Vom Tragen des Leids

Nils

Heute, am Gratis-Comic-Tag hätte ich mir einen Haufen Heftchen holen können, die mir Einblick in die neuesten Comics auf dem Markt liefern würden. Hab ich aber nicht. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis die Graphic Novel, Nils der Illustratorin Melanie Garanin zu lesen – obwohl ich um das schwere und bedrückende Thema dieser Geschichte wusste.

Melanie Garanin erzählt darin von ihrem Sohn Nils, der mit nicht einmal vier Jahren stirbt. Sie findet für dieses Unfassbare berührende, teils poetische Bilder aus klarem Strich und perfekt akzentuierten Aquarellfarben, die tatsächlich so mühelos erscheinen, wie es sich Garanin in ihrem Interview (s. unten) wünscht. Diese visuelle Mühelosigkeit und Leichtigkeit steht jedoch im Gegensatz zu der Schwere des Inhalts. Nils, der unerschrockene Ritter mit dem Laserschwert, erkrankt mit zwei Jahren an Leukämie. Die Familie – aus Eltern Melanie und Georg, sowie die drei Geschwister Artur, Greta und Julius – bangt um den Jüngsten. Mal scheinen die Prognosen gut, mal machen die Ärzte Hoffnung, mal verschlimmert sich Nils‘ Zustand, rein ins Krankenhaus, wieder raus. Ein fürchterliches Hin und Her, das per se schon kaum ein Mensch ertragen könnte. Irgendwann bekommt Nils Bauchschmerzen, deren Ursachen jedoch nicht festgestellt werden können. Er stirbt schließlich an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung, etwas das mit der richtigen Behandlung wohl hätte geheilt werden können. Doch »hätte«-Sätze sind in dieser Geschichte nicht erwünscht.

Empathielose Ärzteschaft

Dieses an sich schon Unerträgliche wird jedoch durch das Verhalten der Ärzteschaft noch gesteigert. Oberflächlich betrachtet wird sich um den Jungen gekümmert, sein »Fall« ist interessant, er soll Teil einer Studie werden. Die Behandlung wird durch die Studie bestimmt. Die Bedenken der Eltern räumen die Behandelnden aus dem Weg, besser gesagt, sie beachten sie eigentlich nicht, sondern reden darüber hinweg, hören nicht zu. Garanin markiert den Fachsprech der Ärzte und Ärztinnen in serifenloser, steriler Druckschrift, während sie selbst die Geschichte in einer fast krakeligen Schreibschrift erzählt. Diese Druckschriftblöcke mit dem unverständlichen Fachvokabular wirken wie undurchdringliche Mauern, hinter denen sich die Behandelnden verrammeln, nur um sich nicht auf eine menschliche Kommunikationsebene zu begeben. Niemand gibt zu, irgendeinen Fehler gemacht oder gar nachlässig gehandelt zu haben.
Garanin bedient sich bei diesen Dialogen einem fantastischen (im Sinne des Wortes) Erzähltrick, indem sie ihrer Schreibtischlampe Leben einhaucht und sie zur »Mitarbeiterin«, die die Behandlenden verhört. Mit aller Wut und berechtigter Penetranz befragt die Lampe Frau Doktor Königin Antibiotika-Aber, ohne dass es ihr gelingt, deren Schutzwall aus Fachsprech zu durchdringen. Es hat was liebevoll humoristisches, wie die Mitarbeiterin den »Hals« verdreht und nur durch winzige Striche an den Augen, die Mimik ändert – wenn es nur nicht so erschütternd wäre.
Denn hier zeigt sich neben all der Trauer, die die Familie durchmacht, die Wut, die so überaus berechtigte Wut auf ein System, das versagt hat, weil sich dort – immer noch! – Behandelnde für etwas Besseres, Reineres, Weißgöttisches, Wissenderes halten. Sie sind von besorgten Eltern abgenervt, verstecken sich hinter einer unverständlichen Sprache, lassen keine Gefühle und kein Mitgefühl zu, weil ihre Karriere, ihr Ruf und ihr Status auf dem Spiel stehen. Es wäre wohlfeil zu sagen, auch Mediziner sind Menschen, die Fehler machen, die unter Druck stehen. Natürlich. Doch wenn so etwas wie mit Nils versteht, sollte es selbstverständlich sein, Mitgefühl zu zeigen. Als Leserin blättere ich fassungslos weiter, hoffe auf irgendein winziges Zeichen irgendeiner Menschlichkeit. Doch nichts.

Bewundernswerte Stärke

Umso mehr bewundere ich die Stärke von Mutter Melanie und ihrer Familie, die sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben, wozu sie alles Recht hätten, denn das Weiterleben nach so einem Schlag ist anstrengend genug. Die Eltern kämpfen viel mehr für Aufklärung, wollen, dass die Behandelnden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen werden, ihre Fehler zugeben oder sich – zumindest – entschuldigen. Unnötig zu sagen, dass sie gegen Druckbuchstabenwände rennen, durch die kein menschliches Wort dringt.
Die Schreibschrift-Krakel-Erzählung hingegen ist durchzogen von allen menschlichen Regungen, inklusive einer leichten Ironie und einer guten Portion Humor. Denn »Humor ist in der Trauer sehr wichtig«, wie Garanin im Interview sagt. Und nur so scheint das alles in einem gewissen Maße ertragbar zu sein. Was jedoch nicht verhindert hat, dass mein Exemplar ein paar Tränen abbekommen hat, die sich in den Aquarellfarben auflösten.

Von Gänsen und Kämpferinnen

Im vierten und letzten Kapitel kämpft eine – imaginäre – Ritterschar für den kleinen Ritter Nils, für große, allumfassende Gerechtigkeit, darum, dass wenigstens einige um Verzeihung bitten. Am Anfang und am Ende fliegen Gänse. Eine von ihnen markiert jedes Kapitel, sie trägt ein Laserschwert und erinnert mich sehr stark an Wolf Erlbruchs Ente aus Ente, Tod und Tulpe – was ich als wunderschöne Hommage empfinde. Sie wandelt sich immer mehr in eine Kämpferin, so wie sich Garanin in eine Kämpferin verwandelt hat. Durch ihre Graphic Novel, an der sie dreieinhalb Jahre gearbeitet hat (wenn ich das recht sehe, entspricht das ungefähr den Lebensjahren von Nils und diese Koinzidenz treibt mir schon wieder die Tränen …), hat sie Nils auf ihre ganz eigene, sehr persönliche Art unsterblich gemacht.
Andere Eltern, die ähnlich Schlimmes erleben müssen, werden hier vielleicht ihr eigenes Gefühlschaos wiederfinden und somit auch ein Quäntchen Trost. Falls es so etwas in diesen Fällen überhaupt geben kann.
Alle anderen dürften sich ihres Glücks bewusst(er) werden und den hohen Wert des Mitgefühls erkennen. Hoffentlich.

Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut, Carlsen, 2020, 200 Seiten, ab 16, 22 Euro

Was bleibt

Kurz vorab: Ich tue in Zeiten der Corona-Krise nicht so, als würde ich hier weitermachen wie bisher – ich mache tatsächlich weiter wie bisher. Denn wann hat man mehr Gelegenheit zu lesen, als jetzt, während dieser verflixten Pandemie, die hier auch nur einmal namentlich erwähnt werden soll. Also, los geht’s …

Plötzlich weiß ich es: Solange ich Noa hasse, wird Mama nicht sterben.«
Leas beste Freundin Noa hat das ausgesprochen, was Lea schon lange verdrängt und nicht zu denken wagt: Dass Leas Mutter den Kampf gegen den Krebs verlieren und sterben wird.
Deshalb versucht die Neunjährige das grausame Schicksal ebenso grausam auszutricksen, indem sie Noa, schneidet, ignoriert, wegschubst, beschimpft, mobbt, aus ihrem Leben verbannt. Das ist irrational – aber absolut verständlich.
Wie der drohende Tod Seele und Herz eines Mädchens mit Hass und Schmerz erfüllen – und dann doch ein stärkeres Gefühl sie tröstet und rettet, erzählt die schwedische Autorin Moni Nilsson absolut ergreifend und brillant mit So viel Liebe.

Wie ist es, wenn da nichts und niemand ist?

Man kennt den Kampf eines jungen Mädchens gegen ihre Krebserkrankung aus John Greens mal todtraurigem, mal todkomischem Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Hier blickt die Heldin dem eigenen Tod ins Auge.
Aber wie ist es für Kinder, wenn ein Elternteil stirbt? Wenn da ein großes Nichts ist, wo jemand war, der tröstet, beschützt, Halt gibt, bedingungslos liebt, auf den man sich verlassen kann – der eigentlich immer da sein sollte, solange man noch Kind ist?

Herz kaputt, Hirn zerreißt

Schon für Erwachsene ist es nicht leicht, mit dem Tod geliebter Menschen umzugehen, selbst darüber nur nachzudenken scheuen die meisten. Moni Nilsson beschreibt ungeheuer eindringlich, was diese Angst, die kein Kind erleiden sollte, mit Kindern macht.
»Es ist unbegreiflich.
In einem Monat gibt es Mama nicht mehr.
In einem Monat ist sie tot.
In einem Monat kann sie nicht mehr abwaschen.
Nicht einmal weinen. Oder ihre Lieblingsband hören.
Das ist unbegreiflich.
Es geht einfach nicht.
Mein Gehirn zerreißt.
Mein Herz ist schon kaputt.«
Lea versucht, das Undenkbare nicht zu denken. Aber das geht natürlich nicht. Eigentlich kennt sie ihre Mutter nur krank: »Alle anderen Mamas arbeiten. Meine Mama ist fast immer zu Hause, schon seit ich in die erste Klasse gekommen bin. Sie sagt, ihre Arbeit ist es, gesund zu werden. Und mich rund um die Uhr lieb zu haben.«

