Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Brüderlicher Beistand

gonzoSeit einiger Zeit stehen die Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 fest, worauf ich hier bis jetzt noch gar nicht eingegangen bin. Meine Mitbloggerinnen und ich haben natürlich nicht alle ausgewählten Bücher vorgestellt, aber für dieses Mal doch eine ganz gute „Trefferquote“ erreicht. Von den 28 nominierten Titeln haben wir immerhin sechs besprochen (Thé Tjong-Khings Hieronymus, Taran Björnstads Der Krokodildieb, Anna Woltz‘ Gips, Que Du Luus Im Jahr des Affen, Sarah Crossans Eins und Steven Herricks Wir beide wussten, es war was passiert.
Diesen und den anderen Nominierten sei hier – am Welttag des Buches – mit Verspätung herzlich gratuliert! Ich bin gespannt, wie sich die Jurys  dieses Jahr entscheiden.

Die Nominiertenliste ist für mich dann neben dieser Rückschau auch immer ein Anreiz, das nachzuholen, was ich im vergangenen Jahr versäumt habe. Gerade habe ich Dave Cousins Warten auf Gonzo, in der wunderbaren Übersetzung von Anne Brauner, beendet – und bin noch ganz selig berauscht.

Cousins, von dem ich vor zwei Jahren 15 kopflose Tage besprochen habe, widmet sich in seinem Roman, der in England bereits 2012 erschienen ist, dem Thema der Teenie-Schwangerschaft. Allerdings macht er das nicht auf voyeuristisch-betroffenheits-heischend-anklagende Art, sondern auf seine ganz spezielle, überaus komisch-liebenswerte Weise. Er wählt für dieses doch sehr weibliche Thema nämlich die Perspektive des 15-jährigen Ich-Erzählers Oz. Seines Zeichens Bruder von Meg, die mit 17 ein Kind von ihrem Ex-Freund erwartet.

Oz ist das, was man landläufig wohl eher als Loser bezeichnen würde. An der neuen Schule – er ist gerade mit seiner Familie irgendwo aufs Land in Nordengland gezogen – fällt er sofort auf, weil er den Rucksack mit der Schmutzunterwäsche seiner Schwester dabei hat, weswegen ihm umgehend der Spitzname „Slips“ verpasst wird. Davon ist nur schwer wieder runterzukommen, vor allem, wenn man sich dann mit dem Obernerd der Schule anfreundet, der auf Fantasy und Rollenspiele steht, sich die angebliche Schulpsychopatin zur Feindin macht und irgendwann das Handy mit all seiner Lieblingsmusik und kompromittierenden Fotos vom Obernerd verliert. Das pubertäre Schulelend nimmt unaufhaltsam seinen Lauf – so dass man Warten auf Gonzo auf den ersten Seiten zunächst für einen witzigen, aber relativ gewöhnlichen Schulroman halten könnte.

Doch Cousins Roman ist alles anderes als das: Als Oz per Zufall herausfindet, dass seine Schwester Meg schwanger ist, bekommt die Erzählung einen soghaften Drive. Denn Oz wundert sich zwar über seine Schwester, aber er verurteilt sie nicht. Viel mehr fängt er an, in seinen Gedanken mit dem Ungeborenen, das er Gonzo nennt zu kommunizieren. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie schildert Oz die Entwicklung in seinem Leben und dem seiner Familie, die mit dem kommenden Neuzuwachs einhergeht. Das sind keine dramatisch-überzogenen Ereignisse, doch allein, dass Meg eine Abtreibung plant, macht Oz schon ziemlich fertig.

Cousin hat hier einen Roman vorgelegt, der sich dadurch absetzt, dass er nicht die Perspektive und das Innenleben eines schwangeren Teenagers offenlegt und diskutiert. Gerade dadurch, dass er den frechen jüngeren Bruder in den Fokus rückt, bekommt die Geschichte eine angenehme Leichtigkeit, die aber dennoch die Schwierigkeiten einer Teenie-Schwangerschaft spiegelt. Meg nimmt das Ganze mitnichten auf die leichte Schulter. Ihr Hadern und ihre Verzweiflung bekommt Oz unmittelbar mit – und steht seiner Schwester dabei auf aller großartigste Weise zur Seite.Durch seine lakonisch-ironischen Kommentare trägt er schließlich zu Megs endgültiger Entscheidung bei.

Ohne erhobenen Zeigefinger oder Besserwisserei feiert Cousins das Leben. Er stellt sich ohne wenn und aber hinter seine jugendlichen Helden, so dass man als Leserin sowohl Oz, als auch Meg ins Herz schließt und beiden sagen möchten, dass sie das alles echt cool meistern.

Das Einzige, was ich mich nach der Lektüre gefragt habe, ist, wer dieses Buch wohl liest? Es ist zielgruppentechnisch ein echtes Rätsel: 15-jährige Jungs werden sich wohl kaum freiwillig für schwangere Mädchen interessieren, schwangere Teenager hingegen werden ganz andere Sorgen haben und in ihrer Lage vermutlich nicht noch ein Buch über eine Teenie-Schwangerschaft lesen, und schon gar nicht eins, das aus Sicht eines frechen Bruders erzählt ist. Erwachsene, die all diese Problemzeiten lange hinter sich gelassen haben, werden die Geschichte vermutlich lieben. Aber werden sie sie im Jugendbuchbereich auch finden?

Umso großartiger und verdienstvoller finde ich den Mut des Verlages, Warten auf Gonzo herausgebracht zu haben. Durch die Nominierung zum Jugendliteraturpreis in der Sparte Jugendbuch, in der Erwachsene die Wahl treffen, ist jetzt jedenfalls schon mal für die Aufmerksamkeit gesorgt. Und das hat diese Geschichte richtig verdient.

Dave Cousins: Warten auf Gonzo. Jeder kann einen Fehler machen. Um alles zu versauen, muss man ein Genie sein, Freies Geistesleben, 2016, Übersetzung: Anne Brauner, 304 Seiten, ab 12, 19,90 Euro

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Frühjahrslesetage in Hamburg

lutherIn Hamburg gibt es ja so einige Lesefeste, das Harbour Front Literaturfestival, die Lange Nacht der Literatur und Lesefeste der Seiteneinsteiger, allesamt im Herbst. Nun versucht Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, ein neues Leseevent im Frühjahr zu platzieren. Vom 20. bis 26. April 2017 finden die „High Voltage“-Lesetage zum ersten Mal an verschiedenen Orten in der Hansestadt. Zwölf Veranstaltungen soll es insgesamt geben, unterstützt vom Stromnetz Hamburg.

Letzteres erinnert natürlich an die Vattenfall Lesetage, die nach heftiger Kritik wegen Greenwashing und Markenbranding 2013 zum letzten Mal stattfanden. Bereits 2011 gab es die 1. Anti-Vattenfall-Lesung, aus ihr entstanden die Lesetage „Lesen ohne Atomstrom“, die gerade zum 7. Mal stattgefunden haben – allerdings ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit (an mir sind sie komplett vorbei gegangen…). Das lag vielleicht daran, dass nur sieben Lesungen stattfanden, die keine Kinder- und Jugendliteratur beinhalteten.

Anders sieht es bei den High Voltage Lesetagen aus. Die zwölf Veranstaltungen sind zu gleichen Teilen Kinderbüchern und Erwachsenenlektüre gewidmet. Eine ganz wunderbare Aufteilung, wie ich finde. So lesen immer vormittags Maja Nielsen, Ute Wegmann, Joachim Hecker, Uticha Marmon, Arne Rautenberg und Jan von Holleben für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Abends kann man Jostein Gaarder, Clemens Meyer, Sarah Bakewell, Zsuzsa Bánk oder Eva Menasse lauschen.

