uns tragen, uns andere Generationen beraten und uns helfen können, dass wir also nicht in einem Vakuum agieren, sondern eben sehr lebendige Wurzeln haben. Und diese Wurzeln sollte man kennen. Eben um nichts als selbstverständlich hinzunehmen, was mühsam erkämpft wurde, aber auch um für sich selbst einen freien und selbstbestimmten Weg zu finden – immer noch und immer wieder. Denn auch das ist heute immer noch nicht selbstverständlich.

Zu diesem Thema passt schließlich auch der Kinder-Comic Heraus aus der Finsternis von Christopher Tauber und Annelie Wagner, der in Zusammenarbeit mit dem Jungen Museum Frankfurt entstanden ist.

Mädchenbande

Darin erleben junge Leserinnen die etwa zehnjährige Käthe, die sich mit ihren Freundinnen gegen die Schikanen der Jungsbanden in ihrem Viertel zur Wehr setzen. Und zwar im Frankfurt der Jahre 1918/1919.
Der erste Weltkrieg ist gerade erst zu Ende gegangen, die Männer sind zum Teil noch nicht von der Front zurück. Die Frauen und Mütter haben sich daheim durchgeschlagen, haben in den Fabriken die Arbeit der eingezogenen Männer übernommen. Sie stehen sich gegenseitig hilfreich zur Seite, kämpfen für das Wahlrecht und meistern ihr Leben auch ohne männliche Bevormundung. Das sehen auch die jungen Mädchen und schauen sich ihren Teil von den Erwachsenen ab.

Solidarität und Freundschaft

In dieser fiktiven Geschichte Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs (Tina & Bibi lassen grüßen) bilden die Mädchen schließlich ihre eigene Bande, um sich gegen die Jungs zu wehren – und kommen zu der Erkenntnis, dass Solidarität hilft. Aber auch, dass Jungs und Mädchen gar nicht so verschieden sind, wenn es darum geht, dass keiner gern geärgert wird und das es viel schöner ist, Freunde zu sein.

Historischer Hintergrund

Zu den historischen Begebenheiten, Personen und Institutionen in der damaligen Zeit gibt es am Ende eine Doppelseite mit Hintergrundinformationen und einem Glossar. Der Kasten „Anachronismen“ schickt die Betrachterinnen dann noch mal mit einem Rätsel durch den Comic, in dem drei Dinge versteckt sind, die es vor 100 Jahren noch nicht gab. Leider ist hier die Frage aus einem anderen Comic übernommen worden (es werden nach vier Dingen gefragt, die es 1742 noch nicht gab) – dies wird hoffentlich in der nächsten Auflage korrigiert, denn die Idee ist charmant. Und ich habe mich dabei ertappt, die drei Anachronismen übersehen zu haben.

Für Mädchen ab acht ist dieser Comic jedoch in vielerlei Hinsicht ein Gewinn, denn neben all der Historie bekommen sie ein Gefühl für Feminismus und weibliche Solidarität, aber auch für Menschlichkeit. Und das ist nicht nur in Frankfurt wichtig.

Julia Zejn: Drei Wege, avant-verlag, 2018, 184 Seiten, ab 16, 25 Euro

Christopher Tauber/Annelie Wagner: Heraus aus der Finsternis, Junges Museum Frankfurt/Zwerchfell Verlag, 2018, 52 Seiten, ab 8, 12 Euro

Mafia

Jenseits von Dolce Vita

Mafia

Gekriegt haben sie mich mit Padre Pio, der kommt noch zwei Panels vor der Giraffe, die andere Rezensenten an dieser Graphic Novel so fasziniert.
Padre Pio als Stencil-Graffiti an einer Hauswand, halb verborgen hinter Müllcontainer und Unrat. Eindeutiges Zeichen, dass die Geschichte von Stadt der drei Heiligen von Stefano Nardella und Vincenzo Bizzarri in Apulien spielt, in einer namenlosen Kleinstadt, in der Nähe von Foggia. Padre-Pio-Land. Land, in dem Heilige wichtige Rollen spielen. Neben der Mafia.

Alles andere als heilig

Diese Stadt steht unter dem Schutz von gleich drei Heiligen – San Michele, San Marciano und San Nicandro. Einst schützten sie die Stadt vor der Eroberung durch die Türken. Doch daran erinnert sich kaum noch einer. Heute sind es die drei namensgleichen Hauptfiguren, die sich gegen ganz andere Feinde, Feinde aus dem Inneren der Stadt, wehren müssen. Miché, Ex-Boxer und Mafia-Gehilfe, ist durch seine Drogensucht abhängig von der Gunst des örtlichen Bosses Pino. Marciano, Ex-Mafioso und Aussteiger, hat keine Lust, Schutzgelder für seinen Imbisswagen, der kaum Geld abwirft, zu zahlen. Nicà, 17-jähriger Schulabbrecher und Kleindealer, will eigentlich nur mit Titti zusammen sein. Doch deren Brüder Rodolfo und Tonio meinen, die Schwester vor dem schlechten Umgang schützen zu müssen. Dabei haben ausgerechnet sie die besagte Giraffe aus dem kleinen Wanderzirkus entführt, um Lösegeld zu erpressen. Ein wahrlich absurdes, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wie eigentlich so alles hier zum Scheitern verurteilt ist.

Kleinstadttristesse

In der grauen Tristesse italienischer Vororte aus Betonhochhäusern, halbfertigen Wohngebäuden, slumartigen Wellblechhütten, kreuzen sich die drei Schicksale und zeichnen ein Sittengemälde der süditalienischen Gesellschaft. Die Macker, allesamt mit fiesen Visagen ausgestattet, können in der Stadt, die nichts zu bieten hat, ihren Testosteronüberschuss nur in illegalen Hundekämpfen oder legalen Boxkämpfen loswerden. Oder, indem sie sich gegenseitig bedrohen, beklauen, fertigmachen. Sie sind wie Vampire, die sich gegenseitig aussaugen, um an der Macht zu bleiben.
Das dies auf Dauer zu nichts führt, zeigen die drei Protagonisten den Betrachter_innen sehr eindrücklich. Auch wenn es hier nicht um die großen Mafia-Geschäfte geht – die Drogenmengen sind klein, selbst wenn die Mafiosi fette Autos fahren, ein Imbiss ist kein börsennotiertes Wirtschaftsunternehmen, der Wettbetrug beim Boxkampf ist nicht mit den Manipulationen in der 1. Fußballliga vergleichbar – so beeinflussen die Mafia und die gesellschaftlichen Konventionen die Helden doch so sehr, dass es am Ende nicht gut ausgeht.