Prügeln ist auch keine Lösung

Lea ist extrem wütend auf das Schicksal, das manchmal tatsächlich ein richtig mieser Verräter zu sein scheint. Sie ist wütend über die schreiende Ungerechtigkeit, dass alle anderen gesunde Mütter haben. Und sie ist wütend auf jeden, der Mitleid mit ihr hat und sie bedauernd ankuckt. Da schlägt sie sofort zu.
Jeden Tag verprügelt sie ein Kind auf dem Schulhof. Bis ihr großer Bruder eingreift: »Es ist Lucas, der mich von meiner Prügelkrankheit heilt. Er kommt in mein Zimmer, ohne anzuklopfen, packt mich und drückt mich auf den Boden. Hält mich fest. Sehr fest. Er ist schwer. Ich krieg kaum Luft. Lucas guckt mich fuchsteufelswild an. ›Du hörst verdammt noch mal damit auf, dich wie eine Idiotin zu benehmen, kapiert? Damit machst du es Mama und Papa nur noch schwerer. Du bist nicht die Einzige, die einem leidtun muss, falls du das glaubst.‹«

Brutaler Deal mit dem Schicksal

Lektion verstanden, Prügeln ist keine Lösung. Aber an ihrem brutalen Deal gegen den Tod hält Lea fest: »Ich darf nicht vergessen, Noa zu hassen.«
Die Niederländerin Marjolijn Hof hat von dieser verqueren Logik, die nicht nur Kinder verfolgen, um dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, in der fesselnden Erzählung Buch Tote Maus für Papas Leben erzählt.
Leas Angst ist noch konkreter, erlebt sie doch das langsame, qualvolle Sterben ihrer Mutter hautnah mit. Horrorfilme, die sie selbstverständlich nicht sehen darf, erscheinen ihr harmlos im Vergleich dazu. »Die Wirklichkeit, in der Eltern abends weinen und in der man nicht vergessen darf, seine beste Freundin zu hassen, die sollte für Kinder verboten werden.«

Kraft und Mut, sie sterben zu lassen

Patrick Ness hat in dem bereits verfilmten Sieben Minuten nach Mitternacht diese unerträgliche Wirklichkeit zu einem bizarren, schließlich befreienden Albraum werden lassen. Moni Nilsson bleibt realistisch und ganz nah an ihrer authentischen und sehr sympathischen Heldin.
Leas Mutter gelingt es schließlich zusammen mit dem ebenso traurigen Vater und Bruder Lea zu befreien von ihrer Wut, ihrer Verzweiflung, der Angst und Einsamkeit. Absolut überzeugend und glaubwürdig gibt sie ihrer Tocher das Vertrauen und auch den Mut und die Kraft, sie sterben zu lassen. Denn da ist nicht Nichts. Was bleibt, ist so viel Liebe.

Moni Nilsson: So viel Liebe, Übersetzung: Angelika Kutsch, Carlsen, 2020, 128 Seiten, ab 10, 12 Euro

Weil die Zeiten gerade ungewöhnlich sind, hier auch noch eine zusätzliche Leseempfehlung für junge Erwachsene:

In seinem Roman Die Pest beschreibt Albert Camus sehr eindringlich, was eine tödliche Infektionskrankheit macht mit einer menschlichen Gemeinschaft. Er erzählt, vor allem aus der Perspektive des Arztes Bernard Rieux, einfühlend vom Zwischenmenschlichen in einer isolierten Gemeinschaft. Vom Kampf dieses Arztes gegen die Schöpfung und seinen Weg zur Wahrheit. Vom Umgang mit der Ungewissheit, mit der Zeit, mit Sehnsucht, Angst, Schuld. Von Glauben, Moral, Werten und Überzeugungen. Und vom Tod.
»Was treibt Sie eigentlich, sich damit zu befassen?«
»Ich weiß nicht. Meine Moral vielleicht.«
»Und die wäre?«
»Mein Verständnis.«
Die Pest ist so voller kluger und letztlich erstaunlich optimistischer Gedanken (das unterscheidet den Philosophen und Nobelpreisträger Camus von seinem Kollegen Jean-Paul Sartre), dass man dieses Buch auf jeden Fall lesen sollte, am besten jetzt.

Albert Camus: Die Pest, Übersetzung: Uli Aumüller, Rowohlt, 12 Euro.

Bruderliebe

Bruder

In den vergangenen Jahren gab es erstaunlich wenige Bücher, bei denen ich weinen musste. Die Britin Katya Balen hat es geschafft, dass mir nun beim Lesen immer wieder die Tränen kamen. Tränen der Rührung, der Trauer, der Freude …
Dabei hatte ich zwar immer auch den Gedanken im Kopf, welches Kind den Roman Mein Bruder und ich und das ganze Universum wohl mit Freude lesen würde, denn Balen erzählt eine nicht ganz einfache Geschichte.

Alltag mit einem autistischen Bruder

Der zehnjährige Frank hat nämlich einen autistischen Bruder. Max kann nicht sprechen, trägt immer nur ein bestimmtes T-Shirt, braucht seinen ganz besonderen Teller und isst nur gelbliche Lebensmittel. Wenn etwas anders ist, sich verändert, dann »schmilzt« Max: Er versteift sich, schreit und kreischt und flattert mehr als sonst mit den Händen. Und Max braucht natürlich Aufmerksamkeit – mehr als Frank. Die Mutter, eine ehemalige Künstlerin, kümmert sich rührend um beide Söhne, doch steht Max immer ein bisschen mehr im Fokus. Frank versteht das durchaus, doch natürlich hat er auch Momente, in denen er sich vernachlässigt fühlt. Dann versucht er, seine Welt mit Codes zu ordnen. Er morst mit der Mutter, hat einen Zahlencode, in dem er seine Gedanken aufschreibt – und in dem die Überschriften in der Geschichte verschlüsselt sind (eine sehr gelungene Art, um die Lesenden aus dem gewohnten Lektüretrott zu holen und zu veranschaulichen, wie es sein kann, wenn man das Leben nicht sofort entschlüsseln kann oder von Veränderungen immer wieder aus der sicheren Routine gebracht wird).
Der Spott in der Schule über seinen Bruder macht ihm das Leben zusätzlich schwer, da er manchmal nicht so souverän reagieren kann, wie er es gern möchte. Dann ärgert sich Frank jedoch mehr über sich selbst, als über den Mitschüler, der den dummen Kommentar abgeliefert hat.
Nun steht die Einschulung von Max kurz bevor, und Frank zählt in einem Countdown die Tage runter. Denn diese Veränderung im Leben seines Bruders betrifft die ganze Familie, da niemand sagen kann, wie Max reagieren wird.

Bis hierhin ist das Buch bereits großartig, konsequent aus der Perspektive von Frank erzählt, und bietet daher jede Menge Identifikation für alle Kinder, die Geschwister mit Behinderungen haben. Sie können sich in Franks emotionaler Zerrissenheit gegenüber dem Bruder wiederfinden, in der Liebe zu ihm und in dem manchmal aufkommenden Hass, weil der Bruder eben doch irgendwie immer der Mittelpunkt ist.

Die wahre Tragödie

Dann jedoch setzt Katya Balen dieses »Drama« in Bezug zum dem, was eine wirkliche Tragödie ist. Sicher ist das Leben mit Kindern mit Genveränderungen, Krankheiten oder Behinderungen anstrengend, vielleicht anstrengender als mit »normalen« Kindern sowieso, doch es ist ein Leben und zwar ein sehr lebenswertes. Das sieht man in dieser Geschichte an Max, der das Leben und alles, was dazu gehört, liebt: den Hund von nebenan, das Schlittenfahren, er drückt sich auf seine ganz eigene Art aus, lernt, spielt Theater und feiert so sein Dasein. Ein wirkliches Drama ist der Dreh, den Balen nun einbaut – und der muss hier verraten werden, denn sonst versteht man diese Rezension nicht: Die Mutter stirbt, und für Frank bricht sein Universum richtig zusammen. Die Ordnung kommt nicht nur für Max, sondern auch für ihn durcheinander. Die Leere und die Trauer sind immens.
Der Vater ist anfangs durch die Trauer um die geliebte Frau und die neue Rolle, die er nun für seine zwei Jungs spielen muss, völlig überfordert. Die Großmutter kann nur eine vorübergehende Hilfe sein.
Frank fehlt die Mutter, mit der er sich über Morse-Codes unterhalten konnte, unglaublich. Aus dem Countdown bis zu Max‘ Einschulung wird eine Zählung, wie lange die Mutter bereits tot ist.

Die Brüder entwickeln sich weiter

Das alles ist zum Teil nur schwer zu ertragen, aber gleichzeitig auch so großartig erzählt, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Franks Schmerz geht auf die Lesenden über, aber seine Wandlung zu einem liebevollen großen Bruder macht gleichzeitig stolz und rührt ungemein. Denn Frank berichtet weiter von Max – und seinen Fortschritten, die er mit seinen sechs Jahren nun in der Schule macht. Und so wie Max sich entwickelt, mit den drastischen Ereignissen auf seine Art umzugehen lernt, so verändert sich auch Frank, der nun blöde Sprüche über Max nicht mehr einfach so schluckt, sondern Widerworte gibt.
Frank, der einen Faible für Spiralgalaxien und Codierungen hat, lernt, sein Universum neu zu ordnen.

Was ist schon eine Genveränderung im Vergleich zum Tod

Dachte ich zunächst ja, welches Kind so ein Buch mit Freude lesen würde, so sage ich jetzt viel mehr: Welches Leser_in wäre nicht von Frank beeindruckt? Denn dieser Held zeigt in seinen eigenen Worten – wunderbar von Annette von der Weppen ins Deutsche übersetzt –, dass das Leben bekanntermaßen kein Ponyhof ist, aber der Mensch unglaublich zäh ist und mit vielen Schicksalsschlägen umzugehen weiß. Durch die Relativierung von Autismus zu Tod feiert die Autorin die Vielfalt und Diversität des Lebens in all seinen Facetten. Nicht die Andersheit des Bruders ist schlimm, ganz und gar nicht, sondern das Fehlen der Mutter. Das lernt Frank, das lernen die Lesenden.
Man wird demütig, wenn man sagen kann, dass man die Liebsten noch um sich hat. Wie unwichtig ist dagegen schon eine Genveränderung? Frank entdeckt so, wie viel Liebe er für seinen Bruder empfindet und wie viel Kraft sie ihm gibt, mit dem größten aller Verluste zu leben. Und diese Botschaft macht Hoffnung, und zwar allen.

Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum, Übersetzung: Annette von der Weppen; Carlsen, 2019, 208 Seiten, ab 11, 13 Euro

Diese ganze Energie stirbt nie

Long

Ein brüllendheißer Julitag. Ein Stau vor New York. Mittendrin eine Familie in einem Mini. Supersympathische Leute, Vater, Mutter, zwei Jungs, der jüngere, Griff Rhyss, hat Geburtstag, 13 Jahre ist er. Hayley Long erzählt aus der Sicht des zwei Jahren älteren Dylan Thomas. Nicht zufällig trägt der den Namen des berühmten walisischen Dichters: Ein Junge sparsam und behutsam ausgewählter Worte und ein faszinierender und pointierter Erzähler.
Die Familie lebt nach längeren Aufenthalten in London, München, Shanghai und Barcelona jetzt in New York und überlegt erstmals zu bleiben. Es sind waschechte Briten, sie sagen Motor- nicht Highway und die Mutter, eine Waliserin, tadelt Griff mit gespielter Empörung, als der stöhnt: »Ich schwitze mir den Arsch ab.«

Letzte Hoffnung Wales

Dann passiert ein schrecklicher Unfall. Zurück bleibt ein schwer traumatisierter, zutiefst verzweifelter und todtrauriger 13-Jähriger. Und Dylan Thomas, der sich an den nächstfernen Ort wünscht. Und doch alles versucht, um seinen jüngeren Bruder ins Leben zurückzuholen.
Weil die Familie eigentlich immer nur sich selbst hatte, landen die Brüder zunächst bei der einzigen Freundin in New York, Blessing Knowles, Arbeitgeberin der Eltern, die als Lehrer gearbeitet haben, und Schuldirektorin der Jungs, was an sich schon eine komische Situation ist. Auf der Suche nach Angehörigen landen die Brüder durch Vermittlung des britischen Konsulats schließlich bei der Cousine ihrer Mutter und deren Mann in Wales.
»Aberythwyth war unsere letzte Hoffnung«, sagt Dylan. Obwohl sich Blessing wirklich rührend gekümmert hat und Griff sogar überzeugen konnte, am »Tag des B-Wortes« mitzukommen, »ihr wisst schon Asche zu Asche und Staub zu Staub und so weiter«, der Tag, »an dem mein Hirn wie ein Panik-Tornado davonzuwirbeln droht«, bleibt Griff wie versteinert, ein totenstiller, dunkler Schatten seines früheren überschäumenden Ichs.

Eine Katze wie ein Früchtebrot

Nun also Aberythwyth in Wales, ein Kaff im Vergleich zum gigantischen New York, eingeklemmt zwischen schiefergrauen Bergen, unter einem meist grauen Himmel, am silbergrau schimmernden Meer. Mit einer Sprache, die man nicht versteht und Straßenschildern, deren Schriftzüge man nicht mal aussprechen kann. Bei einem kinderlosen, mittelaltem Paar, das so ganz anders ist als es die lebenslustigen, weltgewandten, viel jünger und wilder, auch verrückter und verliebter wirkenden Eltern es gewesen waren.
Griff erkennt zwar, wie freundlich und liebevoll bemüht Tante und Onkel sind. Aber in ihm drin ist nur Trauer und Verzweiflung, nichts und niemand kommt an ihn ran. Ein winziges bisschen können Tiere ihn trösten, erst Blessings Labrador Marlon, dann in Wales die schwarz und karamellfarbene Katze Bara Brith, benannt nach dem so aussehenden walisischen Früchtebrot, von dem Griff auch noch nie gehört hat.

Tod und Trauer, Leben und Liebe

Ist  Der nächstferne Ort die perfekte Ferienlektüre? Ja! Und zwar nicht, weil es im Juli auf einem kochend heißen Highway in New York beginnt und ein Jahr später, an Griffs 14. Geburtstag im mildem Wales endet. Sondern weil Dylan Thomas so hinreißend und fantastisch erzählt und uns mitnimmt zu ganz besonderen Momenten. Berührend erinnert er sich an Situationen, Orte und Menschen, seine Eltern und seine große Liebe Matilda aus München.
Es ist ein Buch über Verlust und Trauer – und doch voll von unfassbar viel Leben. Und von Liebe, die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die irre peinliche Liebe zwischen den Eltern (»ich und Dylan hätten fast gekotzt, weil unsere Eltern rumgeknutscht haben«), das erste Verlieben, die erste enttäuschte Liebe, die tröstende Liebe zu Tieren, die Kraft der Liebe: »Die Menschen, die man liebt, sind nie wirklich weg«, sagte Griff. »Diese ganze Energie muss schließlich irgendwohin.«

Beach Boys, Oasis und One Direction

Man lernt tolle, ganz unterschiedliche Menschen kennen. Auch Musik, die Magie, die von ihr ausgeht, spielt ein große Rolle: Nicht nur das titelgebende, kaum bekannte Instrumentalstück von den Beach Boys, The Nearest Faraway Place. Auch der kraftvolle, warme Souls Aretha Franklins, Brit-Pop von Oasis und Grunge von Nirwana begleiten die Geschichte. Sogar The Story of my Life der Boyband One Direction gehört dazu. Und ein bisschen Dylan Thomas, also der Originalschriftsteller und sein Poem Clown im Mond. Hayley Long motiviert einen nebenbei, ein paar Musikvideos zu gucken. Oder nach dem Gedicht zu suchen.
Man erfährt auch ein bisschen von anderen Städten und Ländern. Nicht zuletzt ist es eine Liebeserklärung an Hayley Longs Heimat, das spröde Wales und seine eigentümlichen und herzlichen Bewohner. Josefine Haubold übersetzt ganz im Sinne Dylan Thomas’, also des jüngeren Erzählers, warm, einfühlend, witzig und authentisch, jedes Wort treffend, keins überflüssig. »Ich sah, wie ihr Lächeln in sich zusammenfiel. Wie bei jemanden, dessen iPhone gerade in den Gully gefallen ist.«
Das ist nur ein Beispiel, Dylan beschreibt so eine hilflose Krankenschwester. Und »dann schaute eine Traumatherapeutin vorbei, die es tatsächlich fertigbrachte, dass wir uns noch traumatisierter fühlten.«
Leider ist dies auch das letzte Buch aus dem Verlag Königskinder. Was auch noch ein guter Grund ist, Hayley Longs Der nächstferne Ort  in diesen Sommerferien zu lesen und vielen davon zu erzählen.

Hayley Long: Der nächstferne Ort, Übersetzung: Josefine Haubold, Königskinder, 2018, 328 Seiten, ab 14, 19,99 Euro

Sommer der Veränderungen

moon

Gustav schämt sich. Denn ihr wachsen zwei Erbsen auf der Brust.
Doch, doch, das Geschlecht im zweiten Satz stimmt schon, denn Gustav ist ein Mädchen, heißt eigentlich anders, aber daran scheint sich in Lara Schützsacks Roman Sonne Moon und Sterne niemand mehr zu erinnern.
Gustav wird bald zwölf, und sie merkt, dass ab diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie zuvor. Nicht nur wegen der Erbsen.
Denn zwischen ihren Eltern Iris und Erik herrscht Krise – die Pubertät der Eltern wie Gustav das nennt. Weshalb der Urlaub in Dänemark ausfällt, denn die Erwachsenen brauchen Abstand voneinander und wollen nicht im engen Camper aufeinander hocken. Gustavs Schwestern Ramona und Sara sind da auch keine Hilfe. Sie ziehen Gustav wegen der Erbsen auf, hängen nur am Musiktropf des iPods und jammern über nicht sichtbare Pickel. Und schwärmen von Jungs. Was Gustav völlig unerträglich findet.

Geheimnisvolle Glitzerleggins

Doch kurz vor den Sommerferien taucht in ihrer Klasse Moon auf. Er trägt Glitzerleggins und lange Haare und ist irgendwie geheimnisvoll. Während Gustavs Familie also im Krisen-Chaos versinkt, geht sie mit ihrem altersschwachen Hund Sand Gassi – und trifft Moon beim Flaschensammeln wieder.
Und in dem brütend-heißen Berlin entspinnt sich eine der charmantesten und ans Herz gehendsten Freundschafts- und Erste-Liebe-Geschichten, die mir seit langem untergekommen ist.

Jenseits aller Klischees

Schützsack erzählt mit wunderbaren Bildern (»In der Küche macht sich eine beklemmende Stimmung breit wie ein Tiefdruckgebiet.«) von einer Umbruchzeit im Leben eines Kindes – ohne auch nur irgendwie klischeehaft zu werden. Sie thematisiert nicht, warum Gustav Gustav genannt wird oder Moon Glitzerleggins trägt, sie zeigt es einfach und lässt ihren Figuren alle Freiheiten, so zu sein, wie sie wollen. Das ist in Zeiten, wo sich gefühlt alle Welt auf Instagram als Supermodel darstellt, so erholsam und wohltuend, dass man Gustav und Moon nach dem Schluss der Geschichte eigentlich gar nicht gehen lassen möchte. Aber man ahnt zum Glück, dass die beiden noch eine ganze Weile den Weg des Lebens gemeinsam bestreiten und dabei ganz viel Knisterkaugummi futtern werden.

Hoffnungsfroh in die Zukunft

Das soll jetzt nicht heißen, dass in Sonne Moon und Sterne alles schön und positiv ausgeht. Der Tod gehört zu dieser Geschichte genauso wie das Ende einer Liebe und der Anfang einer neuen. Damit macht Lara Schützsack ihren Leser_innen, die am Ende ihrer Kindheit ankommen, klar, dass das Leben eben nicht nur Glitzer und Knister bereithält. Doch dies gelingt ihr auf ganz großartige und hoffnungsfrohe Art, sodass diese Geschichte noch lange nachhallt – und man sich auf den nächsten Sommer, die kommenden Umbrüche und vielleicht eine neue Liebe freut.

Lara Schützsack: Sonne Moon und Sterne, Säuerländer, 2019, 240 Seiten, ab 10, 14 Euro

Trost ist ein schräger Vogel

Trost

»Ich gebe Gott bei Google ein. Zum Glück lässt sich das leicht buchstabieren. Es erscheinen eine Menge langer Worte, die ich überhaupt nicht verstehe. Zum Beispiel monotheistisch. Aber eine Sache finde ich trotzdem heraus: Gott ist der Herr über Leben und Tod. Ich würde gern mal ein Wörtchen mit ihm reden, diesem Herrn Gott.«

Ist Gott dumm?


