Zwischen den Welten

Berlin-Neukölln, Campus Rütli, ein lauer Spätsommerabend. Die verkehrsberuhigte Rütlistraße präsentiert sich schon fast als Idyll. Kinder spielen im Jugendtreff, auf dem Sportplatz läuft eine Partie Basketball. In der Kleingartensiedlung „Hand in Hand“ ist gerade gar nichts los, an einer Brandmauer steht „Kotz Kölln“. Die Gewalt, die hier noch vor einigen Jahren herrschte, ist an diesem Abend nicht mehr zu spüren. Der Campus Rütli, der unter der Schirmherrschaft von Christina Rau, Witwe von Bundespräsident Johannes Rau, weiter ausgebaut wird, wandelt sich: Die Schüler schrauben an alten Porsche-Traktoren oder musizieren im Schulorchester. Die S. Fischer Stiftung unterstützt die Kids mit Aktionen wie „Fußball trifft Kultur“ – erst kicken, dann lesen. Und nun gab es eine Premiere: Im Rahmen der „Woche der Sprache und des Lesens in Berlin“ las Deniz Selek in der Mensa der Schule aus ihrem druckfrischen Roman Zimtküsse. Und richtig viele Schüler waren gekommen.

Man hätte vermuten können, dass das junge Publikum, vor allem die Jungs, bei der Lesung eines ausgesprochenen Mädchenbuches, herumalbern oder stören würden. Doch Fehlanzeige: Gebannt lauschen die etwa 80 Zuschauer der deutsch-türkischen Autorin, für die dieser Abend eine doppelte Premiere ist. Es ist ihre erste Lesung aus ihrem Debütroman – und Deniz Selek meistert das Ganze mit Bravour. Sie liest engagiert und mit Herzblut. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ihr an den Lippen hängen und sie hinterher mit Autogrammwünschen bestürmen und den kleinen Büchertisch fast leerkaufen. Zu diesem Erfolg trägt natürlich auch Seleks unterhaltsam leichter Roman bei.

Darin erzählt sie die Geschichte der 14-jährigen Sahra. Ihr Vater ist Türke, Maschinenbauingenieur und der beste Papa der Welt, ihre Mutter ist Deutsche – und hat sich gerade in eine andere Frau verliebt. Sahras Welt steht Kopf. Hinzu kommt, dass ihre beste Freundin Katta nur noch Augen für Henry hat. Sahra hält das alles nicht mehr aus und flüchtet zu ihrer Großmutter nach Istanbul. Dort taucht sie zusammen mit ihren Cousinen Daria und Sema in das Getümmel der Großstadt ein, dort, wo internationale Kaffee-, Parfum- und Bekleidungsketten auf kleine Läden aus 1001 Nacht treffen, wo die Mädchen Liebesschlösser und bunte Perlenbänder für Gelübdebäume kaufen.  Sahra staunt, genießt und kämpft mit den beiden Welten, in denen sie lebt. Dort, wo sie gerade ist, fehlt ihr die andere Welt. Ist so etwas schon für Erwachsene eine Herausforderung, wird das für ein pubertierendes Mädchen zu einer existenziellen Erfahrung: Wer bin ich? Wo und wie will ich leben? Was prägt mich? Sahra erlebt die Sehnsucht und die Erfahrung, sich ständig entscheiden zu müssen, obwohl sie das eigentlich gar nicht will. Und sie erfährt die Liebe und Zuneigung von ihren Eltern, ihrer Großmutter, ihren Cousinen und ihren Freunden. Und Tjiago aus dem dritten Stock, Zuhause in Deutschland, scheint doch gar nicht so übel zu sein, wie anfangs gedacht …

Deniz Selek erzählt diese wichtigen Alltagsgeschichten, die zur Identitätsfindung Jugendlicher gehören, mit souveräner Leichtigkeit. Ihre lockere Sprache trifft genau den Ton der Teenager, die eingewebten türkischen Begriffe zeugen von der Verquickung der beiden Welten, in denen die Protagonistin lebt – und eben auch viele der zukünftigen Leserinnen. Seleks Liebe zu Istanbul, wo sie selbst viele Jahre gewohnt hat, ist in jeder Szene zu spüren. Ihre eigene Erfahrung als Halbtürkin in Deutschland spiegelt sich im Roman und verleiht ihm die nötige Authentizität. Die Autorin zeigt, dass im Einwanderland Deutschland das Leben in zwei Kulturen zur Normalität gehört. Und gerade diese Normalität, zu der auch der raue, gewalttätige Umgangston in der Schule gehört, macht die Stärke dieses Buches aus.

So wie die Lesung auf dem Campus Rütli, bei der übrigens auch Christina Rau anwesend war, ein tolles Beispiel war, wie man die Kids zum Lesen animiert, so ist Zimtküsse ein total liebenswertes Romandebüt, perfekt gelungene Unterhaltung und allerbestes Lesefutter.

Deniz Selek: Zimtküsse, Fischer Schatzinsel, 2012, 288 Seiten, ab 12, 13,99 Euro

Der Widerstand der Jugend

Manchmal gibt es merkwürdige Häufungen von fast zeitgleichen Veröffentlichungen zu einem Thema. In diesen Monaten werden die Edelweißpiraten von Köln, die sich in den 1940er Jahren gegen die Nazis auflehnten, in gleich zwei Büchern für Jugendliche gewürdigt.

Sie heißen Bastian, Ralle, Billie, Franzi und Zack – und sie haben keinen Bock auf die HJ. Köln, 1943, die Nazis herrschen mit harter Hand, die Alliierten bombardieren fast täglich die Domstadt, und die Jugendlichen wollen lieber wandern, singen und am Lagerfeuer sitzen, anstatt sich in die gleichgeschalteten Jugendorganisationen der Nationalsozialisten einzureihen. Oftmals prügeln sie sich mit den HJlern. Und sie überfallen nachts Lebensmitteltransporte, um Zwangsarbeiter und die eigenen Familien zu unterstützen. Polizei und Gestapo sind diese „wehrzersetzenden“ Umtriebe ein Dorn im Auge, und so gehen sie immer schärfer gegen die Jugendlichen vor.

Bei einem der nächsten Bahnüberfälle schlagen sie zu. Zack wird erschossen. Die Edelweißpiraten sind erschüttert. Bastian wittert Verrat, zumal erst kurz zuvor Paul zu ihrer Gruppe gestoßen ist und ihm quasi im Handstreich Franzi ausgespannt hat. Doch Paul selbst ist auch nicht gut auf die Nazis zu sprechen. Sein jüdischer Vater wurde deportiert und stirbt beim Arbeitsdienst. Der Junge muss untertauchen. So kommt es ihm gelegen, dass die Edelweißpiraten Kontakte zu Fälschern haben. Aus Paul wird mit gestohlenen Papieren auf einmal Peter, Sohn eines hohen Nazibonzen, dessen Familie bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Franzi, die sich auf den ersten Blick in den Jungen verliebt hat, verschafft ihm Arbeit in einer Gärtnerei.

Trotz der Bombenangriffen schmieden die Edelweißpiraten beständig neue Pläne, wie sie die Nazis ärgern und beschäftigen können: Sie schreiben Flugblätter und lassen sie durch den Kölner Bahnhof flattern, sie sabotieren, wo sie nur können. Und sie diskutieren, wo Widerstand anfängt und wie weit er gehen kann: Bringen die kleinen Aktionen überhaupt etwas? Ist Gewalt zulässig? Darf man für den Zweck töten? Mit anderen Worten: Wo fängt Widerstand überhaupt an? Sie machen weiter – fliegen auf, werden verhaften und sollen ohne Prozess hingerichtet werden. Schließlich greift Paul zur Waffe.