Die Rollen der Frauen

Nardella und Bizzarri erzählen von dem toxischen Einfluss, den die Mafia in den süditalienischen Kleinstädten auf das Leben jedes Einzelnen hat. Zwar sind es hier vor allem die Männer, die sich Schaden zufügen, doch auch die Frauen bleiben davon natürlich nicht unberührt. Titti leidet unter ihren Brüdern und möchte mit Nicà nach Mailand abhauen, weil sie das Leben im Ort nicht mehr aushält und keine Zukunft für sich sieht. Kurz klingt ein Romeo-und-Julia-Motiv an. Doch aus ihrer Flucht wird nichts, da Nicà die Sache »regelt«.
Die anderen Frauen, Micheles demente Mutter, Nicàs alte Oma oder Marcianos Ehefrau sieht man nur in den Wohnungen oder im Pflegeheim. Dort sind sie die Herrscherinnen, vor ihnen werden die Männer weich. Doch obwohl die Frauen wissen, was auf den Straßen abgeht, können – oder wollen? – sie kaum etwas tun, um die Verhältnisse zu ändern. Die Polizei zu rufen ist in keinem der Fälle eine Option.

Was viel eher hilft, ist der Gang zum Pfarrer. So vertraut Marcianos Ehefrau sich Don Vincé an, der kurzerhand die eine Prozession zu Ehren des Heiligen umleitet und so für einen Moment eine Schießerei verhindert. Doch eben auch nur kurz. Denn als die Festtage mit einem riesigen Feuerwerk enden, sind in der Stadt wieder Menschen gewaltsam gestorben und die Täter werden nicht lange auf freiem Fuß bleiben.

Jenseits jeglicher Idylle

Hier gibt es kein Happyend. Mag sich der Pfarrer auch noch so sehr bekreuzigen. Es herrscht ein Teufelskreis, aus dem es seit Jahrhunderten kein Entrinnen zu geben scheint. Außer man verlässt die Stadt oder steht zu seinen Überzeugungen und geht dann dafür in den Knast. Von Idylle kann man hier in keinster Weise reden – außer man möchte mafiöse Verhältnisse romantisieren, um dann wieder beim naiven deutschen Blick auf Italien zu landen, dieser Mischung aus La Dolce Vita und Der Pate. Hier scheint keine goldene Sonne über der Stadt. Es ist ein kranker blassgelber Himmel, der über den zumeist grüngrauen Figuren mit ihren zerschlagenen Gesichtern herrscht. Hier fehlt das Azzurro, das Blu dipinto nel blu. Zurück bleibt eine Ratlosigkeit, wie man eine solche Gesellschaft heilen, reformieren, verändern könnte. Antworten liefern Nardella und Bizzarri natürlich nicht. Wie auch, wenn ganz Italien seit Ewigkeiten darauf keine Antworten hat.

Sprachliche Besonderheiten & Soundwords

Wer sich auf diese Lektüre einlässt, wird in den Texten, die Hannah Lisa Linsmaier gelungen ins Deutsche übersetzt hat, auf so einige sprachliche Besonderheiten stoßen: die vielen klingenden Namen der Kleinkriminellen und Mafiosi sind im Original stehen geblieben. Das verleiht Authentizität, verwirrt eventuell aber auch ein bisschen. Sprechende Namen, vor allem dialektal verkürzte, wie in diesem Fall (Nicà Cor‘ e‘ can – Nicà Hundeherz), lassen sich meist nicht passend übersetzen. Daher ist es gut, dass das hier nicht geschehen ist. Man hätte vielleicht in der Personenliste am Anfang eine Erklärung einfügen können.
Für andere italienische Worte und Sätze sind Fußnoten unter die Panels gesetzt worden. Auch das ist sinnvoll – nur hätte es konsequenter passieren können, dann wären noch ein paar Facetten mehr transportiert worden, beispielsweise der Spruch neben dem Padre-Pio-Stencil, der gleich zweimal auftaucht: »Neid ist die Mutter aller Niedertracht« (S. 13 und S. 91). Oder der Zettel in Nicàs Haus, auf dem die »werten Hausbewohner« gebeten werden, »nicht in den Fahrstuhl zu urinieren« (S. 95). Und Nicàs Ausruf: »U Sceè!!!« – »Der Idiot!!!« (oder ähnliches, S. 29) hätte die Figur des in süditalienischen Dörfern quasi allgegenwärtigen »Dorftrottel« etwas besser eingeordnet. Er ist in all dem Drama vielleicht der wirklich einzig glückliche Mensch, da er mit den gesammelten Machenschaften so gar nichts zu tun hat. Mit diesem Wissen wäre auch die letzte Giraffen-Szene in all ihrer Dimension noch besser verständlich gewesen.
Auch bei den Soundwords vermisse ich ein bisschen die Konsequenz in der Übersetzung. Wird anfangs das Glockengeläut mit »DING DONG DANG« verdeutlicht, zieht sich das ja fast allgegenwärtige Gebimmel im Laufe der Geschichte nur noch als »DIN DON« durch die Panels.
Auch Marcianos Husten ist eine seltsame Mischung aus »COF« und »COUGH« (S. 101). Ein Erikativ à la »HUST« wäre natürlich nicht gegangen. Wie gesagt – Konsequenz in diesen Dingen hätte für mich die Geschichte richtig rund gemacht.

Stadt der vier Heiligen

Eigentlich ist die namenlose Stadt, eine Stadt der vier Heiligen, denn neben dem Stencil taucht Padre Pio noch einmal auf – als Statue auf einer Piazza. Doch ist Padre Pio kein Heiliger des Kampfes wie die drei Stadtheiligen, eher ein Heiliger der Selbstverletzung (dies ist keine offizielle Bezeichnung – wie ich darauf komme, könnt ihr hier nachlesen) – und vielleicht ist es genau das, was die Figuren dieser Geschichte am ehesten tun. Sie verletzen hauptsächlich sich selbst. Und zeigen damit eindrücklich, wie widersinnig Mafia und männliches Gehabe sind.