Hugos heißgeliebter Opa liegt nämlich im Sterben. Samstag Morgen war noch alles wie immer mit Rosinenbrötchen, Kaffeeduft, Schlagballspielen im Park und Pokern. Am Abend ist der Großvater kollabiert. Donnerschnitzel, das sagt nur Hugos Opa. So nennen Ida-Marie Rendtorff und Daniel Zimakoff ihr ein bisschen trauriges, ziemlich lustiges, mal  spannendes und ungeheuer tröstliches Kinderbuch über Verlust und Tod, hilflose Wut und Trauer. Weil Religion, in den hiesigen westeuropäischen Gesellschaften vor allem das Christentum, bei dem Thema unumgänglich ist, lässt das dänische Autorenpaar geschickt und behutsam verschiedene Vorstellungen davon einfließen. In der Schule hören Hugo und sein bester Freund Dylan etwas vom Baum der Erkenntnis, von dem Adam und Eva aßen, und zur Strafe aus dem Paradies vertrieben und sterblich wurden. »Kann es sein, dass Gott ein bisschen dumm ist?«, fragt Hugo ob solch drastischer Maßnahmen, die Gott seinen eigenen Geschöpfen antut. Auch Mitschülerin Siri findet: »Gott ganz schön ungerecht.«

Trost aus dem Himmel?

Für manche ist die Vorstellung von Gott, Himmel, ewigem Leben und einer vermeintlich verdienten Hölle tröstlich. Hugo hilft es nicht. Zu konstruiert, abstrakt, auch unlogisch –  und überhaupt kann Opa, sein »Mentor«, ihm jetzt nicht mehr Pokern beibringen. »Manche Menschen glauben, dass man immer wieder neu geboren wird«, erzählt Hugos Vater. Als es plötzlich »Donnerschnitzel« aus einer Tierhandlung krächzt, ist Hugo sofort klar : »Mein Opa ist ein Papagei!« Und er muss Opa nach Hause holen.

Wie Hugo und Dylan mutig und erfinderisch das Geld für den besonderen Vogel verdienen und schließlich doch alles anders kommt, ist eine charmant geschriebene und hübsch illustrierte Geschichte, Donnerschnitzel!

Trost

Berührend und von Mehrdad Zaeri wunderschön illustriert erzählt Werner Holzwarth, wie der Madenpickervogel Hacki Abschied von seinem Freund nimmt. Mein Jimmy ist ein altes Nashorn, das spürt, dass es mit ihm zu Ende geht und Hacki mit gemeinsamen Erinnerungen und schrägen Witzen trösten möchte. »Ich hatte mal wieder gedöst. Dann öffne ich die Augen und schaue direkt einem Typen ins Gesicht, der sein Gewehr auf mich anlegt. Du merkst sofort was los ist, und fliegst auf ihn zu und flatterst ihm so um den Kopf herum, dass er die Hände nach oben reißt und dabei das Gewehr fallen lässt. Da hast du mir das Leben gerettet.« Aber Hacki ist zu traurig und frustriert: »Hat auch nicht viel gebracht, Jimmy, ist ja erst zwei Monate her … Dann hätte er dich auch gleich erschießen können.«

Der altersweise Jimmy sieht das anders: »Die letzten Wochen waren doch schön. Wie die ganze Zeit mit uns. Jeder einzelne Tag«, muntert der müde, alte Dickhäuter seinen gefiederten Freund auf. Und stirbt. Wobei man angesichts der ruhigen, dunklen, scherenschnittartigen Bilder über mehrere Doppelseiten ehrlich »schläft friedlich ein« sagen darf.

Berührender Abschied

Werner Holzwarth, der mit dem Kinderbuchklassiker »Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat« weltberühmt geworden ist, hat die Geschichte im Alter von 67 Jahren seinem kleinen Sohn erzählt. Die Zeichnungen, die der damals fünfjährige Tim dazu gemacht hat, sind auf dem Vorsatzpapier abgedruckt.
Seine Geschichte besticht durch die lebendige, nie sentimentale Sprache – die lebenskluge, gelassene und zärtliche Stimme Jimmys und die erst trotzige und enttäuschte und schließlich muntere und fröhliche Hackis.
Solange du an mich denkst, wird es mich geben«, sind Jimmys letzte Worte –  der einzige Trost, den es gibt, wenn ein geliebtes Wesen stirbt.

Ida-Marie Rendtorff, Daniel Zimakoff, : Donnerscnitzel. Mein Opa ist ein Papagei, Übersetzung: Friederike Buchinger, Illustration: Peter Bay Alexandersen, Carlsen 2018, 112 Seiten, ab 8, 7,99 Euro

Werner Holzwarth: Mein Jimmy, Illustration: Mehrdad Zaeri, Tulipan 2019, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Im Hier und Jetzt

wilkeWelches Kind liest ein Buch über ein dickes Mädchen, einen Jungen mit Down-Syndrom und einen mit bunten Haaren, der ein Versprechen an seinen verstorbenen Opa halten will?
Hoffentlich ganz viele!

Jutta Wilkes Stechmückensommer ist so bittersüß, wie es der Titel bereits ahnen lässt. Eine Sommergeschichte, in schönster schwedischer Wald- und Seenlandschaft – jedoch voller quälender Mücken.
Die fast 14-jährige Ich-Erzählerin Madeleine, von allen nur Made genannt, berichtet als extrem gut beobachtende Zeitgenossin von ihren Sommerferien, die sie in einem Ferienlager – ohne die Eltern – verbringen soll. Die Eltern brauchen Zeit für sich, nachdem das zweite Kind tot geboren wurde. Madeleine selbst kann mit diesem toten Bruder, der nie gelebt hat, eigentlich auch nicht umgehen, doch hat sie niemandem, mit dem sie darüber reden kann. Sie fühlt sich unsichtbar, versteckt ihren dicken Körper unter Zeltkleidern und versucht, nur nicht aufzufallen.

Als sie sich auf einem Ausflug in ein Bergwerk früher in den Bus zurückzieht, lernt sie Julian kennen. Dieser klaut den Bus und will damit zum Nordkap, weil er es seinem kürzlich verstorbenen Großvater versprochen hat. Dass dieser Road-Trip zu einem ganz anderen Ziel führt, wird spätestens dann klar, als sich zu diesen beiden unfreiwilligen Reisegenossen auch noch der 16-jährige Vincent gesellt. Der trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep calm! It’s only an extra Chromosome“. Seine Eltern scheinen jedoch nicht so cool mit dem Extra-Chromosom umzugehen, verbringen sie doch nur die Ferien mit dem Sohn und schieben ihn die restliche Zeit des Jahres in ein Heim ab.

Mit anderen Worten: Hier treffen drei Jugendliche aufeinander, die alle ihr unbequemes Päckchen zu tragen haben. Als Leser möchte man sie alle drei drücken und trösten – und die Erwachsenen sonst wohin wünschen. Die drei selbst jedoch haben erst einmal keine Zeit fürs Trösten. Das Leben ist nämlich kein Ponyhof, und auch Bullerbü ist in Schweden nur noch schwer zu finden. So raufen sie sich mühsam zusammen. Madeleine kämpft gegen ihre Unsicherheit, Vincent führt allen vor Augen, dass er zwar das Down-Syndrom hat, aber eben kein Idiot ist, und Julian muss schmerzlich von seinem Vorhaben absehen, das Nordkap zu erreichen, und seine persönliche Schwäche eingestehen.

Die Erwachsenen spielen zum Glück keine Rolle bei dem Abenteuer dieses Trios, das zwischen Bäumen, Seen und festgefahrenem Auto sein Coming-of-Age erlebt und eine Ahnung davon bekommt, was im Leben wirklich wichtig ist – trotz all der traurigen Facetten, die das Leben prägen.

Sehr unaufgeregt entwickelt Jutta Wilke diese Geschichte, zeigt mit wunderbarer Leichtigkeit, dass Down-Menschen zu unserer Gesellschaft dazugehören – ohne dass sie mahnend den Inklusions-Zeigefinger hebt. Sie lässt Madeleine erkennen, dass auch sie trotz Übergewicht glücklich sein kann und sich eben nicht verstecken braucht. Und auch für Julian, der hinter all seiner Trauer noch ein weiteres Problem verbirgt, gibt es Hoffnung.

Überhaupt: Hoffnung und die Erkenntnis, dass der wichtigste Moment immer das Hier und Jetzt ist, das lässt einen beglückt zurück – und liefert jungen Leser_innen jede Menge Stoff zum Überdenken eigener Vorurteile, zur Diskussion, wie weit man gehen darf, und wie man sein Leben schließlich selbst besser gestaltet. Und wie wichtig richtig gute Freunde sind.

Jutta Wilke: Stechmückensommer, Knesebeck, 2018, 208 Seiten, ab 10, 15 Euro

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

huppertz„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen“, hat Johann Wolfgang von Goethe einst gesagt. Wurzeln, solange sie klein sind, und Flügel, wenn sie größer werden.
Doch was, wenn der leibliche Vater nicht zur Familie gehört? Fehlt dann im Wurzelwerk nicht etwas?

Lisse, 12, vermisst zu Beginn des neuen Romans von Nikola Huppertz erst einmal nichts. Sie lebt mit ihrer Mutter und dem Comiczeichner Jamal glücklich in Hannover. Jamal ist seit elfeinhalb Jahren ihr Vater.
Doch dann erreicht ein Anruf ihre Mutter: Lisses leiblicher Vater Markus ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und obwohl Lisse ihm niemals begegnet ist, überkommt sie doch die Trauer, die sie selbst an ihrem geliebten Schlagzeug nicht so richtig loswird.
Auch ihre Mutter muss die Nachricht erst einmal verdauen, und da gerade Sommerferien sind, machen sich Mutter und Tochter für ein paar Tage auf und reisen zu den Orten, wo sich Lisses Eltern begegnet sind. Über Berlin und die Müritz geht es nach Rostock und schließlich zum Friedwald, wo Markus‘ Asche unter einem Baum beerdigt wurde.

Im Laufe der Reise erzählt die Mutter von ihrer ersten Begegnung mit Markus, von ihrer Verliebtheit, von Markus‘ Leidenschaft für Musik, von ihrer damaligen Tour an die Ostsee. Lisse erfährt so Einiges über ihren leiblichen Vater und lernt in diesen wenigen Tagen ganz andere Seiten ihrer Mutter kennen. Auf dem Baum-Friedhof schließlich begegnen die beiden dann einem alten Ehepaar und Lisses Leben bekommt eine neue Wendung.

