Ein Tanz von Kraft

pantherDer Panther ist eines der bekanntesten Werke von Rainer Maria Rilke, es gehört zu unserem Kulturgut, ist Teil des Unterrichtskanons. Viele kennen das Gedicht auswendig, erinnern sich an seine suggestive Kraft, an Gespräche und Diskussionen über das Recht oder Unrecht des vermeintlich Stärkeren, den vermeintlich Schwächeren einzusperren.

Julia Nüsch hat den Panther und seinen Dichter illustriert. Am Anfang sitzt Rilke am Schreibtisch, nachdenklich, zerknüllte Seiten zeigen, dass es schreibend gerade nicht weitergeht. Vielleicht fehlt es an Inspiration? Ein Spaziergang soll helfen. In den Jardin des Plantes in Paris, den Rilke oft besuchte, den Botanischen Garten mit Zoo, in dem noch heute exotische Tiere leben. Am 6. November 1902 trifft der in seinen Gedanken gefangene Dichter auf den Panther in seinem Käfig.

Neben dem reduzierten Ausdruck Rilkes, klar, stark und poetisch zugleich, ist es der Kunstgriff des Dichters, der dieses Gedicht unsterblich macht. Denn Rilke versetzt sich in die Lage des Gefangenen, nimmt seine Perspektive ein. Das ehemals ungezähmte Tier wurde eingesperrt, sein Dasein auf ein Minimum verengt. Der Blick ist müde, die Zahl der Gitterstäbe, die die Freiheit verhindern, scheint sich ins Endlose zu potenzieren. Sein weicher, federnder Gang kann nicht mehr greifen, es fehlt der Raum, das Majestätische der Wildkatze zeigt kaum noch Wirkung. Der namenlose Panther scheint gebrochen. Mitunter träumt er von früher, „schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf“ und Erinnerungen an sein früheres Leben, an andere wilde Tiere erfüllen sein Herz. Plötzlich meint er zu tanzen, der Wille zum Leben drängt nach oben, für einen winzigen Augenblick ist der Panther wieder er selbst. Und doch, es ist nur ein Traum, eine Vision — „und hört im Herzen auf zu sein“.

Die Bilder, Farben, Perspektiven sind klug und fein abgestimmt auf die Zeit und die Stimmung. Als wären wir im Kino — die ersten Doppelseiten sind eingefasst wie eine Leinwand —, blicken wir auf den Dichter in seiner Klause. Dann bewegen wir uns mit ihm hinein in die Menagerie, stehen neben ihm vor dem Käfig. Ein wenig zögerlich. Ist das unser Ziel? Noch zeigt uns das schwarze Tier seinen Rücken, doch dann, auf der nächsten Seite, schaut es mit trübem Blick an uns vorbei. Die Nachdenklichkeit des Menschen spiegelt sich in den Augen des Panthers, ab jetzt ist er die Hauptperson. Und rückt ganz nah. Wir können ihn berühren. Sein Schicksal lässt uns nicht mehr los. Die knappen Verse Rilkes erweitern sich zu großartigen Szenen, die zweiseitigen Tableaus berühren uns so tief wie der Text.

Am Ende des Buches ist das Gedicht noch einmal in Gänze abgedruckt, und Rilke sitzt mit entspannter Miene erneut an seinem Tisch. Die Feder fliegt über die Seiten, ein Knoten hat sich gelöst.

Und wir? Wir sind überwältigt von Wort und Bild, wollen reden, uns austauschen, zurückblättern, unserem Herzen Luft machen. Und tragen die Erinnerung an den Panther weiter.

In der Reihe „Poesie für Kinder“ im Kindermann Verlag Berlin ist Der Panther von Rainer Maria Rilke in der Interpretation von Julia Nüsch ein weiteres Meisterwerk!

Heike Brillmann-Ede

Rainer Maria Rilke/Julia Nüsch: Der Panther, Kindermann Verlag Berlin 2018. 24 Seiten, ab 5 (und für alle!), 15,90 Euro

Faszinierend

bergeWie Illustrator und Autor Dieter Braun wohne auch ich im Flachland, bin mit weitem Horizont und Sandstrand unter den Füßen aufgewachsen. Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – faszinieren mich die Berge. Einmal im Jahr muss ich in die Berge fahren, um diese Sehnsucht zu stillen. Dann reicht es mir aber auch wieder.
Dieter Braun hingegen hat sich so lange und so intensiv mit den Bergen auseinandergesetzt, dass nun ein wunderschönes Sach-Bilderbuch dabei herausgekommen ist.

Dieter Braun ist bekannt für seine einzigartigen geometrisch geprägten Illustrationen – z.B. in den Büchern Die Welt der wilden Tiere – im Süden und im Norden. Aus Kreisen, Drei- und Vielecken, den Vektoren im Programm Illustrator, kreiert Braun Tiere, Landschaften, Gegenstände. Ausführlich hat er im Juni über seine Arbeit auf der Facebook-Seite „Was mit Kinderbüchern“ von Stefanie Leo berichtet und aus seinem Alltag als Illustrator berichtet, der hauptsächlich am Computer arbeitet.

Das mag im ersten Moment sehr unsinnlich klingen, doch das, was bei Braun dann herauskommt ist so betörend, dass man sich seinem Werk kaum noch entziehen kann.
In Die Welt der Berge streift er zusammen mit dem Betrachter durch die Alpen, erklärt die Höhenstufen der dortigen Vegetation, zeigt die Tiere, die in den verschiedenen Gebirgen der Welt leben, z.B. das Dallschaf in Alaska oder das Guanako in Südamerika. Er erklärt, wie die Gebirge entstanden sind und warum es keinen Berg höher als 9000 Meter auf der Erde geben kann.
Neben den ganz natürlichen Zuständen der Berge verweist Braun jedoch auch auf den Einfluss des Menschen und wie sehr dieser über die Jahrhunderte die Berge geformt und gestaltet hat.

Braun hält sich dabei thematisch nicht an ein vorgegebenes Schema oder eine Chronologie, von den Alpen geht es zu den Sandbergen der Wüste, vom Uluru in Australien blättert man um und landet bei Pinguinen und Eisbären. Kleine Leser_innen brauchen da vielleicht ein bisschen Unterstützung in der geografischen Einordnung, doch macht gerade diese Abwechslung das Buch zu einer wahren Wundertüte der Berggeschichten, sodass man automatisch anfängt vor- und zurückzublättern. Man liest sich an den kurzen Texten und den Info-Kästen fest und staunt.

Man staunt sowohl dabei über die Inhalte, als auch über die farblich so harmonisch abgestimmten und wohlkomponierten Illustrationen, die sich zumeist über die gesamte querformatigen Doppelseite erstrecken und quasi ein Cinema-Scope-Panoramabild liefern, in dem man schon fast meditativ versinken kann (okay, das ist jetzt die Erwachsenen-Begeisterung!).

Das junge Publikum bekommt auf jeden Fall ein aufschlussreiches Sammelsurium über Flora und Fauna der Bergwelten, lernt fremde Orte auf unserem Planeten kennen, erfährt aber auch Handfestes über die Skiausrüstung und das Alpinklettern. Denn auch wenn die Berge faszinieren, können sie zu einem gefährlichen Terrain werden – wenn man sich eben nicht auskennt und nicht den gehörigen Respekt gegenüber der Natur und ihren Gewalten aufbringt. Das steht in diesem Buch, das von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher 2018 gekürt wurde, zwar nicht im Vordergrund, sickert aber mit jedem Lesen und Schauen weiter ins Bewusstsein.

Und abgesehen davon, dass man Die Welt der Berge nicht mehr aus der Hand legen möchte, weckt es die Reiselust – in die Berge.

Dieter Braun: Die Welt der Berge, Knesebeck, 2018, 94 Seiten, ab 8, 20 Euro

Für ihn soll’s bunte Blumen regnen

tuckermannIn diesem Frühjahr haben Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen ihr zweites gemeinsames Buch vorgelegt: Der Mann, der eine Blume sein wollte.
Bekannt wurden sie als Team bereits mit Nusret und die Kuh, das 2017 u.a. für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. Beide Bilderbücher erscheinen im feinen Münchner Tulipan Verlag.

Doch wer ist nun dieser Mann ohne Namen aus dem Buchtitel? Und was ist das für eine Idee, eine Blume werden zu wollen?

Der Mann arbeitet als Bahnwärter. Sein Arbeitsleben ist nach der Uhr getaktet. Zugzeiten bestimmen den Tag, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit haben Priorität, man vertraut ihm und dem richtigen Rhythmus. Der Beruf scheint sein Leben zu sein. Kommt er nach Hause, erwartet ihn nur ein Kleiderständer als Gesprächspartner …

Eines Tages beginnt dieser Mann zu träumen. Von einer Wiese, auf der er als Butterblume leuchten würde. Von großen Blüten, die ihm Schutz gewähren vor den Hummeln. Von schaukelnden Schmetterlingen. Eine Leichtigkeit überkommt ihn, sein Traum wird konkreter und wagemutiger. Er würde wachsen, seine Blätter würden Schatten spenden, die Blüten süß duften. Die Menschen würden sich nach ihm umschauen, sich an ihm freuen. Er würde schweben ganz hoch hinauf auf einen Berg, um als blaue Blume die Wanderer zu bezaubern. Und dann noch ein Gedankensprung: Blumen und Frauen gehören zusammen. Wie wunderbar wäre es, er könnte fließende Kleider tragen, mit Blumen bedruckt, in allen Farben. Doch er ahnt: Seinem Chef würde das nicht gefallen. Und den Leuten? Die würden ihn auslachen. Mal Frau, mal Mann, wo gibt´s denn so was?

Vielleicht im Karneval? Und aus dem Konjunktiv wird ein Indikativ! Er verkleidet sich als Blumenwiese — und alle sind begeistert. Und sie klatschen nicht nur. Eine wunderschöne rote Tulpe löst sich aus der Menge und tritt auf ihn zu. Sie nehmen sich an der Hand, laufen hinaus in die Nacht, in die unbekannte Weite. Auf ihrem Weg wachsen Blumenmeere, Blättergirlanden ranken aus den hell beleuchteten Fenstern des Bahnwärterhäuschens, Schmetterlinge und Vögel schwirren durch die Luft, und wir meinen fast, den Duft der Blüten zu riechen. Aus der ehemals karg getönten Landschaft wird ein lebendiges Gemälde.

Es ist eine Freude, sich zu vertiefen, ja verführen zu lassen. Der Kraft der Imagination des kleinen Mannes mit der großen Brille und dem breiten Schnäuzer zu folgen, der eines Tages zu fliegen beginnt. Die Worte nehmen uns mit auf die Reise, und gleichzeitig lassen sie Raum für prachtvolle Doppelseiten ohne Text. Die wir selbst füllen können mit unserer Fantasie. Indem wir die Blumen aus den Vorsätzen suchen, die so schillernde Namen tragen wie Babydoll, Shiva, Meier 3 oder Hanni & Nanni. Oder selbst zum Stift greifen, um unsere Blumen und Namen zu entwerfen, und uns auszutauschen über das, was möglich ist … Am Ende des Buches erzählt das Trio hautnah von seiner Arbeit. Herausgekommen ist ein inspirierendes Kunstwerk!

Heike Brillmann-Ede

Anja Tuckermann/Mehrdad Zaeri & Uli Krappen (Illus): Der Mann, der eine Blume sein wollte, Tulipan 2018, 56 Seiten, für alle, € 14,95

Italienische Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland

Ein Überblick – ohne Anspruch auf Vollständigkeit

Im Frühjahr hatte Laura von Lütte Lotte mich gefragt, ob ich einen Gastbeitrag über italienische Kinder- und Jugendliteratur schreiben möchte, während sie mit ihrer Familie in Italien urlaubte. Da ich seit zwanzig Jahren vor allem KJB aus dem Italienischen übersetze, habe ich die Gelegenheit genutzt und mal ein wenig die Veröffentlichungen in Deutschland rekapituliert.
Da vielleicht nicht alle Leser_innen von LETTERATUREN die drei Teile, die bei Lütte Lotte erschienen sind, verfolgt haben, werde ich meine Zusammenstellung hier noch einmal komplett, dafür aber leicht überarbeitet und ergänzt posten.

Für einen detaillierten Überblick über die italienischen KJB, die es in Übersetzung nach Deutschland geschafft hat, reichen jedoch selbst zwanzig Jahre Übersetzungstätigkeit nicht aus (von dem Platz hier mal ganz abgesehen – Achtung! Dieser Post wird lang!). Aber ich werde versuchen, euch ein paar Klassiker, Highlights und italienische Besonderheiten näherzubringen. Von den hier aufgeführten Titel habe ich jedoch (noch) nicht alle gelesen, Tendenzen lassen sich dennoch erkennen.