Stefano Nardella/Vincenzo Bizzarri: Stadt der drei Heiligen, Übersetzung: Hannah Lisa Linsmaier, Verlag Schreiber & Leser, 2018, 192 Seiten, 29,80 Euro

Mädchen, werdet laut!

moxie

Vor wenigen Tagen hat die Süddeutsche Zeitung ein Projekt zu Geschlechterklischees in Kinderbüchern veröffentlicht. Allein die Auswertung der Meta-Daten von Tausenden von Büchern zeigt bereits, dass – anders als gefühlsmäßig angenommen – männliche Protagonisten immer noch in der Überzahl sind, die weiblichen Heldinnen nicht so komplexe Abenteuer erleben dürfen und die Verschlagwortung den Jungs mehr Begriffe zugesteht. Vermutlich lese ich nicht genug Kinderbücher und lasse mich von den Jugendbüchern blenden, unter denen es mittlerweile doch so einige Geschichten von Mädchen gibt, die gegen die Klischee angehen und feministische Töne anschlagen. Aber vermutlich müsste man auch hier mal eine Meta-Daten-Analyse durchführen, um ein genaueres Bild zu bekommen.

Machogehabe an der Highschool

Ein aktuelles Jugendbuch, das gegen die männliche Dominanz angeht, ist in jedem Fall Jennifer Mathieus Moxie – Zeit, zurückzuschlagen. Die Heldin Vivian hat es nämlich satt, sich in ihrer Highschool, in einem kleinen Seekaff in Texas, von den Jungs ständig dumme Sprüche anhören zu müssen, in denen die Mädchen auf ihre vermeintliche Rolle in der Küche reduziert werden. Die Jungs haben an ihrer Schule alle Freiheiten der Welt: Sie dürfen T-Shirts mit Machosprüchen tragen, während den Mädchen die Miniröcke und Tops verboten werden. Die Jungs können die Mädchen körperlich angehen, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und das Football-Team steht als Inbegriff von Männlichkeit und Erfolg über allem und wird von allen Seiten finanziell unterstützt, während die Mädchen das Nachsehen haben.

Moxie ruft zum Widerstand auf

Viv nervt dieses Gesamtsituation ziemlich. Eines Tages stöbert sie in den alten Sachen ihrer Mutter, die Viv seit dem Tod ihres Vater allein großzieht. Dort findet sie Andenken an deren rebellische Jugend und Riot-Grrrl-Manifeste, die eine ganz andere Seite der Mutter offenbaren. Viv kommt die Idee, selbst ein Zine, also ein Magazin, für Mädchen zu gestalten und an der Schule zu verteilen. Im Alleingang und ohne, dass sie irgendjemandem davon erzählt, stellt sie vier Seiten zusammen, kopiert sie und verteilt sie schließlich auf den Mädchentoiletten. Sie tauft ihr Zine Moxie, was so viel wie Mut, Tatkraft und Selbstbewusstsein bedeutet – und bei ihr für all die Mädchen steht, die sich nichts gefallen lassen. Als erstes Erkennungszeichen fordert sie die Leserinnen auf, sich Sterne auf die Hand zu malen, falls sie ebenfalls ein Moxie-Girl sind.

Zunächst scheint Vivians Zine nicht viele Mädchen aufzurütteln, nur wenige kommen am verabredeten Tag mit Sternen auf der Hand in die Schule. Doch als die Kleiderkontrollen des Direktors immer absurder werden und immer mehr Schülerinnen beschämen, fordert Viv in der nächsten Ausgabe die Leserinnen auf, im Bademantel zum Unterricht zu kommen. Dieses Mal folgen dem Aufruf von Moxie bereits mehr Schülerinnen. Ein erstes Gefühl von Gemeinschaft macht sich breit.
Die gute Stimmung unter ihnen jedoch sinkt wieder, als neben einem „Mädchen-Vergleichs-Wettbewerb“ im Internet, bei dem Jungs über den Coolness/Schönheitsfaktor der Mädchen abstimmen, zusätzlich bei den Jungs ein übergriffiges Spiel angesagt ist, bei dem sie die Mädchen begrapschen. Schließlich geht einer noch weiter. Da ruft Moxie zum Streik auf – doch dieses Mal steckt nicht Vivian hinter der Veröffentlichung. Und Vivian gerät in einen schweren Gewissenskonflikt.

Gemeinsam stark

Mathieus Roman, von Alice Jakubeit souverän ins Deutsche übertragen, liest sich wie im Rausch runter. Mag sein, dass die Lage an der Schule etwas zugespitzt und übertrieben ist – normalerweise würde eine frauenfeindliche Aktion ja schon ausreichen, um auf die Barrikaden zu gehen. Doch als erzählerisches Mittel treibt es die Leserinnen vorwärts, sodass deren Wut proportional zu der Wut der Mädchen in der Geschichte steigen dürfte. So emotional mitgenommen wirkt eine Lektüre später sicherlich auch nach außen und in das hiesige Schulleben. Denn zum Glück solidarisieren sich die Mädchen im Buch, Viv lernt neue Mitschülerinnen kennen und überwindet eigene Vorurteile gegenüber anderen, die sie zunächst für arrogant gehalten hat. Mehr und mehr wird den Schülerinnen bewusst, dass sie nur gemeinsam gegen Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Gewalt kämpfen können. Und sensibilisieren damit auch gleichzeitig die Leserinnen, was sie, sollten sie Ähnliches erleben, machen könnten.

Die Sensibilisierung geschieht nicht nur durch die Aktionen der Mädchen, sondern auch durch die abgebildeten Moxie-Ausgaben, in denen Viv neben Bildern von 40er-Jahre Boxerinnen mit jeder Ausgabe mehr und mehr Infos zur weiblichen Selbstwahrnehmung, zu unsinnigen Kleiderordnungen sowie Zahlen zu sexueller Belästigung und den psychischen Folgen davon liefert. Sie zeigt aber auch, dass sexuelle Diskriminierung nicht erst mit einer Vergewaltigung zu einem Delikt wird, das frau anzeigen sollte, sondern oft schon viel früher beginnt –  in vermeintlich normalen Situationen zwischen Mädchen und Jungen.