Feinfühlig und emotional packend entwickelt Nikola Huppertz Lisses Geschichte. Der Tod ist kein Tabu, sondern wird hier viel mehr zu einem Auslöser, sich der Vergangenheit und der Komplexität des Lebens zu stellen. Lisse lernt auf vielen Ebenen, was es bedeutet zu lieben, einander, das Kind, die Eltern, den Stiefvater. Und sie kommt mit sich selbst ins Reine, kann die Sommersprossen und die Stupsnase, die sie vermeintlich zu niedlichsten Drummerin der Welt machen, akzeptieren, weil sie begreift, dass sie das genetische Erbe ihres Vaters sind. Ebenso wie ihre Leidenschaft für Musik und das Trommeln. Sie findet ihre Wurzeln, jedoch ohne zu Verzweifeln.
Denn wenn sie auch ihren Vater nicht mehr kennenlernen wird, so treten auf diesem sommerlichen Roadtrip neue Menschen in Lisses Leben, die sie bereichern.

In Huppertz‘ Roman geht es um das große Gefühl der Trauer und wie man ordentlich Abschied nimmt, ganz egal, ob man den Menschen kannte oder nicht. Jetzt könnte man vermuten, Woher ich meine Sommersprossen habe sei ein todtrauriger Roman, doch dem ist nicht so. Denn Huppertz versteht es vorzüglich, die Hoffnung in das Geschehen einzuflechten, in Form einer neuen Freundschaft, durch wunderschöne Naturerlebnisse, durch eine neue Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter und durch Lisses Erkenntnis, dass ihr Leben und ihre Familie in Hannover vollkommen ist.

Ich weiß natürlich nicht, wie viele Kinder genau solche Familien-Geschichten und -Konstellationen erleben, doch von Lisse können sie sich so Manches abschauen, sei es, dass Mädchen sehr coole Schlagzeugerinnen abgeben oder dass man seinen Eltern durchaus nervende Fragen über die Vergangenheit stellen sollte, um mehr über sich selbst zu erfahren.
In diesem Sinne ist dieser wunderbare Roman ein Vorbild für die Suche nach den eigenen Wurzeln. Denn auch das gehört zum Erwachsenwerden dazu.

Nikola Huppertz: Woher ich meine Sommersprossen habe, Thienemann, 2017, 176 Seiten, ab 11, 11,99 Euro

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Fridas Universum

 

 

 

 

 

 

 

Wie führt man junge Menschen an das Leben von großen Künstlerinnen heran? Wie kann man deren Neugierde auf das Werk von bereits verstorbene Berühmtheiten wecken?

Zum 110. Geburtstag der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist nun das farbenfrohe und fröhliche Bilderbuch Frida Kahlo und ihre Tiere erschienen, das ein Anfang sein kann. Die Autorin Monica Brown und Illustrator John Parra bringen über Fridas Beziehung zu ihren unzähligen Haustieren den jungen Betrachter_innen Leben und Werk dieser leidgeprüften Frau näher. Sie erzählen von Papagei, Rehkitz, Katze, Klammeraffen, aztekischen Nackthunden und Truthähnen. Sie begleiten die Künstlerin durch Kindheit, Jugend und die von Krankheit geprägten Jahre. Fridas Leiden wird hierbei nur dezent angedeutet, lediglich eine Abbildung zeigt einen Rollstuhl und eine Beinprothese, die erahnen lassen, wie schlimm es um Frida stand.

Die Lebensfreude und die scheinbar unverwüstbar gute Stimmung von Frida stehen hier im Mittelpunkt. Die Malerin wird zum leuchtenden Vorbild, sich von Schicksalsschlägen nicht unterkriegen zu lassen, und zeigt, dass man in guter tierischer Gesellschaft vieles ertragen und vieles erschaffen kann.

Die Bilder unterstreichen dies durch ihre kräftigen Farben: Das typische Blau der Casa Azul zieht sich durch alle Seiten. Begleitet wird es vom Rot von Fridas traditionellen Blusen und dem Grün der mexikanischen Natur, alle Farben sind jedoch etwas abgetönt, sodass Fridas Schmerz durchaus zu erahnen ist. Die Art der Illustrationen deuten aztekisch Kunst und deren Muster an – und macht auf jeden Fall Lust, entweder selbst zum Pinsel zu greifen oder sich noch weiter mit Frida Kahlo zu befassen.

Letzteres war dann bei mir der Fall, und so stieß ich auf die ebenfalls frisch erschienene Graphic Novel der Italienerin Vanna Vinci, Frida. Ein Leben zwischen Kunst und Liebe.
Hier geht es nun wahrlich an die grundlegenden Themen, die Fridas Leben geprägt haben – und die sind nicht unbedingt jugendfrei. Fridas schwerer Unfall mit 18 Jahren und die daraus resultierenden Schmerzen haben ihr Leben durch und durch geprägt. Was sie jedoch nicht davon abgehalten hat, exzessiv zu lieben. Diego Rivera, den berühmten Maler der Murales, wohl an erster Stelle, aber auch andere Männer und Frauen. Frida hat ihre sexuellen Bedürfnisse ausgelebt: zusammen mit anderen, an ihrer Leinwand oder auch nur mit sich selbst. Vinci macht auf jeder Seite deutlich, wie sehr Frida das Leben geliebt und in sich aufgesaugt hat.

Vinci greift dafür zu einem besonderen erzählerischen Kniff. Sie lässt Frida ein Gespräch mit dem Tod führen, in dem sie ihr eigenes Leben reflektiert. So ist auf jeder Seite Frida selbst in ihrer mexikanischen Tracht zu sehen, die ihre kulturelle Identität zeigt und doch auch zu einer Uniform geworden ist, wie sie selbst sagt. Mag man zwischendrin vermissen, dass bestimmte Erlebnisse und Begegnungen nur von Frida selbst erzählt und nicht im Bild gezeigt werden, so merkt man im Laufe der Lektüre, dass genau dies die Persönlichkeit von Frida perfekt spiegelt. Durch die langen Zeiten, die sie an Bett gefesselt war und in denen sie sich vor allem mit sich selbst, ihrem Körper, ihren Schmerzen und der Allgegenwart des Todes auseinandersetzen musste, hat sie zu einer Expertin in Sachen Selbstreferenzialität gemacht.

Und obwohl sich im Universum Frida Kahlos so gut wie alles um Frida Kahlo dreht, ist ihr Leben voll mit historisch wichtigen Lebensgefährten wie Leo Trotzki oder Tina Modotti. Man bekommt den Eindruck, dass Frida in den 47 Jahren ihres Lebens unzählige Leben gelebt hat, so viel ist ihr zugestoßen, so viel hat sie erlebt.
Vielleicht ist es die dauerhafte Präsenz des Todes in ihrem Leben, die sie zu so unbändiger Lebenslust getrieben hat. Auch der Tod, la Santa Muerte, ist in der Graphic Novel ständig präsent, entsprechend des mexikanischen Totenkultes. Er sitzt ihr gegenüber, raucht mit ihr oder zeigt sich in den Schädeln ihrer Haustiere.

Vinci erinnert auf großartige, packende Art an diese schillernde Frau, mit der man mitleidet, die man gleichzeitig für ihre Kunst verehrt und sie um ihren unverfrorenen, selbstbewussten Charakter beneidet. Auch bei Vanna Vinci sind die Farben gedeckt, Rot und Grün dominieren, umrahmt von dicken schwarzen Linien, die sich ausdrucksstark ins Gedächtnis prägen.
Und natürlich deutet Vinci die Kunstwerke Frida Kahlos an, sodass man sich nach Ende der Lektüre diese auf jeden Fall im Original ansehen will.
Besser kann man diese große Künstlerin kaum ehren.

Vanna Vinci: Frida. Ein Leben zwischen Kunst und Liebe, Übersetzung: Christine Schnappinger, Prestel, 2017, 160 Seiten, 22 Euro

Monica Brown: Frida Kahlo und ihre Tiere, Übersetzung: Elisa Martins, Illustration: John Parra, NordSüd, 2017, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

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Menschlichkeit im Unmenschlichen

ravensbrückHeute stelle ich nach sehr langer Zeit mal kein Kinder- oder Jugendbuch vor, auch wenn der Titel von Valentine Gobys Roman das vermuten lassen könnte. Doch Kinderzimmer ist alles andere als ein Kinderbuch.

Die Französin Goby nimmt den Leser hierin auf eine überaus bittere Reise ins Konzentrationslager Ravensbrück mit. Dort kommt im Frühjahr 1944 die junge Suzanne Langlois, genannt Mila, an. Mila war im französischen Widerstand tätig, hat Nachrichten für den Untergrund kodiert (mit einem Notensystem, das Übersetzerin Claudia Steinitz im Detail nachgebildet hat, was eine Heidenarbeit gewesen sein muss) und für eine Nacht einen Widerstandskämpfer versteckt. Von ihm ist sie schwanger. Schwanger im KZ.

Mila, deren Mutter sich umgebracht hat, als sie klein war, befindet sich in einem fast unvorstellbaren Zustand des Nicht-Wissens: Sie weiß nichts über die Vorgänge in ihrem Körper, sie weiß nichts über den Vater des Kindes, sie weiß nicht, wo sie in Deutschland ist oder wie das Leben in einem KZ laufen soll. Sie versteht kein Deutsch. In diesem Nicht-Wissen ist sie zunächst auf sich allein gestellt und erlebt den ganzen Horror im Frauenlager: Den Austausch der Kleidung, das Rasieren der Haare, die unsensible gynäkologische Untersuchung, dazu der tägliche Kampf um das Essen, um den Schlafplatz, die Zahnbürste, die Blechschüssel. Mila ahnt, dass sie schwanger ist, wagt es jedoch nicht, ihren Bauch zu betrachten. Dieser Bauch, der durch die Entbehrungen und den Hunger nicht richtig wächst.