Zwei Bücher aus dieser kleinen, aber feinen Kinderbuch-Auswahl haben es mir angetan – und wenn ich nicht anderweitig vergeben wäre, würde ich zu den beiden Lesungen gehen. Passend zum Lutherjahr darf der Reformator natürlich nicht fehlen. Maja Nielsen hat ihm in ihrer Reihe „Abenteuer! Maja Nielsen erzählt“ einen Band gewidmet. Sie schildert das Leben von Luther in klar verständlichen Sätzen, erzählt von dem Leben vor 500 Jahren und macht die Zweifel und Ängste Luthers anschaulich, die ihn schließlich dazu brachten, sich gegen die katholische Kirche aufzulehnen. Margot Käßmann, Lutherbotschafterin 2017, liefert in kurzen Statements die heutige Sicht der Evangelischen Kirche zu ihrem Gründungsvater. Auch dies macht ganz gut deutlich, wie sehr eine Kirche und der Glauben auch in heutiger Zeit immer im Wandel sind.
Fotos von Luthers Wirkungsorten, Illustrationen von Anne Bernhardi und die Abbildungen von vielen Gemälden und Stichen zeigen Luther auf vielfältige Art, so dass sich schon für junge Lesende ein differenziertes Bild des Reformators ergibt.

wegmannEinen Tag nach Maja Nielsen liest Ute Wegmann aus ihrem Kinderbuch Dunkelgrün wie das Meer, das mir vergangenes Jahr leider durch die Lappen gegangen ist. Mit umso mehr Freude habe ich die zarte Geschichte von Linn jetzt gelesen.
Die Sommerferien stehen vor der Tür. Linn fährt wie jedes Jahr mit den Eltern nach Holland in ein Schiffshaus am Meer. Doch dieses Mal ist es nicht so schön wie sonst. Papa muss noch mal zurück in die Stadt, wegen der Arbeit. Mama ist sauer. Und auch Linns Ferienfreundin Smilla will dieses Mal gar nichts von ihr wissen.

Linn erkennt, dass auch in den Ferien nicht immer alles schön und unbeschwert ist. Manche Probleme von zu Hause verfolgen einen bis an den Strand. Vor lauter Kummer macht Linn einen langen Spaziergang und wird schließlich von einem heftigen Gewitter überrascht.

Ute Wegmann paart in ihrem Text die sommerliche Ferienhitze mit dem Unbehagen Linns über all die Veränderungen und schafft trotz der Trauer, die Linn empfindet, eine poetische Stimmung. Diese wird von den zarten dunkelgrün und orangen Illustrationen von Birgit Schössow ganz zauberhaft eingefangen. Man ahnt, dass es für Linn noch ein glückliches Ende gibt, auch wenn diese Erfahrung sie ein Stück reifer hat werden lassen.

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die jedoch die wunderbare Bandbreite des neuen Lesefests spiegeln. Möge es für die Macher von High Voltage diesmal keinen Ärger wegen ihres Sponsors geben. Ich werde das jedenfalls verfolgen.

Am 20. April liest Maja Nielsen um 10 Uhr in der Bramfelder Chaussee 130 in Hamburg, im Haus 12 des Betriebshof Stromnetz Hamburg. Ute Wegmann liest am 21. April um 10 Uhr am selben Ort. Der Eintritt kostet jeweils 4 Euro.

Das gesamte Programm der High Voltage Frühjahrslesetage findet sich hier.

Maja Nielsen: Martin Luther. Glaube versetzt Berge, Gerstenberg, 2016, 62 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Ute Wegmann: Dunkelgrün wie das Meer, Illustration: Birgit Schössow, dtv, 2016, 80 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

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Vom preisgekrönten Sinn und Unsinn im Leben

erlbruchDiese Woche läuft in Bologna die Kinderbuchmesse – und jeder Buchmensch, der sich mit Kinder- und Jugendbüchern beschäftigt, ist entweder dort oder beobachtet aus der Ferne die Geschehnisse.

Dieses Jahr habe ich es leider nicht in dieses Geschichten- und Illustrationsparadies geschafft und bekomme die News also nur über die Medien. Eine schöne gab es gestern: Der Illustrator und Kinderbuchautor Wolf Erlbruch ist dieses Jahr mit dem hoch geschätzten und hoch dotierten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) ausgezeichnet worden. Herzlichste Glückwünsche!

Die meisten werden Erlbruch sicherlich mit dem Maulwurf verbinden, der das Dilemma auf seinem Kopf klären will, ich hingegen habe ihn durch zwei andere kleine Bücher kennengelernt.
Seine visuelle Interpretation des Goeth’schen Hexen-Einmal-Eins fasziniert mich immer wieder. So kryptisch wie die Reime des Geheimrats, die einem so sanft von der Zunge gehen und doch keinen eigentlichen Sinn ergeben, so geheimnisvoll sind auch die Collagen, die Erbruch dazugestellt hat. Mechanische Figuren, ein rauchender Seemann mit einem überlangen Boot unter dem Arm, Boxer, eine schöne Frau, eine Gänse-Fünf, der Sensenmann … es ist herrlich. Auf wenigen Seiten gibt es viel zu entdecken, und seien es die Zahlenkolonnen und die französischen Worte in den Papierschnipseln.
Und ganz ohne Sinn füllt sich der Geist des Lesers und Betrachters mit Klang und Bildern. Man fängt an zu träumen und zu staunen. Ganz leicht, ganz schön.

erlbruchDer Gans und dem Sensenmann begegnet man dann in dem Büchlein Ente, Tot und Tulpe wieder, das Erlbruch sowohl als Autor wie als Illustrator geschaffen hat. Das Zwiegespräch, das die Ente (die für mich eher wie eine Gans aussieht) hier auf wenigen Seiten mit dem Gevatter Tod führt, ist so rührend und voller Essenz, dass ich bei jeder Lektüre wieder schlucken muss. Doch ist in dieser Begegnung der beiden auch so viel Tröstliches, dass der Tod am Ende wie ein guter Freund dasteht.

Die philosophische Tiefe, mit der Erlbruch hier über die Allgegenwart des Todes, seines Dazugehörens zum Leben und dem Verschwinden der Welt nach dem Tod hier erzählt, ist meiner Ansicht nach, so auf den Punkt gebracht, dass man sich lange Abhandlungen von Philosophen durchaus schenken kann. Die Seitenhiebe des Todes auf christliche Glaubensüberzeugungen, was den Tod angeht, sprechen mir persönlich aus der Seele. So stößt er im Vorbeigehen auch noch das Nachdenken über den Unterschied zwischen Glauben und Wissen an.

In diesem Meisterwerk verliert der Tod seinen Schrecken. Die Gans hat das große Glück, sanft einzuschlafen. Denn die Grausamkeit des Sterbens bleibt ein Teil des Lebens und kommt in Form von Unfall oder schlimmem Schnupfen. Das ist dann aber eine andere Geschichte. Der Tod hingegen, der der toten Ente eine Tulpe mit auf den letzten Weg gibt, ist ein gutmütiger Geselle.

Ein besseres Trostbuch für kleine und große Menschen ist mir bis jetzt noch nicht untergekommen. Dafür sage ich Danke, Wolf Erlbruch!

Wolf Erlbruch/Johann Wolfgang von Goethe: Das Hexen-Einmal-Eins, Hanser, 2016, 32 Seiten, ab 3, 7,90 Euro

Wolf Erlbruch: Ente, Tod und Tulpe, Kunstmann, 2007, ab 4, 32 Seiten, 14,90 Euro

Das Leben ist eine Heldenreise

BruderFaszinierende Geschichten können manchmal ganz einfach sein: Ein Held macht sich auf den Weg, findet Dinge, die später mal wichtig werden, erledigt Aufgaben, überwindet die Angst, besiegt ein Monster, befreit die Gefangenen und findet die Liebe.

Genau dies wünschen sich die meisten von uns, und genau all dies geschieht in Øyvind Torseters Werk Der siebente Bruder – und das auf so eine charmante und kunstvolle Art, dass es eine Wonne ist, dem Helden, der hier den Namen Hans trägt, bei seinen Abenteuern zu folgen.

Hans ist der jüngste von sieben Prinzen-Brüdern. Sechs schickt der König in die weite Welt, damit sie je eine Prinzessin freien. Ihrem Bruder Hans sollen sie eine Gattin mitbringen. Doch wie es im Märchen so spielt, wird aus diesem Unterfangen nichts. Die Prinzen finden zwar ihre Prinzessinnen, doch auf dem Rückweg begegnen sie einem bösen Troll, der die sechs Liebespaare (die für mich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Picassos Frauen und Minotauren haben) in Stein verwandelt. Der König ist untröstlich, dass seinen Söhne nicht zurückkommen, und so macht sich Hans auf, die Brüder zu retten.

Torseter entfaltet nun eine Graphic Novel, in der sein rundnasiger Held mit den zwei winzigen Hundeohren – auf Norwegisch „Mulegutten“ genannt – auf einem räudigen Klepper durch die Gegend reitet und die Brüder sucht. Er findet dabei ein Saxofon, einen Elefanten und trifft einen Wolf, der ihm das Versteck des Trolls verrät. In der Höhle eines Berges trifft er auf den riesigen Unhold, der ein Mädchen gefangen hält. Vor der Höhe stehen seine versteinerten Brüder. Doch nur wenn Hans das Herz des Trolls zerstört, kann er seine Brüder befreien. Zusammen mit dem Mädchen versucht er, den Troll zu überlisten.