Liebe inklusive

Jetzt könnte man denken, dass in diesem Roman alle Jungs doof sind. Zugegeben viele sind es, aber Mathieu hat natürlich – erzähltaktisch clever – auch ein gutes Exemplar in die Geschichte eingebaut. Seth, der gut aussehende Neuzugang an der Schule, findet die Moxie-Zines klasse, noch bevor herauskommt, von wem sie eigentlich stammen. Und er mag Viv und unterstützt sie. So wird der durchaus aufregende Kampf um Gleichbehandlung und Gleichberechtigung von diesem Liebes-Plot-Strang begleitet. Ganz im Sinne: Frau kann Feministin sein und trotzdem einen Mann lieben. Hier gleitet es vielleicht ein bisschen ins Klischee, doch wenn es jungen Mädchen die Angst nimmt, sie würden allein bleiben, wenn sie sich feministisch betätigen, hat das durchaus seine Berechtigung. Und es zeigt zudem, dass auch Jungs sich für den Feminismus und die Gleichberechtigung begeistert können. Auch das ein Thema, das noch viel zu wenig dargestellt wird.

Jennifer Mathieu: Moxie – Zeit, zurückzuschlagen, Übersetzung: Alice Jakubeit, Arctis Verlag, 2018, 352 Seiten, ab 14, 16 Euro

Vorbildhaft

Ich stelle hier ja in unregelmäßigen Abständen – also eigentlich immer, wenn mir eine entsprechende Publikation unterkommt –  Bücher über den Widerstand während der Nazi-Diktatur vor. Sei es über die Weiße Rose, die Edelweißpiraten oder die Meuten in Leipzig. Das kann anscheinend auch gar nicht oft genug geschehen, betrachtet man die virtuelle Aufregung, die dieser Tage um den Hashtag #nazisraus und die Morddrohungen an eine Journalistin durchs Netz lief. Die Selbstverständlichkeit von #nazisraus ist heute also keine Selbstverständlichkeit mehr – und das muss zu denken geben. Umso wichtiger ist es, die Fakten und Geschehnisse der Nazi-Diktatur zu kennen und auch die Formen des damaligen Widerstandes zu würdigen. Ein neues Puzzelteil in diesem immensen Geschichtsbild kommt nun also mit einem neuen Werk über eine noch ziemlich unbekannte Widerstandsgruppe hinzu, eine Gruppe Erfurter Jugendlicher. In der Graphic Novel Nieder mit Hitler oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte erzählen Jochen Voit und Hamed Eshrat die Geschichte von Karl Metzner und dessen Freunden.

Widerstand in Erfurt

Ausgelöst durch eine Kontrolle am Grenzübergang Friedrichstraße in Berlin, erinnert sich der erwachsene Karl an seine Jugend während der Nazizeit in Erfurt. War er anfangs noch ein begeisterter Pimpf und Fan von Radlegende Erich Metze, kommen dem Jungen jedoch bald schon Zweifel am System. Dachten er und seine Freunde zunächst noch, sie könnten die Welt verändern, bringt der Krieg die ersten schlechten Nachrichten: Der Bruder von Jochen wird vermisst, später kommt die Todesnachricht.
Langsam und stetig untergraben die wachsenden Zweifel die Loyalität der Jungen zum Staat. Sie reißen Witze über Hitler, zeichnen hochverräterische Bilder an die Schultafel und tuen sich im Sommer 1943 endgültig als Gruppe zusammen, die gegen den Krieg und den Führer kämpfen will. Die Jungs hören Radio Moskau, tippen Flugblätter einzeln ab, werfen sie aus der Straßenbahn. Jede Aktion für sich ist gefährlich und kann übelst bestraft werden. Doch alles geht gut, bis Joachim sich verplappert …

Niemand ist zu jung für den Widerstand

Auch wenn die fünf Erfurter Jungs nicht so spektakulär verurteilt wurden wie die Mitglieder der Weißen Rose, so ist es doch wichtig, an sie und ihre Aktionen zu erinnern. Denn sie machen deutlich, dass man nie zu jung ist, um sich zu wehren – die Jungs waren 17 als sie die Flugblätter verteilten. Und vor allem aber zeigt diese Geschichte, dass jeder seinen Beitrag zum Widerstand, und sei er noch so klein und örtlich beschränkt, leisten kann, damit das Unrecht nicht weiter regiert.

Karl Metzner hat später den Widerstand als evangelischer Pfarrer in der DDR weitergeführt, hat sich nicht einschüchtern lassen und sich geweigert, bei der Stasi mitzuarbeiten. Eine bewundernswerte Haltung, für die man Mut und Kraft braucht. Und an der wir alle uns ein Beispiel nehmen können.

Jugendliche Leser_innen finden hier ein diskussionsförderndes Beispiel eines deutschen Lebens ins zwei Diktaturen. Auch wenn die DDR-Zeit nur in den Rahmenhandlungspanels angedeutet wird, so sind diese Passagen überaus aussagekräftig. Das liegt auch an der Farbgebung der gesamten Graphic Novel. Comiczeichner Eshrat färbt nämlich die Panels, die in der Nazi-Zeit spielen in gedeckten bräunlichen Schlammfarben (die Symbolhaftigkeit ist offensichtlich). Die Passagen, die während der DDR-Zeit in einem Verhörraum spielen sind hingegen in ein trockenes Mausgrau getaucht, was die Bedrückung der zweiten Diktatur in Deutschland ohne Worte auf den Punkt bringt.
Mit diesem Werk ließe sich der Geschichtsunterricht in den Schulen sicherlich anschaulich und Augen öffnend gestalten.

Eine wahre Geschichte

Autor Jochen Voit hat der Graphic Novel dankenswerterweise einen Anhang mit dem historischen Hintergrund dieser wahren Geschichte beigefügt. So finden die Leser_innen hier Fotos, Texte und Dokumente von und über die fünf Jungen, die so nach langer Zeit wieder ins Bewusstsein rücken. Diesem Buch liegt ein dreijähriges Forschungsprojekt der Universität Erfurt zugrunde, in dessen Rahmen auch ein 25-minütiger Film und eine wissenschaftliche Publikation entstanden sind. Infos dazu finden sich auf der Website www.nieder-mit-hitler.de.