Valentine Goby erzählt von Milas Schicksal in kurzen, oftmals fast schon nüchternen Sätzen, von Claudia Steinitz höchst feinfühlig ins Deutsche gebracht. Goby schönt nichts. Sie benennt den Hunger, die Auszehrungen, die drangvolle Enge in den Baracken, die Krankheiten, die Ausscheidungen, den Gestank, das Sterben, die ausgemergelten Toten. Die Bilder, die sie dadurch im Leser heraufbeschwört, sind kaum zu ertragen.
Und mittendrin Mila, in der ein kleiner Mensch heranreift.
Man wagt es kaum zu hoffen, doch Mila bringt ihren Sohn tatsächlich zur Welt. Anfangs ist James noch rosig, hat schwarzes Haar. Zusammen Teresa, einer Polin, die zu Milas bester Freundin wird, und ein paar anderen Frauen, versucht sie, James durchzubringen.
Doch James ist nicht das einzige Baby in Ravensbrück. Es gibt ein Kinderzimmer, in dem etwa 50 Babys untergebracht werden. Sie liegen aufgereiht auf Strohmatratzen, pro Kind gibt es nur eine Windel. Die Kinder dämmern folglich in ihren Exkrementen vor sich hin und verwandeln sich, je älter sie werden, in winzige Greise. Es gibt nicht genug Nahrung für sie, denn die meisten Mütter haben keine Milch. Auch Mila muss James irgendwann einer anderen Frau zum Stillen geben. Sie versuchen, sich gegenseitig zu helfen. Doch neben dem Hunger setzt auch die Kälte im Winter den Kleinsten zu. Kohlen für das Kinderzimmer gibt es nicht.

In all diesem Elend wird James zur Stütze für Mila und für Teresa. Er ist der Einbruch des freien Lebens in das Lager. Er ist der Hoffnungsschimmer auf ein Leben nach dem KZ, für ihn bleiben die Frauen stark.

Goby verhandelt in diesem Buch nichts weniger als die Essenz des Lebens, die das Sterben so lange hinauszuzögern weiß, wie es nur geht. Selbst unter den unmenschlichsten Umständen. Doch dazu braucht der Mensch Hoffnung und das Mitgefühl anderer Menschen. So erlebt Mila immer wieder Hilfe und eben dieses Mitgefühl. Die gefangenen Frauen bauen sich gegenseitig auf, so gut es eben geht, sie bringen sich Deutsch bei, singen Lieder, erzählen sich Geschichten, teilen das Wenige, wärmen sich. Natürlich gibt es auch Eigennutz, doch der geht letztendlich in der Menschlichkeit unter, die die Frauen zusammenschweißt.
Doch auch von den Frauen, die Mila helfen, überleben nicht alle. Zu heftig wüten Ruhr, Cholera und Flecktyphus, zu niederschmetternd ist es, das eigene Kind zu verlieren. Mila jedoch hält sich an ihrem Kind fest, klammert sich an das Leben und schafft es schließlich wieder nach Frankreich zurück.

Trotz aller Grausamkeiten, die Mila in Ravensbrück erlebt, die einem sehr, sehr nahe gehen und bedrücken, konnte ich dieses Buch nicht weglegen. Denn man hofft und bangt mit ihr. Man erlebt, wie sie von der Nicht-Wissenden zur Wissenden wird, und wie sie schließlich am Ende ihr Wissen um die Vorgänge in Ravensbrück weitergibt.
Denn auch darum geht es bei Valentine Goby: Wissen weitergeben, erinnern, immer wieder erinnern, jeden Tag.

Und wer jetzt sagt, so etwas darf man auf fiktive Art aber nicht, dem erwidert Mila:
„Man braucht Historiker, um über die Ereignisse zu berichten; Zeugen, die ihre persönliche Geschichte erzählen, und Schriftsteller, um zu erfinden, was für immer verschwunden ist: den Augenblick.“

Valentine Goby holt viele Augenblicke zurück, die so oder so ähnlich nicht nur in Ravensbrück stattgefunden haben. Damit wir, die Nachgeborenen, ein unmittelbareres Gefühl für die Zustände in einem KZ bekommen, damit wir das Leid der Insassen auch heute noch verspüren, es nie wieder vergessen und nicht zulassen, dass auch nur ansatzweise so etwas wieder passiert. Hier oder anderswo.

Für dieses eindrucksvolle Buch ist die Autorin mit dem Prix des Libraires 2014 und dem Annalise-Wagner-Preis 2017 ausgezeichnet worden.

Traut euch, es zu lesen.

Valentine Goby: Kinderzimmer, Übersetzung: Claudia Steinitz, ebersbach & simon, 2017, 234 Seiten, 19,95 Euro

Kinder brauchen Tiere

schomburgKinder und Tiere gehen in den (sozialen) Medien ja bekanntlich immer. In Kombination sind sie eigentlich unschlagbar.

Drei wunderbare Kinder-Tier-Geschichten haben mich in den vergangenen Wochen bezaubert. Etwas länger harrt hier schon Chamäleon Ottilie. Es scheint fast, als habe sich das Bilderbuch von Andrea Schomburg so unsichtbar gemacht, wie deren Hauptdarstellerin … Nein, im Ernst: Andrea Schomburg erzählt von Paul und Anna Sausebier aus Bonn. Die beiden Geschwister wünschen sich sehnlichst ein Tier, aber es ist wie so oft, die Eltern sagen Nein: Tiere machen Dreck und alles kaputt, sind zu groß oder zu gefährlich. Kennt man ja, diese Bedenken.

Dabei hat sich bei Familie Sausebier schon seit einiger Zeit ganz unbemerkt das Chamäleon Ottilie eingenistet. Durch seine Mimikri-Funktion verschmilzt es mal mit dem Sofakissen, mal mit dem Teddybären, der Tapete oder dem Mantel der Tante. Bis es eines Tages zur Katastrophe kommt und das Karo-Muster von der Bettwäsche nicht mehr weggeht. Anna und Paul entdecken Ottilie sofort… Na, wenn das mal gutgeht!

Nicht nur die Wahl des Chamäleons als Haupt- und Haustier ist außergewöhnlich und eine Herausforderung für die kleinen Leser, denn sie müssen das Tierchen auf jeder Seite erst einmal ausfindig machen, auch die Reime von Andrea Schomburg sind ein weiteres Mal so famos und leicht fließend, dass es eine Freude ist, sie laut vorzulesen. Fast möchte man nach Ende der Lektüre ein Chamäleon als Haustier anschaffen!

Ein ganz anderes Haustier wird hingegen in Jan Bircks Buch Zarah & Zottel zur Rettung für die junge Heldin.
Zarah ist mit ihrer Mutter in eine neue Wohnung gezogen. Unten im Hof, wo die Kinder spielen, kennt sie noch niemanden – und niemand will mit ihr spielen.
Zarah wünscht sich dringend einen Freund, doch der ist hier erst mal nicht zu finden. Sie träumt von einem Pferd, denn sie steht auf Indianer, doch ein Pferd passt leider nicht in eine Etagenwohnung – aber vielleicht ein Pony, wenn es klein genug ist.

Am nächsten Tag macht sich Zarah zum „Laden für alles“ auf, und der patente Verkäufer weiß Rat bzw. hat ein zotteliges vierbeiniges Tier für sie. Zarah steigt auf und reitet auf Zottel nach Hause. Dass Zottel Pfoten statt Hufe hat, an der Ampel das Bein zum Pinkeln hebt und die Kinder im Hof über Zottel lachen, stört sie nicht. Zottel passt in den Aufzug und in die Wohnung. Nur leider hat Mama kein Geld, um Zottel zu bezahlen. Doch auch dieses Problem lässt sich lösen …

Mit dem Zottelponyhund zeigt Jan Birck jungen Lesenden, dass es in einer Freundschaft ganz und gar unwichtig ist, was man ist oder wo man herkommt. Zusammenhalt über die Grenzen von Anatomie oder Gattung ist wichtiger, als die genauen Definitionen von Herkunft und Abstammung. So kann ein Hund durchaus auch als Pony durchgehen, und was die Hautfarben von Menschen angeht, so sind die nicht der Rede wert, wie es Jan Birck hier ganz selbstverständlich macht. Dass ich das hier extra erwähnen muss, zeigt allerdings, dass es immer noch nicht normal und eben nicht selbstverständlich ist, dass eine Bilderbuchheldin eine dunklere Hautfarbe hat als ihre Mama und die Kinder im Hof. Von solchen Heldinnen sollte es viel mehr geben, so dass die Diversität unserer Gesellschaft in den Büchern tatsächlich ein Abbild findet.

So schön das Zusammenleben mit Tieren auch sein kann, irgendwann kommt unweigerlich der Tag, an dem die Hausgenossen sterben. Dann wird aus Freude plötzlich Trauer und man stolpert in die Trauerpfützen.

So erklärt es der Kinderarzt der kleinen Leni, deren Hund Frieda neulich gestorben ist, im Bilderbuch von Hannah-Marie Heine. Zuhause erinnert Leni vieles an Frieda, und schwupps laufen ihr schon wieder die Tränen aus den Augen und der Bauch zieht sich zusammen. Aber ganz schnell hopst Leni auch wieder aus der Trauerpfütze heraus, genießt ein Stück Zuckerkuchen von Oma und schaut in die Sterne. Von dort oben kuckt Frieda ihr vielleicht zu …

Einfühlsam zeigt Hannah-Marie Heine kleinen Tierfreundinnen, dass es ganz normal ist, dass man seinem vierbeinigen oder geflügelten Freund nachtrauert. Gefühlsschwankungen gehören zum Abschied dazu, aber nach der Trauer kommt auch die Freude wieder. Wenn man dann noch die Erinnerungen an das geliebte Tier in einen würdigen Rahmen kleidet, kann man sicher sein, dass es auch weiterhin bei einem ist.

Dass Verlust und Tod Teil unseres Lebens sind, erfahren Kinder hier durch ganz alltägliche Szenen – wunderbar lässig von Katharina Vöhringer gezeichnet –, und genau die können helfen, so schwierige Momente zu bewältigen, wenn die geliebten Tiere plötzlich nicht mehr da sind.

 

Andrea Schomburg: Neu in der Familie: Chamäleon Ottilie, Illustration: Barbara Scholz, Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jan Birck: Zarah & Zottel – Ein Pony auf vier Pfoten, Sauerländer, 2017, 64 Seiten, ab 5, 9,99 Euro

Hannah-Marie Heine: Leni und die Trauerpfützen, Illustration: Katharina Vöhringer, Kids in Balance, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

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Vom preisgekrönten Sinn und Unsinn im Leben

erlbruchDiese Woche läuft in Bologna die Kinderbuchmesse – und jeder Buchmensch, der sich mit Kinder- und Jugendbüchern beschäftigt, ist entweder dort oder beobachtet aus der Ferne die Geschehnisse.