Genau recherchiert und packend erzählt schildert Elisabeth Zöller die Wege der beiden Jungen Bastian und Paul. Der Leser ist dicht am Geschehen, spürt den Hunger, die Kälte und vor allem die Angst, die die Jugendlichen in den Kriegsjahren auszuhalten hatten. Doch auch der Zusammenhalt der Edelweißpiraten und die zärtliche Liebe zwischen Paul und Franzi lässt Hoffnung keimen, zeigt, dass anders Denken im Dritten Reich möglich, wenn auch schwierig war.

Jenseits vom bekannten, intellektuellen Widerstand um die Weiße Rose, dem moralischen eines Dietrich Bonhoeffers oder des politisch-visionären Attentats vom 20. Juli 1944 erfährt der Leser hier, dass auch Teile der Arbeiterjugend sich auflehnten und etwas gegen das Unrechtsregime taten. Wie selbstverständlich ziehen sich philosophische Grundfragen um Moral, Menschenwürde und Authentizität durch den Roman und bieten jede Menge Diskussionsstoff. Ein Glossar am Ende erklärt die wichtigsten Begriffe, Institutionen, Organisationen und Personen der Nazizeit.

Auf eine etwas andere, aber nicht minder packende Herangehensweise befasst sich Dirk Reinhardt ebenfalls mit dem Thema des jugendlichen Widerstands der Edelweißpiraten. In Tagebuchform lässt er den Jungen Josef Gerlach von den 1940er Jahren erzählen. Hier sind es Flint, Kralle, Gerle, Tilly, Flocke und Tom, die in einer losen Clique immer öfter gegen HJ und staatlich verordnete Regeln aufbegehren. Lange Haare und schräge Klamotten sind da nur die äußeren Zeichen des Freiheitsdranges.

Auch hier werden die Aktionen der Jugendlichen immer kühner. Sprüchen an den Wänden folgen Flugblätter, die Piraten helfen Ostarbeitern und plündern Züge, zersetzen die Wehrkraft. Und Gerle verliebt sich in Tilly.

Erzählt Elisabeth Zöller sowohl aus der Perspektive der widerständlerischen Jugendlichen, als auch aus der Sicht der nationalsozialistischen Herrscher, beschränkt sich Dirk Reinhardt durch das Genre Tagebuch ausschließlich auf die Ich-Erzählung durch den 16-jährigen Gerle. Authentisch schildert er, wie der Junge die Entwicklung des Kriegs, die Veränderungen in seiner Umgebung und in seinem Alltag erlebt. Die Schrecken und Untaten der Nazis greifen unmittelbar in sein Leben ein. Auch hier leidet der Leser mit dem Helden und spürt aus erster Hand die Seelenqualen, die er erleiden muss.

Gerles Geschichte hat Reinhardt in eine Rahmenhandlung gebetet, in der das Tagebuch in der Gegenwart vom sterbenden Josef Gerlach an den 16-Jährigen Daniel weitergegeben wird. Der Junge liest die Aufzeichnungen mit wachsender Neugier und Respekt – und entdeckt schließlich die Verbindung, die zwischen ihm und dem alten Mann besteht.

Mit diesem erzählerischen Kniff macht Reinhardt deutlich, wie wichtig es ist, auch heute noch – fast 70 Jahre nach Flugblattaktionen und Auflehnung – an diese mutigen Jugendlichen zu erinnern, die einfach nur ihre Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben wollten. Die Edelweißpiraten können immer noch als Vorbild dienen, darüber nachzudenken, welchen Weg man im Leben einschlagen will und wie viel man bereit ist, dafür zu riskieren.

Elisabeth Zöller: Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife, Hanser Verlag, 2012, 352 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten, Aufbau Verlag, 2012, 254 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

John Green in Berlin

Eigentlich habe ich es ja nicht mit Autogrammen und dem Promi-Hinterherrennen, doch dieses Mal konnte ich einfach nicht anders. Und jetzt ist meine Presseausgabe von John Greens Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter mit der Unterschrift des Autors versehen. Irgendwie schön. Das Ganze passierte heute Abend auf dem 12. Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo John Green seine Deutschland-Lesereise begann.

Ich war etwas zu früh im Haus der Berliner Festspiele, der Abend war noch lau und trocken. Als ich in den Garten schlenderte, saß er dort. In hellem Hemd, Jeans und Adidas-Turnschuhen. John Green himself. Ganz entspannt gab er ein Interview. Und anstatt die ersten Autogrammjäger fortzujagen, fing er an zu signieren und meinte: „Lieber jetzt schon, als später, wenn alle kommen.“ Ich nahm allen Mut zusammen, zumal ich mich für die Beantwortung meiner Fragen vor ein paar Wochen persönlich bedanken wollte. Er war so nett und erfreut, dass es mir regelrecht die Sprache verschlug, und ich irgendwas von „confused“ stotterte. Tzz. Er nahm es mit Humor und erzählte, dass er so jelaged sei und auch ganz confused … Nun, man sah es ihm nicht an. Auch nicht das Mammutprogramm, dass er einen Tag nach seiner Ankunft in Deutschland schon hinter sich hatte: Zwei Lesungen, Interview-Marathon, Aufnahmen mit einem Fernsehteam im Plänterwald. Das quietschende Riesenrad, das sich dort langsam gedreht hätte, würde so wunderbar zu der Vergänglichkeit in seinem Roman passen, wurde mir zugetragen.

Wenig später füllte sich der große Saal im Festspielhaus langsam. Etwa 250 Menschen drängten hinein, hauptsächlich junge Mädchen. Und als um 19.38 Uhr John Green auf die Bühne trat, brandete Jubel auf, als würde ein Popstar erscheinen. Doch er gebärdete sich ganz und gar nicht so, sondern setzte sich fast bescheiden auf seinen Stuhl. Einer launigen Vorstellung folgte die erste Lesung, zunächst John Green selbst auf Englisch, dann rezitierte Regina Gisbertz so mitreißend die deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz, dass der Autor ganz fasziniert an ihren Lippen hing und bekannte, dass er sich durch ihren Vortrag wieder genauso fühlte, wie in dem Moment als er das Buch geschrieben hatte.

Im Anschluss erzählte er von Empathie, die beim Schreiben wichtiger ist, als den richtigen Slang der Jugend zu treffen. Den hätte er selbst in jungen Jahren überhaupt nicht gesprochen und nie gewusst, worüber sich seine Altersgenossen so unterhielten. Doch das Mitgefühl für die Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, für die sie nichts können, war ihm während des Schreibens wichtiger. Für ihn müssen die Emotionen der Figuren aus dem Bauch herauskommen, dann gelänge es auch, die Leser zu fesseln. So findet er es denn auch heroisch, wenn sich die Helden von der Stärke zur hin Schwäche entwickeln und nicht anders herum. In einer Welt, in der Stärke oder zumindest der Anschein von Stärke extrem weit oben rangiert, ist das eine ganz wunderbare Haltung, die er in seinem sechsten Roman perfekt umgesetzt hat.

Ansonsten hält er es mit dem ur-amerikanischen Konzept der Reise: Wenn etwas nicht richtig läuft, verreise. Die Reise als Problemlöser ist ihm wichtig. Nicht nur, weil er selbst gern verreist, sondern weil jede physische Reise auch immer eine emotionale Veränderung nach sich zieht, und so zumeist eine Reise zu sich selbst wird. Auch das spiegelt sich in Das Schicksal ist ein mieser Verräter ganz eindrücklich.

Die einzige Frage aus dem Publikum, die er mit einem kategorischen Nein beantwortete, war die, ob er je unter dem Pseudonym Peter Van Houten den Roman Ein herrschaftliches Leiden schreiben wird. Für diese große, intellektuelle Herausforderung sei er nicht gut genug, denn die Vorstellung von diesem Buch sei einfach unerreichbar. Das glaube ich ihm zwar nicht, aber auch er hat natürlich ein Recht, Fragen unbeantwortet zu lassen. Was ihn auf jeden Fall noch interessanter macht.