 

Die Klassiker

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Der italienische Klassiker schlechthin, den hierzulande vermutlich viele mit italienischer Kinderliteratur verbinden, ist immer noch Carlo Collodis Pinocchio. Die Geschichte von dem hölzernen Knaben, die zwischen 1881 und 1882 entstand, taucht laut den Einträgen der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) 1905 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung auf, unter dem Titel Hippeltitsch’s Abenteuer. Geschichte eines Holzbuben. Übersetzer war Paul Artur Eugen Andrae, ein Name, der mir zwar nichts sagt, den ich aber trotzdem nenne.
Denn als Übersetzerin habe ich es mir angewöhnt, die anderen Übersetzer_innen immer zu nennen. Sie sind schließlich die Urheber der deutschen Texte (hier setze ich dann immer ein „Ü“ für „Übersetzer_in“; steht kein Ü hinter dem Titel, habe ich den Text übersetzt … 😉 ).
1913 folgte die erste „Neuübersetzung“ für Herder: Die Geschichte vom hölzernen Bengele lustig und lehrreich für kleine und große Kinder, deutsch bearbeitet von Anton Grumann.

Im selben Jahr wurde Pinocchio in Wien zu Hölzele, der Hampelmann, der schlimmer ist und nicht folgen kann. Eine viellehrreiche Böse-Buben-Geschichte, übertragen von Franz Latterer. Vermutlich 1929 spoilerte der Titel Kasperles Abenteuer: Die Geschichte eines Holzbuben, der schließlich ein wirklicher Knabe wird (Ü: Heinrich Siemer) bereits das Ende. 1938 heißt es dann nur noch Klötzlis lustige Abenteuer (Ü: Josef Kraft). Erst 1947 taucht der Name Pinocchio zum ersten Mal im deutschen Titel auf: Pinocchio, das hölzerne Bengele, eine Neuauflage der Übersetzung von Anton Grumann. 1948 versucht Ueberreuter in Wien es noch einmal mit Purzel, der Hampelmann (Ü: Alois Pischinger), danach wechseln die Titel beständig zwischen „hölzernem Bengele“, „Kasperle“, „Hampelchen“, „Purzel“ und „Pinocchio“. Der „hölzerne Bengele“ hält sich noch bis in die 70er Jahre, dann taucht in einer freien Nacherzählung von Otto Julius Bierbaum auf einmal „Zäpfel Kern“ als Name auf. Doch der setzt sich nicht durch. Viel mehr scheint mir, dass die zweite Synchronisation des Disney Zeichentrickfilms Pinocchio, die 1973 in die Kinos kam (der Film stammt ursprünglich von 1940), maßgebend wurde. Nun endlich hieß der namenstechnisch gebeutelte Holzjunge auch in Deutschland nur noch Pinocchio.

Dieser lange Auftakt zu nur einem Buch zeigt, dass hier eine italienische Geschichte über annähernd 115 Jahre auch in den deutschen Kinderzimmern zu finden gewesen ist – und immer noch zu finden ist. Denn seit Ende des zweiten Weltkrieges ist jedes Jahr mindestens eine Neuauflage oder Neuübersetzung erschienen. NordSüd und Coppenrath bringen dieser Tage ihre Neuauflagen auf den Markt. Pinocchio ist also dauerpräsent.

Von deutschen Kinderbüchern sind es gerade einmal die Werke von Erich Kästner, die zwar noch keine 100 Jahre alt sind, aber aus den Kinderzimmern ebenfalls nicht mehr wegzudenken sind.

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Ein weiterer Klassiker, auch in Italien, ist der Roman Cuore („Herz“) von Edmondo de Amicis (1846-1908) aus dem Jahr 1886. Die DNB verzeichnet Herz. Ein Buch für die Jugend in der Übersetzung von Raimund Wülser 1918 bereits mit einer Auflage von 57-58 Tausend in der Basler Buch- und Antiquariatshandlung. Enorm für die damalige Zeit, wenn man bedenkt, dass heute Kinderbücher oftmals nur mit einer Auflage von 3000 Exemplaren erscheinen, die oftmals nicht verkauft werden. Wann Cuore genau zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde, lässt sich in der DNB jedoch nicht nachvollziehen.

Aus dem Band ist vor allem die Geschichte Von den Apenninen zu den Anden bekannt, auch unter dem Titel Marco sucht seine Mutter (1936). Aus diesem Auszug wurde in den 70er Jahren eine 52-teilige japanische Anime-Serie gemacht, die in Deutschland unter dem Namen Marco lief. 1981 wurde sogar der vollständige Roman als 26-teiliger Anime Ai no Gakkō: Cuore Monogatari umgesetzt. Zudem diente das Buch als Vorlage der 1990 entstandenen Weihnachtsserie Marco – Über Meere und Berge. Zu diesen filmischen Umsetzungen kann ich leider nichts sagen – es wäre aber eine gute Gelegenheit, dem mal nachzugehen.

Der Roman ist als Tagebuch angelegt, in dem der Junge Enrico Bottini von Erlebnissen und Mitschülern seiner Klasse, einer dritten Grundschulklasse, erzählt. Die Episoden berichten von den verschiedenen Landesteilen Italiens, das erst wenige Jahre zuvor zu einem Staat vereint worden war, und haben einen patriotischen Anstrich.
1986 hat Hans-Ludwig Freese Cuore neu übersetzt von und als gekürzte Version neu aufgelegt. Die letzte Auflage dieser Übersetzung ist von 1996, der Illustrationen der italienischen Prachtausgabe von 1892 beigefügt sind.
Cuore hat noch zwei, drei weitere Übersetzung erlebt, was jedoch nicht mit der beständigen Überarbeitung von Pinocchio vergleichbar ist. Hier lässt sich eine erste Vermutung, warum relativ wenige italienische Kinder- und Jugendbücher in Deutschland veröffentlicht werden, anbringen: Die extrem auf Italien zugeschnittenen Geschichten, die italienische Lebenswelten und italienische Heimatliebe spiegeln, bieten deutschen Leser_innen oftmals viel zu wenig Identifikationspotential. Ihnen fehlt somit die Allgemeingültigkeit, die Pinocchio in seiner fantastischen Märchenhaftigkeit für sich verbuchen kann.

italienischeAbenteuer hingegen sind universell. So sind auch die Romane von Emilio Salgari (1862-1911) – Sandokan (1907), Pharaonentöchter (1906), Der algerische Panther (1903), Der schwarze Korsar (1898) (alle Ü: Martha von Siegroth, 1929), Die Tiger von Mompracem (1900, Ü: Karl-Heinz Hellwig, 1930) – heute immer mal wieder zu haben. Die ersten Übersetzungen von Salgaris Büchern lagen bereits 1913 vor: Die Robbenjäger der Baffin-Bai und Die Schiffbrüchigen von Spitzbergen (beide Ü: Arthur Wihlfahrt).
2009 hatte der Schweizer Unionsverlag einige Neuübersetzungen herausgebracht (Sandokan, Ü: Jutta Wurm). Aktuell hat der Selfpublishing-Dienstleister Tredition vier lieferbare Titel im Programm, jedoch sind es alte Übersetzungen. Vielleicht kennt die eine oder andere von euch die Geschichten noch als Hörspielkassetten oder –platten.
In Deutschland galt Salgari, der einige Jahre für verschiedene Jugendzeitschriften gearbeitet hat, als der italienische Karl May. Insgesamt 80 Romane hat er geschrieben, die an den exotischsten Orten der Welt spielen, nur nicht in Italien. Dazu kamen noch unzählig Erzählungen. In den 50er und 60er Jahren entstanden zahlreiche Verfilmungen seiner Geschichten. Salgaris Werk ist folglich ein Zwitter zwischen Jugendbuch und Erwachsenenlektüre, ähnlich wie die Werke von Mark Twain oder Jules Verne, die eigentlich von allen Altersstufen gelesen werden können.

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Der nächste Autor, der sowohl in Italien als auch in Deutschland zu den italienischen Klassikern gehört, ist Gianni Rodari (1920-1980), der 1970 mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet wurde.
Vor allem sein Roman Zwiebelchen, der 1954 im ostdeutschen Kinderbuchverlag in der Übersetzung von Pan Rova herauskam, und die Gutenachtgeschichten am Telefon sind hier bekannt. Dazu ein paar von seinen Gedichten, die in den 70er Jahren von James Krüss ins Deutsche gebracht wurden: Kopfblumen. 7 x 7 Gedichte für Kinder  (Kinderbuchverlag Berlin 1972).

1964 wurden die Favole al telefono zum ersten Mal von Ruth Wright übersetzt. Doch die ursprünglich 70 Geschichten waren bis vor ein paar Jahren in Deutschland nie komplett zu haben. In den verschiedenen Ausgaben, darunter auch eine Wagenbach-Ausgabe für Erwachsene (Das fabelhafte Telefon, Ü: Marianne Schneider), fehlten immer einige Geschichten.
2012 durfte ich eine komplette Neuübersetzung anfertigen – und habe auch vermeintlich unübersetzbare Geschichten ins Deutsche gebracht. Die fantasievollen kurzen Geschichten mit ihrem kritischen Geist eignen sich gut zum Vorlesen. Leider geht auch so ein wunderbarer Klassiker wie dieser hierzulande den Weg aller Bücher, die nicht zu Longsellern werden: In diesem Sommer erreichte mich die Nachricht, dass das Buch vom Markt und aus der Backlist des Verlages genommen wird. Schon schade. Aber vielleicht findet ihr ja irgendwo noch ein Exemplar.

Zwiebelchen war wegen seiner sozialistischen Ideale in der DDR sehr beliebt. Und ist 2009 von Katharina Thalbach als Hörbuch eingelesen worden (die Übersetzernennung fehlt). Bei meinen Freunden aus dem Osten fangen meistens die Augen an zu leuchten, wenn wir auf Zwiebelchen zu sprechen kommen. Alle anderen kennen die Geschichte meist nicht.

 

Die Vergessenen

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Nun wird es mit den „großen“ Namen der italienischen KJB-Szene in Deutschland schon etwas dünner. Natürlich wurden immer mal wieder Bücher aus Italien übersetzt, doch sie haben sich nicht zu Longsellern entwickelt, sondern sind relativ schnell wieder in der Versenkung verschwunden.
Wer erinnert sich an Donatella Ziliotto (Mister Master, Ü: Marlis Ingenmey, 1972), Bianca Pitzorno (Polissena mit dem Schweinchen, Ü: Bettina Dürr, 1995), Teresa Buongiorno (366 Geschichten zur guten Nacht, Ü: Gabriele Fentzke/Marcus Würmli, 1991), Roberto Piumini (Matti und der Großvater, Ü: Maria Fehringer, 1994), Silvana Gandolfi (Der Katze auf der Spur, 1998) Angela Nanetti (Mein Großvater war ein Kirschbaum, Ü: Rosemarie Griebel-Kuip, 2001), Beatrice Masini (Ballerina in Spitzenschuhen, Ü: fehlt, 2004)? Vielleicht ein paar Eltern oder Großeltern, doch die Kinder sicherlich nicht. Im Handel sind sie allesamt vergriffen.
In Italien jedoch gehören diese Autorinnen zum Kanon der KJB-Literatur, schreiben immer noch, z.T. auch belletristisch für die Großen. So war Angela Nanetti für den Premio Strega 2018 nominiert (vergleichbar mit dem Deutschen Buchpreis).

2013 gab es dann kurz eine kleine Sachbuchreihe von Federico Taddia mit dem Obertitel Warum? Darum!. Vier Bücher habe ich zu Themen wie Evolution, Astrologie, Geographie und Mathematik übersetzt. Eigentlich sollte die Reihe noch weitere Bände umfassen, aber die hat man gestrichen. Und ich vermute, dass auch daher kaum jemand Warum? Darum! kennt. Zudem sie ist nicht mehr im Handel erhältlich.

italienischeUnd auch an die Fußball-Serie Tor! von Luigi Garlando (Ü: Boris Pfeiffer) erinnern sich vermutlich  nur noch wenige. Sie kam von 2009 bis 2012 im Kosmos-Verlag  heraus und umfasste immerhin zehn Bände.
Mir selbst ist die Reihe damals nicht aufgefallen – aber das liegt eher daran, dass Fußball nicht gerade zu meinem Lieblingsthemen gehört.

 

 

Die Aktuellen

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Die Kinder heute kennen vermutlich eher Gironimo Stilton – ohne diese bunten Mäuse-Geschichten um die Verleger-Maus als ursprünglich italienisch zu identifizieren (Ü: Gesine Rickers/Carsten Jung). Erfunden hat diese Figur die Autorin Elisabetta Maria Dami, entwickelt und geschrieben werden die vielen Geschichten und die Trickfilmserie von der Agentur Atlantyca in Mailand.

Bekannt dürfte deutschen Kindern und Jugendlichen auch die Reihen Ulysses Moore, Century oder Der Zauberladen von Applecross – auch hier ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, dass dahinter der Autor Pierdomenico Baccalario steht (Ü: Cornelia Panzacchi, Barbara Neeb, Katharina Schmidt). Baccalario, der in London lebt, ist einer der umtriebigsten Autoren Italiens, hat unzählige Serien geschrieben (vermutlich mit Hilfe von unzähligen Ghostwritern) und ist in Deutschland bei verschiedenen Verlagen erschienen (Coppenrath, cbj, Fischer). Das war vielleicht nicht unbedingt hilfreich, denn so hat er hier verlagstechnisch kein wirkliches Zuhause gefunden.