In grafischen Bildern, die eine Mischung aus Zeichnung, Collage und monochromen Farbverläufen sind, schickt Torseter Hans auf eine klassische Heldenreise, die alle Elemente eines Märchens vereint. Gleichzeitig ist diese Reise eine Quest, bei der Hans ähnlich wie in einem Computerspiel, die richtigen Fragen stellen muss, um den korrekten Weg zu finden. Im rechten Moment muss er zu den richtigen Hilfsmitteln greifen und in der Höhle mit ihrem Labyrinth muss er alle möglichen Hindernisse überwinden.

In diese oberflächliche Lesart, mit der Kinder sehr gut etwas anfangen können, mischt sich jedoch für die Erwachsenen sehr rasch die tiefen-psychologische Ebene, auf der wir mit unseren Ängsten und unserem Anspruch ans tägliche Leben konfrontiert werden (die Hans mit dem Satz: „Ich brauch erst mal einen Kaffee“, ironisch konterkariert, als er nicht mehr weiter weiß).
Der Troll mit den Augen, die an Edvard Munchs Der Schrei erinnern, wird zur überwältigenden (Ur-)Angst, die alles lähmt. Und nur der, der sich diesem Monster stellt und dessen Herz zerquetscht, kann endgültig frei sein.
So erstaunt es dann auch nicht, dass das Herz des riesigen Trolls winzig klein ist – die Schwierigkeit liegt also kaum in der Aufgabe, das Herz zu vernichten, sondern viel mehr darin, dieses kleine Ding erst einmal zu finden.

Torseter bringt das psychologische Ringen und Suchen nach der Ursache für das eigene Leiden in dieser Geschichte so großartig und mit jeder Menge Witz – hier gilt das Lob auch der Übersetzerin Maike Dörries, die wunderbar knochentrockene Sätze gebaut hat – auf den Punkt, dass man sie fast als Arbeitsbuch für psychisch Erkrankte empfehlen möchte.
Doch auch ohne schwerwiegende Erkrankung kann jeder Mensch, ob groß oder klein, in Der siebente Bruder seine eigene Welt mit all den großen und kleinen Ängsten und Problemen wiederfinden – und dazu den Mut schöpfen, das Übel ein für alle Mal an der Wurzel zu packen. Man braucht nicht viel dafür: nur den Mut, sich auf die Heldenreise zu begeben.

Øyvind Torseter: Der siebente Bruder oder das Herz im Marmeladenglas, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg, 2017, 120 Seiten, 26 Euro

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Das beste Schlafmittel überhaupt

einschlafenWenn ich sehe, wie schwer es meinem Neffen, 3, fällt einzuschlafen, tut es mir immer irgendwie in der Seele weh. Diese unbändige Lust, den Tag auszudehnen, obwohl die Stimmung im Keller ist, die Kräfte erschöpft sind und die Augen kaum noch offen bleiben. Doch der kleine Herr will partout nicht ins Bett. Eltern kennen das.

Rituale sollen ja helfen. Ich werde meinem Neffen demnächst mal dieses Bilderbuch von Chris Haughton vorlesen – falls ich nicht dabei einschlafe. Denn hier wird viel gegähnt und das ist ja bekanntlich ansteckend. In diesem montessorisch-knallbunten Werk geht die Sonne über dem Wald unter und alle Tiere sind müde, die Mäuse, die Hasen, die Rehe und selbst der große Bär gähnt.
Nur der kleine Bär ist noch nicht müde. Gar nicht. Er will noch ne Runde spielen und fragt also mal bei seinen Freunden, den Mäusen, den Hasen, den Rehen. Nichts zu machen, alle sind zu müde. Und so eine Suche nach Spielkameraden macht ziemlich müde, stellt der kleine Bär fest und gähnt.

Die Pointe ist klar. Alles schläft. Und als Vorlesende hat man  – wie schon angedeutet – unglaublich Mühe, nicht selbst zu gähnen und sich zum Kind ins Bett zu kuscheln und eine Runde zu schlafen.
Dieses eigentlich einfach Konzept, gähnende und schlafende Tiere zu zeigen, funktioniert. Durch die beständige Wiederholung von Gähnen und Schlafen dürfte eigentlich kein Auge offen bleiben.

Farblich und künstlerisch ist Haughtons Gute Nacht allerseits ein Knaller. Pink, Fuchsia, Zitronengelb, Frühlingsgrün treffen mit dunkelblauen Tieren zusammen und sind ein Augenschmaus. Die etwas grob ausgeschnittenen Figuren mit den schlafenden Augen mag man sofort. Sie erinnern ein bisschen an Frederick von Leo Lionni, sind eine wunderbare Hommage an die schlaue Maus. Auch an Eric Carles Kleine Raupe Nimmersatt gibt es eine Andeutung, in Form von geviertelten Seiten, die mit jedem Umblättern breiter werden.

Ich jedenfalls habe mich bereits beim ersten Lesen in den kleinen Bären verliebt und werde diesen Schatz auf meinem Nachttisch deponieren – falls mein Neffe ihn wieder hergibt.

Chris Haughton: Gute Nacht allerseits, Übersetzung: Stephanie Menge, Sauerländer, 2017, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

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Die 17-Jährige in uns

schomburgVor ein paar Tagen stellte Jan Schomburg in Hamburg seinen ersten Roman vor und ließ dabei den Satz fallen, dass in uns allen doch ein 17-Jähriges Mädchen stecke. Der Mann ist 40.

Und trotzdem hat er mit dieser Behauptung nicht ganz Unrecht, wie ich in den Diskussionen nach der Lesung feststellen konnte. Irgendwie fühlen wir uns alle, egal wie alt wir eigentlich sind, drin doch immer noch jung. Mit allem, was dazu gehört.
Genau dieses Gefühl hat Schomburg in seiner Geschichte eingefangen. Darin lässt er die 17-jährige Johanna erzählen, die mit Boris befreundet ist, gut befreundet, aber nicht seine Freundin ist. Boris‘ Freundin heißt Ana-Clara und kommt aus Portugal.

Johanna und Boris machen ziemlich alltägliche Dinge zusammen, eine Radtour an die Nordsee, eine Studienreise nach Barcelona, sie gehen tanzen und Döner essen, in einem See schwimmen. Doch sie küssen sich nie. Johanna konstatiert das mit einem gewissen Befremden. Sie beobachtet die Dinge um sich herum sehr genau, hat Mitleid mit gewissen kläglichen Figuren, kann aber auch nicht alles durchblicken.

Warum hält der eine Mitschüler auf der Studienfahrt einen anderen wie einen Sklaven? Warum wird Boris in der Disco verprügelt und später stellt sich der Schläger im Döner-Laden als der größte Spießer heraus? Warum schaut Ana-Clara so stumpf vor sich hin?
Manchmal begibt sich Johanna ganz angstfrei und neugierig in neue Situationen, später wundert sie sich wieder über sich selbst. Ein Ahnung von Unheil liegt über allem. Dann verschwindet Boris.

Schomburg erzählt in vielen Szenen von vielen Dingen, die nicht passieren. Und liefert damit einen rätselhaften und gleichzeitig faszinierenden Coming-of-Age-Roman, in dem sich vieles um die Machtspielchen in unserem Alltag dreht, in der Familie zwischen dem eiskalten Vater und dem Sohn, in der Klasse zwischen den Mitschülern, auf den Tanzflächen von angesagten Clubs.
Johanna, die ja alles aus ihrer Sicht erzählt, erkennt vieles davon, doch sie urteilt nicht. Sie probiert aus. Sie ist noch nicht wie wir erwachsen und festgelegt, sondern offen für die Möglichkeiten des Lebens – und landet irgendwann mit Ana-Clara im Bett.

Vieles an der Geschichte von Johanna, Boris und Ana-Clara ist konstruiert. Manches kann ich gar nicht richtig einschätzen, beispielsweise die gewollt-verwirrende Anordnung der Szenen, die nicht chronologisch ist, sondern bunt durcheinander. Sicher, chronologisches kann langweilig wirken, durch dieses Hin und Her in den Zeiten und Abläufen baut Schomburg natürlich eine gehörige Portion Suspense auf. Trotzdem frage ich mich, ob  mehr dahinter stecken kann.
Schomburg ist Filmemacher und Drehbuchautor, und genau das merkt man auch seinem Text an: Mit relativ schnellen Schnitten erzählt er sehr bildlich von seinen drei Helden. Als Leser schaut man fast mehr, als das man liest. Das erzeugt einen Sog, der einen durch die Geschichte trägt, die dann aber auch viele Fragen offen lässt. Und das ist schon gut – und schreit schon förmlich nach einer Arthaus-Verfilmung.