Dieses Jahr habe ich es leider nicht in dieses Geschichten- und Illustrationsparadies geschafft und bekomme die News also nur über die Medien. Eine schöne gab es gestern: Der Illustrator und Kinderbuchautor Wolf Erlbruch ist dieses Jahr mit dem hoch geschätzten und hoch dotierten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) ausgezeichnet worden. Herzlichste Glückwünsche!

Die meisten werden Erlbruch sicherlich mit dem Maulwurf verbinden, der das Dilemma auf seinem Kopf klären will, ich hingegen habe ihn durch zwei andere kleine Bücher kennengelernt.
Seine visuelle Interpretation des Goeth’schen Hexen-Einmal-Eins fasziniert mich immer wieder. So kryptisch wie die Reime des Geheimrats, die einem so sanft von der Zunge gehen und doch keinen eigentlichen Sinn ergeben, so geheimnisvoll sind auch die Collagen, die Erbruch dazugestellt hat. Mechanische Figuren, ein rauchender Seemann mit einem überlangen Boot unter dem Arm, Boxer, eine schöne Frau, eine Gänse-Fünf, der Sensenmann … es ist herrlich. Auf wenigen Seiten gibt es viel zu entdecken, und seien es die Zahlenkolonnen und die französischen Worte in den Papierschnipseln.
Und ganz ohne Sinn füllt sich der Geist des Lesers und Betrachters mit Klang und Bildern. Man fängt an zu träumen und zu staunen. Ganz leicht, ganz schön.

erlbruchDer Gans und dem Sensenmann begegnet man dann in dem Büchlein Ente, Tot und Tulpe wieder, das Erlbruch sowohl als Autor wie als Illustrator geschaffen hat. Das Zwiegespräch, das die Ente (die für mich eher wie eine Gans aussieht) hier auf wenigen Seiten mit dem Gevatter Tod führt, ist so rührend und voller Essenz, dass ich bei jeder Lektüre wieder schlucken muss. Doch ist in dieser Begegnung der beiden auch so viel Tröstliches, dass der Tod am Ende wie ein guter Freund dasteht.

Die philosophische Tiefe, mit der Erlbruch hier über die Allgegenwart des Todes, seines Dazugehörens zum Leben und dem Verschwinden der Welt nach dem Tod hier erzählt, ist meiner Ansicht nach, so auf den Punkt gebracht, dass man sich lange Abhandlungen von Philosophen durchaus schenken kann. Die Seitenhiebe des Todes auf christliche Glaubensüberzeugungen, was den Tod angeht, sprechen mir persönlich aus der Seele. So stößt er im Vorbeigehen auch noch das Nachdenken über den Unterschied zwischen Glauben und Wissen an.

In diesem Meisterwerk verliert der Tod seinen Schrecken. Die Gans hat das große Glück, sanft einzuschlafen. Denn die Grausamkeit des Sterbens bleibt ein Teil des Lebens und kommt in Form von Unfall oder schlimmem Schnupfen. Das ist dann aber eine andere Geschichte. Der Tod hingegen, der der toten Ente eine Tulpe mit auf den letzten Weg gibt, ist ein gutmütiger Geselle.

Ein besseres Trostbuch für kleine und große Menschen ist mir bis jetzt noch nicht untergekommen. Dafür sage ich Danke, Wolf Erlbruch!

Wolf Erlbruch/Johann Wolfgang von Goethe: Das Hexen-Einmal-Eins, Hanser, 2016, 32 Seiten, ab 3, 7,90 Euro

Wolf Erlbruch: Ente, Tod und Tulpe, Kunstmann, 2007, ab 4, 32 Seiten, 14,90 Euro

Der Lebenssinn der Küchenschabe

EisnerHeute würde einer der größten Comic-Künstler und Schöpfer der Graphic Novel seinen 100. Geburtstag feiern: Will Eisner.
Das gebührend zu feiern, hat der Carlsen Verlag Eisners Meisterwerk Ein Vertrag mit Gott nun als brikettdickes Paperback neu herausgebracht.

Mir ist Eisner Mitte der 90er Jahre zum ersten Mal begegnet, als ich über italienische Fotoromane meine Dissertation schrieb und irgendwann merkte, dass die Ähnlichkeit von gezeichneten und fotografierten Bildergeschichten einfach nicht zu leugnen war. So vertiefte ich mich in Eisners theoretisches Werk Mit Bildern erzählen, das dieser Tage unter dem Titel Comics als erzählende Kunst ebenfalls bei Carlsen neu herauskommt. Für das Verständnis, wie Comics und Graphic Novels funktionieren, wie mit Panels, Schriften und natürlich der Darstellung menschlicher Regung erzählt wird, ist dieses Grundlagenwerk immer noch unabdingbar und zeitlos.

Was mir bei meiner Forschung damals einfach durchgegangen ist, war allerdings Ein Vertrag mit Gott. Ein gute Gelegenheit, das Verpasste endlich mal nachzuholen. Auf über 500 Seiten entfaltet Eisner ein Panoptikum des Lebens in der Bronx in den 20er und 30er Jahren. Er erzählt von den Bewohnern in einem Mietshaus der fiktiven Dropsie Avenue, von ihren alltäglichen Sorgen, ihren Wandlungen, von verpassten Chancen, vom Ver- und Entlieben, von der Suche nach Sinn und dem großen Geld, das letztendlich doch nicht glücklich macht. Es sind die universellen Themen des menschlichen Daseins, die Eisner in dramatisch ausgeleuchtete Panels zeichnet. Die Figuren stellt er realistisch, fast schon brutal hässlich dar. Er beschönigt nichts, sondern macht deutlich, dass das Leben kein Ponyhof ist und vor allem das Zusammenleben zwischen Männern und Frauen, Jung und Alt, Arm und Reich von Konflikten aller Art geprägt ist.

EisnerIm letzten Teil der Graphic Novel macht Eisner die Dropsie Avenue selbst zur Hauptdarstellerin und porträtiert sie von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, als in der Bronx noch Bauernhöfe standen und der nächste Nachbar weit entfernt auf der anderen Seite des Feldes lebte. Nach und nach werden jedoch immer mehr Häuser gebaut, Menschen aus anderen Ländern ziehen her, die Holländer legen sich mit den Engländern an, diese wiederum wollen von den Iren nichts wissen. Noch mehr Häuser entstehen, Katholiken wohnen neben Juden. Das Viertel erlebt den Aufschwung, eine U-Bahn soll gebaut werden, noch mehr Menschen ziehen her, noch mehr Nationalitäten. Die ersten fühlen sich nicht mehr wohl oder sicher, wittern den Abstieg und ziehen weg. Verfall ist die Folge. Erste Mietskasernen entstehen, Prostitution, Gewalt, Mafia breiten sich aus. Iren kämpfen gegen Italiener. Spekulanten bereichern sich. Noch mehr Mietshäuser wachsen aus dem Boden, das Gesicht der Dropsie Avenue verändert sich. Das Leben der Menschen kaum.

Dieses Porträt einer Straße – man könnte es auch Aufstieg und Fall der Dropsie Ave nennen – ist so faszinierend und zeitlos, dass man sich mit jeder Seite und mit jedem Panel an die Entwicklungen in der eigenen Stadt erinnert. Das Auf und Ab des Lebens, den Kreislauf von Geburt bis Tod bringt Eisner in so universell gültigen Bildern auf den Punkt, dass man trotz der Dramatik und den menschlichen Schicksalen sich geborgen fühlt. Denn man findet sich in diesen vielen kleinen Geschichten und Episoden wieder, fühlt sich ertappt bei seinen eigenen Vorurteilen, gerät ins Träumen, wenn man dem eigenen Elend entfliehen will, schöpft Hoffnung, dass das tatsächlich möglich ist. Man ist gerührt, wenn die Liebe sich ihren Weg durch die Backstein-Hinterhöfe bahnt, über Religions- und Nationalitätsgrenzen hinweg.

So ist Will Eisners Meisterwerk in doppelter Hinsicht eine Bereicherung: Er zeigt in seinem 1978 entstandenen Werk, was die Graphic Novel ausmacht, was sie kann, wie literarisch Bild und Text zusammenarbeiten und profunde Geschichten erzählen können. Bereit in den 30er Jahren hatte er, der Meister des Comic-Strips und des Superhelden-Comics, den Traum, das literarische Potential des Mediums unter Beweis zu stellen. Damals hat niemand auf ihn hören wollen. Erst 40 Jahr später gelang es ihm, seinen Traum zu verwirklichen.
Zudem bringt er die Condition humaine in all ihren Facetten so auf den Punkt, dass man sich auf das Abenteuer Leben noch mal so gern einlässt. Eisner zeigt wie absurd die Feindschaft zwischen den Nationen und den Religionen ist. Die menschliche Natur macht bekanntlich keine Unterschiede, wenn es um die Grundbedürfnisse des Lebens geht. Bequem eingerichtet in unseren Filterblasen vergessen wir das viel zu häufig.

Vor Will Eisner kann ich mich nach dieser großartigen Lektüre nur noch mit absoluter Hochachtung und Bewunderung verneigen!

Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten, Übersetzung: Carl Weissner, Carlsen, 2017, 528 Seiten, 19,99 Euro

Will Eisner: Comic als erzählende Kunst. Grundlagen und Prinzipien, Carlsen, 2017, 176 Seiten, 19,99 Euro

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Auf eigene Faust

lllewellyn_cover_ticktacktot_jubu_thienemann-2016Tom Llewellyn hat einen speziellen Humor. Schon sein Kinderbuch Das Haus, in dem es schräge Böden, sprechende Tiere und Wachstumspulver gibt steckt voller Absurditäten und macht großen Spaß, egal, ob man die Geschichte selber liest oder vorliest. Nun also ein Jugendbuch. Ein Thriller. Tick Tack Tot, übersetzt von Nina Scheweling. Ist der Titel ernst gemeint?