Fast ging es ein bisschen unter, dass es in seinem Buch auch um die Beziehung zwischen Autoren und Lesern geht. Und um die Dankbarkeit der Autoren gegenüber ihren Lesern. Diese Dankbarkeit könnten die Autoren nur sehr schwer äußern, behauptete er – doch John Green ist dies an diesem kurzweiligen Abend auf seine reizende, unaufgeregte, fast bescheidene Art perfekt gelungen!

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro

Göttlich

oh mein Gott Meg RosoffSeit vergangenem Wochenende habe ich eine neue Lieblingsromanfigur: der Eck. Der Eck, das letzte Exemplar seiner Rasse, ist eine merkwürdige, nicht eindeutig zuordbare Mischung aus Pinguin „mit der langen Nase eines Ameisenbärs, Knopfaugen und weichem grauen Fell“. Eck ist ein Fass ohne Boden, was das Essen angeht, den einzigen Laut, den er von sich gibt ist „Eck“. Eck ist liebenswürdig, hilfsbereit – und das Haustier von Gott.

Gott hingegen heißt in dem neuen Roman von Meg Rosoff Bob. Und dieser Bob ist ein fauler, egoistischer, sexsüchtiger Nichtskönner. Er bekommt den Job als Gott nur, weil die Kommission der Stellenbesetzung, sich auf keinen Kandidaten einigen kann und die Stelle bei einem Pokerspiel als Gewinn aussetzt. Bobs spielsüchtige Mutter Mona gewinnt und gibt den Job umgehend an ihren 19-jährigen Sohn weiter.

So nimmt das Unheil seinen Lauf. An gerade mal sechs Tagen hudelt der junge Schnösel die Erde hin. Ab und zu gelingt im ein genialer Streich (Eck, manche Naturphänomene), doch im Ganzen ist alles eher Flickwerk und extrem katastrophenanfällig. Vor allem die Menschen, die Bob in seiner Eitelkeit nach seinem eigenen Bild geschaffen hat, stellen sich als ziemlich unvollkommen heraus. Sie werden krank, bekriegen sich ständig, zerstören die Umwelt und schicken ständig Gebete an Gott. Um diese kümmert sich jedoch nicht Bob, sondern Mr. B., der sich eigentlich auf die Stelle beworben hatte, allerdings zu langweilig und spießig war und nun quasi die Drecksarbeit erledigen muss. Diese endet nie, die Gebete stapeln sich in Massen auf Mr. Bs. Schreibtisch, und die nächste Katastrophe bahnt sich bereits an.

Denn ausnahmsweise hat Bob ein Gebet gelesen. Darin bittet die 21-jährige Tierpflegerin Lucy, sich endlich mal zu verlieben. Doch zunächst ist es Bob, der sich verliebt. Hals über Kopf und rettungslos, in Lucy. Denn die ist seine absolute Traumfrau. Mit ihr will er den Rest seines Lebens verbringen. Nur dass Bobs Leben ewig dauern, während Lucy bereits in wenigen Jahren Falten bekommen und nach alter Frau riechen wird. Aber Bob will sie. Unbedingt. Und so taucht Gott unvermittelt bei seiner Angebeteten auf, verdreht ihr den Kopf, weckt ihre Leidenschaft – kann aber leider ihre Fragen nach Herkunft, Beruf und Wohnsitz nicht sehr überzeugend beantworten. Auch dass er kein Telefon hat, macht Lucy trotz all der erotischen Spannung und Begierden doch stutzig. Sie hält Bob auf Abstand. Das wiederum passt ihm gar nicht. Und wenn er nicht bekommt, was er will, wird er sauer, und wenn er sauer wird, schlägt sich das im irdischen Wetter nieder. So überziehen unvorhersehbare Wetterkapriolen die Erde und Lucys Stadt versinkt im Wasser. Und natürlich kann sich niemand den Schnee im Sommer, die Eiseskälte im Wechsel mit aller kitschigstem Traumwetter erklären. Mr. B. versucht sein Bestes, Bob von Lucy fortzulocken und beauftragt ihn mit der Rettung der Wale.

Derweil bangt Eck um sein Leben, denn Mona hat mal wieder gepokert und Eck musste als Einsatz herhalten. Nur hat sie dieses Mal kein Glück, verliert Eck, und sein neuer Besitzer will ihn unbedingt verspeisen, da er als Delikatesse in allen 9000 Galaxien gilt …

Meg Rosoffs neuer Roman Oh. Mein. Gott. ist an Absurdität, Schrägheit und Skurrilität eigentlich nicht zu überbieten. Hemmungslos demontiert sie die Gottesfigur und hinterfragt Glaubenskonzepte. Manchen mag das vielleicht gotteslästerlich erscheinen, doch Rosoff tut das mit so viel Witz und Charme, dass man ihr auf keiner Seite böse sein kann, sondern sich an ihren gleichermaßen durchgeknallten wie genialen Ideen, Abstrusitäten und Wundern immer mehr erfreut. Und man einfach nicht umhin kommt, Lucy, Mr. B. und vor allem Eck zu lieben. Ergo: ein göttlicher Lesespaß, ganz wunderbar übersetzt von Brigitte Jakobeit.

Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Fischer Verlag, 2012, 236 Seiten, 14,99 Euro

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Vor ein paar Tagen habe ich schon einmal über John Green und sein fulminantes Buch Das Schicksal ist ein mieser Verräter geschrieben. Jetzt hat mir John Green ein bisschen seiner wertvollen Zeit geschenkt und ein paar Fragen beantwortet.

Mr Green, woher stammen die Ideen für Ihre Geschichten?
Von Fragen. Im Fall von Das Schicksal ist ein mieser Verräter habe ich mich gefragt, wie man gleichzeitig optimistisch und intellektuell interessiert in einer Welt leben kann, die oftmals so grausam und launisch ist.

Warum sind Themen wie Krankheit und Tod für Sie so wichtig?
Bücher sind am interessantesten und nützlichsten, wenn sie unmittelbar von den Dingen erzählen, die wir fürchten und vor denen wir weglaufen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich ein Buch über Verlust, Trauer und Krankheit schreiben wollte. Gleichzeitig sollte es aber auch eine sehr lustige und sehr hoffnungsvolle Geschichte sein, denn das menschliche Leben ist im Grunde genommen lustig und verheißungsvoll.

Wie entwickeln Sie einen Plot?
An diesem Buch habe ich über zehn Jahre gearbeitet, also hatte ich viel Zeit, um über den Plot und die Struktur nachzudenken. Die Geschichte sollte eigentlich wie eine epische Liebesgeschichte angelegt sein – aber ich wollte, dass es – wenn so etwas überhaupt möglich ist – ein kleines und zärtliches Epos wird.

Haben Sie reguläre Arbeitszeiten, während Sie schreiben?
Ja, ich schreibe morgens von 8 Uhr bis mittags 12 oder 13 Uhr. An den Nachmittagen arbeite ich an meinen Videos und anderen Dingen.

Wie haben Sie das Roman-Schreiben gelernt? Oder war das ein Talent, das Sie schon in jungen Jahren besaßen?
Als ich jung war, habe ich mich fürs Schreiben interessiert, aber ich glaube nicht, dass ich besonders talentiert war. Das Schreiben habe ich hauptsächlich vom Lesen gelernt. Ich hatte viele hilfreiche und wichtige Lehrer, die mir das Schreiben beibrachten. Aber ich glaube, die beste Art, das Roman-Schreiben zu lernen, ist zu lesen.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter spielt zum Teil in Amsterdam: Haben Sie diese Stadt zufällig ausgewählt? Oder hat Ihr Stipendium dort dazu beigetragen?
Schon Jahre bevor ich das Stipendium für Amsterdam bekam, hatte ich die Geschichte dort angesiedelt. Ich habe Amsterdam genommen, weil die Erzählerin meiner Geschichte mit einer Krebsart lebt, bei der sich ihre Lungen immer wieder mit Wasser füllen. Sie ertrinkt sozusagen innerlich. Amsterdam ergeht es ähnlich: Die Stadt versinkt im Wasser, sie ist von Kanälen durchzogen, ist aber dennoch eine lebendige und blühende Stadt. Ich wollte eine Verbindung zwischen Hazel und dem Ort herstellen, den sie sich so liebevoll ausmalt.