Jugendliche haben jüngst möglicherweise auch Staubgeboren. Stadt der Vergänglichen (Ü: Christiane Burkhardt) von Fabio Geda und Marco Magnone gelesen. Dieser Auftakt einer dystopischen Reihe spielt jedoch in Berlin und verweist nicht auf Italien. Ob die Nachfolgebände auch übersetzt werden, ist mir momentan nicht bekannt. Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass die Verlage Reihen eingehen lassen, wenn sich kein Erfolg einstellt (dazu später unten mehr). Von Fabio Geda mögen manche von euch vielleicht Im Meer schwimmen Krokodile (Ü: Christiane Burkhardt) kennen, in dem er die bewegende Fluchtgeschichte des afghanischen Jungen Enaiat erzählt. Geda gehört damit und seinen anderen Romanen auch zu den Belletristikautoren, die auch für ein junges Publikum schreiben.

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Wer von euch KJB-Begeisterten den Deutschen Jugendliteraturpreis verfolgt, dem dürfte momentan der Roman Die Mississippi-Bande von Davide Morosinotto (Ü: Cornelia Panzacchi) bekannt sein. Er spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und ist eine mitreißende Abenteuergeschichte um vier Kinder, die drei Dollar finden und sich davon etwas aus dem beliebten Versandhauskatalog von Walker & Dawn bestellen wollen – was sich dann zu einem Flussabenteuer entwickelt, das die Kinder bis nach Chicago führt.

Auf der Nominierungsliste steht in der Sparte Sachbuch dieses Jahr sogar noch ein zweites italienisches Buch: Der Dominoeffekt – oder die unsichtbaren Fäden der Natur. Darin erzählt der Insektenexperte Gianumberto Accinelli in 18 Geschichten, wie der Mensch die Natur tiefgreifend beeinflusst, wenn er sie bearbeitet, beackert, Tiere fängt, züchtet oder aussetzt. Und was für irreparable Folgen dieses Tun für die Natur hat. Folgen, mit denen wir heute immer noch leben müssen. Accinelli sensibilisiert damit für einen vorsichtigeren Umgang mit unserer Umwelt – ein Thema, das in Zeiten von Klimawandel und Umweltzerstörung wichtiger ist denn je. Illustriert hat dieses nachhaltige Buch Serena Viola.

All diese Titel haben neben den italienischen Urhebern gemein, dass sie nicht die italienische Realität spiegeln, sondern in Fantasywelten, historischen Zeiten oder dystopischen Szenarien spielen. Oder unsere tatsächliche Welt global betrachten. Damit werden sie für deutsche Leser_innen interessant, da hier die allgemeine Fantasie gefordert ist und keine Kenntnis italienischer Realien.

 

Die Bilderbücher

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In Sachen Bilderbüchern ist es für mich etwas schwieriger einen Rückblick zu liefern, denn von den unzähligen Bilderbüchern, die in Italien entstehen, werden die meisten nicht übersetzt. Und die, die übersetzt werden, halten sich meist nicht lange am Markt.
Ein Klassiker unter den Büchern für die kleinsten Italiener ist mit Sicherheit Pimpa von Comiczeichner Francesco Tullio Altan, der in den 80er Jahren den Kunden von Schreiber & Leser bekannt gewesen sein dürfte.
Pimpa ist eine rot gepunktete Hündin, die Altan ab 1974 für die Kinderbeilage der Tageszeitung Corriere della Sera zeichnete. Heute gibt es sie als Bücher, zum Teil sind es Comics, zum Teil Bildergeschichten. Übersetzt ist Pimpa nicht.

Einen Sonderfall „italienischer“ Bilderbücher stellen die Werke des Grafikers und Künstlers Leo Lionni dar. Denn wenn ich es recht verstanden habe, hat der in Amsterdam geborene Lionni seine Bilderbücher wie Frederick, Das kleine Blau und das kleine Gelb auf englisch herausgebracht, nicht auf italienische. Frederick beispielsweise hat sich seit 1967 zu einem Longseller entwickelt und ist mittlerweile in der 16. Auflage bei Beltz zu haben, nachdem er anfangs von Middelhauve herausgebracht worden war.

Einen gewissen Eindruck über die vielfältige Illustratoren-Szene Italiens habe ich im Laufe der vergangenen zwei Jahre gewonnen, seit ich die ersten Bilderbücher übersetzt habe.
Allerdings ist meine erste Bilderbuchübersetzung, Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, vom Belgier Carll Cneut illustriert worden und daher mehr ein europäisches Buch. Cneuts opulente Vogel-Illustrationen haben dazu beigetragen, dass das Märchen 2016 für den Deutschen Jugendliteraturpreise in der Sparte Bilderbuch nominiert wurde.

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Als Folge der Nominierung habe ich dann die Bilderbücher Schlaft, Tierchen schlaft von Simona Mulazzani mit den Illus von Giovanna Zoboli – gereimte Gute-Nacht-Gedichte – für den Schaltzeit Verlag, Zusammen umarmen wir die ganze Welt von Manuela Monari mit den Illus von Evelyn Daviddi, für Coppenrath, und Vorsicht, roter Wolf! von Marco Viale, für Sauerländer, übersetzen dürfen.

italienischeSo unterschiedlich die Geschichten, so unterschiedlich sind auch die Illustrationsstile. Eine Bewertung dieser Bücher werde ich hier nicht abgeben, sondern kann nur sagen: Das Übersetzen von Bilderbüchern ist eine Gratwanderung zwischen Frust und Freude. Auf eingeschränktem Raum die wenigen richtigen Worte zu finden, die das Gefühl der Geschichte in kurzen Texten angemessen rüberbringen, ist trotz oder wegen der Kürze nicht mal eben getan. Bis die endgültige Fassung steht, ändere ich immer und immer wieder Worte und Satzstellung, streiche oder füge hinzu. Da können dann bis zu zehn Versionen entstehen. Manchmal hilft auch erst der distanzierte Blick der Lektorin zu einer endgültigen Lösung. Doch trotz der Arbeit ist es für mich auf jeden Fall immer ein Fest!

 

Die Buchcover

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Kurzer Exkurs zu den Buchcovern: Einer der momentan bekanntesten Illustratoren Italiens ist Iacopo Bruno, der in Deutschland momentan durch die neuen Harry-Potter-Cover noch präsenter sein wird. Zuvor hat er bereits Eoin Colfers Swarp, Soman Chainanis School of Good and Evil, Baccalarios Ulysses Moore, Das Volk von Tarkaan und Der Zauberladen von Applecross oder Alan Bradleys Flavia de Luce illustriert. Insgesamt hat er mehr als 300 internationale Buchcover gestaltet. Man könnte fast sagen, ohne dass es uns bewusst ist, hat ein Italiener unsere Sehgewohnheiten in Sachen Cover mitgeprägt. (Ich kenne mich ehrlich zu wenig mit Grafik und Cover-Tendenzen aus, finde die neue HP-Verpackung auch nicht besonders toll, aber es ist schon beeindruckend.)

 

Die ganz jungen Autorinnen

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Ein spezielles Phänomen, das mir beim Übersetzen begegnet ist, sind die ganz jungen Autorinnen Italiens, die schon als Teenager bei Publikumsverlagen Bücher veröffentlichen. Zumeist handelt es sich dabei um Teenie-Liebesgeschichten, die auch bei uns funktionieren. So ging es 2008 mit den Romanen von Valentina F. los. 15-jährig hat sie begonnen ihre vierbändige Liebesgeschichte um Vale und Marco niederzuschreiben, die auf Deutsch die Titel HDGDL (Ü: Katja Massury), ZDOZM – Zu dir oder zu mir (2009), SGUTS – Schlaf gut und träum süß (2010) tragen. Diese Mädchenträume wurden zu stillen Bestsellern, die mehrere Auflagen erlebt haben. Die Leserinnen waren so begeistert, dass sie über Jahre immer wieder nachgefragt haben (selbst bei mir), wann der vierte Teil der Reihe den käme. Schließlich hat Fischer 2015 auch 2L8 – Too late herausgebracht.

Dieses Vorbild hat den Verlag über die Jahre dann veranlasst nach anderen jungen Autorinnen Ausschau zu halten. Sie fanden Erica Bertelegni, die bereits mit 13 ihr Debüt vorlegte: 99 und (m)ein Wunsch. Darin hat die Schülerin Aurora 100 Wünsche frei, was zunächst zu Chaos, dann zu immer mehr Verantwortungsgefühl führt. 2017 hat Bertelegni ihr zweites Buch, La chiave dell’amicizia („Der Schlüssel der Freundschaft“) veröffentlicht, eine Fantasygeschichte, die noch nicht übersetzt ist.

Aktuell ist bei Fischer die Reihe Mein Dilemma bist du von Cristina Chiperi zu haben. Die ersten beiden Bänder der Trilogie sind bereits erschienen, Teil drei erscheint im Herbst. Chiperi hat, als sie 16 Jahre alt war, eine Fanfiktion zu der vor ein paar Jahren angesagten Influenzergruppe Magcon um den US-Amerikaner Cameron Dallas geschrieben. Kapitelweise hat sie das On-Off-Drama zwischen der Ich-Erzählerin Chris und Cameron auf Wattpad hochgeladen und jede Menge Klicks gesammelt. Angeblich haben sechs Millionen Italienerinnen ihre Geschichten gelesen – doch das scheint mir etwas übertrieben. Als ein italienischer Verlag dann Printbücher daraus gemacht hat, ist der Fischer Verlag aufgesprungen.
Dass das junge Alter von Autorinnen jedoch nicht immer zum Erfolg führt, merkt man momentan daran, dass die Dilemma-Reihe gerade komplett untergeht (was durchaus an der dünnen Geschichte liegt).

 

Die Belletristikautor_innen

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Eine Besonderheit in der italienischen Literaturlandschaft ist aber auch, dass Autoren, die normalerweise für ihre belletristischen Erwachsenentitel bekannt und hochgelobt sind, immer auch Bücher für Kinder und Jugendliche schreiben.

Das haben bereits Dino Buzzati (1906-1972) mit Wie die Bären einst Sizilien eroberten (Hanser, 2005, Ü: Heide Ringe) und Italo Calvino (1923-1985) getan, die zu den Klassikern der Weltliteratur gehören.
Momentan ist Calvinos Geschichte Das schwarze Schaf (Ü: Burkhart Kroeber) in einer eindrucksvollen Collage-Version von Lena Schall bei mixtvision zu haben.
Zu Calvino, einer der größten italienischen Nachkriegsautoren, und Buzzati, einem Vertreter des Surrealismus, kann ich hier nicht mehr sagen, einfach weil es den Rahmen sprengen und zu sehr von den KJB ablenken würde.

italienischeAber auch Krimi-Autoren wie Carlo Lucarelli haben Exkurse zu den KJB gemacht. So konnten Jugendliche im Jahr 2000 hier die Romane Das Mädchen Nikita und Schüsse aus dem Walkman (später noch mal aufgelegt als Mafia alla Chinese) lesen. Diese zwei Romane spielen nun allerdings sehr in der italienischen Gegenwart – sodass sie eigentlich meiner Vermutung von oben widersprechen. Doch in beiden Fällen handelt es sich um Krimis. Und Krimis wie Liebesgeschichten scheinen hin und wieder auch global zu funktionieren.

Auch Patrizia Rinaldi, eine in Italien sehr geschätzte und preisgekrönte Autorin aus Neapel, schreibt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Von ihr ist bis jetzt nur ein Krimi in Deutsche übersetzt worden (Die blinde Kommissarin, Ullstein, 2013). Ihre Kinderbücher Mare Giallo (2012), Federico il pazzo (2014) oder ll giardino di Lontan Town (2015) fehlen hierzulande, obwohl sie 2016 den Premio Andersen als beste Schriftstellerin bekommen hat. Ich werde mich bei Gelegenheit mit ihren Romanen befassen, um herauszufinden, warum sie für Deutschland nicht infrage kamen.

 

Die Fantasy-Autorinnen

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Im Bereich Fantasy ragen für Italien vor allem zwei Autorinnen heraus: Silvana De Mari und Licia Troisi.

De Mari ist seit 2010 mit Der letzte Elf (Ü: Barbara Kleiner) bekannt, einer entzückenden Geschichte um einen kleinen, verlassenen Elf, der eine Prophezeiung erfüllen und den Menschen die Freude und Fantasy wieder bringen muss. Es gibt zwar in ihrer Der-letzte-XX- Reihe noch drei Nachfolgebände (Der letzte Ork, Der letzte Zauberer, Die Rückkehr der Elfen), doch die bewegen sich so in Richtung High-Fantasy für Erwachsene, dass sie an den Erfolg vom letzten Elfen, der mittlerweile neun Auflagen erlebt hat, nicht mithalten können.