Seth Anomundy lebt mit seiner Mom Eve in einer Gegend, in der man sich nachts nicht unbedingt allein auf die Straße traut. Doch es gibt Ankerplätze: den Boxclub von ChooChoo, der mit Seths Mutter verbandelt ist und der Seth das Boxen beigebracht hat. Den Uhrenladen von Mr Nadel, bei dem sich Seth mit Botendiensten ein paar Dollars verdient. Das Shotgun Shack, in dem Miss Irene das Sagen hat und in deren Küche Seth dem Kochen fröhnt. Das Guinevere´s, wo ihm Nikki beibringt, wie man richtig guten Kaffee komponiert. Den Buchladen King´s Books mit seiner Riesenauswahl an Graphic Novels. Und selbst die Schule ist ein Ort, an dem sich Seth wohlfühlt.

Das Leben hat sich eingespielt. Eve hat vier verschiedene Putzjobs, nachts, und manchmal bricht sie tagsüber aus, kauft teure Klamotten, streitet mit Inbrunst, will das Leben spüren. Seth dagegen ist ruhig, verlässlich und wirkt ernster als andere Jugendliche in seinem Alter. Und dann steht die Polizei vor der Tür. Mom ist tot, man hat sie vor dem Boxclub in ihrem Jeep gefunden. Zunächst wird Drogenmissbrauch vermutet — was auch sonst, wenn man schwarz ist und auf dieser Seite der Stadt lebt —, dann findet man toxische Substanzen im Leichnam. War es Selbstmord? Oder Mord? Die Polizei scheint nicht allzu engagiert, also beginnt Seth, auf eigene Faust zu ermitteln.

„Fang mit dem Einfachsten an“, rät ChooChoo. So beschließt Seth als Erstes, die Schule zu schwänzen. Dann tastet er sich an die Arbeitgeber seiner Mutter heran, versucht, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren. Er spricht mit den Gästen im Shotgun Shack — und sucht intensiv nach Miss Irene. Sie und seine Mom hatten Streit, jetzt ist Irene verschwunden, spurlos, niemand weiß etwas. Gibt es einen Zusammenhang mit Eves Tod?

Die Nachforschungen kosten Kraft. An Seths Seite ist Azura Lear (LLewellyn hat ein Händchen für Namen), eine Mitschülerin, reich und schön, eigentlich verbandelt mit Erik, doch sie interessiert sich für Seth. In dem Mädchen aus gutem Haus, zu deren Ahnen angeblich der Sekretär George Washingtons zählt, steckt mehr Power, als vermutet. Mit ihr kann Seth sprechen, sie arrangiert für ihn ein Treffen mit der Schulseelsorgerin, organisiert die Beerdigung seiner Mutter.

Das Ende der Geschichte ist überraschend und soll hier nicht verraten werden. Bis dahin wird gekämpft, es gibt Verdächtige und falsche Spuren, ein zweiter Toter wird gefunden. Es ist aber kein thrill auf ganzer Strecke, wir begleiten Seth, mitfiebern tun wir nicht, denn es gibt immer wieder Passagen, die sich vom eigentlichen Geschehen lösen. Das Ganze ist solide konstruiert und liest sich in einem Rutsch ohne literarische Finessen.
Was mich jedoch besonders überzeugt, ist das psychologische Moment. Seth, der ohne Vater aufwächst und seine Mutter aufrichtig liebt, nimmt gefangen. Er ist unglaublich sympathisch, realistisch, mutig und sensibel. Seine Beharrlichkeit, sein Netzwerk, seine Kombinationsgabe helfen ihm, den Fall zu lösen. Seine Bodenhaftung ist das beste Rüstzeug, um in (s)ein neues Leben zu starten.

Heike Brillmann-Ede

Tom Llewellyn, Tick Tack Tot, Übersetzung: Nina Scheweling, Thienemann Verlag 2016, 224 Seiten, ab 13, 12,99 Euro

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Auf den Mut

benwellBei der momentan erschütternden Nachrichtenlage auch noch ein Buch zu empfehlen, das sich mit einer echt fiesen, unheilbaren Krankheit befasst, mag nicht gerade zur Ermunterung beitragen, die wir uns alle eigentlich gerade wünschen. Trotzdem. Denn Sarah Benwell hat ein wirklich grandioses und berührendes Debüt vorgelegt.

In Es. Ist. Nicht. Fair. erzählt sie die Geschichte des 17-jährigen Japaners Sora. Der Junge lebt mit seiner Mutter in Kyoto und ist ziemlich einsam. Denn Sora hat ALS , eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Krankheit ist unheilbar, nach und nach verlieren die Betroffenen die Fähigkeit, ihre Muskel zu bewegen. So kann Sora zu Beginn des Romans schon nicht mehr laufen, bewegt sich in einem Rollstuhl fort, den er aber noch selbst antreiben kann. Doch das Kribbeln und das Zittern seiner Hände zeigt ihm, dass die Krankheit fortschreitet. Sora weiß, dass er bald sterben wird.
Da er mit dem Rollstuhl nicht mehr in seine normale Schule gehen kann (sie ist nicht barrierefrei), sitzt Sora nun zu Hause vor dem Computer und treibt sich auf einer Chatplattform herum, wo die Jugendlichen seiner Stadt über ihre alltäglichen Problemchen plaudern. Sora hat den Eindruck, wenigstens noch ein bisschen am Leben teilzuhaben.
Nach anfänglichem Zögern kommt er mit Kaito und Mai in Kontakt. Sora wagt jedoch nicht, ihnen von seiner wirklichen Situation zu erzählen. Als Soras Mutter ihn auffordert, die beiden zum Essen einzuladen, was Kaito und Mai tatsächlich annehmen, sind sie erstmal geschockt, Sora im Rollstuhl vorzufinden.
Doch die Freundschaft der drei ist bereits so stark, dass sich Kaito und Mai nicht verschrecken lassen. Immer öfter unternehmen sie etwas zu dritt – so weit es mit Sora geht. Denn sein Zustand verschlechtert sich zusehends.
Sora kommt irgendwann nicht mehr allein aus dem Bett, braucht Hilfe beim Anziehen und Essen. Sein Körper wird zu seinem Gefängnis. Im Krankenhaus, wo er regelmäßig mit einer Psychologin redet, sieht er andere Kranke, die bewegungsunfähig in ihren Betten liegen und gar nichts mehr tun können. So will Sora nicht enden. Er fasst einen Entschluss, doch er braucht Hilfe bei der Durchführung.

Sarah Benwell rührt in ihrem Erstlingswerk an den ganz großen Themen des Lebens. Unverblümt bringt sie jugendliche Leser dazu, sich mit Krankheit, Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Krankheit und Behinderung sind in den vergangenen Jahren in vielen Büchern und Filmen behandelt worden (Das Schicksal ist ein mieser Verräter oder Ziemlich beste Freunde). Auch ALS ist im Film Hin und Weg bereits – für Erwachsene – thematisiert worden. Die Autorin nimmt in diesem Buch den Leser jedoch direkt mit in Soras Welt, denn sie lässt ihn als Ich-Erzähler von seinen Gedanken, Gefühlen, seinen Ängsten und Überlegungen berichten. Man spürt förmlich, wie es ihn schmerzt, seine Mutter leiden zu sehen. Die Sprachlosigkeit zwischen den beiden ist streckenweise ganz fürchterlich. Man spürt mehr und mehr, wie Soras Körper versagt. Wie er sich schämt, als er nicht schnell genug auf die Toilette kommt. Oder genervt ist, wenn ein übereifriger Pfleger ihm helfen will.
Durch diese enge Perspektive und das Wissen um die Aussichtslosigkeit seiner Lage wird die Entscheidung Soras, seinem Leben ein Ende zu setzen, nachvollziehbar. Mit Kaito und Mai hört man allerdings auch die anderen Stimmen, die sich zunächst gegen einen Suizid aussprechen. Doch Sora führt ihnen vor Augen, was es für ihn hieße, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Auch für ihn ist es eine Überwindung, doch schließlich nehmen alle drei ihren ganzen Mut zusammen und bereiten Sora ein würdevolles Lebensende. Auf diesen Mut stoßen sie an.

Dadurch, dass Benwell das Setting der Geschichte nach Japan verlegt hat, kann sie Soras Entschluss in die japanische Tradition der Samurai und des Harakiri einbetten. Selbstmord ist dort keine christliche Sünde, sondern durchaus etwas Ehrenhaftes. Sterbehilfe, das macht sie ganz klar, ist auch in Japan gesetzlich verboten. Der assistierte Selbstmord, den Sora letztendlich begeht, ist hier allerdings eine Nuance freier, als wenn er unter christlichen Vorzeichen geschehen würde. Diese „Das-ist-Sünde-das-darf-man-nicht“-Keule kann man in diesem Kontext nicht so einfach schwingen. Sein Leben freiwillig zu beenden ist immer eine sehr traurige Sache, auch daraus macht Benwell keinen Hehl, aber sie liefert hier, befreit vom christlichen Kontext, eben die Möglichkeit, genau darüber nachzudenken.

So kann man während des Lesens nämlich nie aufhören, darüber nachzudenken, was man, wäre man selbst in so einer Situation wie in der von Sora, tun würde. Oder auch wenn man von einem lieben Menschen gefragt würde zu helfen, was würde man tun?
Man kommt nicht umhin zu erkennen, dass das Leben wertvoll ist, dass man die Zeit, die man hat, gut nutzen sollte. Sora bringt Mai schließlich dazu, dass sie ihren Traum vom Zeichnen wahr macht und sich gegen ihre dominante Mutter zur Wehr setzt.
Den Leser lässt Sora sehr intensiv an seinem Schicksal teilhaben und gibt ihm dadurch unzählige Geschenke mit auf den Weg. Denn neben der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod erscheint einem das eigenen Leben auf einmal sehr kostbar.

Benwells Es. Ist. Nicht. Fair. ist tiefgründig, vielschichtig und sehr berührend. Das ist auch der feinfühlenden Übersetzung von Ute Mihr geschuldet, die das Schwere so leicht verpackt. Die Lektüre fesselt ungemein – ich habe das Buch an einem Wochenende verschlungen – macht traurig, aber bereichert so sehr, wie ich es lange nicht erlebt habe.

Sarah Benwell: Es. Ist. Nicht. Fair., Übersetzung: Ute Mihr, Hanser Verlag, 2016, 346 Seiten, ab 14, 18 Euro