Hatten Sie vorher auch über andere europäische Städte nachgedacht wie Paris, Rom oder Berlin?
Ich hatte kurz Venedig in Erwägung gezogen, auch das ist ja eine untergehende Stadt. Aber Venedig ist nicht so pulsierend und modern wie Amsterdam. Außerdem ist es viel kleiner.

Haben Sie mit dem Erfolg der amerikanischen Ausgabe von Das Schicksal ist ein mieser Verräter (im Original: The Fault in Our Stars) bei Amazon und Barnes & Nobels gerechnet?
Nein, ich hätte nie gedacht, dass das Buch so viele Leser ansprechen könnte und sie es so begeistert aufnehmen würden. Realistische Literatur für junge Erwachsene schafft es fast nie auf die Bestsellerlisten in den USA, aber 26 Wochen nach Erscheinen ist es immer noch auf Platz 3 der New York Times Bestsellerliste. Ich bin total überrascht.

Wie war es, 150 000 Exemplare des Buches zu signieren?
Das war anstrengend. Es hat fast drei Monate gedauert, und ich habe pro Tag zehn bis zwölf Stunden signiert. Aber gleichzeitig war ich so glücklich, dass so viele Menschen mein Buch vorbestellt hatten. Es war eine körperliche Herausforderung, aber ehrlich gesagt, habe ich das auch genossen. Romane zu schreiben ist sehr schwierig, es ist eine langsame Arbeit, für die man sehr viel Ausdauer und Konzentration braucht. Da ist es schon fast entspannend, seinen Namen immer und immer wieder zu schreiben.

Was hielt Ihre Frau von all den Kartons in Ihrem Haus?
Sie war nicht gerade sehr begeistert davon. Aber sie freut sich natürlich, dass so viele Leute das Buch lesen.

Haben Sie schon eine neue Idee für Ihr nächstes Buch?
Nein, ich habe keine Ahnung, was ich als nächstes schreiben werde.

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro

 

Seepocken am Containerschiff des Bewusstseins

Dieser Tage erscheint endlich der neue Roman von John Green. In den USA steht er seit über einem halben Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times. Zurecht. Denn mit Das Schicksal ist ein mieser Verräter ist Green ein ganz großartiges Buch gelungen. Darin erzählt er mit einer riesigen Portion an Humor und Liebe für seine Figuren die Geschichte von Hazel Grace.

Das Mädchen ist 16, liebt America’s Next Top Model, hasst die Selbsthilfegruppe, zu der ihre Mutter sie immer wieder fährt, und zieht eine Sauerstoffflasche hinter sich her. Denn Hazel Grace hat Krebs. Eigentlich Schilddrüsenkrebs, aber mittlerweile machen ihr die Metastasen in der Lunge viel mehr zu schaffen. Ein Buch, das so beginnt, scheint harter Tobak zu sein. Man vermutet zunächst eine dieser vielen Krebsleidensgeschichten, die den Leser immer ganz betroffen und geknickt zurücklassen. Doch John Green, amerikanischer Jugendbuchstar, entgeht diesem Klischee mit Bravour.

Hazel trifft in der Selbsthilfegruppe nämlich auf Augustus, dem ein Osteosarkom (Knochenkrebs) ein Bein genommen hat. Mit seiner schlagfertigen und frech-ironischen Art bricht der Junge nach und nach Hazels ruppigen Schutzpanzer auf. Die beiden diskutieren über Bücher, Musik, Leben und Sterben, Krankheit und Tod. Und das ohne Tabus. So entspinnt sich zwischen ihnen eine anfangs rüde und dann doch sehr romantische Love-Story. Gemeinsam philosophieren sie über das Dasein von pubertierenden Krebspatienten, bezeichnen sich als „Nebenwirkungen“ und als „Seepocken am Containerschiff des Bewusstseins“. Hört sich grausam an, und für jeden einzelnen Betroffenen ist es das selbstverständlich auch, aber Green erzählt entwaffnend offen und gnadenlos von Krankheit, Leid und Tod, dass es einfach nur bewunderungswürdig ist.

Hazels steckt Augustus mit ihrer Begeisterung für das Buch „Ein herrschaftliches Leiden“ von Peter Van Houten an. Es handelt von dem krebskranken Mädchen Anna, endet jedoch so abrupt, dass Hazel, die Krebsbücher eigentlich total doof findet, nicht davon lassen kann. Sie will unbedingt die Antworten auf eine Reihe von dringlichen Fragen haben (Was passiert mit dem Hamster Sisyphus? Ist der Tulpenholländer ein Betrüger? Was wird aus Annas Mutter?). Augustus, der mittlerweile bis über beide Ohren in Hazel verliebt ist, organisiert daraufhin eine gemeinsame Reise nach Amsterdam. Dort lebt Van Houten ganz zurückgezogen und hat sich von der Welt abgewandt.

Wie dieser Plot sich auflöst, darf ich hier natürlich nicht verraten – denn das würde die Spannung und die Faszination der Geschichte kaputtmachen. Und fasziniert ist man, von der ersten Seite bis zur letzten. Greens schnörkellose Erzählart – souverän übersetzt von Sophie Zeitz – zieht einen sofort in den Bann. Man ist unmittelbar bei den Protagonisten, nicht nur, weil er Hazel aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, sondern weil Green ihr Innenleben mit so einer erfrischenden Selbstironie schildert, dass man sich am liebsten eine Scheibe davon abschneiden möchte.

Sähe Green nicht wie Schwiegermutters Liebling aus, könnte man ihn für den Punk der Jugendbuchbranche halten. Seit 2007 betreibt er mit seinem Bruder Hank einen Video-Blog und gebärdet sich darin wie ein durchgeknallter Nerd. Ein liebenswerter Nerd, der unglaublich schnell quasselt. Als er sein neues Buch mit dem englischen Titel The Fault in Our Stars im Netz ankündigte, hat seine Fan-Gemeinde ihm noch vor Erscheinen seines Buches in den USA mit den Vorbestellungen bei Amazon und Barnes & Nobel den ersten Platz auf der Bestsellerliste gesichert. Wahnwitzigerweise versprach Green in einem weiteren Video vor Freude, er werde all die bestellten Bücher der Erstausgabe handsignieren. Das hat er dann getan: 150 000 Exemplare in drei Monaten, zehn bis zwölf Stunden täglich. Respekt.

Mittlerweile ist in den USA so ein Hype um TFiOS ausgebrochen, dass Green auf einer Extra-Site Fragen zu dem Buch beantwortet. Mit der klaren Ansage, erst zu fragen, wenn man das Buch auch gelesen hat. Eine ganze Reihe von Fragen dreht sich dabei um das Buch im Buch. Und so verwundert es nicht, dass es auf Facebook bereits eine eigene Seite gibt, die sich nur um Peter Van Houtens An Imperial Affliction dreht. Die etw 450 Facebook-Anhänger bedauern zum großen Teil, dass es dieses Buch wirklich nicht gibt.

Eigentlich müsste man bei so viel Trubel misstrauisch werden. Aber dann schaut man wieder in das Buch, schlägt eine beliebige Seite auf und ist entzückt, gerührt und von den beiden tiefsinnigen, feinfühligen und rotzfrechen Protagonisten einfach nur überwältigt. Von John Green, der mit seinem Debütroman Eine wie Alaska 2008 in Deutschland für den Jugendliteraturpreis nominiert war, werden wir hierzulande sicherlich noch mehr zu lesen bekommen – und darauf freue ich mich schon.