Licia Troisi hingegen ist hauptsächlich als Autorin von High-Fantasy für Erwachsene bekannt, mit Trilogien wie Die Schattenkämpferin, Die Feuerkämpferin, Die Eiskriegerin (Ü: Bruno Genzler). Diese Reihen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass hier die Heldinnen durch die Bank weg Frauen sind – und zwar kompromisslos. Was durchaus beachtenswert ist (allerdings reichen meine Fantasy-Kenntnisse nicht so weit, um das als absolutes Alleinstellungsmerkmal zu nennen – zum mal momentan die Amerikanerin Tomi Adeyemi mit Children of Blood and Bone (Ü: Andrea Fischer) ebenfalls eine weibliche und schwarze Heldin an den Start gebracht hat). Troisi hat jedoch auch eine Reihe für Jugendliche geschrieben: Drachenschwester (Ü: Bruno Genzler), in der das Waisenmädchen Sofia entdeckt, dass sie das Herz eines Drachen in sich trägt und gegen einen dunklen Feind antreten muss. Von dieser ursprünglich fünfteiligen Reihe sind hier jedoch nur zwei Bänder erschienen.

2012 ist dann die Nina-Fantastik-Reihe von Moony Witcher erschienen (Ü: Julia Süßbrich/Gehring). Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die Journalistin Roberta Rizzo, die die Reihe in Italien zwischen 2002 und 2017 herausgebracht hat. 2005 habe ich den ersten Teil begutachtet und – wie ich eben wieder nachgelesen habe – abgelehnt, weil er mir zu platt, zu esoterisch und ohne Zwischentöne geschrieben war. Mit einer altklugen Protagonistin, die immer gewinnt. Thienemann hat es fast zehn Jahre später wohl doch gefallen. Von den sieben italienischen Bänden sind vier auf Deutsch erschienen, zwei davon bereits vergriffen. Die weiteren Serien, die Witcher veröffentlicht hat, sind bei uns nicht übersetzt.

italienischeDass angefangene Reihen von den Verlagen nicht zu Ende geführt werden, ist mir mehrmals passiert: Im KJB-Bereich mit Pierdomenico Baccalarios Reihe Will Moogleys Geisteragentur (2009), von der ich zwei Teile übersetzt habe, aber nur einer davon je veröffentlicht wurde.
Das habe ich allerdings nie richtig verstanden, denn es war eine sehr witzige Reihe für Jungs über eine Agentur für Geister und Spukgestalten in New York, die unterschiedlichste chaotische Aufträge ausführen müssen (auch hier war das Cover bereits von Iacopo Bruno gestaltet, was jedoch den comicartigen Witz der Geschichte nur so gar nicht traf). Dass Will Moogley keine Leser in Deutschland fand, lag vermutlich auch daran, dass von Verlagsseite kein Marketingbudget für diesen Titel zur Verfügung stand. LETTERATUREN gab es damals noch nicht, sonst hätte ich ordentlich die Werbetrommel für diese liebenswert witzigen Helden gerührt.

italienischeZudem gab es mal den Auftakt einer Trilogie von Miriam Dubini, Aria. Das Schicksal fährt Fahrrad (2014), eine niedliche fantastische Engel-Geschichte, die in Rom spielte – aber leider nicht genügend Publikum fand.
Auch hier habe ich den zweiten Teil leider für die Schublade übersetzt. Aber auch das gehört zum Übersetzerinnendasein dazu.

Die Stillen

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Dann gibt es noch Autor_innen, die ins Deutsche übersetzt werden, die jedoch kaum Beachtung finden. So beispielsweise Fabrizio Silei mit Abseits. 1938. Ein Fußballer sagt Nein (Ü Edmund Jacoby, 2014) oder Nonno und der rosa Hund (Ü: Kathrin Wolf, 2016). Lediglich sein Buch Der Bus von Rosa Parks (Ü: Sarah Pasquay, 2011) wurde ein paar Mal besprochen und stand auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012, Sparte Sachbuch.

Mein filmreifer Sommer (Ü: Karin Rother) von Simona Toma von 2014 ist auch bereits vergriffen – und hat nicht einmal eine Bewertung auf Amazon.

Ohne Amazon-Rezension muss auch Paola Zannoners Ausgewechselt (Ü: Ingrid Ickler, 2012) auskommen. Dieses Buch kenne ich nicht, doch ich habe andere von Zannoner angelesen und begutachtet. Sie kamen nicht für eine Übersetzung infrage, da sie mir vom Erzählton her nicht gefielen (laut meinem Gutachten, also meinem Leseeindruck von damals, hat sie einen moralischen Ton und erzählt eher distanziert von oben herab).

italienischeNeulich habe ich hier den Roman Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge von Matteo Corradini (Ü: Ingrid Ickler, 2017) über die Kinder im Ghetto von Theresienstadt vorgestellt und den Autor dafür zu seinem Buch befragt. Seine Antworten, wie er diese tatsächlich passierten Ereignisse im Ghetto in einen Roman umgearbeitet hat, sind auf jeden Fall sehr aufschlussreich. Denn die Geschichten aus dem zweiten Weltkrieg und der Nazi-Zeit sind sicher nicht die Themen,  die Jugendliche aus eigenem Antrieb angehen.
Dennoch ist es wichtig, dass auch solche Bücher übersetzt werden, selbst wenn sie wenige Leser finden.

 

Die Comics und Graphic Novels

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Zum Schluss noch ein Mini-Abstecher noch zu den Comics. Italien hat eine langjährige Comic-Tradition, jedoch zumeist für Erwachsene. Da gibt es die Werke von Hugo Pratt (1927-1995, Ü: Harald Sachse/Resel Rebiersch), die spätestens seit den 80er Jahren hier bekannt wurden, Gipi (Ü: Giovanni Peduto) oder Zerocalcare (Ü: Carola Köhler), der vor zwei Jahren für den Premio Strega nominiert war. Doch auch Disneys Donald und Micky kommen zum Teil aus Italien (hier die Übersetzer_innen nachzuvollziehen sprengt für diese Format den Rahmen), ebenso wie die rosa Mädchen-Comics die Winx, die seit 2007 am Kiosk zu haben sind.

italienischeDiese Auflistung mag nun vielleicht nach sehr viel aussehen – ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass ich hier im Schnelldurchlauf mehr als 100 Jahre Literaturgeschichte abgehandelt habe. Sicherlich sind mir auch noch diverse Übersetzungen entgangen. Auf jeden Fall sind es natürlich längst nicht alle Publikationen oder Autor_innen, die in Italien selbst erschienen sind.
Es wäre ja aber auch absurd zu glauben, alle Bücher würden übersetzt werden. Zwar wundere ich mich manchmal, dass langjährige italienische Erfolgsautoren wie Roberto Piumini oder Bianca Pitzorno oder Premio-Andersen-Preisträger_innen nicht öfter ins Deutsche übersetzt werden, aber oft passen eben Inhalt, Erzählweise, pädagogischer Anspruch, italienische Lebens- und Erziehungswelten oder andere Fantasie- und Humor-Konzepte nicht zu deutschen Leser_innen.

2023 wird Italien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Bis dahin werden hoffentlich noch so einige italienische Bilder-, Kinder- und Jugendbücher übersetzt werden – auch wenn sie es anscheinend schwerer haben als Titel aus dem angloamerikanischen Raum.
Ich werde in der kommenden Zeit intensiver die Augen offenhalten, was es im Land noch an Geschichten und neuen Talenten zu entdecken gibt. Und dann liefere ich vielleicht ein Update zu Italiens KJB-Szene.
Bis dahin dürft ihr mir aber immer gern eure italienischen Lieblingsbücher nennen (unten im Kommentar oder direkt als Mail an mich), die ich hier vielleicht übersehen habe.

 

Die Krux mit den Geheimnissen

battutQuadratisch, knallig rot und mit einer kleinen Maus in einem strahlend weißen Spot! — Mein kleines großes Geheimnis ist gedichtet und illustriert von Éric Battut. Reduziert in Text und Bild, zieht uns sogleich der apfelrote Vorsatz hinein. Zum Begucken und zum Zählen. Ich komme auf über 200 Früchtchen allein auf einer Seite …

Aber hier geht es nicht ums Zählen. Hier geht es um ein wichtiges Geheimnis, nur für mich allein. Denkt die Maus, die Heldin dieses Bilderbuchs. Denn was findet sie? Einen Apfel. Und der ist soooo schön. Den will sie behalten. Auf keinen Fall teilen. Oder verlieren? Was liegt da näher, als den Fund zu vergraben. Tief in der Erde soll er nur ihr gehören. Ihr ganz allein.

Doch die Welt ist neugierig. Ein jeder, der vorbeikommt, erkundigt sich: „Was hast du da?“ Das rotbraune Eichhörnchen, der hellblaue Vogel, die grasgrüne Schildkröte, der braune Stacheligel, der braune Hase, der knallgrüne Frosch … Sie alle wollen´s wissen, die Maus aber bleibt stur: „Das ist mein Geheimnis und ich verrat´ es nicht.“

Und den Tieren scheint das zu genügen, sie trollen sich. Keines hakt nach, keines bedrängt die Maus. Voller Stolz steht sie da, mit roten Wangen, die Fäuste in die Taille gedrückt. Ha! Doch dann passiert etwas, das hat die graue Heldin nicht mehr in ihren Händen. Der Minisprößling neben ihr hat sich nämlich verwandelt. In einen immer größeren Baum mit kräftigem Stamm und wunderbarer Krone. Und inmitten grüner Blätterpracht werden Knospen zu Blüten. Blüten zu Früchten. Die der Baum nicht mehr lange halten kann …

Bass erstaunt guckt sich die kleine Maus um. Plötzlich ist alles voller Äpfel. Herrlich rot, kugelrund und bildschön. Oje, was wird denn jetzt aus ihrem großen Geheimnis? — Die allerletzte Sequenz soll hier nicht verraten werden. Die Auflösung, die Éric Battut anbietet, ist zu schön und auf jeden Fall gemeinsam zu genießen. In aller Eintracht.

Da steckt viel Stoff in dieser Geschichte, die nicht nur zum Betrachten einlädt. Groß und Klein sind schnell dabei. Fiebern mit der Maus. Beobachten aufmerksam die Gespräche mit den Tieren. Gönnen der Heldin ihren Triumph. Unser Blick ist fokussiert, die Handlung in Maushöhe nimmt uns gefangen. Wir sind ganz bei ihr, teilen still ihr Geheimnis — und ihre Überraschung. Und dann? Wandert unser Blick ein Stück zur Seite und staunend nach oben. Wie das? Wir blättern zurück …

Die Gestaltung ist so einfach wie überzeugend, die Maus charmant, das übrige Personal höchst liebenswert, das farbige Spiel mit dem Text gelungen. Ein Bilderbuch mit Mehrwert, wunderbar!

Éric Battut: Mein kleines großes Geheimnis, Übersetzung: Christiane Lawall, Annette Betz 2018, 32 Seiten, ab 3 (und für alle!), 14,95 Euro

Echte Hingucker

„Wenn ich aufwache, ist das immer so – erst höre ich die Möwen, dann höre ich, wie ein Hund bellt, auf der Straße fährt ein Auto vorbei, jemand knallt hinter sich eine Tür zu und ruft lauf: „Guten Morgen!“ Eine Stadt am Meer, eine Kindheit am Meer.

Joanne Schwartz erzählt vom Leben im kanadischen Cape Breton. Bis in die 50er Jahre wurde hier unter dem Meer nach Kohle geschürft. Das Meer ist immer präsent, es glitzert und funkelt in der Sonne, mal ist es ganz ruhig, mal haben die Wellen weiße Kronen, es ist das erste, was der Junge nach dem Aufwachen sieht und das letzte, wenn seine Familie abends zusammen auf der Terrasse sitzt. „Die Luft riecht nach Salz. Ich kann es auf der Zunge schmecken.“

Ebenso wichtig ist das, was tief unter dem Meer passiert, dort, wo die Männer und Väter in den niedrigen Kohleflözen schuften. Während oben die Tage mit Schaukeln, Rumstromern, Einkaufen in hellem Licht unter weitem Himmel vergehen, verbringen die Bergleute sie in der Dunkelheit. In atemberaubend schönen, doppelseitigen Panoramabildern zeigt Sydney Smith die Stadt in lichten Farben, das weite, glitzernde Meer, die Menschen mit schwarzem Tuschestrich konturiert, zart koloriert und mit entspannten Mienen. Gelassenheit, Wärme, ruhige Lebensfreude strahlen diese Bilder aus. Dazwischen schneidet er immer wieder Seiten in dichtem Schwarz, auf denen nur ganz unten am Rand gebückt Männer mit Bohrer und Hacke den Stollen vorantreiben: „Und tief drunten unter dem Meer gräbt mein Vater nach Kohle.“

Der Großvater war ebenfalls Bergmann, der Junge besucht ihn auf dem Friedhof: „Wenn ich mal tot bin, will ich einen Blick aufs Meer haben! Ich habe lange genug unter Tage geschuftet.“ Das ist absurd und rührend und sagt sehr viel über die Menschen, deren Leben vom Meer und vom Bergbau bestimmt wird. Der Vater kommt müde und in schwarzen Staub gehüllt abends nach Hause, und der Junge weiß: „Eines Tages bin ich an der Reihe.“
Anfang des 20. Jahrhunderts noch mussten Jungen schon mit neun oder zehn Jahren einfahren und zwölf Stunden tief unter der Erde harte, gefährliche Arbeit leisten. Wahrscheinlich bleibt dem Jungen in der in den 50er Jahren spielenden Geschichte dieses Schicksal erspart. Aber für viele Millionen Kinder weltweit ist Kinderarbeit noch heute bittere Realität, ihre Kindheit endet abrupt in Minen, vor Brennöfen, in Steinbrüchen und Fabriken.

Auch das schwingt in Stadt am Meer mit, tut der Schönheit dieses bezaubernden Bilderbuchs aber keinen Abbruch. Gute Geschichten gründen tief und eine dunkle Seite schwingt immer mit.

Um einen besonderen Beruf, genauer: die Kündigung eines Jobs, geht’s auch in Monsta. Puscheliger Kopffüßler mit großem Maul, und riesigen Glubschaugen, das ist Harald, das Monster. Und es hat die Faxen dicke. Es wird nämlich gar nicht beachtet: Geduldig hat es gewartet, bis das von ihm auserwählte Kind alt genug war, um sich anständig gruseln zu können. Es hat trainiert, „Monsterblicke geübt (kann jetzt 47!), gegrimmt (laut), gegrummt, … einen Turm gebaut so hoch wie deine Wand, und ich bin gesprungen, einfach auf dich drauf.“

Und es passierte … Nichts! Das Kind ist „unreparierbar“, schläft jede Nacht tief und fest, grinst sogar manchmal im Traum und kommt auch in genau jenem absolut nicht auf die Idee, dass ein Monster in seinem Zimmer wohnt und nur für ihn speziell eine Supergruselshow abziehen will.

Dita Zipfel erzählt die klassische Geschichte vom Monster unterm Bett total neu und frisch. Bis dato wollen diverse Bücher Kindern die Angst nehmen, indem sie wahlweise die Existenz der Schauerlichen leugnen und logische Erklärungen für angenagte Bettpfosten und verschwundenes Spielzeug bieten. Oder die Unwesen aus der Dunkelheit ins Licht holen und dann ganz harmlos erscheinen lassen.
Dieses Bilderbuch jedoch ist aus der Perspektive des ungeahnten Mitbewohners gestaltet, als Brief. Darin schreibt sich Monsta den Frust von der Seele, überhaupt nicht beachtet zu werden. Von soviel Respektlosigkeit muss sich der fleißige Nachtarbeiter nun erholen, danach will er in der Geisterbahn anheuern, „da werden welche wie ich noch gebraucht“.
Mateo Dineen malt dazu leicht disneyeske, trotzdem ungeheuer liebenswerte Bilder. Auch auf die Gefahr hin, dass das jetzt doch das eine oder andere Kind um den Schlaf bringt, die Idee ist einfach monstermäßig famos: Schöner gruseln, man weiß nie, was man verpasst. Und ein bisschen Anerkennung für hart schuftende Grusler.

Etwas verpasst hätte auch fast das Kind in Beatrice Alemagnas Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte. Es fängt allerdings nicht besonders vielversprechend an: „Da waren wir wieder, im selben Ferienhäuschen, im selben Wald, mit demselben Regen“, Mutter sitzt jeden Tag vorm Rechner und schreibt, Vater ist nicht mitgekommen, was bleibt dem Kind anderes übrig, als nichts zu tun, „nichts, außer Marsmännchen töten“ in der virtuellen Welt.
Als Mama ihm „dieses Ding“, unschwer als typische, tragbare Spielkonsole, früher Gameboy, erkennbar, wegnehmen will, schlüpft das bebrillte Kind in seine warnwestenorange Jacke und geht raus. Es kommt wie es kommen muss, nach kurzer Zeit fällt das elektronische Spielzeug ins Wasser – und nach kurzem Frust beginnt das Kind die Umgebung zu erkunden.

Das ist jetzt ein bisschen klischeehaft, weil ein Kind durchaus daddeln und ebenso viel und gern draußen spielen kann. Die Verteufelung elektronischer Spielgeräte finde ich unzeitgemäß und albern, dazu demnächst mehr. Und bei Regen, ohne Freunde kostet es schon einige Überwindung hinauszugehen.

Diese etwas gewollte Ausgangssituation wird aber wett gemacht von den wirklich entzückenden und berauschenden Bildern vom Wald, von Steinen und Tümpeln, Baumkronen und Büschen, Sonnenstrahlen, die durch die Wolken fallen, winzigen Lebewesen, unterirdischen Schätzen und sonderbaren Dingen im Boden.

Man spürt förmlich die Feuchtigkeit, riecht das nasse Laub, das rutschige Moos und die Pilze, hört das gurgelnde Wasser und fühlt die glitschigen Schnecken, die glatten Steine, die Regentropfen auf der Zunge. In reizvollem Kontrast zu den warmen, erdigen und grünblauen Tönen der Aquarellbilder mit teils radierungsartigen Strukturen steht die knallfarbene Regenjacke, in der das Kind durch die wirkliche Welt springt. Es ist ein „magischer, unglaublicher Tag voller Nichts“. Wie in Mark Janssens Nichts passiert entzündet auch dieses Bilderbuch ein optisches Feuerwerk, visuell passiert hier unglaublich viel.
Das sind Bilderbücher im besten Sinne.

Joanne Schwartz: Stadt am Meer, Übersetzung: Bernadette Ott, Illustrationen: Sydney Smith, Aladin 2018, 52 Seiten, ab 5, 18 Euro

Dita Zipfel: Monsta, Illustrationen: Mateo Dineen, Tulipan 2018, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro

Beatrice Alemagna: Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte, Übersetzung: Anja Kootz, Beltz & Gelberg 2018, 46 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Von wegen ausgestorben

Oje, ein Buch! Das werden wir bei LETTERATUREN schon von Berufung wegen nicht sagen – im Gegenteil. Dieses Bilderbuch mit ebenjenem Seufzer als Titel, ein Meta-Bilderbuch sozusagen, evoziert meinerseits Jubelschreie, so gut und besonders ist es. Und das obwohl oder gerade weil es ein klassisches Bilderbuch ist, 32 Seiten zwischen zwei farbigen, stabilen Deckeln, die Geschichte beginnt sofort nach dem Aufschlagen auf dem Vorsatzpapier und endet auch erst direkt, bevor man es nur noch zuklappen kann. Es ist ein Spiel mit den alten und neuen Medien und dem Umgang damit – und mit dem Medium Buch im Speziellen. Erdacht hat es sich der fabelhafte, immer wieder überraschende Schweizer Erzähler Lorenz Pauli, der vor allem für Werke gemeinsam mit der brillanten Illustratorin Kathrin Schärer bekannt ist, wie Pippilothek???, Rigo und Rosa oder jüngst Böse, eine vermeintlich nett daherkommende Tiergeschichte, die jedoch wie ein Schlag ins Gesicht ist und einen desillusioniert, aber umso klarsichtiger zu sich kommen lässt.

Diesmal hat Pauli sich mit Miriam Zedelius zusammengetan, die einen ganz anderen, wesentlich reduzierteren, aber nicht weniger raffinierteren Stil pflegt. Der passt in seiner nur auf den ersten Blick kindlichen, tatsächlich aber sehr ausgereiften Art perfekt zur Geschichte von Juri, der ein Bilderbuch geschenkt bekommt. Frau Asperilla soll es ihm vorgelesen. Weil diese aber nur noch an elektronische Geräte wie Tablets und Smartphones gewöhnt ist, muss Juri ihr (fast ungläubig, dass die Erwachsene so absolut keine Ahnung hat) erklären, wie ein Buch funktioniert, wie man es liest und so die Geschichte darin erfährt: Ein Buch „erzählt sich nicht“, wie Frau Asperilla es interessanterweise nennt und man muss es auch nicht anschalten, sondern fängt einfach oben links an vorzulesen und dann „umblättern, nicht wischen“. Allein dieser Hinweis ist schon entzückend. Auch kann man nicht durch charakteristische Spreizbewegungen zwischen Daumen und Zeigefinger einen Bildausschnitt vergrößern und ranzoomen. Und schon gar nicht kann man einfach so wegzappen. Natürlich könnte man aufhören zu lesen. Aber weil gute Bücher (und diese Geschichte und die Geschichte in der Geschichte) Leser und Zuhörer schnell in ihren Bann schlagen, will man wissen, wie es weitergeht, auch wenn es gruselig wird. Oder höchst unwahrscheinlich:

„HAPP!, machte die Maus und fraß das Monster.
Frau Asperilla ruft ins Buch hinein »Das geht doch gar nicht!«
Juri zuckt bloß mit den Schultern: »Doch, doch. Im Buch geht das.«
Frau Asperilla will wissen: »Findest du das denn gut so?«
»Das kommt darauf an, von welcher Seite man es anschaut …«

Besser als der neugierige, kluge und aufmerksame Zuhörer und Bilderbuchankucker Juri kann man den Reiz, das Faszinierende und Essenzielle von Büchern nicht beschreiben.

„Oh, ein Buch!“, dachte ich neulich erfreut. Dabei türmen sich bei mir zu Hause überall Bücherstapel. Aber selten finde ich dazwischen ein Kinderbuch, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es habe. Wilder Wurm entlaufen von Veronica Cossanteli ist mir vor einiger Zeit beim sinnlosen Versuch aufzuräumen in die Hände gefallen, und endlich habe ich es gelesen; die gebundene Ausgabe ist nämlich schon 2014 erschienen, jetzt ist es als hübsches Taschenbuch zu haben.

Dieses Buch ist grandios. Das sage ich jetzt nicht nur wegen der wirklich sehr fantasievollen Geschichte von wunderlichen mythischen oder eigentlich ausgestorbenen Tieren. Oder wegen der höchst sympathischen, charmant-schnodderigen jungen Helden sowie den durchweg bis in die kleinste Nebenrolle sehr lebendigen Charakteren. Oder der abwechslungsreichen Erzählung, in der sehr wahrhaftige Situationen wie folgende die Handlung vorantreiben: „In Filmen oder Büchern muss man nie im falschen Moment aufs Klo. Nur im wirklichen Leben.“

Darüber hinaus ist es von Ilse Rothfuss exzellent übersetzt und zwar wegen eines besonderen Kniffs. Es gelingt ihr, die Wortspiele, vor allem mit vielsagenden Namen, raffiniert ins Deutsche zu übersetzen, indem sie das englische Original stehen lässt, es aber im nächsten Satz wieder aufgreift und erklärt: So lernt der Leser, dass man wahrscheinlich nicht unbedingt mit Intelligenz glänzen muss, um den Job von Numpty Numbskull zu übernehmen, weil das Blödi Blödmann heißt. Und erschrickt, wenn einem die unheimliche Stiefmutter zur Begrüßung ein „die!“, also „stirb!“ entgegenschleudert, aber sich angeblich nur mit der Kurzform ihres Vornamens Diamond vorstellt.

Dieses Buch entlarvt die menschliche Arroganz gegenüber anderen Lebewesen und deren Bedürfnissen und dem nachvollziehbaren Wunsch, überleben zu wollen. Geschichte ist nämlich immer die der Sieger oder in diesem Fall die derjenigen, die andere vernichtet und ausgerottet haben. Für Außenseiter und Andersartige, Fremde und Exoten ist kein Platz auf dieser Welt. Der geheimnisvolle Junge Lo bringt es angesichts der aufgebrachten Kleinstadtbevölkerung auf den Punkt: „Ich kann es direkt riechen, die Wut und die Angst, den ganzen Hass. Der Mob hier ist gefährlicher als jeder Drache oder Basilisk. Die Welt verändert sich, aber die Menschen nicht. Es hört nie auf.“

„The Extincts“, die Ausgestorbenen, heißt das Buch im Original, beim Titel hat die Übersetzerin wahrscheinlich nicht mitreden dürfen. Aber von wegen: Drachen, Greife, Auerochsen, Schwanzbeißer, Dodos, Fischsaurier und Einhörner sind in dieser fantastischen Erzählung sehr lebendig und genauso wenig ausgestorben wie das Medium Buch. Und wir werden immer wieder beglückt rufen: „O ja, ein Buch!“

Lorenz Pauli: Oje, ein Buch!, Illustration: Miriam Zedelius, atlantis, 2018, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Veronica Cossanteli: Wilder Wurm entlaufen, Übersetzung: Ilse Rothfuss, Carlsen, 2018, 288 Seiten,  ab 9, 7,99 Euro

Einpacken, einstecken, aufdecken

Es gibt Spiele die sind zeitlos gut, so das klassische Ich packe meinen Koffer. Die Autorin Regina Schwarz hat mit der Illustratorin Julia Dürr daraus ein sehr hübsches Bilderbuch gestaltet, das zusammen mit der kostenlos herunterladbaren App vor allem als Anregung zu verstehen ist. „Komm wir wollen Urlaub machen und packen alle Siebensachen …“ und schon geht es los. Was Erwachsene und Eltern meistens eher als anstrengend und lästig empfinden, steigert bei Kindern die Vorfreude auf die Ferien. Besonders wenn nicht unbedingt Vernünftiges in den Koffer wandert, sondern Sachen, deren Einsatz Spaß verheißt, unter anderem Picknickgabeln, Luftmatratze und Leuchtraketen.

Das wird aber, hübsch bunt und collageartig bebildert, den kindlichen Zuhörern nicht einfach so vor den Latz geknallt, sondern als zu erratender Reim. So lässt sich einiges anderes ins Gepäck hineinfantasieren: Warum nicht eine Picknickparabel und eine aufblasbare Fratze einpacken? Auf jeden Fall würde ich mit dem schönen, roten Taschenmesser auch einen Zombiefresser mitnehmen, den kann man immer brauchen (obwohl ich vor anderen lebenden Untoten sehr viel mehr Angst habe, aber das kommt beim nächsten Mal). Natürlich ist der Koffer viel zu klein, und Julia Dürrs lustiges und lebendiges Sammelsurium ergießt sich explosionsartig über mehrere Seiten … auf ein Neues! Ich packe meinen Koffer …

Der freundliche Herr Hoi hat in Pardon Bonbons auch mit Kindern zu tun, die etwas einstecken. Ihm gehört ein kleines Geschäft für Süßigkeiten, wo sich regelmäßig ein paar Kinder Bonbons nehmen, ohne zu bezahlen. Die junge Illustratorin Malin Neumann (1995 geboren) hat zu Marjaleena Lembckes Erzählung teils schwelgerische, doppelseitige Bilder gemalt, mit ungewöhnlichen Perspektiven. Dabei setzt sie nicht auf Bonbonfarben, sondern nimmt ein schönes gedecktes Blau als Grundton, der dem Ganzen etwas Gelassenes und zeitlos Elegantes gibt. Der aus Thailand stammende Herr Hoi glaubt einfach unerschütterlich an das Gute im Menschen. Er ist ein glücklicher Mensch, egal ob eine Kundin ihn ermahnt, „aufzupassen, dass die Kinder Ihnen nicht auf der Nase herumtanzen“ und sein Sohn sich über die Großzügigkeit des Vaters ärgert. „Pardon Bonbons“ sind seine Spezialität und die haben es in sich. Zwar wirbt der Bohem Verlag für das besondere Bilderbuch mit der Erkenntnis, „dass es nie zu spät ist, Entschuldigung zu sagen“, vor allem aber erzählt es von einer Lebenseinstellung, von der wir uns alle mehr als nur ein Stückchen einstecken sollten.

Zeitlose Wahrheiten entdeckt auch Emilia im Geheimnis der gelben Tapete. Andrea Schomburg erzählt in der Tulipan-Reihe Kleiner Roman, erneut sympathisch illustriert von Dorothee Mahnkopf, in zwei Zeitebenen von Freundschaft, Gruppendynamik und Außenseitern. Anscheinend hat es schon immer diese Typen oder – wie hier – biestige Mädchen gegeben, die als cool gelten und andere manipulieren können – bis man in den meisten Fällen merkt, dass es nur langweilige, oberflächliche Hohlbirnen sind.

Das ist harmlos und flott erzählt, ein bisschen im leicht betulichen Stil von Kinderbüchern aus den 50er Jahren, in denen das Geheimnis angesiedelt ist. Eindrückliche Sprachbilder wie in ihrer Erzählung Lisa und das Fluff findet Schomburg diesmal nicht. Doch abgesehen von der klugen Erkenntnis über das Wesen wahrer Freundschaft ist dieser Band Anlass für Erstleser, andere Kleine Romane zu entdecken.

Regina Schwarz: Ich packe meinen Koffer, Illustration: Julia Dürr, Tulipan, 2018, 36 Seiten, ab 4,18 Euro

Marjaleena Lembcke: Pardon Bonbons, Illustration: Malin Neumann, Bohem 2017, 42 Seiten, ab 3, 16,95 Euro

Andrea Schomburg, : Das Geheimnis der gelben Tapete, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2017, 64 Seiten, ab 7, 10 Euro

Glück mit vier Pfoten

Vor kurzem habe ich über einen Wunderhund gemeckert, die schneeweiße Retrieverhündin Alaska in Anna Woltz’ gleichnamigen Roman, weil mir das Tier doch etwas zu gut erschien, um wahr zu sein.

Jetzt kommen hier gleich zwei Hunde vor, und die sind alles andere als immer nur brav und duftend. Mein kleiner Hund Mister und Ein Hund namens Kominek sind zwei absolute Individuen und Charaktertypen, und genau das macht sie so sympathisch. Als Rudel brauchen beide nicht mehr als jeweils einen menschlichen Gefährten und von gehorsam unterordnen kann nicht die Rede sein. Eher auf der Nase rumtanzen und das ist bei Kominek fast wortwörtlich gemeint, doch dazu später mehr.

Mit dem struppigen Hund Mister und dem Erzähler fängt es denkbar zwiespältig und deshalb umso vielversprechender an: „Das ist keine so gute Idee“, sagt der Mann, als eines Tages ein kleiner Hund vor seiner Tür steht und sagt, er wolle bei ihm wohnen. Er habe einfach keine Zeit, er lasse sich nicht gern die Schnauze lecken, und einen Wachhund brauche er auch nicht. „Ich finde, nasse Hunde riechen grässlich“, kommt erschwerend dazu.

Aber der ungebetene Gast, von dem grandiosen Wolf Erlbruch hinreißend lebendig und ausdrucksstark gezeichnet, ist hartnäckig. Und so wird der Mann ein Herrchen wider willen, wobei selbst Herrchen schon viel zu viel vermeintliche Dominanz vorgaukelt. Vor allem ist er Unterhalter, Begleiter und Verfütterer von Leberwurstbroten an seinen haarigen Freund, den er trotz aller Frechheiten schon bald nicht mehr missen möchte.

Der Eingangsszene folgen viele tierisch gute Geschichten, die der Mann dem Hund Mister erzählt, moderne Fabeln und „Menschengeschichten“, wie Mister klug betont, weil sie so sind, wie Menschen glauben, dass Tiere denken und sich verhalten würden. Mister betreibt auf diese Art interessante anthropologische Studien, denen die Leser und Zuhörer durch seine gewitzten Einwände und Nachfragen folgen dürfen.

Der dänische Autor Thomas Winding, geboren 1932 (und 2008 gestorben) schreibt ungeheuer modern, von Gabriele Haefs ebenso frisch und klar übersetzt, allein seine Neuinterpretation des Märchens vom „Fischer un sin Fru“ als Portrait einer glücklichen Ehe lohnt das Buch. Oder die „Geschichte über Hühner im Wohnzimmer“, die von einem in sehr bedrängten Verhältnissen lebenden Mann handelt, der einfach nur mal seine Ruhe möchte und Rat beim Nachbarn sucht. „Es war einmal ein Mann, der allen Grund zum Jammern hatte.“ „Ja, wer hat das nicht“, kommentiert Mister. Nach einigen Tagen wundert er sich zwar über die „bekloppten Ratschläge und fragt sich, ob der Gute den Verstand verloren hat. Und doch gibt es eine überraschende Lösung und ein glückliches Ende.

Glücklich ist auch Mister mit seinem selbstgewählten Zuhause und Gefährten. Aber das war nicht immer so: Beim Anblick eines Spazierstocks reagiert das sonst so selbstbewusste Wesen sehr verstört und verängstigt – weil er als junger Hund gequält und fast totgeprügelt worden ist. Der geprügelte Hund steckt für immer in ihm drin.

Geprügelt wurde der kleine, schwarze Mischling Kominek nicht. Anfangs lebt er glücklich mit dem alten Autoschrauber Tadeusz auf einem Schrottplatz am Rande eines Dorfs am Fuß der Karparten. „Und so soll es für immer bleiben. Aber nichts im Leben ist für immer.“ Tadeusz stirbt. Das ist der traurige und spannende Beginn seiner Freundschaft mit Janusz, dem Klarinette spielenden Briefträger. Auch diese Beziehung beginnt unter widrigen Bedingungen. Und es dauert einige Zeit, bis der verwaiste Vierbeiner Vertrauen fasst und sich schließlich wieder „schnudelwohl“ in seinem Fell fühlt – er ist eine Mischung aus Schnauzer und Pudel.

Die Geschichte von Kominek und Janusz ist auch eine Liebeserklärung an das Land Polen und seine freundlichen Bewohner: 2017 erhielt die in Berlin Kreuzberg lebende Antje Bones ein Künstlerstipendium der Villa Decius in Krakau, das hat sie offensichtlich nachhaltig beeindruckt. Auch der Stadt huldigt sie: „In Warschau spielt die Politik, in Krakau der Jazz“, weiß Janusz und schwärmt von den unzähligen Clubs, die er selbst nur aus Erzählungen kennt. Jazz war schon immer die Musik freier Geister. Für Janusz und Kominek wird es das Tor in die weite Welt und in die Heimat des Jazz, nach Amerika (wobei die USA und geistige Freiheit unter Präsident Trump eher ein Oxymoron sind, aber in Kinderbüchern sei diese Analogie verziehen)

Wahrscheinlich hat der kleine Hund Mister recht und es sind letztlich keine Tiergeschichten, sondern wieder Menschengeschichten. Sie erzählen von unbedingter Freiheitsliebe, vom Respekt für das Individuum und vom großen Glück, das eigentlich ganz einfach ist: ein seelenverwandtes Wesen, genug zu Essen, ein Leben in Freiheit, ohne Angst. Glücklich macht Rumtoben, durch die Gegend stromern, in Dreck wälzen, schubbern, eine schöne Melodie oder ein unverhoffter Sommerferientag am Elbstrand mitten im April.

Natürlich kann ich als Katzenliebhaberin den Hunden nicht ganz das Feld überlassen, und seien sie auch noch so liebenswerte Typen. Dass Katzen nicht nur ganz reizenden Wesen sind, sondern auch ausgesprochen nützlich sein können, zeigt das Bilderbuch Sechs Gründe für schwarze Katzen der Italienerin Francesca Cosanti.

Mit viel Witz und Humor versucht Lili ihrer Mutter die große Schar schwarzer Samtpfoten schmackhaft zu machen: Nicht nur „sehen sie schöner aus als Gartenzwerge“, sie lassen sich auch vielseitig als stilvolle Accessoires aus dem Schöner-Wohnen-Spektrum verwenden: Zum Beispiel als hübsche Sofakissen, Buchstützen und Kleiderbügel. Die flächigen, farbenfrohen Bilder sind eine Augenweide und sehr überzeugend. Obwohl Cosanti auf dem hinteren Vorsatzpapier zeigt, dass Katzen natürlich lebendige Tiere mit eigenen Köpfen und nicht nur dekorativ sind. Deshalb unbedingt Restexemplare diese schnurrigschönen Buchs von 2012 kaufen.

Thomas Winding: Mein kleiner Hund Mister, Übersetzung: Gabriele Haefs, Illustrationen: Wolf Erlbruch, dtv Reihe Hanser, 2018, 160 Seiten, ab 8, 10,95 Euro

Antje Bones: Ein Hund namens Kominek, Illustrationen: Jasmin Schäfer, Knesebeck, 2018, 128 Seiten, ab 6, 13 Euro

Francesca Cosanti: Sechs Gründe für schwarze Katzen, aracari, 2012, 32 Seiten, ab 4, gebraucht ab 5,50 Euro

Katzen-Phänomenologie

katzeCat-Content genießt im Netz ja eine große Beliebtheit. Vielleicht, weil wir bei den flauschigen Vierbeinern immer auch vermeintlich menschliches Verhalten entdecken und uns in ihnen und anderen Tieren spiegeln.

Einen etwas anders gearteten Spiegel hält uns nun der amerikanische Illustrator Brendan Wenzel mit seinem Bilderbuch Alle sehen eine Katze vor, das es gerade auf die Liste der Besten 7 geschafft hat. Darin stromert ein Stubentiger durch die Gegend und wird von den unterschiedlichsten Zeitgenossen gesehen: einem Kind, einem Hund, einem Fuchs, einem Stinktier, einem Vogel, einer Maus, einem Wurm. Soweit so anscheinend sehr unspektakulär, doch natürlich gibt es einen sehr augenöffnenden Kniff. Jeder Zeitgenosse sieht die Katze auf seine ganz spezielle Art, mal mit großen niedlichen Augen, mal als dürres Gebilde, mal mit bedrohlich Riesenglubschaugen, oder nur als Punkte infolge der Echolotung durch eine Fledermaus.