Und wenn heute #nazisraus keine Selbstverständlichkeit mehr ist, sondern bereits zu einem Zeichen des Widerstandes wird, dann möge es bitte mehr davon geben – aber nicht nur virtuell im Netz.

Jochen Voit/Hamed Eshrat: Nieder mit Hitler! Oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte, avant-verlag, 2018, 152 Seiten, ab 14, 20 Euro

Vulvadialoge

girlsplainingMansplaining – dieser Begriff kursiert seit einiger Zeit in Diskussionen immer häufiger und kennzeichnet das unsägliche Verhalten mancher Männer, den Frauen von oben herab die Welt oder sonst etwas erklären zu wollen.

Seit diesem Herbst gibt es aber auch Girlsplaining – etwas, das wir dringend brauchen, als Begriff, aber auch in Form dieser Comic-Sammlung von Katja Klengel.

Comickünstlerin Klengel versammelt in diesem Band noch einmal ihre Kolumnen, die sie für das Online-Magazin Broadly gezeichnet hat. Und das ist hervorragend, denn an mir – und vielleicht auch anderen – ist Broadly bis jetzt vorbeigegangen (etwas das ich aber ändern werde). Nun also, können wir sieben Geschichten offline genießen und uns in ihnen wiederfinden.

Vom Alltagssexismus

Klengel erzählt darin von dem Alltagssexismus, den die meisten Frauen seit ihrer Kindheit erlebt haben dürften, beispielsweise die Anmache im Imbiss, aber auch von der Schamhaftigkeit der Eltern, wenn weibliche Geschlechtsmerkmale nicht benannt werden und alle einen sprachlichen Bogen um Ausdrücke wie Vulva, Scheide, Vagina, Schamlippen machen, so als handelt es sich dabei um den Namen Voldemort. Klengel veranschaulicht, wie Jungs auf weibliche Körperbehaarung reagieren, wie unsensibel Frauen auf das Thema Kinderkriegen angesprochen werden und welche Fallen in der Spielzeugabteilung lauern. Sie scheut nicht davor zurück eine vollgeblutete Binde abzubilden und das Vorsatzpapier des Buches mit Zeichnungen von unterschiedlichsten Schamlippen zu verzieren. Damit liegt sie voll im Trend, der sich in Büchern wie Ebbe und Blut von Luise Strömer, Sex von Chusita oder Der Ursprung der Welt von Liv Strömquist zeigt.

Bewusstsein für den eignen Körper

Ihre Geschichten, in ironisches Altrosa gefärbt, kommen an der Oberfläche witzig daher, erwischen die Leser_innen dennoch eiskalt, da jede diese Situationen so oder ähnlich schon mal erlebt hat. Klengel schärft damit auf großartige Weise das Bewusstsein der Mädchen und Frauen für ihren eigenen Körper, ihren Umgang damit, ihre Sprache und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit.
Denn viel zu oft stehen wir da, hören einen sexistischen Spruch und wissen auf die Schnelle keine passende Antwort. Meist reagieren wir dann mit einem verschämtem Kichern und ärgern uns hinterher. Dass frau auf blöde Anmachen nicht mit einem coolen Spruch reagieren muss, sondern dass ein einfaches „Bitte lassen Sie solche Bemerkungen!“, wie Klengel vorschlägt, schon reicht, ist eine enorme Erleichterung. Keine von uns muss schlagfertig sein, wenn sie belästigt wird. Wir müssen uns nicht auf die witzige Tour revanchieren, und damit das Geschehen ins Lächerliche, also ins Unerhebliche ziehen. Es hilft auch nichts, den Männern über Witze klar machen zu wollen, dass ihr Benehmen inakzeptabel ist. Offenheit und direkte Botschaften sind da viel angebrachter – schließlich muss frau damit die vergurkte Erziehung der Herren ausgleichen. Auch in diesem Sinne ist Klengels Buch so wichtig: Je sensibler die Mädchen und Frauen in Bezug auf sich selbst und ihren Körper sind, umso besser können sie – hoffentlich – ihre Söhne erziehen, zukünftig respektvoller mit Frauen umzugehen.

Medienkritik

Fast wie nebenher gelingt Klengel zudem eine Kritik der Medien und unserer Sehgewohnheiten, indem sie ihre Überlegungen in Szenen aus TV-Serien einbaut, sie beispielsweise auf die Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise verlegt, als Gespräch mit den Ladys aus Sex and the City erscheinen lässt, oder Anspielungen an Bridget Jones und Harry Potter einflechtet. Der Wiedererkennungseffekt ist hoch, und das heimelige Gefühl, den eigenen Serien- und Filmkonsum hier wiederzufinden, erfreut bei der Lektüre. Doch wieder wird das Bekannte gebrochen, Klengel legt den Zeichenstift in die offensichtlichen Schwachpunkte dieser Produktionen, sodass einem die Stereotypen aus den Serien und Filmen entgegenprallen und uns sensibilisieren, bei den nächsten Binge-Watching-Abenden die dargestellten Figuren genauer unter die Lupe zu nehmen.
Glücklicherweise liefert Klengel in einem Nachwort die Bücher, Serien und Filme, die sie bei ihrer Arbeit inspiriert haben, und die eingefleischte Sehgewohnheiten immer noch aufbrechen können.

Der edition f hat sie zudem ausführlich Fragen zu ihrer Arbeit und ihrer Haltung beantwortet. Nachzulesen ist das Interview hier. Bleibt zu hoffen, dass auf Broadly und später in gedruckter Form noch mehr dieser augenöffnenden Geschichten folgen.

Katja Klengel: Girlsplaining, Reprodukt, 2018, 160 Seiten, ab 14, 18 Euro

Bunt statt eintönig

Willkommen bei der Nummer 20 des Kinderbuchblogger-Adventskalender! Heute könnt Ihr zwei Exemplare des Bilderbuches Vorsicht, roter Wolf! des italienischen Autors und Illustrators Marco Viale gewinnen.

Unter Wölfen

In dem großen quadratischen Buch erzählt Viale von der Stadt der blauen Wölfe, in der alles sehr geordnet und geregelt zugeht. Die Blauen Wölfe hassen Überraschungen, benutzen nur blaue Stifte, pinkeln zu festgelegten Zeiten blauen Pipi und wissen montags schon, was sie sonntags essen werden. Alles ist geregelt, aber auch ziemlich langweilig. 
In diese blaue Gleichförmigkeit bricht eines Tages ein roter Wolf ein, auf einem Fahrrad. Das pfeifende Exemplar bringt Unordnung und zunächst Empörung, denn so viel Rot haben die blauen Wölfe noch nie gesehen. Ist so etwas überhaupt erlaubt? Die Blauen Wölfe fahren alles auf, was gegen diesen Eindringling hilft, Taucher, Panzer, Krankenwagen, sie konsultieren die Gesetze und Verkehrsverordnungen. Doch sie finden nichts, was das Rot und das Pfeifen und das Dasein des Roten Wolfes verbieten kann.
Und auf einmal merken die Blauen Wölfe, wie schön es sein kann, mal etwas Zeit zu verbummeln, nach Lust und Laune zu pfeifen, und auch mal zu lächeln. Auf einmal hat kaum noch ein Blauer Wolf Bauchschmerzen.

Ein Hoch auf die Lebenslust

Ich durfte dieses wunderbare Buch übersetzen und bin immer noch total hingerissen, mit wie wenigen Sätzen und Zeichnungen Viale es schafft, ganz jungen Bilderbuchschauenden zu verdeutlichen, wie schön Abwechslung und Diversität im Leben sind! Klar, mag es einfach sein, wenn alles geregelt ist und man immer weiß, was einen erwartet. Doch Spaß macht es zumeist nicht und Bauchschmerzen können sehr schmerzhaft sein. Die Erinnerung bzw. die offene Aufforderung an uns alle, dass es schöner, lustiger und lebenswerter ist, wenn wir nicht alle gleich sind und im Takt marschieren, kann man Kindern eigentlich nicht früh genug offenbaren.
Gerade in Zeiten, in denen Grenzen geschlossen, Anderes und Fremdes ausgeschlossen und mit hasserfüllten Worten abgelehnt wird, in Zeiten, in denen die verbale und die konkrete Gewalt wieder zunehmen, müssen wir uns dagegen stellen, dass Blaue Wölfe uns beherrschen. Da mag der Titel Vorsicht, roter Wolf! die Leser_innen zwar fast in die Irre leiten, denn nicht den roten Wolf sollten wir fürchten. Doch hinter dieser nur scheinbar schlichten Bilderbuchgeschichte lauert politisches Potential – alle weiteren Assoziationen dürft Ihr nun gern selbst ergänzen …

Klare Farben, tanzende Buchstaben

Viale jedenfalls schafft es, nur mit den Farben Blau, Rot und Gelb, mit zum Teil geschwungenen Zeilen, aus der Reihe tanzenden Buchstaben und kleinen Details bei den Betrachter_innen Welten zu eröffnen, die über die Seiten dieses Buches hinausgehen und die heutzutage wohl wichtiger sind denn je.

Falls Ihr mit diesem Buch noch mehr Vielfalt und Buntheit in die Regale Eurer Kinder bringen wollt, schreibt bis zum 21.12.2018, 24 Uhr, hier unten einen Kommentar, wie Ihr die Vielfalt feiert. 
Ich werde dann aus allen Kommentaren zwei Gewinner_innen auslosen.

Viel Glück!

Noch bis heute Abend 23.59 Uhr könnt Ihr bei Mint & Malve Mathilda und Herr Mond gewinnen, und morgen öffnet dann Kids & Cats das nächste Türchen.

Marco Viale: Vorsicht, roter Wolf!, Übersetzung: Ulrike Schimming, Sauerländer, 2018, 36 Seiten, ab 4, 16,99 Euro

Teilnahme an der Verlosung ab 18 Jahren. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinner_innen werden per E-Mail informiert und hier und auf Facebook bekannt gegeben. Der Versand erfolgt nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. 

Update am 22.12.2018:

Liebe Teilnehmerinnen,

herzlichen Dank für Eure zahlreichen Kommentare! Es war mir ein Fest und es freut mich ungemein, dass Vielfalt hier so groß geschrieben wird. 
Der Zufallsgenerator hat nun die zwei Gewinnerinnen ausgewählt: Mary Lou und Karin bekommen in den Tagen nach Weihnachten dann je ein Exemplar von „Vorsicht, roter Wolf!“ zugeschickt. Die beiden haben gerade eine E-Mail von mir bekommen.

Euch allen wünsche ich nun entspannte Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Möge es für uns alle vielfältig, bunt und lebensfroh werden!

Liebe Grüße

ulrike

 

 

Eine behutsame Annäherung an den Holocaust

Vor ein paar Tagen veröffentlichte CNN eine Studie über die Kenntnis des Holocaust in Europa. Das Ergebnis ist schlichtweg erschreckend. Ein Drittel der jungen Befragten gab an, nichts oder wenig über die systematische Vernichtung der Juden während der Nazi-Zeit zu wissen. Ich frage mich, wie das sein kann, da dieses Kapitel der deutschen Geschichte eigentlich im Schulunterricht durchgenommen wird. Doch scheinbar reichen ein paar Stunden im stressigen Schulalltag nicht aus, um nachhaltig aufzuklären. Ich kann nur vermuten, dass man Kinder schon viel früher und kontinuierlicher für diese Geschehnissen sensibilisieren sollte. Doch wie bringt man Kindern den Holocaust näher, ohne sie zu traumatisieren? Wann kann man damit anfangen, sie mit dem dunkelsten Kapitel Deutscher Geschichte bekannt zu machen?

Bis jetzt hatte ich nie eine Antwort darauf – war aber auch noch nie in der Situation, es tun zu müssen. Doch meine Nichte wächst heran und bekommt von unserer Welt sehr viel mit, so wie es für Kinder eben üblich ist.
Dank Myriam Halberstam vom Ariella Verlag bin ich nun auf eine Geschichte zu diesem Thema gestoßen, die für Kinder ab 9 Jahren geeignet ist.