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro

Jüdische Aufklärung

Waldtraut Lewin: Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der JudenJüdisches Leben in unserer Gesellschaft gibt es – wieder, muss man wohl hinzufügen. Doch es findet zumeist hinter verschlossenen Türen in den Familien und Gemeinden, in gut bewachten Synagogen und jüdischen Einrichtungen statt. So jedenfalls ist meine ganz persönliche Beobachtung. Jüdisches Leben in der deutschen Öffentlichkeit ist immer noch keine Selbstverständlichkeit. Das Unwissen über die Kultur und die Geschichte der Juden setzt sich weiter fort. Würde man zur Geschichte der Juden befragt, wäre die Verfolgung der Juden im Dritten Reich wahrscheinlich das Erste, was einem einfällt. Doch neben diesem düsteren Kapitel der deutschen und jüdischen Geschichte – an das nicht oft genug erinnert werden kann – sollte sich der Blick jedoch auch auf die Jahrtausende alte Historie der Juden richten.

Die Autorin, Dramaturgin und Regisseurin Waltraut Lewin hat sich genau diesem monumentalen Thema gewidmet. Im ersten von zwei Teilen ihres Werkes Der Wind trägt die Worte stellt sie die Geschichte der Juden vom Jahr 1 der jüdischen Zeitrechnung – 3761 v. Christus – bis ins Jahr 1655 dar. In einem Dreiklang aus Fakten, Berichten und (zum Teil fiktiven) Erzählungen führt sie den Leser von Palästina, Ägyptenland, Babylon, Italien, Spanien, Portugal, Deutschland bis nach England. Sie erzählt von Königen, Rabbinern und Propheten. Von Salomo, David und Rabbi Löw. Von Verfolgung, Inquisition, Ghettoisierung. Anfangs stammen die Geschichten aus dem Alten Testament und stellen für christlich geprägte Leser einen Wiedererkennungseffekt dar. Später fügen sich mehr und mehr Episoden an, die man aus der europäischen Geschichte kennen könnte – aus der jüdischen Perspektive jedoch nicht unbedingt wahrgenommen hat.

Im Laufe der Lektüre begreift man, wie eng Judentum und Christentum miteinander verbunden sind. Dass das eine ohne das andere kaum denkbar ist. Wie schon Lessing in seinem Nathan versucht hat klarzumachen. Die Einbindung der Erlebnisse und Erfahrungen der Juden in einen großen europäischen Kontext ist nicht nur lehrreich, sondern überaus faszinierend und fesselnd. Die Autorin mixt Geschichten und Legenden mit wissenschaftlichen Fakten und neuesten Erkenntnissen. Die kurzen Kapitel und die unterschiedlichen Erzählstile erlauben es dem Leser, nach Lust und Laune zwischen den Abschnitten und Epochen zu springen. Waltraut Lewin macht Historie so überaus anschaulich und nachvollziehbar.

Für Jugendliche ab 12 mag manches vielleicht nicht immer sofort verständlich sein, doch ein Glossar am Ende des Buches erklärt die gängigsten Begriffe der jüdischen Kultur, erläutert die jüdischen Feste sowie den Unterschied zwischen Tora, Tanach und Talmud. Dieses Geschichtsbuch sei allen denjenigen ans Herz gelegt, die jenseits von religiösem Missionierungswahn (von welcher Religion auch immer) mehr über das Judentum erfahren wollen, denn Lewin erzählt ohne erhobenen Zeigefinger und vermeidet platte Schuldzuweisungen. Das ist für mich Aufklärung im besten Sinne – wie schon bei Gotthold Ephraim Lessing.

Waldtraut Lewin: Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden, cbj, 2012, 765 Seiten, ab 12, 24,99 Euro

Die Schuld der Väter

Vaters Befehl oder Ein deutsches MädelWeit weg und doch immer noch nah ist die Zeit des Dritten Reiches. Aber die Generation, die noch unmittelbar davon berichten kann, stirbt aus, seien es die Opfer des Naziterrors, als auch die Täter, als auch ihre Kinder. Die Stimmen, die erzählen können, was damals vor sich ging und wie es sich anfühlte, in einer Diktatur groß zu werden, verstummen langsam.

Umso besser, dass Elisabeth Zöller eine wirklich beeindruckende Geschichte zu genau diesem Thema geschrieben und so eine dieser Stimmen festgehalten hat. Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel handelt von der 15-jährigen Paula, einer begeisterten Anhängerin des Führers. Stolz präsentiert sie der Familie eine signierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf, sie wird Schaftführerin beim BDM und glüht für das nationale Deutschland. Sie schwärmt für den schneidigen Werner und ist der ganze Stolz ihres Vaters, einem Polizeimajor in Münster.

Doch Paula ist auch mit Mathilda befreundet. Aber schon seit zwei Jahren kommt Mathilda nicht mehr in die Schule, und jetzt erfährt das Mädchen nach und nach die wahren Gründe für das Fehlen der Freundin. Mathilda ist Halbjüdin, und die Stimmung im Land wird Juden gegenüber immer feindseliger. Zunächst merkt Paula noch nicht viel davon, doch Mathilda führt ihr vor Augen, was die gelben Bänke in der Stadt bedeuten und dass immer mehr Menschen verschwinden. Auch Mathilda muss weg und kann sich nicht mehr mit Paula treffen. Die Mädchen richten einen geheimen Briefkasten in einem Baumloch ein und schicken sich so immer noch Nachrichten.

Dann zieht Paulas Familie in eine prachtvoll ausgestattete Villa, der Vater ersteigert einen echten Rembrandt, und immer mehr wundert sich die Ich-Erzählerin über diese Veränderungen, denn reich ist die Familie eigentlich nicht. Paula wird misstrauisch, aber noch hat sie Vertrauen zu ihrem Vater. Und so erzählt sie ihm von den „Swingheinis“, deren Laden Werner hochgehen lassen will. Ein paar Tage später entdeckt sie, dass der Vater einen der Jungen der Swingbewegung verhört und misshandelt hat, obwohl er versprochen hatte, ihm nichts zu tun.

Paulas Misstrauen wächst. Sie wird immer aufmerksamer, was in ihrer Umgebung passiert. Die wenigen Brief von Mathilda, die sie noch erreichen, tragen mehr und mehr den Schrecken der Judenverfolgung in Paulas Alltag. Mathildas Familie ist untergetaucht. Dann wird auch noch Paulas Geschichtslehrer verhaftet, der den Kindern das selbstständige Denken beibringen will.

Irgendwann bekommt Paula ein Telefonat des Vaters mit, in dem er die Deportation von Münsteraner Juden vorbereitet. Als es soweit ist, schleicht sie ihrem Vater hinterher, in der Hoffnung, Mathilda am Bahnhof zu treffen. Doch die Freundin ist nicht dabei. Zuhause erwartet sie der wutschäumende Vater – und die Situation eskaliert.

In einer ganz klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Elisabeth Zöller von Paulas Schicksal, das auf einer authentischen Geschichte beruht. Anfang 2005 hatte eine alte Dame die Autorin angerufen und sie gebeten, ihre Jugenderlebnisse aufzuschreiben. Diese alte Dame, die nicht namentlich genannt werden wollte, hatte den dringenden Wunsch, dass die Geschichte über die Kinder der Täter bekannt würde. Auch wenn die alte Dame das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erlebt hat, können wir ihr für ihren Mut dankbar sein, von ihrem Schicksal berichtet zu haben. Denn Elisabeth Zöller ist es hervorragend gelungen, Paulas kontinuierlichen Wandel von der Nazi-Anhängerin zur Kritikerin eindringlich darzustellen. Langsam und fast unmerklich schleicht sich der Horror der damaligen Zeit in die Geschichte und in Paulas Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Vater erweitert diesen politischen Roman um eine grausame psychologische Komponente. Denn der Feind ist nicht nur das System draußen vor der Tür, sondern der eigene Vater. Erschreckend deutlicht wird die deutsche Bürokraten-Mentalität, als der Vater Paula die Regeln für ein korrektes Verhör aus der Kladde vorliest. Und dann in seiner Wut bei der eigenen Tochter über die Strenge schlägt und sie mit dem Lineal fast totprügelt. Das ist verdammt beklemmend, aber gleichzeitig ist Vaters Befehl ein großes und wichtiges Buch über den Alltag in einem Nazi-Haushalt. Ein Buch, das in seiner schnörkellosen Erzählart deutlich macht, dass wir Rassenhass, Verfolgung und Holocaust nie wieder zulassen dürfen. Nirgendwo.