Denn das Leben liefert uns nicht immer klare Antworten, sondern fordert uns immer wieder auf, uns selbst in Frage zu stellen, so wie Johanna es beständig macht. Sie erinnert uns, dass wir alle mal 17 waren und mit Neugierde und Hoffnung in diese Welt geschaut haben. Schomburg weckt diese 17-Jährige in uns tatsächlich wieder auf.

Seine Geschichte, die im Erwachsenenprogramm von dtv erscheint, ist trotz seiner jugendlichen Helden kein Jugendbuch in dem Sinne, wie wir sie hier auf dieser Plattform sonst immer vorstellen. Es ist für mich aber ein Roman, der Jugendlichen, die genug von reinen Jugendbüchern haben, den Weg in die deutsche Gegenwartsliteratur eben kann. Schomburgs Sprache ist jugendlich und rotzig genug, um zu fesseln, die Geschichte selbst so geheimnisvoll und vielschichtig, dass sie lange nachhallt und man über viele Aspekte diskutieren und nachdenken kann. Und das finde ich ja ganz fein.

Jan Schomburg: Das Licht und die Geräusche, dtv, 2017, 256 Seiten, 20 Euro

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Der Lebenssinn der Küchenschabe

EisnerHeute würde einer der größten Comic-Künstler und Schöpfer der Graphic Novel seinen 100. Geburtstag feiern: Will Eisner.
Das gebührend zu feiern, hat der Carlsen Verlag Eisners Meisterwerk Ein Vertrag mit Gott nun als brikettdickes Paperback neu herausgebracht.

Mir ist Eisner Mitte der 90er Jahre zum ersten Mal begegnet, als ich über italienische Fotoromane meine Dissertation schrieb und irgendwann merkte, dass die Ähnlichkeit von gezeichneten und fotografierten Bildergeschichten einfach nicht zu leugnen war. So vertiefte ich mich in Eisners theoretisches Werk Mit Bildern erzählen, das dieser Tage unter dem Titel Comics als erzählende Kunst ebenfalls bei Carlsen neu herauskommt. Für das Verständnis, wie Comics und Graphic Novels funktionieren, wie mit Panels, Schriften und natürlich der Darstellung menschlicher Regung erzählt wird, ist dieses Grundlagenwerk immer noch unabdingbar und zeitlos.

Was mir bei meiner Forschung damals einfach durchgegangen ist, war allerdings Ein Vertrag mit Gott. Ein gute Gelegenheit, das Verpasste endlich mal nachzuholen. Auf über 500 Seiten entfaltet Eisner ein Panoptikum des Lebens in der Bronx in den 20er und 30er Jahren. Er erzählt von den Bewohnern in einem Mietshaus der fiktiven Dropsie Avenue, von ihren alltäglichen Sorgen, ihren Wandlungen, von verpassten Chancen, vom Ver- und Entlieben, von der Suche nach Sinn und dem großen Geld, das letztendlich doch nicht glücklich macht. Es sind die universellen Themen des menschlichen Daseins, die Eisner in dramatisch ausgeleuchtete Panels zeichnet. Die Figuren stellt er realistisch, fast schon brutal hässlich dar. Er beschönigt nichts, sondern macht deutlich, dass das Leben kein Ponyhof ist und vor allem das Zusammenleben zwischen Männern und Frauen, Jung und Alt, Arm und Reich von Konflikten aller Art geprägt ist.

EisnerIm letzten Teil der Graphic Novel macht Eisner die Dropsie Avenue selbst zur Hauptdarstellerin und porträtiert sie von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, als in der Bronx noch Bauernhöfe standen und der nächste Nachbar weit entfernt auf der anderen Seite des Feldes lebte. Nach und nach werden jedoch immer mehr Häuser gebaut, Menschen aus anderen Ländern ziehen her, die Holländer legen sich mit den Engländern an, diese wiederum wollen von den Iren nichts wissen. Noch mehr Häuser entstehen, Katholiken wohnen neben Juden. Das Viertel erlebt den Aufschwung, eine U-Bahn soll gebaut werden, noch mehr Menschen ziehen her, noch mehr Nationalitäten. Die ersten fühlen sich nicht mehr wohl oder sicher, wittern den Abstieg und ziehen weg. Verfall ist die Folge. Erste Mietskasernen entstehen, Prostitution, Gewalt, Mafia breiten sich aus. Iren kämpfen gegen Italiener. Spekulanten bereichern sich. Noch mehr Mietshäuser wachsen aus dem Boden, das Gesicht der Dropsie Avenue verändert sich. Das Leben der Menschen kaum.

Dieses Porträt einer Straße – man könnte es auch Aufstieg und Fall der Dropsie Ave nennen – ist so faszinierend und zeitlos, dass man sich mit jeder Seite und mit jedem Panel an die Entwicklungen in der eigenen Stadt erinnert. Das Auf und Ab des Lebens, den Kreislauf von Geburt bis Tod bringt Eisner in so universell gültigen Bildern auf den Punkt, dass man trotz der Dramatik und den menschlichen Schicksalen sich geborgen fühlt. Denn man findet sich in diesen vielen kleinen Geschichten und Episoden wieder, fühlt sich ertappt bei seinen eigenen Vorurteilen, gerät ins Träumen, wenn man dem eigenen Elend entfliehen will, schöpft Hoffnung, dass das tatsächlich möglich ist. Man ist gerührt, wenn die Liebe sich ihren Weg durch die Backstein-Hinterhöfe bahnt, über Religions- und Nationalitätsgrenzen hinweg.

So ist Will Eisners Meisterwerk in doppelter Hinsicht eine Bereicherung: Er zeigt in seinem 1978 entstandenen Werk, was die Graphic Novel ausmacht, was sie kann, wie literarisch Bild und Text zusammenarbeiten und profunde Geschichten erzählen können. Bereit in den 30er Jahren hatte er, der Meister des Comic-Strips und des Superhelden-Comics, den Traum, das literarische Potential des Mediums unter Beweis zu stellen. Damals hat niemand auf ihn hören wollen. Erst 40 Jahr später gelang es ihm, seinen Traum zu verwirklichen.
Zudem bringt er die Condition humaine in all ihren Facetten so auf den Punkt, dass man sich auf das Abenteuer Leben noch mal so gern einlässt. Eisner zeigt wie absurd die Feindschaft zwischen den Nationen und den Religionen ist. Die menschliche Natur macht bekanntlich keine Unterschiede, wenn es um die Grundbedürfnisse des Lebens geht. Bequem eingerichtet in unseren Filterblasen vergessen wir das viel zu häufig.

Vor Will Eisner kann ich mich nach dieser großartigen Lektüre nur noch mit absoluter Hochachtung und Bewunderung verneigen!

Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten, Übersetzung: Carl Weissner, Carlsen, 2017, 528 Seiten, 19,99 Euro

Will Eisner: Comic als erzählende Kunst. Grundlagen und Prinzipien, Carlsen, 2017, 176 Seiten, 19,99 Euro

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Frechheit siegt

hexenfeeGut, hier muss ich von vornherein zugeben, dass ich parteiisch bin. Denn seit ich vor anderthalb Jahren das Bilderbuch Der goldene Käfig von Anna Castagnoli mit den Illustrationen von Carll Cneut übersetzt habe, bin ich in die Bilderwelten des Belgiers verliebt.

Nun hat Cneut die Geschichte der Hexenfee, aus der Feder von Brigitte Minne und frech neuübersetzt von Rolf Erdorf, ein weiteres Mal illustriert. Eine erste Version ist in Belgien bereits 1999 erschienen, 2006 von Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt und hier mittlerweile vergriffen.

Die Hexenfee erzählt von dem Feenmädchen Rosmarinchen, die so gar keine Lust hat, lieb und ordentlich zu sein, wie es sich für ein Fee gehört. Den Zauberstab, den sie zum Geburtstag bekommt, findet sie doof. Rollschuhe hätte sie lieber und überhaupt wäre sie viel lieber eine Hexe. Die dürfen sich schmutzig machen und mit einem Boot über den Bach fahren.
Keine der Feen kann Rosmarinchen überzeugen, dass Hexen gemeine Biester sind. Die kleine Fee zieht in den Hexenwald, und dort erfüllen sich ihre Wünsche vom Rollschuhlaufen und Boot fahren. Und das Fliegen auf einem Besen lernt sie auch noch.
Doch Rosmarinchens Mama vermisst die Tochter und folgt ihr in den Hexenwald. Und lernt Erstaunliches.

Minne zeigt mit dem Märchen Hexenfee, dass man im Leben nicht immer das eine oder das andere sein muss, sondern mehreres in sich vereinen kann. Sie zeigt, dass Mädchen nicht immer die brave Fee sein müssen, sondern dass die Frechheit der Hexen Spaß machen, das Leben bereichern und auch Eltern zum Umdenken bringen kann. Hier wird den Mädchen, die auch heute noch viel zu oft in überkommene Rollenklischees gepresst werden, der Rücken gestärkt, sich gegen elterliche Vorgaben aufzulehnen, wenn sie in sich den Wunsch nach etwas anderem verspüren.

Der Illustrator Cneut zeigt die Feenmädchen zunächst in einem altrosa Luftschloss, mit den typischen cneutschen Spitzhüten, auch diese in diversen Rosa-Tönen. Im Kontrast dazu entwirft er einen tiefschwarzen Hexenwald und düstere Hexenhüte. Doch für Rosmarinchen geht genau zwischen den schwarzen Blättern ihr Traum in Erfüllung, in Form eines schier unendlich roten Blumenmeers.
Und mit jeder Seite wird der dunkle Wald auf den mysteriösen Bildern immer lichter, Rosmarinchens Mama gesellt sich zur rebellischen Tochter, die Hexen stellen sich als nette Gesellen heraus, und die Welten von Feen und Hexen vermischen sich. Als Hexenfee lebt Rosmarinchen nun in beiden und ist glücklich. Ihr Mut, ihre bekannte Welt zugunsten des unbekannten Waldes aufzugeben, wird zum großen Vorbild, dem die kleinen Leserinnen möglicherweise gern folgen.

Die Illustrationen von Carll Cneut sind – wie in Der goldene Käfig – großartige Kunstwerke, an denen man sich nicht satt sehen kann, deren Tiefe man sich erst nach wiederholtem Betrachten erschließt, über die man trotzdem rätseln kann: Was sollen die vielen spitznasigen und spitzhütigen Köpfe, die oftmals wie Männer aussehen, aber doch auch Frauen sein sollen, dem Betrachter sagen? Jede_r Betrachter_in wird ihre/seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Rosmarinchen in ihren roten Kniestrümpfen und dem altrosa Kleid, in dessen Farbe sich schon das Schwarz des Hexenwaldes mischt, denn es ist kein reines Rosa und erst recht kein Pink, reitet so selbstbewusst auf ihrem Besen, dass man trotz schwarzem Blättergewirr dennoch die Gewissheit hat, dass sie in beiden Welten unbeirrt ihren Weg  finden wird.
Genau dies wünscht man es sich für alle kleine Mädchen, die noch glauben, Fee zu sein wäre das Nonplusultra.

Brigitte Minne: Hexenfee, Illustrationen: Carll Cneut, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem, 2017, 48 Seiten, ab 3, 24,95 Euro

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Neugierde ist Trumpf

sammelsuriumVor Jahren gab es Bücher mit Namen Schotts Sammelsurium, ein Quell von wild durcheinander gewürfeltem Wissen, in denen man nach Belieben hin und her blättern und immer etwas Interessantes oder Unbekanntes entdecken konnte. Die eine oder der andere wird sich erinnern.

Nun gibt es eine grafisch ganz wunderbar aufgemachte Variation dieses Prinzips für junge Lesende. Autor Richard Platt hat zusammen mit Illustrator James Brown auf je einer großformatigen Doppelseite 30 Themen zusammengestellt. Und zwar querbeet. Da erfährt man, wie (Seemanns-)Knoten geschlagen werden, aus welchen Teilen ein Fahrrad besteht, was für Bleistifte und Pinsel es gibt. Die vermeintlich so einfachen, unwichtigen Dinge unseres Alltags werden hier zu faszinierenden Kunstwerken. Allein die Variationen von Schrauben und Nägeln, die man im normalen Leben so gar nicht beachtet, sind beeindruckend.

Doch die Themen streifen auch komplexere Bereiche unseres Lebens. Den Aufbau des menschlichen Körpers aus Knochen und Organen, bis hin zum menschlichen Auge. So geht es von unserer eigenen Haut nach draußen in die Welt, in der wir uns mithilfe von verschiedenen Alphabeten verständigen. Beispielsweise durch die Buchstabier-, Morse- und Winkeralphabete, das griechische Alphabet oder auch durch das internationale Signalbuch.

Egal, ob man vorn anfängt oder kreuz und quer blättert, in diesem Sammelsurium bleiben Wissensdurstige immer an etwas hängen. Seien es die stylischen Infografiken, die auf jeder Doppelseite immer nur in einer eleganten Farbe gestaltet sind, oder die kurzen Texte, die mit Fakten und erstaunlichem Wissen vollgestopft sind.
Nach und nach entsteht unsere Welt mit (fast) all ihren faszinierenden Facetten. Selbst Themen, die für mich als Jugendliche total unverständlich oder dröge waren wie Chemie oder Mineralienkunde, entfalten hier eine gewisse Sogwirkung. Man möchte weiter schauen, mehr wissen, anfangen zu forschen, Schriften selbst malen, ein Musikinstrument lernen, ein Konzert besuchen oder einfach nur die Wolken anschauen.

Platt und Brown, in der geschmeidigen Übersetzung von Christiane Manz, gelingen eine Art von Wissensvermittlung, die Spaß macht und deren ästhetische Aufmachung an Eleganz kaum zu überbieten ist. Das ist auch für große Lesende schön und genauso spannend, denn hier erfährt jeder etwas Neues und wird neugierig gemacht auf die Welt da draußen.

Richard Platt: Das große Wissens-Sammelsurium, Illustration: James Brown, Übersetzung: Christiane Manz, Gerstenberg Verlag, 2016, 64 Seiten, ab 10, 19,95 Euro

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Tierische Bilderbücher

tierSeit Ende Januar feiern die Chinesen das Jahr des Hahns. Es soll Glück bringen für kommende Projekte. Eigentlich ein gutes Omen.

Ein Projekt hat auch Die kleine rote Henne von Pilar Martinez. Sie lebt mit ihren Küken auf dem Bauernhof und will ein Brot backen. Beim Bestellen des Feldes, beim Aussäen des Weizens, bei der Ernte, dem Mahlen der Körner und beim Backen könnte sie eigentlich ziemlich gut Hilfe gebrauchen. Doch ihre Mitbewohner Hund, Katze und Ente sind zu faul, schläfrig und lärmend und lehnen die wiederkehrende Frage, wer hilft, mit einem „Ich nicht!“ ab.
Da es bekanntermaßen so aus dem Wald herausschallt, wie man hineinruft, reagiert die kleine rote Henne am Ende dementsprechend, was hier mal nicht verraten wird.

Dieses freche spanische Volksmärchen ist eine entzückende Lektion in Sachen Hilfsbereitschaft, die kleinen Lesern durchaus zu denken geben wird. Und nicht nur denen.

Was mich bei diesem Buch noch ganz besonders freut, ist, dass die wunderbare Übersetzerin Ilse Layer auf dem Cover neben der Autorin und dem Illustrator genannt wird (wenn auch unverständlicherweise kleiner gedruckt). Das kommt in der deutschen Verlagslandschaft noch viel zu selten vor und sollte doch eigentlich selbstverständlich sein. Diesem Vorbild dürften andere Verlage bitte folgen.

Eine ebenso entzückende Federviehgeschichte ist die von Fledereule Eulenmaus der irischen Illustratorin und Schriftstellerin Marie-Louise Fitzpatrick. Ganz ohne Worte schildert sie die liebenswerte Begegnung zweier nachtaktiver Spezies des Tierreichs.

Da sitzt zunächst eine vierköpfige Eulenfamilie selig schlafend nebeneinander auf einem Ast, als sich eine Fledermausfamilie unter ihnen an den selben Ast hängt. Zunächst beäugt man sich misstrauisch, rückt auseinander und verbietet seinen Kindern den Kontakt während der Schlafenszeit.
Als ein Windstoß den Baum schüttelt, fällt das Getier vom Baum, und nun sammeln die besorgten Mütter ihren Nachwuchs wieder ein, allerdings nicht nur den eigenen, sondern auch den der Astnachbarin. Mittlerweile ist der Vollmond rund hinter dem Baum aufgegangen, die Lütten sind hellwach und alle rücken dichter zusammen.

Solidarität, Hilfsbereitschaft und Freundschaft brauchen hier keine Worte. Mutterliebe ist universell, und gemeinsam mit seinen Freunden macht die Erkundung der Nacht gleich doppelten Spaß. Braucht man mehr, um Kindern Offenheit und Toleranz zu zeigen? Ich glaube nicht.

bilderbücherDicke Freunde sind auch die beiden Wollschweinferkel Krümel & Fussel von Judith Allert. Sie führen ein schweinotastisches und wunderborstiges Leben voller Gegrunze, Geknurpse, Gemampfe und Gebuddel auf dem Bauernhof. Es fehlt ihnen an nichts. Nachts kuschelt die Großfamilienwollschweinsippe sich zusammen und veranstaltet ein Schnarchkonzert.
Doch eines Abends entdeckt Krümel ein faszinierendes Funkellicht. Er will ihm folgen, wird jedoch vom Zaun gestoppt. Was aber so ein abenteuerlustiges Wollschwein ist, das lässt sich natürlich nicht von einem einfachen Lattenzaun aufhalten. Am nächsten Morgen ziehen die Freunde los, finden ein Loch im Zaun und weiter geht es, immer dem Rüssel nach. Der dunkle Wald bei Nacht, die unheimlichen Geräusche und die fremden Waldbewohner halten die beiden nicht auf, um näher zum Funkellicht zu kommen.