Phänomenologie und Erkenntnistheorie gehören bekanntlich zu den philosophischen Disziplinen, und manchen erscheinen sie unverständlich und hochtrabend. Dass das im Grundsatz nicht so schwierig sein muss, zeigt Wenzel nun in seinem Werk mit verblüffender Einfachheit. Der Wandel der Katze in jedem Bild macht auch den jüngsten Betrachtern ganz schnell klar, dass jedes Individuum auf unserem Planeten seine ganz eigene Sicht auf die Dinge hat.
Wenzel legt mit seinen farbenfrohen Tusche- und Aquarellbildern auf diese Art sehr spielerisch ein Samenkorn in Sachen Wahrheitsfindung. Denn: Welche Katze ist denn nun die richtige? Und was zeigt der Blick der Katze im Teich auf ihr eigenes Spiegelbild? Die Wahrheit?
So muss man sich auf philosophisch geprägte Diskussionen nach der Lektüre dieses Buches einstellen. Doch genau das ist für die aggressive Debattenkultur unserer Zeit im Netz und in den Medien und im realen Leben eine überaus wichtige Fähigkeit – denn nur, wenn einem klar ist, dass jeder von uns eine andere Sicht auf die Dinge hat, kann man zum einen Toleranz entwickeln, aber auch besser gegen einseitige, totalitäre Meinungen argumentieren.

Also lest mit euren Kindern so früh wie möglich dieses Buch und philosophiert. Es macht stark und hilft, sich in einer komplexen Welt sehr viel besser zurechtzufinden.

Brendan Wenzel: Alle sehen eine Katze, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2018, 44 Seiten, ab 4, 15 Euro

Nichts zu teilen

Das nennt man Understatement: Als Sara Nick fragt, ob er heute was Spannendes erlebt hat, antwortet der: „Nein. Ich hab ein paar Sachen gemacht. Aber richtig spannend waren die nicht.“ Nick erzählt, dass er Handstand gemacht hat, ein bisschen geschwommen ist, sich ausgeruht und ein paar Mäuse gesehen hat.

Also tatsächlich Nichts passiert, wie der niederländische Kinderbuchillustrator Mark Janssen sein erstes Bilderbuch nennt? Von wegen: Was Nick verschweigt, sehen wir auf seinen wunderschönen Aquarellbildern: Den Handstand hat Nick auf dem Kopf eines riesigen, sehr freundlichen Tigers gemacht. Geschwommen ist er mit Walen, inmitten eines Schwarms bunter Fische. Ausgeruht hat er auf dem vor spitzen Zähnen strotzenden Maul eines Drachen. Und die paar Mäuse waren eher ein paar Hundert.

Die doppelseitigen Bilder lassen den Betrachter eintauchen in eine betörende Phantasiewelt und stehen in größtmöglichem Kontrast zu den von Nick und Sarah angegebenen Tätigkeiten.

Wenn Sarah sagt, „heute morgen hab ich einen Apfel gepflückt“, verschweigt sie, dass sie hoch oben auf einer Räuberleiter aus wie schwerelose Wolken wirkenden Elefanten, auf der Rüsselspitze eines kleinen Elefanten balancierte, um an den himmelhoch hängenden Apfel zu gelangen. Und während sie auf der Flöte eine Melodie gespielt hat, war sie von in allen Farben schillernden Paradiesvögeln umgeben und sitzt bei einem von ihnen auf dem Schnabel.

Und der Betrachter fragt sich: Fanden die Kinder ihren Tag tatsächlich so langweilig? Oder verschweigen sie absichtlich, was sie wirklich erlebt haben? Warum?

Eine Erklärung könnte sein, dass es ihnen allein keinen Spaß macht, egal was sie tun. Am Schluss schlägt Nick Sarah etwas vor: „Ich hab eine Idee. Wie wär’s, wenn wir morgen zusammen …? Einfach mal zu zweit …?“ Eine vorsichtige Einladung zum gemeinsamen Nichtstun, auf die Sarah begeistert eingeht: „Das wär echt toll, Nick!“ Und während die Kinder in Vorfreude auf den gemeinsamen Tag einschlafen, verwandelt sich der neutrale, weiße Untergrund in ein das kuschelige Fell eines gigantischen Eisbären, auf dem auch noch drei winzige Eisbärbabies schlummern und ein paar Mäuse rumtoben.

Vielleicht muss man aber auch nicht immer alles erzählen, sondern kann seine Phantasiewelten und die eigenen Erlebnisse auch mal für sich behalten. Im Zeitalter, in dem alles ständig mit allen geteilt, fotografiert, festgehalten und ausgeplaudert wird, ist das ebenso ungewöhnlich wie angenehm. Die ganzen nur in der virtuellen Realität existierenden Leute halten Normalität gar nicht mehr aus, alles muss immer hammermäßig und mehr als überlebensgroß sein, und durch das permanente Geplapper in den sozialen Medien vergewissern sie sich ständig dessen. Und doch ist jeder für sich allein in seiner aufgeblähten Welt.

Und dann kommt dieses faszinierende und farbenprächtige Bilderbuch, in dem nichts passiert. Und lässt die ganzen Selbstdarsteller vor Neid erblassen.

Mark Janssen: Nichts passiert, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2018, 36 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Gegen die schädlichen Geheimnisse

missbrauchMomentan vergeht kein Tag, an dem nicht über #metoo und sexuellen Missbrauch in welcher Ausformung auch immer diskutiert wird. Lange genug haben die Betroffenen geschwiegen, aus Angst, aus Scham, aus Gründen, die in verqueren Machtstrukturen in unserer Gesellschaft und in unserem Arbeitsleben zu suchen sind.
Doch wenn es erwachsenen Menschen schon so schwer fällt, den Mund aufzumachen, zu berichten, anzuklagen oder rechtzeitig Nein zu sagen – wie soll es da erst Kindern ergehen, die solchen Übergriffen in ähnlicher Weise ausgesetzt sind und dabei nicht über das Wissen und das Vokabular verfügen, sich Hilfe zu suchen?

Das Bilderbuch Für das Geheimnis bin ich zu klein von Autorin Ilona Lammertink und Illustratorin Nynke Talsma befasst sich genau damit. Es erzählt von Joost, der gern mit Mama und Papa im Bett kuschelt und sich auf sein Geschwisterchen freut, das bald auf die Welt kommen soll. Nur soll er von diesem Geheimnis noch nichts erzählen.
Auch im Kindergarten lernt Joost, was es heißt, ein Geheimnis zu bewahren: Die Kinder basteln etwas für ihre Papas. Das sind lauter Geheimnisse, die Joost sehr gut für sich behalten kann. Für solche Geheimnisse ist er groß genug.

An einem Abend passt Frank auf Joost auf, weil Mama und Papa ausgehen. Frank ist 17, fährt Mofa, und Joost findet ihn ziemlich cool und lustig. Doch an diesem Abend steckt Frank ihn in die Badewanne und macht sehr seltsame Witze. Dann küsst er Joost auf den nackten Popo und den ganzen Körper. Schließlich wäscht Frank ihn mit einem Waschlappen, obwohl Joost es schon selbst kann. Er umfasst Joosts Penis und lässt ihn gar nicht mehr los. Als er den Jungen abtrocknet, droht er Joost, dass dieser ihr Geheimnis absolut niemandem erzählen darf.
Joost bekommt Angst. Für dieses Geheimnis ist er zu klein.

Ja, in diesem Buch wird der sexuelle Übergriff des Babysitters ganz offen angesprochen. Und genau das ist wichtig und gut. Lammertink redet nicht um den heißen Brei herum, sondern macht deutlich, dass kleine Kinder ganz genau merken, wenn jemand ihre persönlichen Grenzen überschreitet, sie missbraucht und unter Druck setzt. Dass beim Lesen und Schauen kein traumatisierender Schrecken aufkommt, ist das Verdienst der warmen flächigen Tuschezeichnungen von Nynke Talsma, die dem Missbrauch zwar zwei Doppelseiten einräumt, aber sonst die liebevolle Umgebung zeigt, in der Joost aufwächst.

Denn Joost hat zum Glück sensible Eltern, die schnell merken, dass den Sohn etwas bedrückt. Sie bieten ihm an, über alles zu reden.
Als Frank ein weiteres Mal auf Joost aufpassen soll, versteckt sich der Junge im Gartenhäuschen. Die Eltern begreifen, dass etwas vorgefallen sein muss, und bringen Joost liebevoll dazu, ihnen alles zu erzählen.

Lammertink erzählt diese Geschichte aus der Perspektive von Joost, begibt sich somit auf Augenhöhe mit dem Protagonisten, was dieses Buch zu einem sinnvollen Begleiter von missbrauchten Kindern machen kann. Sie und die Übersetzerin Sonja Fiedler-Tresp geben den Kindern die Worte, mit denen sie über solch unzumutbare Geheimnisse sprechen können. Sie zeigen ihnen, dass es wichtig ist, über das Geschehene zu sprechen, um sich von der Angst und dem Gefühl des Ausgeliefertseins zu befreien. Vorbildlich verhalten sich hier die Eltern, die Joost mit seinem Schmerz und seiner Angst nicht allein lassen.

Der Geschichte ist ein Anhang für die Eltern beigefügt, der sie über die Anzeichen von sexuellem Missbrauch beim eigenen Kind aufklärt und erläutert, wie man mit offenen Fragen und ohne Zwang mit dem Kind reden sollte. Auch die eigenen Gefühle, Vermutungen und Vorwürfe sollten die Erwachsenen lieber für sich behalten – und gerade diese Hinweise sind in einer Zeit, in der alles sofort bewertet und in Schubladen gesteckt wird, enorm wichtig. Denn bei all dem eigenen Entsetzten, was dem geliebten Kind angetan wurde, geht es in erster Linie darum, dass das Kind wieder Vertrauen und Lebensfreude findet. Und dabei ist dieses Bilderbuch ein wertvoller Schatz.

Ilona Lammertink: Für das Geheimnis bin ich zu klein, Übersetzung: Sonja Fiedler-Tresp, Illustration: Nynke M. Talsma, Ellermann, 2018, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro

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Tierisch interessanter Sex

sexÜber Sex bei Menschen glauben bereits die meisten Grundschüler gut Bescheid zu wissen, unter anderem durch Videos, die gemeinsam auf dem Pausenhof angeguckt werden.

Aber wie machen es eigentlich die Tiere? „Wie machen Elefanten Sex? Können Tiere schwul sein?“ Solche angesichts von einschlägigen Bildungsmedien wie YouPorn rührend kindlich-naive Fragen hört die Sexualpädagogin Katharina von Gathen häufig. Und deshalb hat sie jetzt im Klett Kinderbuch Verlag, der ohnehin für mutige, gegen den Strich gebürstete Veröffentlichungen steht, ein ganz besonderes Tierbuch herausgebracht: Das Liebesleben der Tiere.

Umfassend, in zahlreichen Kapiteln und inklusive eines Registers aller genannten Tiere informiert sie auf 144 Seiten über alles, was zum Thema Sex gehört und weit über den eigentlichen Akt hinausgeht. Auch erwachsene Leser, die wissen, dass das Liebesleben ganz schön kompliziert sein kann, wundern sich und lernen noch einiges. „Lustiges und Erstaunliches, Gruseliges und Merkwürdiges, Vertrautes und Fremdartiges“ verspricht die Autorin, und das ist noch untertrieben. Die Formen der Fortpflanzung treiben mitunter bizarre Blüten. Und doch hat sich alles für die jeweilige Art und Gattung bewährt und ist von der Evolution erprobt und für sinnvoll befunden.

Es fängt wie beim Menschen meist auch mit der Partnersuche an: Da wird zunächst gebalzt und geworben, ganz ohne Datingportale, dafür umso variantenreicher und farbenfroher. Lauben werden gebaut, es wird getanzt, gerubbelt, und nicht nur Nachtigallen und Vögel im allgemeinen trällern Liebeslieder. Auch männliche Buckelwale und Bootsmannfische locken mit süßen Sirenengesängen (oder was für die weiblichen Ohren der jeweiligen Tierart so klingt). Gibbons finden mit der idealen Duettpartnerin auch die perfekt passende Gespielin. Und Kugelfische malen tagelang mit ihren Flossen kunstvolle Mandalas in den Meeresgrund.

Dann geht’s zur Sache: ganz langsam oder sekundenschnell, einige setzten auf Täuschung oder Bestechung, manchen reicht einmal im Leben (und es ist nicht die Eintagsfliege), andere legen Marathons hin, stundenlang oder bis zu 40 Mal am Tag, bis zur Erschöpfung oder sogar bis zum Tod! Arme Breitfuß-Beutelmausmänner.

Sex dient auch bei Tieren nicht nur der Fortpflanzung, sondern erfüllt zudem soziale Funktionen: Bonobos setzten bekannterweise auf körperliche Liebe statt Gewalt.

Silberfischchen bauen Stolperfallen, die Befruchtung findet indirekt, wenn auch nicht im Reagenzglas statt. Und Fledermäuse, Mauersegler oder Nacktschnecken stehen auf Funsportvarianten. Es gibt aber nicht nur Kuschelsex: Erpel, die ganz rührende und treue Entenpapas werden, stehen auf brutale Gruppenvergewaltigung. Und Katerpenisse haben an der Eichel Stacheln und Widerhaken und sind äußerst schmerzhaft. Kein Wunder, dass Katzen danach nicht gut auf die Kerle zu sprechen und die meiste Zeit des Jahres aufs Rolligsein überhaupt nicht scharf sind.

Katharina von der Ganthen beschreibt diese Kuriositäten wohltuend klar und nüchtern, ohne zu vermenschlichen oder verniedlichen und niemals mit einem Feigenblatt vor dem Mund. Der Humor ergibt sich aus den tierischen Absurditäten an sich.

Das alles wäre aber nur halb so unterhaltsam und lesenswert ohne Anke Kuhls brillante und eigenwillige Illustrationen. Kuhl, die mit dem schrägen Antiwestern-Bilderbuch Cowboy will nicht reiten (Carlsen) debütierte und mit Alle Kinder (Klett) charmant politisch unkorrekte Scherze mit Namen gemacht hat, bildet seit Klär mich auf. 101 Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema seit 2014 mit von der Gathen ein bewährtes Duo in Sachen Aufklärung. Die charakteristischen kleinen Glubschaugen verleihen ihren Figuren, ob Mensch, ob Tier, grandios treffende Gesichtsausdrücke und Emotionen.

Echte Hingucker sind ihre beiden aufklappbaren Panoramaseiten mit „Geniale Genitalien“: Es gibt nichts, was es nicht gibt, und Größe ist beileibe nicht alles.

Auch in den Abschnitten Schwangerschaft, Geburt und Familienleben finden sich etliche Kuriositäten, von denen die zweifache Geburt der Kängurubabys die bekannteste und entzückendste ist. Katharina von der Gathen hat im Vorwort nicht zu viel versprochen. Bei „Vertrauten“ ertappt sich der erwachsene Leser immer wieder dabei, Parallelen zu ziehen und festzustellen, dass im menschlichen Miteinander auch nicht alles so anders ist und vieles bestimmt nicht logisch.

Nur der Begriff „Liebesleben“ im Titel ist nicht ganz treffend, denn mit dem, was wir unter Liebe verstehen und was beim Sex eine Rolle spielen kann, aber nicht muss, hat der tierische Akt nichts zu tun. Es macht auf jeden Fall Riesenspaß, darüber zu lesen, und genau so sollte Sex auch sein: Nicht wie in den einschlägigen Filmchen athletisch und hyperästhetisiert, sondern lustig, entspannt, unreflektiert, auch mal unfreiwillig komisch, lächerlich, gelegentlich peinlich, doch stets ein Vergnügen und keine Pflichtleibesübung.

Katharina von der Gathen, Anke Kuhl (Illustrationen): Das Liebesleben der Tiere, Klett Kinderbuch Verlag, 2017, 144 Seiten, ab 8, 18 Euro

Zum Nachmachen empfohlen…

In Hamburg schneit es bekanntlich äußerst wenig. Große Ausnahme war vergangene Woche der Tag, an dem Orkan Friederike durch MItteldeutschland tobte. Hier im Norden war von Wind nichts zu spüren, dafür aber legte sich eine weiße Schneeschicht über die Stadt. Es sah einfach wunderschön aus.

Als ich nun dieser Tage in meiner liebsten Buchhandlung Marissal am Rathaus war, die für ihr exzellentes Bilderbuchsortiment bekannt ist, kam ich mit der Chefin unter anderem über den Schnee ins Gespräch und noch ehe ich es mich versah, zeigte sie mir voller Begeisterung ein Schneeflocken-Bilderbuch, das es in keiner Verlagsvorschau gibt.

Denn diese winterliche Geschichte, der dicken Schneeflocke Gisela, die eigentlich keine Lust hat, den langen Weg runter von ihrer Wolke zur Erde zu machen, haben sieben Kinder im Haus der Jugend Kiwittsmoor in Hamburg-Langenhorn selbst gestaltet.
Bei der Veranstaltung mit dem Titel „Wir illustrieren ein Kinderbuch“ haben sich junge Besucher der Jugendbegegnungsstätte Gedanken zu der Geschichte von Gisela gemacht und sind dann kreativ tätig geworden.
Gemeinsam haben sie zunächst verschiedene Mal- und Basteltechniken ausprobiert – mit Tusche und Aquarellfarben, Wachsmalstiften, Frottagen und Marmoriertechnik. Aus den kunterbunten Ergebnissen haben die kleinen Künstler dann passenden Formen und eindrückliche Figuren ausgeschnitten und jeweils eine Seite der Geschichte gestaltet.
Die Illustratorin Jana Walczyk hat anschließend alles professionell gelayoutet und wunderschön gesetzt, sodass nun ein leichtes und luftiges Schneeflocken-Abenteuer für die Kleinsten herausgekommen ist.

Denn Gisela macht sich natürlich auf den Weg zur Erde, wo sie von den Kindern schon sehnlichst erwartet wird. Das können vor allem die Hamburger richtig gut nachvollziehen, eben wegen der seltenen Schneefälle.

Was mich jedoch an dem ganzen Projekt zusätzlich bewegt, ist, dass man mit kleinen Mitteln – einer kurzen Geschichte, Papier, Farben und Kreativität – Kindern zeigen kann, was sie alles selbst gestalten können. Und dass aus ihren Ideen und ihrem Einsatz ein eigenes Buch werden kann, dass in der Buchhandlung am Hamburger Rathausmarkt im Schaufenster steht. Auf dieses entzückende Kunstwerk können die Macherinnen aus dem Haus der Jugend Kiwittsmoor jedenfalls bannig stolz sein!
Zudem hege ich die Hoffnung, dass durch solche kreativen Projekte, die Kinder noch mehr zu Büchern greifen – und ihren Wert und die viele Arbeit, die in jedem einzelnen steckt, ein Stückchen mehr begreifen.

Meyering und Walczyk haben die Geschichte als Hardcover in einer Auflage von 25 drucken lassen. Ich wünsche diesen engagierten Menschen, dass sie bald nachdrucken lassen müssen. Denn diese kleine Bilderbuchperle hat es alle mal verdient, von vielen kleinen schneeflocken-liebenden Kindern betrachtet zu werden.

Haus der Jugend Kiwittsmoor: Die Schneeflocke Gisela, Text: Corinne Meyering, Illustrationen von Ebru, Jessica, Katerina, Leonie, Lion, Melanie und Ulrike, Layout: Jana Walczyk, 2017, 26 Seiten, ab 3, 12,95 Euro zu bestellen bei der Buchhandlung Marissal in Hamburg

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Tiere machen Sachen

Am Anfang des neuen Jahres räume ich immer etwas rum – und dieses Mal ist mir aufgefallen, dass ich da noch eine ganze Reihe von Bilderbüchern liegen habe, die ich hier noch gar nicht gewürdigt habe. Obwohl sie es allesamt verdient haben. Das muss jetzt auf der Stelle nachgeholt werden.

Thematisch haben diese Werke alle tierische Hauptfiguren – die uns unterhalten, verwundern, amüsieren und von denen wir und eine ganze Scheibe abschneiden können.

Da wäre dann gleich mal zum aufräumenden Anfang der Dachs, der es in Emily Gravetts Bilderbuch gern ordentlich hat. Er lebt im Wald, wo er alles Mögliche stutzt und schneidet, dem Fuchs den Schwanz striegelt, Laub saugt und alles mit Stumpf und Stiel wegschafft. Der Gute gerät in so einen Wahn, dass er vor nichts Halt macht – mit drastischen Folgen: Der Wald verschwindet und stattdessen erstreckt sich dort eine glatte saubere Betonfläche. Doch auch ein Dachs kann dazulernen und Fehler eingestehen.
Die wunderbaren Reime von Uwe-Michael Gutzschhahn mildern die krassen Konsequenzen, die so ein rigoroses Vorgehen gegen die Natur haben kann, zwar ein bisschen, aber der Denkanstoß, in Zeiten, wo die Insekten wegsterben, ist gesetzt: Mehr Respekt vor der Natur tut uns allen gut!

Auch im Wald leben Hase, Igel, Eule und Maulwurf, in Jadwiga Kowalskas Bilderbuch Ich bin ein Wolf, sagt Hase. Die vier sind beste Freund und spielen gern Verstecken. Nur leider muss Hase abends immer allein nach Hause und hat Angst vor dem Wolf.
Eines Tages kommt er auf die Idee, sich selbst als Wolf zu verkleiden, dann muss er keine Angst mehr vor gar nichts haben. Eigentlich gar nicht so dumm, doch leider erkennen ihn nun seine Freunde nicht mehr … Hases Erkenntnis zeigt ganz charmant, dass es nicht immer sinnig ist, den großen Macker zu spielen. Denn das kann ziemlich einsam machen. Und gemeinsam mit Freunden verschwinden manchmal auch die Ängste ganz von selbst.

Wenn man jedoch partout etwas anderes machen möchte als im Alltag, kann man sich an Elch Erasmus ein Beispiel nehmen. Inspiriert von einer wahren Geschichte erzählt Franziska Walther ohne Worte in Hoch hinaus, wie dieser Elch sich aufmacht.
Aus dem hohen Norden wandert er los, überquert schneebedeckte Berge, weite Felder, schwimmt durch Flüsse und landet in einer Stadt. Erasmus schaut sich um, lässt sich mit Äpfeln füttern und scheut nicht davor zurück, einem Kaufhaus einen Besuch abzustatten. Doch auf dem Dach gerät er in eine Falle und muss sich einen Weg überlegen, wie er von dort wieder fortkommt.
In herrlich kräftig knalligen Farben schickt Walther den Elch durch die Welt – und zeigt, dass man es mit Neugierde, Mut und Fantasie sehr weit bringen kann. Man muss nur den ersten Schritt machen.

Ebenfalls ohne Worte kommt das optisch ganz großartige Bilderbuch der Italienerinnen Giovanna Zoboli und Mariachiara di Giorgio aus.
Wir lernen ein Krokodil kennen, begleiten es durch den Tag: Morgens um sieben klingelt der Wecker, Krokodil trägt einen gestreiften Pyjama und Pantoffeln, es putzt sich Zähne und sucht sich sorgsam einen Schlips aus, der zum gelben Hemd mit den roten Punkten passt. Dann gibt es Frühstück, danach verlässt Krokodil den Altbau, in dem er wohnt. Zwischen hetzenden Menschen, die am Handy telefonieren und rücksichtslos Auto fahren, durchquert es die Stadt, nimmt die Metro, in der auch eine sonnenbrillentragende Giraffe und ein Affe mit Mütze und Schal fahren. Krokodil erledigt seine Einkäufe, Blumen und Fleisch, bis er schließlich bei seinem Arbeitsplatz ankommt.

In zarten Bildern aus Buntstift, Kohle und Aquarellfarben erschaffen Zoboli und di Giorgio ein sehr vertrautes Stadtbild, mit einer finalen Überraschung, die einem ein Lächeln entlockt – und bei dem man denkt: „Na, klar, das konnte ja gar nicht anders sein.“
Mich entzückt diese Buch zudem, weil Krokodil mich mal wieder an Bernard Wabers Bilderbuch Das Haus in der Lindenallee erinnert hat, in dem schon 1962 ein Krokodil Einzug in das normale Leben hält. Ja, denn auch Krokodile haben einen Alltag.

Und ist es dann nach all dem Bilderbuch-Gegucke die Zeit zum Schlafen gekommen, empfiehlt sich für kleine Energiebündel, die noch nicht ins Bett wollen, der Reim-Spaß von Andrea Schomburg.

Sie schildert das Schicksal von Schaf Regine, das zur Schäfchen-Schlafenszeit mal wieder nicht einschlafen kann. Auch Schäfchen zählen funktioniert so gar nicht.
Aber Regine gibt nicht auf und macht sich auf die Suche nach Herrn Schlaf: beim Schäfer, im Pferde- und auch im Schweinestall ist er allerdings nicht zu finden.
Als Erwachsener leidet man ein bisschen mit dem knuffigen Schaf – ganz reizend hat Karsten Teich das Getier in Szene gesetzt – aber Regines Plan, dann eben die Nacht über wach zu bleiben, geht auch nur kurz auf … Bleibt nur zu hoffen, dass es bei der Gutenachtlektüre nicht zu abendlichen Aktivitäten animiert.

Emily Gravett: Aufgeräumt!, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Sauerländer, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jadwiga Kowalska: Ich bin ein Wolf, sagt Hase, Atlantis, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Franziska Walther: Hoch hinaus, Kunstanstifter, 2017, 40 Seiten, 22 Euro

Giovanna Zoboli/Mariachiara di Giorgio: Krokodrillo, Bohem, 2017, 32 Seiten, ab 3, 16,95 Euro

Andrea Schomburg: Wie das Schaf den Schlaf fand, Illustration: Karsten Teich, Sauerländer, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

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