Für junge Leser, die mit dem Thema Nationalsozialismus noch nicht vertraut sind, gibt es im Anschluss an die Geschichte ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe, Organisationen, Namen und Vorgängen der Zeit erklärt. Dieses gründlich recherchierte Buch eignet sich bestens für anschauliche Unterrichtsdiskussionen.

Elisabeth Zöller: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel, Fischer Schatzinsel, 2012, 268 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Die Bestie Mensch

Historische Romane haben mich schon in meiner Kindheit und Jugend fasziniert. Zwischen den Buchdeckeln auf vielen bedruckten Seiten konnte ich eintauchen in vergangene Zeiten, konnte mich wegträumen und erfuhr im besten Fall historische Fakten, die im drögen Geschichtsunterricht nie zur Sprache kamen.

Meine jüngste Zeitreise in die Vergangenheit führte mich nach Frankreich, ins Gévaudan im Jahr 1767. In ihrem Roman Wolfszeit rekonstruiert Nina Blazon in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion eine Mordserie an Mädchen und Kindern. Eine Bestie treibt ihr Unwesen, zerfleischt und enthauptet ihre Opfer. Die Bewohner der Umgebung sind verunsichert. Ist es ein Mensch oder ein wildes Tier? Keiner hat die Bestie je gesehen. Gerüchte und Spekulationen verbreiten sich und dringen bis nach Paris und Versailles. Dort ist der junge Thomas Auvray, Zeichenschüler und Naturforscher an der königlichen Akademie, völlig von dem Untier fasziniert. Er skizziert, kombiniert und schafft es mit Verstand und Mut durchzusetzen, dass er an den offiziellen Jagden auf die Bestie teilnehmen darf.

In der Provinz begegnet er der schönen Grafentochter Isabelle. Das Mädchen ist traumatisiert, seit sie einem Angriff der Bestie entgangen ist. Thomas erhofft sich genauere Auskunft über die Bestie von ihr. Er gewinnt ihr Vertrauen und verliebt sich schließlich rettungslos in sie.

Blazon schafft aus diesem klassisch anmutenden Setting eine psychologische fundierte Aufklärungsgeschichte.  Der vernunftbegabte, aufklärerisch veranlagte Geist von Thomas trifft auf Aberglaube, Mythen und Volksglaube. Mit seiner Beobachtungsgabe sieht der junge Mann Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. So löst er nicht nur das Rätsel um die Bestie, sondern kommt auch hinter das große Familiengeheimnis um Isabelle.

Über dem ganzen Roman hängt beständig ein Hauch von Mystery – die Fantasie gaukelt dem Leser trotzt Thomas’ heldenhafter Vernunft immer wieder vor, dass vielleicht doch eine Art Werwolf sein Unwesen treiben könnte. Doch Blazon gelingt es vorzüglich, diese Vermutung beständig neu zu zerstreuen und im Laufe der Geschichte deutlich zu machen, dass nicht die Wölfe die Untiere sind, sondern viel mehr der Mensch selbst zur Bestie werden kann.

Die nervenaufreibende Jagd mit ihren überraschenden Wendungen macht diesen Roman zu einem Pageturner allererster Güte, den man erst aus den Händen legt, wenn Thomas die Bestie entlarvt hat.

Nina Blazon: Wolfszeit, Ravensburger Buchverlag, 2012, 567 Seiten, ab 13, 17,99 Euro

Kampf um Selbstbestimmung

meto das hausIn den vergangenen Monaten sind zahlreiche dystopische Romane auf meinen Schreibtisch gelandet. Manche habe ich gelesen, manche nach den ersten Seiten wieder zur Seite gelegt. Méto, der Auftaktband von Yves Grevets Trilogie, wanderte ziemlich lange von einer Ecke in die andere. Bis ich jetzt endlich anfing – und nicht mehr aufhören konnte.

Dabei ist die Geschichte eigentlich etwas sonderbar, geheimnisvoll und erstaunlich sperrig. Der 14-jährige Méto erzählt von seinen Erlebnissen im „Haus“. Wie er dorthin gekommen ist und was er vorher gemacht hat, weiß er nicht. Jetzt lebt er mit 63 anderen Jungen in eine Art Internat mit verschärften Regeln. Die Kinder sind nach Alter in Gruppen unterteilt, dürfen keine neugierigen Fragen stellen, müssen Sport treiben und nur eine gewisse Anzahl an Bissen pro Mahlzeit zu sich nehmen. Halten sie sich nicht an die Regeln der Cäsaren, ihrer Aufseher, drohen heftige Strafen: der Ohrfeigenkreis, Essensentzug und die Kühlkammer. Zudem werden die Jungen mit wachstumshemmenden Spritzen behandelt und mit Schlafmitteln ruhiggestellt. Kein Ort, an dem man gern ist oder der auf eine lustige Internatsgeschichte schließen lässt.

Im Laufe der Zeit stellt Méto sich immer mehr Fragen. Denn sobald ein Kind zu groß für das eigene Bett wird, muss es das Haus verlassen – und niemand weiß, was dann aus ihm wird. Der Ich-Erzähler fängt an zu forschen, sucht den Sinn hinter den harten Regeln und sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er findet Verbündete, muss sich aber auch vor Verrätern und Monster-Soldaten hüten. Nach und nach organisiert er die Revolution und sieht sich plötzlich neuen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt.

Irritierend an diesem Roman sind verschiedene Aspekte. Der Handlungsort, also das Haus, ist irgendwie nicht fassbar. Die Zeit, irgendwann in der Zukunft, ebenfalls nicht. Grevet beschreibt kaum, weder Räumlichkeiten, noch Figuren und schon gar nicht die Gefühle der Jungen. Seine Sprache ist nüchtern und staubtrocken. Adjektive und geschmeidige Übergänge scheint er nicht zu kennen. Die Jungen, die allesamt altrömische Namen tragen, wirken unnahbar. Man bleibt als Leser fast ein wenig allein in diesem beklemmend düsteren Szenario und weiß zunächst nicht, mit wem man sich möglicherweise identifizieren soll. Und dennoch entwickelt die Geschichte einen Sog. Denn die vielen offenen Fragen und Geheimnisse um das Haus und die Gesellschaft, in der die Jungen leben, befeuern Fantasie und Neugierde des Lesers.

In dem Moment, wo die Revolution gelingt und die Jungen sich einen neuen Tagesablauf und einen neuen Umgang mit den zuvor versklavten Dienern überlegen müssen, kommt eine neue politische Note dazu. Méto und seine Mitstreiter stehen vor der Frage, ob man eine faschistoide Gesellschaft mit einem Schlag in eine freiheitlich-demokratische verwandeln kann. Dass das nicht so einfach ist, merken die Aufständischen, als sie beinahe die Bestrafungen ihrer eigenen Peiniger übernehmen. Hier liegt meines Erachtens das Bedeutsame der Geschichte, die jugendliche Leser zum Nachdenken und Diskutieren bringen wird.

Wie sich die Revolution und Métos Rolle darin weiterentwickelt, bleibt derweil offen. Denn im wohl spannendsten Moment der Geschichte, endet der erste Teil. Die Fortsetzung erscheint im kommenden Oktober. Bis dahin ist Geduld und ein langer Atem gefragt.

