Alle sind willkommen

bollingerMax Bollinger wäre in diesem Jahr 89 Jahre alt geworden. Aus Anlass seines fünften Todestags hat der Verlag atlantis in der Schweiz eine Geschichte aus seinem Nachlass publiziert. Ein Bilderbuch mit atmosphärisch dichten Bildern von Lihie Jacob. Ihre raumgreifenden Illustrationen in warmen Farben, das kluge Spiel mit Licht und Schatten, liebevoll arrangierte Details, reiche Ornamentik und gelungene Perspektiven machen schon beim ersten Blättern Lust auf: Komm nur herein!

„In einem Märchenhaus wohnte die Gute Fee, zusammen mit einer winzigen Maus.“ Gleich die ersten vier Zeilen — der Text ist geformt wie ein Gedicht — setzen den Ton, wecken freudige Erwartung, unsere Fantasie springt sofort an. Hinein ins Geschehen zieht uns der ausladende Baum mit seinem olivgrün-silbrigem Blattwerk und einem neugierigen Vogeltrio in den Ästen, der in die gemütliche Feen-Stube weist. Mitten auf dem bunten Perserteppich sitzt sie ganz entspannt in warmem Licht, die ältere Frau mit transparentem Flügelpaar. Aus flauschigem Tuch hat sie einen großen weißen Vogel geformt. Freudig betrachtet sie ihr Werk, die Wangen leuchten rot. Wird sie davon erzählen, wohin der Vogel fliegt? Die winzige Maus zu ihren Füßen scheint erwartungsvoll zu lauschen …

Ein Idyll? Plötzlich klopft eine Katze an die Tür, und für die Maus ist alle Zweisamkeit passé. Wie kann die Gute Fee nur dieses Untier hereinlassen? Tief erschrocken sucht sie sich ein Versteck, um gleich am nächsten Tag einen weiteren unliebsamen Besucher zu erleben. Ein Riesenhund bittet um Eintritt. Na, das wird was geben, Hund und Katz verträgt sich gar nicht. Oder? Nun, diese kleine Katze knickt mitnichten ein. Zornig faucht sie den Gast an, behauptet ihren Platz auf dem Schoß der Flügel-Fee. Und der Neuling? Trollt sich mit kurzem Knurren und legt sich friedlich nieder. Denn schon beginnt die nächste Geschichte, gestenreich erzählt, Katz und Hund sind ganz Ohr. Die Maus kann es kaum fassen. Hat man sie denn vollkommen vergessen? Keiner scheint sie zu bemerken, obwohl sie mit emsiger Wucht an einem hölzernen Fuß herumnagt, dass die Splitter nur so fliegen …

Glücklicherweise behält die Fee den Überblick. Und weiß wie wir: Liebe geht durch den Magen. Fix sind drei Teller —groß, klein und winzig —gefüllt, da kann auch eine Maus nicht widerstehen. Tapfer gesellt sie sich dazu. Und während in der folgenden Nacht die Großen draußen nach Abenteuern suchen, stehen Maus und Fee im stillen Zwiegespräch am Fenster und schauen in die Welt. Darauf vertrauend, dass sie am nächsten Tag wieder zu viert vereint sind.

Max Bollinger versteht etwas von Gefühl und Psychologie. Er schlägt die Brücke zwischen Gegensätzen, weckt Verständnis und macht Mut, gerade dann, wenn es schwierig wird und man sich klitzeklein und verletzlich fühlt. Und vielleicht ein wenig Eifersucht spürt? Die Gute Fee bezaubert nicht nur durch ihr gemütliches Zuhause und die Kunst des Erzählens. Sie freut sich an allen Mitbewohnern und Besuchern, nimmt sie ernst und weiß sie zu versöhnen. Umsichtig und liebevoll stellt sie die Regeln für ein harmonisches Zusammenleben auf, begreift den Kummer der Winzlingsmaus genauso wie den Freiheitsdrang der kleinen Katze und des großen Hundes. Sie alle sind willkommen. Genau wie wir!

Heike Brillmann-Ede

Max Bollinger: Komm nur herein!, Illustrationen: Lihie Jacob, atlantis 2018. 32 Seiten, ab 4,  14,95 Euro

Kommentar verfassen