Marishas Leben während der Nazi-Besetzung

In dem Buch Marisha – Das Mädchen aus dem Fass erzählt Autorin Gabriele Hannemann einfühlsam die Kindheitserlebnisse von Malka Rosenthal nach.
Malka, die in den 1930er Jahren in Polen in einer bürgerlichen Familie behütet aufwuchs, ihren Hund und den großen Garten des Hauses liebte, muss nach dem Einmarsch der Deutschen ins Ghetto ziehen. Schlagartig verändert sich das Leben der damals Siebenjährigen. Sie erlebt die Enge und die Entbehrungen im Ghetto, den Hunger und wie die jüdischen Mitbürger gezwungen werden, den Davidstern an ihrer Kleidung zu tragen. Nicht alles versteht das Mädchen, doch sie bekommt mit, wie die deutschen Soldaten im Hof des Hauses auch Kinder, darunter ihren kleinen Bruder, erschießen.
Die Mutter trichtert Marisha immer wieder ein, dass sie sich die Adresse der Tante Leah in Israel merken soll. Und wie ein Mantra wiederholt das Mädchen diese immer wieder – was unter anderem auch zu ihrer späteren Rettung beiträgt.

Doch bis es so weit ist, flüchtet die kleine Familie aus dem Ghetto, versucht, sich zu verstecken. Doch erst opfert sich die Mutter für Mann und Tochter, dann muss auch der Vater sich von Marisha trennen. Er lässt sie bei Freunden zurück, die nur eine Person verstecken können. Im Kuhstall, in einem eingegrabenen Fass, findet Marisha eine dunkle, aber sichere Zuflucht und übersteht dort die Kriegsjahre, wächst zur Teenagerin heran.
Als schließlich ein Brief des Vaters sie erreicht, macht Marisha sich auf dem Schiff „Exodus“ auf einen langen Weg Richtung Israel.

Kindgerecht aufbereitet

Marishas Geschichte, in hautnah zu erlebender Ich-Perspektive geschrieben, berührt die Leser_innen ungemein. Sie zeigt eindrücklich, wie sehr Kinder im Krieg und auf langen Wegen in eine neue Heimat leiden. Nicht nur heute, sondern vermutlich seit Urzeiten, seit der Mensch Krieg führt und andere vertreibt. Hier jedoch bekommen kleine Leser_innen erstes Wissen über den Holocaust, ohne von seiner – selbst für Erwachsene kaum zu ertragenden – Grausamkeit überwältigt zu werden. Die Vernichtungslager werden nicht erwähnt, das Grauen schimmert dennoch durch, weshalb man die jungen Leser_innen mit dieser Lektüre nicht allein lassen sollte.
Marisha wird während des Lesens jedoch zu einer Kameradin, mit der man mitleidet und sich am Ende unglaublich mit ihr freut, dass sie den Weg zu ihrer Tante bewältigt und ein neues Leben in Israel beginnen kann.
Gleichzeitig wird deutlich, welche Schuld sich die Deutschen im zweiten Weltkrieg aufgeladen haben, die nicht vergessen werden darf.
Eindrucksvoll trotz all der Schrecken, die Marisha erleben musste, ist jedoch ihr unerschütterlicher Lebenswille und ihre Lebensfreude. Hätte sie die nicht gehabt, wer weiß, was dann geschehen wäre. So jedoch wird zu zu einem Vorbild für die heutigen Kinder und zu einer Mahnung, dass so etwas keinem Kind mehr passieren darf.

Authentische Erfahrungen

Die Geschichte ist mit zarten Illustrationen von Inbal Leitner versehen, aber auch mit Fotos aus dem Leben von Malka Rosenthal. Die schwarzweißen Aufnahmen stehen in einem angenehmen Kontrast zu den farbigen Bildern und verdeutlichen den Leser_innen einmal mehr, dass es sich hierbei nicht um eine erfundene Geschichte handelt, sondern um authentische Erfahrungen eines Mädchens, die heute über 80 Jahre alt ist, also die (Ur-)Großmutter der Leserschaft sein könnte.

Ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen des jüdischen Lebens rundet das Buch ab. Handreichungen für Lehrer sind in Planung, um mit Schülern der 4. oder 5. Klasse zu diesem Buch arbeiten zu können.
Ich habe die Hoffnung, dass Kinder, die mit solch einfühlsamen Geschichten an den Holocaust herangeführt werden, zum einen mehr darüber wissen wollen, zum anderen später nicht sagen werden, sie hätten nichts davon gewusst.

Gabriele Hannemann: Marisha. Das Mädchen aus dem Fass, Illustrationen: Inbal Leitner, Ariella Verlag, 2015, 80 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

Der Adventskalender der Kinderbuchblogs 2018

AdventskalenderNach dem schönen Erfolg im vergangenen Jahr gibt es auch in dieser Vorweihnachtszeit wieder einen Adventskalender der Kinderbuchblogs!
Iniitiert von Anna Herrmann von Kinderbuch-Detektive und wundervoll illustriert von Constanze von Kitzing könnt Ihr vom 1. bis 24. Dezember jeden Tag ein virtuelles Türchen öffnen und mit etwas Glück ein Buch gewinnen.

Freut Euch auf ein rotes Paket, einen roten Wolf, einen Weihnachtsteufel, Wort-Akrobaten, süße Hasen, Back- und Bastelspaß, erfinderische Mäuse, einen Wunschbuchladen und viele andere herzerwärmende Geschichten.

Am einfachsten findet Ihr die jeweiligen Einträge, wenn Ihr dem Hashtag #kinderbuchadvent auf Facebook, Twitter und Instagram folgt.
Oder Ihr schaut hier nach, wann sich wo ein Türchen öffnet:
1.12. Kinderbuch-Detektive
2.12. Familienbücherei 
3.12. Papillionis liest
4.12. Kids & Cats
5.12. Bücherwelt von Corni Holmes
6.12. Buchverzückt
7.12. Favolina & Junior
8.12. Papillionis liest
9.12. Lütte Lotte
10.12. Geschichtenwolke
11.12. Mint & Malve
12.12. Kinderbuch-Fuchs
13.12. Buchwegweiser
14.12. Brigittes Kinderbuchblog
15.12. Juli liest
16.12. Buchverzückt
17.12. Lütte Lotte
18.12. Buchverzückt
19.12. Mint & Malve
20.12. Letteraturen – also hier an dieser Stelle …
21.12. Kids & Cats
22.12. Kinderbuch-Detektive
23.12. Favolina & Junior
24.12. Familienbücherei

Auf diesen Blogs findet Ihr in den kommenden Wochen Weihnachtliches, Lustiges, Besinnliches und viel zum Schauen und Staunen. Wir alle freuen uns auf Euch und Eure Kommentare! Macht mit, sagt es weiter, teilt es und habt Spaß!
Viel Glück und eine buchtastische Weihnachtszeit!