Yves Grevet: Méto – Das Haus, Übersetzung: Stephanie Singh, dtv/Reihe Hanser, 2012, 217 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Unvermisst

marit kaldhol allein unter SchildkrötenDer Mensch ist im Grunde allein. Aber der Mensch ist auch ein soziales Wesen. Und wird er von den anderen nicht gesehen, so stürzt ihn dies in quälende Seelenpein.

Über so einen Menschen schreibt die Norwegerin Marit Kaldhol in ihrem Roman Allein unter Schildkröten. In kurzen Texten lässt sie den 19-jährigen Mikke in Tagebucheinträgen von sich erzählen. Soweit eigentlich nichts Ungewöhnliches. Allerdings beschleicht den Leser auf den ersten 65 Seiten immer stärker das dumpfe, ungute Gefühl, dass bei Mikke etwas ganz gewaltig schief läuft. Oberflächlich scheint alles in Ordnung: Er begeistert sich für Biologie, betreut einen behinderten Jungen und ist gerade zum ersten Mal richtig verliebt. Sein Vater hat die Familie zwar vor Jahren verlassen, die Mutter aber eine neue Liebe gefunden. Mit seinem Stiefvater steht sich der Junge richtig gut. Aber trotzdem fühlt Mikke sich einsam, rutscht langsam in eine Depression und setzt seinem Leben schließlich ein Ende.

Kaldhol schildert dieses Drama unaufgeregt und in keiner Weise voyeuristisch oder reißerisch. Nachdem Mikkes Tagebuchaufzeichnungen enden, erinnert sich zunächst seine Mutter an ihn und auch an ihr eigenes Leben. Im dritten Teil des Buches verabschieden sich die Väter und Freunde mit Briefen von dem Jungen. So fügen sich im Laufe der Lektüre diese Stimmen wie ein Puzzle zusammen und zeichnen das Bild eines im Grunde lebenslustigen, sportlichen, gutaussehenden Teenagers, der aber einem modernen Werther gleich an der Welt leidet.

Die kurzen Kapitel wirken poetisch, sind aber vor allem von Mikkes philosophischen Betrachtungen über das Leben, das Sterben und die eigene Identität geprägt. Neben der Frage nach den Gründen für seinen Freitod regt gerade Mikkes Suche nach einer eigenen Persönlichkeit, nach einem Platz in der Gesellschaft, in der er sich so verlassen vorkommt wie das Gelege einer Meeresschildkröte, zum intensiven Nachdenken an. Der Leser wird dabei auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine eigene Sicht der Dinge, ob er von anderen tatsächlich gesehen wird und ob er selbst die anderen wirklich sieht. Die Betrachtungen der Mutter und der anderen Figuren erweitern die Geschichte dann um die psychologische Dimension, die jedes Aufeinandertreffen von menschlichen Wesen zwangsläufig mit sich bringt. Man leidet mit den Menschen, die keine vorsätzlichen Fehler begangen haben, mit, weil man weiß, dass man einer von ihnen sein könnte.

So wird dieses schmale, stille Buch zu einer Lektüre mit Tiefe und Nachhall. In Zeiten von Krach, Oberflächlichkeit und Egozentrismus ein bewegender Kontrapunkt.

Marit Kaldhol: Allein unter Schildkröten, Übersetzung: Maike Dörries, mixtvision, 2012, 136 Seiten, ab 14, 12,90 Euro

Facebook-Tod und Hausbesetzung

Edvard ist 14 einhalb und hätte gern Haare auf der Brust. Außerdem ist er immer noch nicht im Stimmbruch, und Constanze will absolut nichts von ihm wissen. Keine gute Ausgangssituation für ein gelungenes Leben. Um an Constanze heranzukommen, hat er einen Facebook-Account gefakt und gibt sich dort als Jason aus Chicago aus. Constanze ist mittlerweile total in Jason verknallt, bombardiert ihn mit Anfragen und will schließlich sogar seine Telefonnummer. Das geht so gar nicht.

Edvard lässt Jason auf Facebook sterben. Jasons fiktiver Bruder James überbringt die Nachricht im Netz. Edvard glaubt, nun wieder Ruhe zu haben. Doch dem ist nicht so. Stattdessen richtet Constanze eine Gedenkseite für Jason ein und in kürzester Zeit steigen die Gefällt-mir-Klicks in die Hunderttausende. Alle wollen der Familie des Toten helfen und den angeblichen Ärztepfusch vor Gericht bringen. Die Angelegenheit verselbständigt sich immer mehr: Krankenschwester und Sanitäter werden interviewt, ein privates Spendenkonto wird eingerichtet und die Facebook-Freunde wollen unbedingt auf die eine oder andere Art helfen. Edvard ist völlig überfordert und stürzt sich erst einmal in ein anderes Projekt.

Sein merkwürdiger Nachbar, der immer die Haufen seines Pudels auf dem Bürgersteig liegen lässt, in die Edvard mit schöner Regelmäßigkeit reinlatscht, stellt sich als Astrophysik-Professor Tannenbaum heraus. Er ist Edvards großes Idol. Die beiden freunden sich an, der Professor gibt dem Jungen Nachhilfe-Unterricht.

Als Tannenbaum eines Tages verkündet, dass seine Vermieterin Eigenbedarf angemeldet hat und er aus seinem Geburtshaus ausziehen müsse, entwickelt Edvard ungewohnten Kampfeswillen und weckt auch in der Mutter die alte Revoluzzerlust. Gemeinsam mit Freunden besetzten sie Tannenbaums Haus, malen Transparente und erregen die Aufmerksamkeit der Presse. Schließlich bietet die Besitzerin dem Professor an, das Haus zu kaufen. Doch woher soll er so viel Geld nehmen?

Am Mittwoch, 28.9., 04:03 Uhr kommt Edvard die rettende Idee. Noch einmal wendet er sich als James über Facebook an Constance, die das private Spendenkonto verwaltet …

In den Einträgen eines Blogs erzählt der Held offenherzig und strunz-ehrlich von seinen Missgeschicken, Wünschen, Höhen und Tiefen – inklusive Allergieschock, Alkoholvergiftung und Knutschübungen mit einem Mädchen, das er eigentlich gar nicht will, bei dem er aber ständig einen Ständer kriegt. Mit anderen Worten: Edvard nimmt kein Blatt vor den Mund. Und das macht er so charmant und witzig, dass ich aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen bin. Dabei versinkt Autorin Zoë Beck nicht im platten Slapstick, sondern stattet ihren Protagonisten mit einer ordentlichen Portion Selbstironie aus. In all diesem Chaos sucht Edvard seinen eigenen Weg, jenseits der kulturell auf- und abgeklärten Bestrebungen von Dirigenten-Vater und Galeristen-Mutter, und bleibt dabei ganz beharrlich bei seiner Leidenschaft, der vermeintlich drögen Astrophysik. Sein Vorhaben, Tannenbaum zu helfen, führt schließlich dazu, dass in der Mutter das Rebellentum der eigenen Jugend wieder aufbricht.

Und dieser Seitenhieb richtet sich an die Eltern der jugendlichen Leser: Beck hält der Erziehergeneration den Spiegel der eigenen Angepasstheit und Saturiertheit vor und erinnert sie an ihre eigenen Träume und Weltverbesserungsbestrebungen.

So sehr hier auf der einen Seite das Facebook-Phänomen in wunderschönster Weise ad absurdum geführt wird, umso mehr steckt in der Geschichte auch die Sehnsucht nach dem leidenschaftlichen Kampf für eine wahre und gerechte Sache. Sie macht aus diesem urkomischen Jugendbuch eine All-Age-Lektüre mit Tiefgang.