Dass manchmal ein Perspektivwechsel des Rätsels Lösung bringen kann, erkennen die Freunde schon bald. Dass so eine Erkenntnis auch noch weitere Folgen hat und man manchmal einfach seinem Rüssel folgen muss, auch. Die beiden knuffigen Wollschweine machen einfach Lust darauf, dem eigenen Forscherdrang nachzugeben und den eigenen Weg unbeirrt weiterzugehen.

bilderbücherSo könnte das Leben eigentlich ganz wunderbar sein, wenn da nicht der nervige Schluckauf wäre. Vor allem, wenn er im ungelegensten Moment auftaucht und dann nicht mehr verschwindet, wie in Christian Gutendorfs Bilderbuch Hicks!
Krokodil Egbert kann ein Lied so einem Schluckauf singen. Als er eines Tages nach der Fütterung selig schlummert, schlägt der Aushilfsunterpfleger Tim die Tür mit so einem Ka-Bumm zu, dass es Egbert von seiner Mama runterschmeißt. „Eine Weile nix. Dann … Hicks“, so heißt es fort an. Es schüttelt und rüttelt und schmeißt Egbert hin und her, es ist herzerweichend.

Was macht man bei Schluckauf? Klar, man fragt andere um Rat. Egbert konsultiert Walross Wally, Mick, die Maus, Giraffe Ruth und noch so einige andere Zoobewohner. Doch nichts hilft, Luftanhalten nicht, Käse essen nicht, trocken schlucken erst recht nicht. Es ist zum … Hicks!

Und wenn schließlich alles nichts mehr geht, dann, ja dann sucht man auch endlich mal den Arzt auf. Egbert ist da nicht anders und traut sich endlich zum Tierarzt …

Liebevoll gereimt und humorvoll gezeichnet widmet sich Christian Gutendorf einem alltäglichen Phänomen, das zwar lästig, aber nicht lebensbedrohlich ist – und für das jeder sein eigenes Rezept entwickeln muss. Bis dahin ist diese Lektüre so wunderbar unterhaltsam, dass jede_r Schluckauf habende Leser_in vermutlich vor Lachen das nervige Gehickse wieder los wird …

 

Pilar Martinez: Die kleine rote Henne, Übersetzung: Ilse Layer, Illustration: Maro Somà, Aracari, 2017, 36 Seiten, ab 4, 13,90 Euro
Marie-Louise Fitzpatrick: Fledereule Eulenmaus, Sauerländer, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Judith Allert: Krümel & Fussel immer dem Rüssel nach, Illustration: Joelle Tourlonias, Ravensburger, 2017, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro
Christian Gutendorf: Hicks! Ein Krokodil hat Schluckauf, Lappan, 2017, 44 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

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Die Höhen und Tiefen des Lebens

Bekanntermaßen ist das Leben kein ununterbrochener  Kindergeburtstag. Vor allem, wenn psychische Krankheiten das Leben dauerhaft prägen. Diese Leiden Kindern zu erklären und ein Verständnis in ihnen zu wecken, ist ein schwieriges, wenn nicht gar heikles Unterfangen. Ulrich Fasshauer hat es gewagt und mit Das U-Boot auf dem Berg einen liebevoll rasanten Kinderoman zum Thema vorgelegt.

Mauritius ist zwölf und erst vor kurzem mit den Eltern aufs Land gezogen, irgendwo nach Norddeutschland, wo er von dem Hügel, auf dem ihr Haus steht, das Meer sehen kann (warum auf dem Buchcover im Hintergrund die Berge zu sehen sind, ist mir ein Rätsel…). Das Meer ist Mauritius große Leidenschaft, je tiefer und dunkler desto besser. Sein Zimmer ist dementsprechend eingerichtet und über die Bewohner der Tiefsee weiß er Bescheid. Nur redet Mauritius nicht besonders viel. Die Welt scheint ihn zu überfordern. Wenn alles extrem zu viel wird, wendet er sich an seinen imaginären Freund Herrn Glimm, einen Laternenfisch. Ihn füttert er mit allem, was ihn ärgert. Das sind momentan vor allem die neuen Klassenkameraden, die mit seinem Schweigen nicht viel anfangen können.

So bleibt es natürlich nicht. Eines Tage taucht Mauritius Onkel Christoph auf, ein gescheiterter Rockmusiker, der manisch-depressiv ist. Von dieser tückischen Krankheit bekommt Mauritius zunächst noch nicht viel mit, denn Christoph ist gerade in seiner manischen Phase und stellt das ruhige Leben der Familie gehörig auf den Kopf. Das nervt Mauritius anfangs ziemlich, so dass er den Onkel am liebsten an Herrn Glimm verfüttern würde. Wäre da nicht die anregende, mutmachende, lebensbejaende Seite von Onkel Christoph, an der sich Mauritius so gern anstecken würde. Denn Onkel Christoph ist auch ziemlich cool und erfüllt Mauritius seinen größten Wunsch zum Geburtstag, mit der Folge, dass der Kindergeburtstag völlig aus dem Ruder läuft. Onkel Christoph wird in die Psychiatrie eingeliefert, und da merkt Mauritius, wie anders der Onkel wirklich ist.

Fasshauer schreibt konsequent aus der Perspektive seines Ich-Erzählers, so dass das ungewöhnliche Verhalten des Onkels zunächst nicht unter den Beurteilungswahn der Erwachsenenwelt fällt. Erst nach und nach wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Überdrehtheit handelt, sondern um wirklich krankhaftes Verhalten.
Wenn schon Erwachsene diese komplexe und unberechenbare Krankheit nicht so richtig einschätzen und angemessen damit umgehen können, ist dieses für Kinder natürlich noch um Längen schwieriger. An was soll man sich halten, wenn das Gegenüber von einer Sekunde auf die andere alles Gewohnte über den Haufen wirft, Regeln missachtet und seine eigenen Wahrheiten propagiert? Mauritius hält sich tapfer, versucht, Onkel Christoph nicht zu verurteilen, und entdeckt schließlich die liebenswerten Seiten des Onkels, die natürlich einen Einfluss auf ihn selbst haben.

In all dem Chaos, das Onkel Christoph anrichtet, erlebt Mauritius und mit ihm die jungen Lesenden, was für eine Belastung eine psychische Krankheit eines Angehörigen sein kann, aber auch, dass der Betroffenen dennoch ein liebenswerter und wichtiger Teil im Leben der Familie ist. Fasshauer schafft es so, dass Verständnis und Toleranz für psychisch Erkrankte steigt und man nicht verzweifelt. Denn es gibt immer einen Weg, wie man mit diesen Menschen und ihren Phasen umgehen kann.

Mauritius macht – mit anderen Worten – den Kindern Mut. Mut, sich einzulassen auf Ungewohntes, Mut, über den eigenen Schatten zu springen, Mut, Neues zu wagen. So wird das eigene Leben selbst durch eine Krankheit eines anderen bunter und lebenswerter.

Ulrich Fasshauer: Das U-Boot auf dem Berg, Tulipan, 2017, 188 Seiten, ab 10, 13 Euro

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Wort- und Weltenschöpfer

lutherEin Thema, das uns durch dieses Jahr begleiten wird, ist das 500-jährige Jubiläum der Reformation.
Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen und krempelte die bis dahin herrschende Religionswelt um.
Da ich im katholischen Kontext groß geworden bin, habe ich von dem Schaffen Luthers und der Entstehung des Protestantismus nur rudimentäre Kenntnisse. Mit umso mehr Interesse habe ich daher die Biografie von Christian Nürnberger und Petra Gerster über den Reformator gelesen.

Die beiden Autoren setzen darin den Menschen Martin Luther in Bezug zu einer Zeit und seiner Umwelt. Die jugendliche Rebellion gegen den Vater, die Suche nach Sinn und Gott lassen Luther ins Kloster eintreten. Von dort aus bricht er in relativ kurzer Zeit die verkrusteten Strukturen der katholischen Kirche auf, indem er gegen Ablasshandel, Machtgier und Protz wettert. Soweit, so bekannt. Erstaunlich war für mich viel mehr, dass Luther sich von den Umbrüchen, die in seiner Zeit zahlreich und fundamental waren (die Entdeckung Amerikas, die Kopernikanische Wende, der Humanismus), sich nicht hat beeinflussen lassen. Er blieb einem mittelalterlichen Gedankenkomplex verhaftet – und hat sich dennoch nicht der Macht des Papstes gebeugt.
Nürnberger und Gerster beschreiben Luthers Taten und Überzeugungen in einem locker, journalistischem Ton, sodass man durch die Seiten fliegt (an manchen Stellen hört man allerdings den Sprech der heute-Nachrichten von Petra Gerster ziemlich durch – das muss man mögen oder akzeptieren, um sich nicht vom Inhalt ablenken zu lassen). Die Autoren klären zudem über die Mythen um Luther auf (er hat die Thesen nicht an die Tür der Kirche genagelt) und widmen auch seiner Frau Katharina von Bora und ihren Verdiensten ein Kapitel.

Als Übersetzerin haben mich besonders die Erläuterungen zu Luthers Übersetzung der Bibel erfreut. Vor allem seine wortschöpferische Tätigkeit stellen Nürnberger und Gerster heraus und zeigen auf, welche Worte und Redewendungen, die uns heute ohne großes Nachdenken über die Lippen kommen, Luthers Kreativität entsprungen sind (beispielsweise Denkzettel, Gewissensbisse oder Feuereifer, der Wolf im Schafspelz oder ein Herz und eine Seele). Der Übersetzer Luther zerbrach sich aber nicht nur das Hirn, sondern recherchiert auch ganz praktisch vor Ort und ließ sich beispielsweise vom Metzger die Teile eines Lamms erklären, um die Tieropfer im Alten Testament genau beschreiben zu können.
Das könnte als Leitbild für Übersetzende dienen – wenn meine werten Kolleg_innen das nicht schon längst machen würden. Viel schöner wäre es natürlich, wenn die Mühen und Arbeiten von Übersetzer_innen generell von Lesenden und Kritikern so gewertschätzt würden. Doch ich schweife ab…

Für dieses große Luther-Jahr ist das Buch von Christian Nürnberger und Petra Gerster für Jugendliche eine perfekte Einführung in das Thema Reformation. Neben den historischen Begebenheiten um den Menschen Martin Luther bekommen sie ein Bewusstsein für den Einfluss von Kirche, eigentlich egal welcher. Sie erfahren, wie sehr unsere Gesellschaft durch unsere christlichen Wurzeln geprägt ist, und wie weit wir als Gesellschaft doch offen sein können und müssen für andere Glaubensrichtungen.
Das Einzige, was dem im Buch nicht zuträglich ist, ist eine Passage, in der der Anteil der protestantischen Politiker in unserer Regierung aufgelistet wird. Da schimmert dann doch kurz ein „Wir-sind-besser“ auf – was überhaupt nicht nötig gewesen wäre.

Christian Nürnberger/Petra Gerster: Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten, Illustrationen: Irmela Schautz, Gabriel Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 13, 14,99 Euro

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Höllisches Paradies

martinIn diesen Tagen berichteten die Medien ja ein paar Mal über die Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln festsitzen und jämmerlich frieren. Doch scheinbar interessiert sich kaum noch jemand für das Leid der Menschen vor Ort. Auf einmal ist Griechenland doch wieder ganz weit weg. Doch obwohl sich bei uns die mediale Aufregung um die neuen Mitbürger langsam gelegt hat, so sollten wir dennoch nicht vergessen, dass immer noch nicht alle in einer menschenwürdigen Unterkunft angekommen sind und dass immer noch Menschen über das Mittelmeer nach Europa flüchten. Viele von ihnen schaffen es nicht ans rettende Ufer. Im Vergangenen Jahr sind laut UNHCR über 4000 Menschen ertrunken, im Schnitt elf Männer, Frauen und Kinder pro Tag.
Da kommt der neue Roman von Peer Martin, der im vergangenen Oktober mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für Sommer unter schwarzen Flügeln ausgezeichnet wurde, und von Antonia Michaelis (Die Attentäter) als eindrückliche Erinnerung gerade recht.

In Grenzlandtage erzählen die beiden Autoren die Geschichte der 17-jährigen Jule, die zwei Wochen Ferien auf einer griechischen Insel macht. Da ihre Freundin krank im Bett liegt, ist Jule allein unterwegs und will sich eigentlich in Ruhe auf die Abiturprüfungen vorbereiten. Noch ist die Insel, deren Namen nicht genannt wird, fast leer. Es ist Frühjahr, nur wenige Touristen sind da. Noch ist es zu kalt zum Baden. Jule wird freundlich aufgenommen, die Griechen sind bemüht, touristische Normalität zu bieten.
Doch schnell merkt Jule, dass auf der Insel nicht nur Griechen leben. Sie begegnet einem Jungen mit einer verbundenen Hand, den sie zunächst für einen Wildcamper hält. Ist er natürlich nicht, sondern einer von 32 Geflüchteten, die sich auf die Insel retten konnten, nachdem ihr seeuntüchtiges Boot abgesoffen ist. Von den Inselbewohnern bekamen sie keine Hilfe, im Gegenteil, sie wurden gezwungen, teueren Diesel zu kaufen, um damit nach Italien weiterzutuckern. Am Ende war ihr Geld futsch, und das Boot versank in den kalten Fluten. Von ursprünglich 104 Menschen an Bord retteten sich 32 auf die Insel.

Das alles erfährt Jule jedoch erst nach und nach. Sie freundet sich langsam mit Asman, so der Name des Jungen, an. Er versucht, Jule von ihrem Camp und der Höhle, in der sich die Geflüchteten verstecken, fernzuhalten. Aber Jule hat ihren eigenen Kopf, ist neugierig, einfühlsam und will es genau wissen. Als sie das ganze Ausmaß des Elends begreift, will sie um jeden Preis helfen. Doch das ist so gut wie unmöglich.
Als dann auch noch ein griechischer Inselbewohner tot aufgefunden wird, spitzt sich die Lage immer mehr zu.

Dem Autorenduo Martin und Michaelis ist eine sehr komplexe und mitreißende Geschichte gelungen. Sie verpacken die Flüchtlingsdramatik und ihre fürchterlichen Hintergründe, die exakt recherchiert sind, in eine ans Herz gehende Dramaturgie, indem sie sie sowohl mit einer Lovestory (Jule und Asman), als auch mit einem Krimi (der Tote) verknüpfen. Zwischendrin habe ich mich gefragt, ob das nicht ein bisschen dicke ist und ob die Flüchtlingsgeschichte nicht für sich hätte stehen können. Aber nein, es ist genau richtig so. Denn mit Jule ist man als Europäerin direkt dort vor Ort, wo die schicksalsgeplagten Menschen als erstes ankommen. Jule als offene, hilfsbereite Figur bietet ein hohes Identifikationspotential. Man ist bei ihr, verliebt sich mit ihr in den charmanten Asman, zermartert sich mit ihr Herz und Hirn, wie man nur helfen könnte. Und kann schließlich sogar ihren Entschluss verstehen, der sie in echte Gefahr bringt.
Der Krimi um den toten Griechen liefert zusätzliche Spannungsmomente, in denen man als Leserin schließlich mit den eigenen Überlegungen und Vorurteilen konfrontiert wird.

So komplex wie die gesamte Flüchtlingsproblematik ist auch dieses Buch. Es ist fordernd und durchaus keine leichte Kost. Dem Thema eben angemessen. Es bietet sehr viel Diskussionsstoff, beispielsweise darüber, wie man Hilfe besser organisieren könnte, damit die Geflüchteten aus Krisengebiet nicht mehr auf lecke Seelenverkäufer steigen und ihr gesamtes Geld habgierigen Schleppern opfern müssen, aber auch die Bewohner der griechischen Inseln nicht mit dem Ansturm allein gelassen werden und ihre Existenzgrundlage verlieren.

Darum lest dieses Buch, lest es im Unterricht, diskutiert und schaut euch solche Aktionen wie die Flüchtlingspaten Syrien e.V. an.

Peer Martin & Antonia Michaelis: Grenzlandtage, Oetinger, 2016, 460 Seiten, ab 15, 13,99 Euro.

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Von der Leidenschaft

vincentVor ein paar Wochen war der niederländische Maler Vincent Van Gogh den Medien kurz mal wieder eine Schlagzeile wert. Experten streiten sich seit Jahren um ein Skizzenbuch, das nun für die breite Öffentlichkeit herausgegeben wurde. Solange die sich Experten nicht einig sind, finde ich so ein Unterfangen ja immer etwas dubios. Das riecht mir zu sehr nach Geldmacherei mit einem großen Namen.
Aber mögen sich die Experten doch ruhig noch weiter darum streiten, wer sich wirklich für Vincent Van Gogh interessiert und seine Leidenschaft mit Kindern teilen möchte, der ist mit der Graphic Novel Vincent von Barbara Stok, in der feinen Übersetzung von Andrea Kluitmann, sowieso besser beraten.

In satten, fröhlichen Farben, umrandet von dickem schwarzen Strich zeichnet die niederländische Künstlerin das Bild eines Kunstbesessenen. Vincent bricht von Paris nach Südfrankreich auf, um sich dort zu erholen. Licht, Luft und Landschaft der Provence tun ihm gut, er malt wie verrückt, sucht nach der Seele seiner Themen, will sie einfangen. In Paris ist er mit seinen oft radikalen Ansichten mit anderen Kollegen aneinandergeraten, seinen gutmütigen Bruder hat er ständig zur Weißglut getrieben. Dennoch unterstützt dieser ihn treu, verkauft seine Bilder und schickt jede Woche 50 Francs, von denen Vincent lebt.

Van Gogh träumt davon eine Künstlervereinigung zu gründen, wo gemeinsam der Lebensunterhalt verdient wird. Doch bis es soweit ist, malt Vincent, entdeckt die Schönheit einer Landschaft, die andere öde finden, erfreut sich am Sternenhimmel, an weiten, endlosen Feldern. Er mietet schließlich ein Haus, das sein Künstlerhaus werden soll. Er lädt Gauguin ein, doch sein Traum soll ein Traum bleiben.
Er malt weiter, Bild um Bild, rechnet nach, wie viel Geld er seinem Bruder schuldet, fühlt sich als Nichtsnutz, weil er nichts verkauft. Doch er hat keineswegs die Absicht seinen Stil den Wünschen der Käufer anzupassen, um mehr Bilder umzusetzen. Er will Charakter und Gefühl festhalten, sich treu bleiben. Seiner Gesundheit bekommt all dies nicht. Vincent steigert sich immer weiter in seinen Arbeitswahn, kann nicht mehr abschalten, was Gauguin schließlich wieder vertreibt. Vincent dreht durch, schneidet sich das Ohr ab und landet in einer „Anstalt“. Nur das Malen verschafft ihm Erleichterung.

Stok erzählt nur einen kleinen Teil aus Vincent Van Goghs kurzem Leben, doch der ist so angefüllt mit Leidenschaft, Kreativität und Umtriebigkeit, dass es für drei gereicht hätte. Sie zeigt die Zerrissenheit eines Künstlers, der wahre Kunst schaffen und dafür gerecht entlohnt werden will. Seinem Bruder auf der Tasche zu liegen, behagt Vincent gar nicht. Und doch kann er ohne Kunst nicht. Vincent brennt dafür und zwar so, dass er bereits mit 37 Jahren stirbt, ein Alter, in dem heute manche erst anfangen.

Als Leser erfährt man in den knallbunten Bildern, die das Leben, die Natur und die Kunst feiern, den Kern von Vincent van Goghs Denken, seine Haltung gegenüber Massengeschmack und Kommerz, man ist gerührt von der bedingungslosen Bruderliebe, und nach und nach finden sich die Werke Vincents in den Panels wieder. Die Sonnenblumen, die Bauern auf dem Feld, der Sternenhimmel, der Postbote. Bilder, die wir Erwachsenen schon seit gefühlten Ewigkeiten kennen. Jungen Lesern werden sie hier in ihrem Entstehungskontext angedeutet, so dass die Kids, sollten sie später einmal in einem Museum vor einem echten Van Gogh stehen, wissen, wie es zu diesem Bild kam.

Eine schönere Annäherung an einen genialen Künstler, seine Kunst und die mit ihr verbundenen Leidenschaft, die ein Leben gegen alle Widrigkeiten bis zum Schluss prägt, kann ich mir kaum vorstellen. Sie bringt uns Van Gogh nahe, aber erinnert jeden großen und kleinen Leser daran, dass es sich immer lohnt, etwas mit bedingungsloser Leidenschaft zu tun.

Barbara Stok: Vincent, Übersetzung: Andrea Kluitmann, E.A. Seemann Bilderbande, 2016, 144 Seiten, ab 10, 19,95 Euro

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Rettung durch Schönheit

meurisseSo schwer es uns fällt, wir werden uns gewöhnen müssen. An den Terror, an unsinnige Anschläge. Nicht nur in anderen Ländern, weit weg von uns, sondern auch vor unserer Haustür, Ansbach und neulich Berlin haben es auf schreckliche Art gezeigt. In diesen Tagen jährt sich nun der Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum zweiten Mal. Die Zeichnerin arbeitet in ihrer Graphic Novel Die Leichtigkeit die schrecklichen Ereignisse auf.

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Brüder, die zu Al-Qaida gehörten, die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und töteten zehn Menschen. Catherine Meurisse, die seit langem für das Blatt arbeitete, verschlief an diesem Tag, verpasste den Bus und entging durch diesen Zufall dem Massaker. Sie kam mit dem Leben davon, doch ihr Leben war nicht mehr ihres. Die geschätzten Kollegen waren tot. Trauer und Schock paarten sich mit der Unfähigkeit zu arbeiten. Meurisse bekam keinen Strich mehr hin, verlor das Gedächtnis und fand sich nicht mehr zurecht. Der Arzt diagnostizierte einen dissoziativen Schock, einen körperlichen Schutzmechanismus, der zwar das Überleben sichert, den Betroffenen jedoch völlig aus der Bahn wirft.
Catherine Meurisse sucht Hilfe in der Natur, bei Freunden und in der Therapie. Nichts scheint zu helfen. Überall sieht sie „Je suis Charlie“-Schilder. Alle sind Charlie, nur sie ist es nicht mehr.

Die Anschläge vom 13. November 2015 auf das Bataclan und andere Orte in Paris versetzen ihr dann einen erneuten Schlag, alles beginnt von vorn. Sie will fort aus der Stadt, will all das Schlimme nicht mehr sehen, sondern die Schönheit suchen und sich wie seinerzeit Stendhal von der Kunst bis zur Besinnungslosigkeit überfluten lassen.
Für einige Wochen kommt sie in der Villa Medici in Rom unter. Und dort taucht sie ein in die Schönheit antiker Ruinen, barocker Gemälde, marmorner Statuen. Im Atelier Ingres zeichnet sie schließlich wieder Comics.

In dieser Graphic Novel, übersetzt von Ulrich Pröfrock, verarbeitet Catherine Meurisse ihre Geschichte auf ganz persönliche Art. In einer Mischung aus Aquarellen und Federzeichnungen schildert sie, in was für ein tiefes, dunkles Loch sie als Überlebende bzw. Entgangene fällt. Sie gerät in ein Labyrinth aus Trauer, Wut, Zorn und Hilflosigkeit. Sie schildert, wie sehr ihre Sprache unter dem Anschlag leidet, wie sehr aber doch immer wieder in den scheinbar unmöglichsten Momenten der freche, oft auch selbstironische Charlie-Hebdo-Humor bei ihr durchschlägt. Ihre persönliche Suche nach Schönheit führt sie schließlich aus diesem Labyrinth heraus und gibt ihr die Leichtigkeit zurück.

Wir, die solche Anschläge zum größten, glücklicheren Teil nur über die Medien mitgekommen, können vielleicht zweierlei aus dieser extrem persönlichen Geschichte mitnehmen: Wir sind zwar schnell dabei zu sagen „Je suis Irgendwas“ und tun auf allen möglichen Kanälen unsere Betroffenheit kund – was zutiefst menschlich, nachvollziehbar und unbestreitbar wichtig ist – doch wir müssen uns auch klar sein, dass wir es nie wirklich nachvollziehen können, wie es sich für die direkt Betroffenen – und dazu gehört Catherine Meurisse, obwohl sie dem Anschlag auf Charlie Hebdo entgangen ist – anfühlt. Da kein ein zu rasch herausgehauenes „Je suis“ schon mal wie eine Anmaßung erscheinen. So vermittelt es jedenfalls Meurisse. Hier täte etwas Zurückhaltung unsererseits vielleicht gut.

Die zweite Ahnung mag sein, dass es für die Betroffenen vielleicht auch wieder einen Weg aus dem Trauer-und-Schock-Labyrinth gibt. Manche finden ihn schneller, andere brauchen länger. Manchen hilft die Natur, anderen, wie Meurisse, öffnet die Schönheit der Kunst wieder eine Tür zu einem leichteren Leben. Das ist tröstlich. Für alle.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2016, 144 Seiten, 19,99 Euro

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