Coole Comics für Kids

Wenn Wünsche wahr werden … so träumen wir im Leben von möglichen und unmöglichen Dingen. Manchmal rühren wir keinen Finger, um bei der Wahrwerdung mitzuhelfen, manchmal setzen wir Himmel und Hölle in Bewegung – und genau das macht Toni in dem gleichnamigen Comic von Philip Wächter.

Denn Toni wünscht sich nichts sehnlicher als die coolen Blink-Funktion-Fußballtreter seines Idols Renato Flash, für schlappe 80 Euro. Die Diskussion mit Mama um neue Fußballschuhe läuft jedoch ins Leere, Opa ist mehr an seiner neuen Lesebrille interessiert und als Mama zu allem Überfluss auch noch beschließt, Weihnachten ohne Geschenke zu feiern, muss Toni aktiv werden. Und Geld verdienen. Voller Elan macht er sich ans Werk. Er verteilt Flyer, führt den Hund der Nachbarin aus, veranstaltet einen Flohmarkt und versucht es mit Straßenmusik.
Doch bei allem lauern die Tücken: Die Kumpels, die beim Flyerverteilen helfen, haben hinterher Hunger. So geht der Verdienst bei einer Runde Pommes drauf, das Strafgeld für den nicht-beseitigten Hundehaufen (weil Toni die Gassitüte zerplatzen ließ) reduziert den Stundenlohn, lustige Songs über Chinesen mit Kontrabässen bringen in der Weihnachtszeit auch nicht viel ein … Mit anderen Worten: Toni lernt eine Menge über Wünsche, Arbeiten und die Unvorhersehbarkeiten des Lebens – als er nämlich ein richtige nettes Mädchen kennenlernt.

Auch dass Betteln keine Alternative ist, um an Geld zu kommen, macht ihm Mama unmissverständlich klar. Stecken doch hinter jedem Menschen, der auf der Straße sitzt, dramatische und traurige Schicksale.

Charmant erzählt, luftig gezeichnet bringt Philip Wächter jungen Comic-Lesenden wichtige Lektionen des Lebens, des Konsums und des Miteinanders näher. Nicht alle Wünsche können einfach so erfüllt werden, schon gar nicht, wenn die Eltern es nicht so dicke habe, und selbst wenn – sobald man sich selbst für etwas ins Zeug legt, Hindernisse überwindet und sein Möglichstes tut, steigt die Wertschätzung für das Erlangte mächtig. Und das gilt dann nicht nur für neue Schuhe, sondern für alle Ziele, die man sich setzt, und auch für die Menschen, die sich für solche Ziele einsetzen.

Das darüberhinaus die menschlichen Begegnungen – das spontane Fußballspiel, die Suche nach der richtigen Mütze – der viel bereicherndere Aspekt im Leben ist, zeigt sehr eindrücklich, dass Geld allein eben doch nicht glücklich macht. Und für diese Botschaft ist kein Kind zu klein.

Um Geld geht es auch bei Akissi von Marguerite Abouet und Mathieu Sapin so gar nicht, um Wünsche hingegen schon.

Akissi lebt zusammen mit ihren Eltern und dem größeren Bruder Fofana in einem Dorf der Elfenbeinküste. Sie spielt gern Fußball und lässt sich dabei und ganz generell von den Jungs nicht einschüchtern. Zudem liebt sie Bonbons und Kino und hätte gern eine kleine Schwester oder wenigstens ein Haustier.

In neun Geschichten entfalten Abouet und Sapin ein alltägliches Kinderleben in Afrika – jenseits von Krieg, Gewalt und Hunger. Zwar gibt es durchaus Dinge, die natürlich anders sind als in Europa – die Lehrer züchtigen die Schüler, Mäuse huschen durchs Haus, fremde Erwachsene werden respektvoll Onkel und Tante genannt – aber die Kinder sind genauso frech, verspielt, lebhaft, übermütig und quirlig wie überall auf der Welt. Sie verehren Superhelden, glotzen heimlich Fernsehen, haben Läuse, ärgern sich gegenseitig und bringen die Erwachsenen manchmal zur Weißglut. Das ist liebenswert und lustig, und trotz aller Unterschiede auch sehr vertraut.

Muss ich hier darauf eingehen, dass bei Akissi natürlich alle Figuren dunkelhäutig sind? Die Geschichten spielen an der Elfenbeinküste, also ist das nur logisch. Hiesigen Kindern wird es hoffentlich egal sein – zumal mit diesem Buch endlich einmal die Kinder mit afrikanischen Wurzeln richtige Identifikationsmöglichkeiten bekommen, etwas, was in den rein weißen Produktionen für diese Zielgruppe immer noch viel zu selten vorkommt. Werden diese und Kinder aus anderen Regionen der Welt eigentlich als Zielgruppe mitgedacht? Es scheint nicht so … und sollte sich schleunigst ändern!

Denn neben der Erinnerung, dass Kinder überall auf der Welt ähnlich ticken, ist Akissi eine quietschbunte Aufforderung an alle Büchermachende noch mal genauer über kommende Leser_innen nachzudenken. Wir sind schon lange keine homogene Gesellschaft mehr – waren es vermutlich nie – und das sollte sich in den Büchern, die wir lesen noch sehr viel mehr spiegeln. Und im Bilder- und Kinderbuchbereich nicht immer über die Aushilfslösung unterschiedlichster Tierfiguren. Was im Genre der Tierbücher geht, sollte doch für die Produktion von Büchern mit menschlichen Heldinnen eigentlich selbstverständlich sein.

Philip Waechter: Toni und alles nur wegen Renato Flash, Beltz & Gelberg, 2018, 64 Seiten, ab 6, 14,95 Euro

Marguerite Abouet/Mathieu Sapin: Akissi – Auf die Katzen, fertig, los!, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Reprodukt, 2018, 96 Seiten, ab 8, 18 Euro