Zoë Beck: Edvard. Mein Leben, meine Geheimnisse, Baumhaus Verlag, 2012, 190 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Nachkriegsleiden

unterlandAls Kind von Kriegsflüchtlingen üben Nachkriegsgeschichten auf mich eine sonderbare Anziehungskraft aus. Dabei sind das keine „schönen“ oder gar lustigen Geschichten, sondern bitterernste, traumatisierende Erlebnisse, die da geschildert werden. Vielleicht versuche ich, die Erfahrungen meiner Eltern dadurch wenigstens noch ein Stückchen besser nachvollziehen zu können.

Diese Woche war es der Roman Unterland von Anne C. Voorhoeve, der mich nicht mehr losgelassen hat. Er handelt von der 12-jährigen Alice, die mit Mutter, Großmutter und Bruder Henry von Helgoland nach Hamburg evakuiert wird. Der Vater ist in Kriegsgefangenschaft, der Onkel vermisst. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 werden die Helgoländer mit vier anderen Familien in einer Villa einquartiert. Die Eigentümer begegnen den Flüchtlingen alles andere als freundlich, und nur die strenge Reglung der Küchenbenutzungszeiten verhindert Schlimmeres. Zum Kochen ist allerdings nicht viel da, mal fehlen die Lebensmittel, mal der Strom. Der Junge Wim weiht Alice in die Geheimnisse des Tausch- und Schwarzmarkthandels ein und nimmt das Mädchen mit auf Hamsterfahrt und Kohlenklau. Alice muss bei all dem zusätzlich mit dem Handicap eines amputierten Unterschenkels kämpfen. Sie krückt durch das zerbombte Hamburg, hofft auf eine neue, bequemere Prothese und erzählt das Ganze dabei mit so einer trockenen Selbstironie, dass weder Voyeurismus noch falsches Mitleid beim Leser aufkommt.

Viel wichtiger wird die Sehnsucht Alices, auf ihre geliebte Insel zurückzukehren. Bis es soweit ist, will sie mit ihrem Bruder Henry den angeblichen Verräter ausfindig machen, der eine friedliche Übergabe der Insel an die Briten verhindert hat. Dass dies ein sinnloses Unterfangen ist, merkt Alice schneller als ihr großer Bruder.

Überhaupt kommt die Ich-Erzählerin so einigen Geheimnissen auf die Spur: das Schicksal des verschollenen Onkels, das der verschwundenen Juden, die Lager, die Verbrechen der Nazis. Nach und nach wird ihr klar, worin die unermessliche Schuld der Deutschen besteht und warum sich die Besatzer selbst von den Kindern abwenden.

Voorhoeve stellt die Leiden der Nachkriegszeit so eindringlich und plastisch dar, dass man als Leser die Enge, die Kälte und den Hunger förmlich am eigenen Leibe spürt. Wie nebenbei erfährt man zudem, was die Briten mit Helgoland vorhatten (sie wollten die Insel komplett wegsprengen) und wie Nazis und Mitläufer versuchen, ihre Spuren zu verwischen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch viel schlimmer als die körperliche Not sind all die unbeantworteten Fragen, auf die Alice immer wieder stößt, und die Last der unausgesprochenen Schuld.

Unterland ist ein zutiefst berührender und überaus vielschichtiger Roman, der die Erinnerung an das Leid der Kriegskinder und Flüchtlinge sowie an die Gründe, die dazu geführt haben, wach hält. Jungen Leser bietet er jede Menge Anregungen, die eigenen Großeltern nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen aus dieser bewegten Zeit zu befragen.

Anne C. Voorhoeve: Unterland, Ravensburger Buchverlag, 2012,  434 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Korrekter Bigtalk

Marcelo in the Real WorldWas ist die wahre Welt? Und ist die Wahrheit immer ein Geschenk? Marcelo macht sich da so seine ganz eigenen Gedanken. Das liegt zum Teil daran, dass er eine Art des Asperger-Syndroms hat. Sätze nimmt er wörtlich, übertragende Bedeutungen hat er im Kommunikationstraining gelernt. Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen fällt ihm schwer. Lieber diskutiert er mit Rabbinerin Heschel über sein Spezialgebiet, Gott. Er hört eine wohlige innere Musik. Außerdem liebt er die Haflinger-Ponys seiner Schule, an der er so sein darf, wie er eben ist. Ein bisschen langsam, sehr korrekt und einfach liebenswert.

Sein Vater, Staranwalt in einer großen Gemeinschaftskanzlei in Boston, sieht das jedoch anders und verpflichtet Marcelo, die Sommerferien über in der Poststelle der Kanzlei zu arbeiten. Damit der Sohn das wahre Leben kennenlernt und sich weiterentwickelt.

Und das tut er – nur nicht auf die Art, wie der Vater es sich gedacht hat. Denn mit den Regeln der wahren Welt und vor allem mit denen des amerikanischen Justizsystem konfrontiert, beschließt Marcelo nach gründlichen Überlegungen, nicht mehr mitzuspielen, sondern der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen…

Was sich als Plot vielleicht nicht besonders spektakulär anhört, wird jedoch durch die Darstellung der Arbeitswelt, die wir wahrscheinlich als „normal“ bezeichnen würden, überaus beeindruckend: Der grobe, menschenverachtende und fast schon gewalttätige Umgang der Kanzlei-Mitarbeiter untereinander zog mir die Eingeweide zusammen. Gefühlskälte, Berechnung, Manipulation herrschen hier – und werden durch Marcelos Blick darauf in ihrer ganzen Grausamkeit entlarvt. Fassungslos liest man vor den Umgangsformen und Gepflogenheiten, die in der „wahren Welt“ gang und gäbe sind.

Doch zum Glück gibt es Jasmine. Sie zeigt dem Jungen die Hügel von Vermont, den Sternenhimmel und eine Welt, in der Klarheit, Ehrlichkeit und Liebe möglich sind. Das tröstet und beruhigt ganz ungemein. So möchte man sofort mit Marcelo dorthin ziehen und der inneren Musik lauschen.

Marcelo In The Real World ist eine Perle – sowohl sprachlich, dank der pointierten Übersetzung von Britta Waldhof, als auch inhaltlich, dank der genauen Beobachtung durch Autor Francisco Stork, der uns allen einen Spiegel vorhält, wie nachlässig wir im täglichen Leben mit Worten und Gefühlen umgehen. Einfach großartig.

Francisco X. Stork: Marcelo in the Real World, Übersetzung: Britta Waldhof, Fischer FJB, 2011, 363 Seiten, 17,95 Euro

Es muss nicht immer Dr. Sommer sein…

Ja, es gibt sexuelle Aufklärung jenseits des Dr.-Sommer-Teams. Mädchen ab 12, denen die Bravo zu peinlich ist, können jetzt auf den Jugend-Brockhaus „Total verknallt!“ ausweichen. Dort finden sie verständlich geschriebene Artikel zu allen Themen rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln, erklären die Autoren tabulos, aber sachlich nicht nur die Basics der körperlichen Vorgänge, Sexualpraktiken oder das jugendliche Gefühlschaos, sondern plädieren auch für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Vom Quickie bis Queer ist hier alles drin, was wichtig ist, und was man vielleicht nicht zu fragen wagt …

Layout-technisch ist dieses Nachschlagewerk frech aufgemacht. Das Rosa-Lila von Schrift und Hintergrund wirkt jung und Girls-kompatibel, aber nicht kindisch – und ist auf jeden Fall keine Pink-Orgie á la Lillifee. Nur warum die Verweise und die Randbemerkungen gelb gedruckt wurden, verstehe ich nicht so richtig. Lesbarkeit ist für mich jedenfalls etwas anderes … aber vielleicht bin ich auch schon zu alt und augenschwach, um diese Entscheidung wirklich nachvollziehen zu können.

Der Jugend-Brockhaus: Total verknallt! Alles über Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Brockhaus in der Wissenmedia, 2011, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro