Belo Horizonte

Der Horizont  – die Begrenzungslinie zwischen Himmel und Erde – ist das Zentrum in Carolina Celas‘ grandiosen Bilderbuch Bis zum Horizont. Begleitet werden ihre raumgreifenden, wunderschön farbigen Illustrationen von wenigen hingetupften Zeilen pro Seite:
»Du bist immer da.
Da drüben. 
Oder dort hinten.
Manchmal scheinst du weit weg.
Dann wieder nah.«
Der Horizont, der sowohl Grenzlinie als auch Gesichtskreis ist, ist nämlich nicht immer gleich. Manchmal ist er auch ganz eng. Oder sogar verschwunden. Zum Beispiel wenn man eingesperrt ist. Oder aus anderen Gründen die Sicht blockiert ist. Auch wenn man die Position und damit die Perspektive ändert: »Wenn ich mich hinlege, verschwindest du.«
Stimmt, darauf muss man erstmal kommen. Wenn man sich hinlegt (zumindest im Freien) sieht man nur noch den grenzenlosen Himmel über sich.

Bezauberndes Gedicht über eine Linie

Es ist wie so oft und vieles eine Frage der Perspektive. Das veranschaulicht die portugiesische Illustratorin auch durch die horizontale Linie, die sich über alle Seiten durch das ganze Buch zieht. Sie ist nicht immer der Horizont. Manchmal ist sie auch ein Brückengeländer aus der Vogelperspektive, eine Dachkante, die Fußbodenleiste oder die Mittellinie eines Tennisplatzes. Oder der bildliche Durchschnitt einer Menschenmenge.
Die Figuren sind bei Celas weich konturierte Kompositionen aus Farbflächen. Sie bieten Bezugspunkte, man sieht aus ihrer Perspektive, sie relativieren Weite, Ferne und Nähe.
Mal gibt es Knicke in der Optik, etwa wenn ein Kind die parallelen Lamellen der Jalousie auseinanderzieht, um das Gesichtsfeld zu erweitern. Oder wenn die quere Weite durch runde Strukturen eingerahmt und fokussiert wird.
Carolina Celas Bis zum Horizont ist ein Gedicht auf eine vermeintlich so klare, einfache und doch so wandelbare und vielfältige Linie.

In die Horizontale begeben sich auch die verschiedensten Tiere in Henriette Boerendans‘ Bilderbuch Auch Affen wollen schlafen. Ob tagaktiv oder Nachschwärmer, ob winzigmäuseklein oder riesengroß wie ein Wal – alle brauchen Schlaf und müssen mal abschalten.
Wie unterschiedlich Tiere zur Ruhe kommen, beschreibt Boerendans in ebenso pointierten wie informativen Texten. Schimpansen bauen sich komfortable Hängematten, sicher hoch oben in den Baumwipfeln, aus zurechtgebogenen Ästen. Orang Utans toppen das ganze sogar noch mit einem Palmblattdach gegen Regen.

Schillernde Schönheit in vielen Schichten

Dachse kuscheln sich symbiotisch aneinander. Eichhörnchen bauen mehrere Behausungen, Kobel, und wechseln den Schlafplatz nach Gusto. Seeotter täuen sich mit Seegras fest, sodass sie nicht abtreiben.
Wale müssen zwischendurch Luft holen und schlafen nur mit einer Hirnhälfte. Das mit der Horizontalen stimmt natürlich nicht für alle Tiere. Man kennt es von senkreicht kopfüber schlafenden Fledermäusen. Und auch Spechte hängen in ihren hölzernen Höhlen ab.
Illustriert hat die Niederländerin die sympathischen Schläfer mit ihren faszinierenden, vielfach ausgezeichneten Holzschnitten. In mehreren Farbschichten gedruckt entstehen Kunstwerke, die die Fauna in ihrer schillernden Schönheit und Vielfalt zeigt.

Optisch ebenso bezaubernd ist das Alphabetbilderbuch Affe Bär Zebra, das Henriette Boerendans mit der Dichterin Bette Westera geschaffen hat. Schrift läuft in unserem Kulturkreis auch über die Horizontale. Und wenn man lesen kann, kann man auch ganz viel über die unterschiedlichsten Lebewesen erfahren. Die Tiere sind puristisch naturalistisch wiedergegeben, in opulente Farben getaucht und mit gewitzten dekorativen Details versehen. Das R illustriert ein Rotkehlweibchen, ihr Spiegelbild ist versehen mit einem anspielungsreihen Tapetenmuster. Das Besondere: Sie singt ebenso gut wie ein männliches Rotkehlchen.

Wissenswertes Zeile für Zeile

Das erfährt man unter anderem aus Westeras Versen. Manchmal etwas gestelzt (aber eigentlich ist es unmöglich, Lyrik zu übersetzen) erzählt sie Wissenswertes zu jedem einzelnen Tier und Buchstaben. Zum Beispiel Q wie Quetzal:
»Wetten, du kannst nicht ermessen,
was wir Quetzals meistens fressen?
Lorbeerfrüchte, reif und grün.«
Was diese merkwürdigen Früchte sind, wird im angehängten Index noch mal erklärt, eine kluge Form der Repetition.

Manchmal ist der Horizont auch zu weit: Wenn man Schiffbruch auf dem offenen Ozean erleidet und weit und breit nichts ist, um sich festzuhalten. Gerettet werden Vater, Tochter und Hund in Mark Janssens Ich bin eine Insel.
Das klingt eigentlich egozentrisch, solitär und isoliert. Nicht umsonst wird sonst immer betont, dass niemand eine Insel sei und alle sozial interagierende Wesen sind. Hier ist das Inselhafte aber überlebenswichtig.
Eine Insel zu sein bedeutet: Beschützen, behüten, altruistisch und geduldig zu sein.
Das Buch des niederländischen Künstlers ist ein überwältigender Farbrausch. Es erinnert an Marc Chagalls Traumwelten mit fantastischen Elementen von Miró und Paul Klee. Vor allem ist es aber ein neues Bilderbuchkunstwerk von Mark Janssen. Das mit einer reizenden Überraschung und Belohnung für seine besondere Heldin endet.

Es gibt mehr von dieser Grenzlinie zwischen Himmel und Erde zu erzählen, als man sich träumen lässt.

Carolina Celas: Bis zum Horizont, Übersetzung: Claudia Stein, Verlag Kleine Gestalten, 2020, 40 Seiten, ab 3, 14,90 Euro

Henriette Boerendans (Text und Illustration): Auch Affen wollen schlafen, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 40 Seiten, ab 4, 17 Euro

Bette Westera, Henriette Boerendans (Illus.): Affe Bär Zebra, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 64 Seiten, ab 4, 18 Euro

Mark Janssen: Ich bin eine Insel, Übersetzung: Eva Schweikart, Fischer Sauerländer, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Am Tag sind alle Kater bunt

Kleine Kinder können ziemliche Spießer sein. Das Leben ist noch zu komplex für ihren unerfahrenen Verstand. Um nicht die Orientierung zu verlieren, beharren sie auf das möglichst immer Gleiche und Wiedererkennbare.
Man kann also gar nicht früh genug anfangen, den kindlichen Horizont zu erweitern. Da kommt Peter, Kater auf zwei Beinen genau richtig. Phil findet den schwarz-weißen Vierbeiner herzzerreißend miauend vor der Tür in einem kleinen Karton, auf dem ein Name steht: Peter.
Schnell öffnet er die Kiste. »Jetzt, wo er endlich frei war, stellte sich Peter, der Kater, gleich auf seine Hinterbeine. Phil hatte noch nie einen Kater auf zwei Beinen gesehen. Aber egal – er hatte schon immer davon geträumt, eine Katze zu haben! So kam es, dass er Peter gleich bei sich aufnahm.«

Mäusejagd auf dem Skateboard

Dieses »Aber egal« macht das Bilderbuch der Autorin Nadine Robert und des Illustrators Jean Jullien sofort absolut liebenswert.
Peter ist nämlich absolut kein typischer Kater und entspricht keinem Klischee, das Phils Schulfreundin Pam von Katzen hat. Anstatt Mäuse zu jagen, verfolgt der Kater sie lieber mit dem Skateboard. Statt mit Wollknäueln zu spielen, serviert er gelegentlich Tee.

Wollknäuel sind langweilig!

Grandios zeigt Jullien mit aufs Wesentliche reduzierten, farbigen Bildern, wie abwegig es dem Kater erscheint, eine freundliche, ebenfalls auf zwei Beinen stehende Maus zu jagen. Noch besser ist der höchst gelangweilte Gesichtsausdruck angesichts der Vorstellung, mit einem Wollknäuel rumzualbern.
Eher schenkt er schön blasiert wie die Karikatur eines altehrwürdigen Butlers Tee ein. Leicht irre und sehr witzig wird Peters Blick bei der Idee, nach seinem eigenen Schwanz zu schnappen. Wo er den doch viel geschickter nutzen kann, um damit ein Tässchen anzuheben.

Vielfalt des Lebens charmant gefeiert

Phil nimmt Peter so wie er ist. »Peter ist ein Kater auf zwei Beinen, und er ist sehr besonders. Aber am allerbesten finde ich …, dass er mein Freund ist.« Schöner und charmanter kann man die Vielfalt des Lebens und aller Lebewesen nicht zeigen und als absolute Bereicherung feiern. Was als Diversity gefordert wird, leben Phil, Peter und bald auch ihre jungen Leser ganz selbstverständlich.

Harry bleibt lieber drinnen – eigentlich

Seinen Horizont erweitert, wenn auch zunächst unfreiwillig, der gemütliche Siamkater Harry im Bilderbuch von Leo Timmers.
Harry hat zwar keine Schmetterlinge im Bauch. Aber einen vor der Nase. Und der fragt ihn, ob sie fangen spielen wollen. »Harry hatte noch nie draußen gespielt. Er bleibt lieber drinnen. Aber fangen spielen ist sicher sehr schön.«
Und so verlässt Harry ungewohnt mutig die bekannten vier Wände, folgt dem Schmetterling – und findet nicht mehr nach Hause. Er sieht, dass es ganz andere Häuser als seins gibt – kleine, hohe und niedrige. Traurig und ganz allein probiert er alles aus. Doch es gibt kein Haus für Harry bis er in einer stinkenden Mülltonne landet und dort andere, straßenschlaue und freundliche Katzen trifft.

Eine Art schnodderiger Aristocats

Der Niederländer Leo Timmers zeichnet den knuffigen Harry und die Katzenbande mit ihren großen Augen und knubbeligen Fellkörpern auf zarten Pfoten wie eine Art schnodderiger Aristocats. Dazu zitiert er fotorealistisch Elemente und Ausschnitte von verwirrenden Straßenschildern und Wegweisern. Gleich zu Anfang läuft Harry an einer Litfaßsäule vorbei, auf der gleichzeitig das Musical Cats und die Oper Madame Butterfly plakatiert sind.

Auf den Geschmack gekommen

Herrlich ist auch das bronzene Denkmal eines versonnen lächelnden Löwen, auf dessen Hinterteil selbstbewusst eine obligatorische Taube hockt. Timmers besonderer Stil macht Lust auf weitere Abenteuer.
Harry findet zwar schließlich nach Hause, wo er schon sehnsüchtig von einem Kind erwartet wird. Aber der Kater hat die Welt draußen entdeckt und ist auf den Geschmack gekommen: »Morgen komme ich wieder raus zum Spielen!«

Nadine Robert, Jean Jullien (Illustrationen): Peter, Kater auf zwei Beinen, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2019, 56 Seiten, ab 3, 16 Euro

Leo Timmers: Ein Haus für Harry, Übersetzung: Rolf Erdorf, aracari 2019, 56 Seiten, ab 3, 14 Euro

Frechheit siegt

hexenfeeGut, hier muss ich von vornherein zugeben, dass ich parteiisch bin. Denn seit ich vor anderthalb Jahren das Bilderbuch Der goldene Käfig von Anna Castagnoli mit den Illustrationen von Carll Cneut übersetzt habe, bin ich in die Bilderwelten des Belgiers verliebt.

Nun hat Cneut die Geschichte der Hexenfee, aus der Feder von Brigitte Minne und frech neuübersetzt von Rolf Erdorf, ein weiteres Mal illustriert. Eine erste Version ist in Belgien bereits 1999 erschienen, 2006 von Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt und hier mittlerweile vergriffen.

Die Hexenfee erzählt von dem Feenmädchen Rosmarinchen, die so gar keine Lust hat, lieb und ordentlich zu sein, wie es sich für ein Fee gehört. Den Zauberstab, den sie zum Geburtstag bekommt, findet sie doof. Rollschuhe hätte sie lieber und überhaupt wäre sie viel lieber eine Hexe. Die dürfen sich schmutzig machen und mit einem Boot über den Bach fahren.
Keine der Feen kann Rosmarinchen überzeugen, dass Hexen gemeine Biester sind. Die kleine Fee zieht in den Hexenwald, und dort erfüllen sich ihre Wünsche vom Rollschuhlaufen und Boot fahren. Und das Fliegen auf einem Besen lernt sie auch noch.
Doch Rosmarinchens Mama vermisst die Tochter und folgt ihr in den Hexenwald. Und lernt Erstaunliches.

Minne zeigt mit dem Märchen Hexenfee, dass man im Leben nicht immer das eine oder das andere sein muss, sondern mehreres in sich vereinen kann. Sie zeigt, dass Mädchen nicht immer die brave Fee sein müssen, sondern dass die Frechheit der Hexen Spaß machen, das Leben bereichern und auch Eltern zum Umdenken bringen kann. Hier wird den Mädchen, die auch heute noch viel zu oft in überkommene Rollenklischees gepresst werden, der Rücken gestärkt, sich gegen elterliche Vorgaben aufzulehnen, wenn sie in sich den Wunsch nach etwas anderem verspüren.

Der Illustrator Cneut zeigt die Feenmädchen zunächst in einem altrosa Luftschloss, mit den typischen cneutschen Spitzhüten, auch diese in diversen Rosa-Tönen. Im Kontrast dazu entwirft er einen tiefschwarzen Hexenwald und düstere Hexenhüte. Doch für Rosmarinchen geht genau zwischen den schwarzen Blättern ihr Traum in Erfüllung, in Form eines schier unendlich roten Blumenmeers.
Und mit jeder Seite wird der dunkle Wald auf den mysteriösen Bildern immer lichter, Rosmarinchens Mama gesellt sich zur rebellischen Tochter, die Hexen stellen sich als nette Gesellen heraus, und die Welten von Feen und Hexen vermischen sich. Als Hexenfee lebt Rosmarinchen nun in beiden und ist glücklich. Ihr Mut, ihre bekannte Welt zugunsten des unbekannten Waldes aufzugeben, wird zum großen Vorbild, dem die kleinen Leserinnen möglicherweise gern folgen.

Die Illustrationen von Carll Cneut sind – wie in Der goldene Käfig – großartige Kunstwerke, an denen man sich nicht satt sehen kann, deren Tiefe man sich erst nach wiederholtem Betrachten erschließt, über die man trotzdem rätseln kann: Was sollen die vielen spitznasigen und spitzhütigen Köpfe, die oftmals wie Männer aussehen, aber doch auch Frauen sein sollen, dem Betrachter sagen? Jede_r Betrachter_in wird ihre/seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Rosmarinchen in ihren roten Kniestrümpfen und dem altrosa Kleid, in dessen Farbe sich schon das Schwarz des Hexenwaldes mischt, denn es ist kein reines Rosa und erst recht kein Pink, reitet so selbstbewusst auf ihrem Besen, dass man trotz schwarzem Blättergewirr dennoch die Gewissheit hat, dass sie in beiden Welten unbeirrt ihren Weg  finden wird.
Genau dies wünscht man es sich für alle kleine Mädchen, die noch glauben, Fee zu sein wäre das Nonplusultra.

Brigitte Minne: Hexenfee, Illustrationen: Carll Cneut, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem, 2017, 48 Seiten, ab 3, 24,95 Euro

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