Schlagwort-Archive: Jon Klassen

Zeit ist relativ

Zeit ist entscheidend, Zeit ist das wesentliche Element der Interpretation. Ich starte die Uhr. Jedoch bleibt anders als die Uhr meine zweite Hand manchmal stehen, das heißt, die Zeit bleibt stehen. Erst wenn ich mich entscheide, die Hand zu heben, hat die Zeit die Erlaubnis fortzufahren in ihrem leichten, heiteren Lauf«, sagt Cate Blanchett als Tár im gleichnamigen Film über den tiefen Fall einer Stardirigentin. Es ist auch die Vermessenheit, über die Zeit bestimmen zu können, die zum ihrem Absturz führt.

Das Wesen der Zeit ist Interpretation

Einen viel spielerischen, ja leichten, heiteren Umgang mit dem Phänomen der Zeit hat das entzückende Bilderbuch Zeit ist eine Blume der Kanadierin Julie Morstad. Mit bunten Zeichnungen voller Witz und Verstand zeigt die Illustratorin, dass umgekehrt das Wesen der Zeit Interpretation ist: Mal scheint sie schier endlos gedehnt und zäh wie eingetrockneter Sirup. Dann wieder verfliegt sie viel zu schnell, zerrinnt und ist nicht greifbar wie einzelne Schneeflocken oder am Himmel dahintreibende Wolken.

Manchmal ist sie so schön, dass man sie anhalten möchte

Mal bewegt sie sich im Kreis und man steckt in einer Zeitschleife, in bekannten Mustern, endlosen Wiederholungen und Déjà vus. Die Zeit rast oder schleicht. Sie fehlt, wenn man verspätet zum Bahnhof hetzt und der Zug pünktlich abfährt. Oder die Schicht beginnt. Oder die Arbeit fristgerecht abgeliefert werden muss. Dann hat man viel zu viel Zeit, wenn das Flugzeug nicht startet oder wenn man im Wartezimmer hockt und kein gutes Buch dabeihat. Die Zeit hat Risse und Lücken. Und manchmal ist sie so schön, dass man sie tatsächlich anhalten möchte.

Der Kiesel war einmal ein Berg

Morstad macht in ihren Zeichnungen und Collagen Zeit aufs Allerschönste sichtbar. Wie aus einem Samen eine Blume wird. Und diese Blume verwelkt und ihre Blätter verliert. Wie ein Baum wächst und immer größer wird und irgendwann den kleinen Menschen, der ihn gepflanzt hat, um Längen überragt. Ein kleiner Kiesel, der einmal ein riesiger Berg war. Haare, die langsam lang werden und mit einem schnellen Schnippschnapp fällt die gewachsene Zeit ab.

Fühlbar gemacht

Farblich konzentrieren sich die klaren Illustrationen auf ein samtiges Fuchsiarot oder warmes  Brombeerrosa, dazu gedeckte Grünvarianten, ein paar Erdtöne, etwas Orange. Morstads Bilder machen die Zeit auch fühlbar. Ein über Nacht perfekt gewebtes Spinnennetz ist kaum sichtbar, doch sein filigranes Muster ist in zarten, weißen Linien auf das weiße Papier aufgetragen. Auch der Einband fühlt sich pfirsichhautweich an.
Julie Morstad ist eine hinreißende Reflexion über das Wesen der Zeit in allen Spielarten gelungen.

Zeit lässt sich auch der Troll im neuen Buch von Mac Barnett und Jon Klassen. Aber nicht aus Gelassenheit, sondern blanker Gier. Drei Ziegenböcke namens Zack können ihn deshalb sehr raffiniert austricksen. »Der Troll saß im Schlamm, dem Schutt und dem Müll, lauschte und wartete und hoffte, jemand werde die Brücke überqueren.« Der Troll ist echt ne fiese Möpp, fast könnte er einem leid tun, in all diesem ekligem Dreck. Und tatsächlich kommt ein kleiner Ziegenbock daher. Gerade als der Troll seine Zähne in das niedliche Tier schlagen will, verrät dieses ihm ein Geheimnis: »Bald kommt mein großer Bruder hier vorbei und der ist viel dicker als ich und schmeckt auch besser.«

Geschichte über die Gier nach immer mehr

Tatsächlich lässt der Troll den kleinen Zack laufen. Und auch den zweiten Ziegenbock mit Namen Zack. Weil der ihm wiederrum den noch größeren Bruder schmackhaft macht. Mac Barnett erzählt eine norwegische Sage neu, als moderne Geschichte über Gier und die Sucht nach immer größeren Happen. Dabei ist die so geschickt von den schlauen Ziegen ausgenutzte Schwäche des Trolls eher ungewöhnlich: Nicht nur kleine Kinder, auch die meisten Erwachsenen nehmen lieber sofort, was sie kriegen können, anstatt sich auf größere Summen oder mehr Schokolade zu gedulden, wie man aus Versuchen weiß. Sprichwörtlich lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Eigentlich schön, nur manchmal ist ein Troll im Weg

Mit feinem felligem Strich und viel Spaß an schmutzigen Details hat Jon Klassen die kluge Fabel in Szene gesetzt. Aus den für den kanadischen Illustrator typischen nur aus einem flachen, weißen Oval mit schwarzer Pupille bestehenden Augen blitzt mal der schlaue Schalk und die vermeintliche Arglosigkeit, mal blicken sie hinterlistig und schließlich echt verblüfft.
Klassens Vorliebe für Brauntöne und Schwarz passt zum schmuddeligem Ambiente und dem ollen Gierschlund. Darüber zeichnet sich aber am Himmel ein ganz zartes Rosa und Hellblau ab. Eigentlich ist die Welt ganz schön und die Wiesen saftig. Nur manchmal ist ein Troll im Weg.

Julie Morstad: Zeit ist eine Blume, Übersetzung: Kathrin Bögelsack, Bohem, 56 Seiten, 24 Euro, ab 4

Mac Barnett, Jon Klassen: Drei Ziegenböcke namens Zack, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 48 Seiten, 18 Euro, ab 5

Lebensräume und Lebensträume

maus

Die kleine Maus kennt sich aus in der Welt. Sie liest Bücher über Luftfahrt, Tiefsee und Radsport. Doch als immer mehr Wurzeln in ihre gemütliche Lesehöhle wachsen, merkt sie, dass sie keine Ahnung hat von ihrer näheren Umgebung. »Ich brauche ein gutes Buch über die Natur«, denkt die Entdeckermaus, und kommt raus, um ihren Lebensraum zu erkunden und selbst eins zu schreiben. Mit diesem Plädoyer fürs Selberentdecken und gute Sachbücher beginnt sie sofort rund um ihren Mäusebau.
Da gibt’s Larven und schlafende Spitzmäuse, die sich vom Kriechgetier ernähren. Weiter geht’s auf die Wiese, in den Wald, an den Teich und in den Garten. Die Maus hat leicht praktikable und tierschonende Tipps, um alles genau unter die Lupe nehmen zu können.
Die Mini-Humboldt erkundet einen Ameisenbau und taucht mit Kaulquappen ab, wo sie sogar noch eine Artverwandte findet. Die Natur funktioniert als Nahrungskette aus Fressen und gefressen werden. Leicht makaber ist die Vorratshaltung der Maulwürfe: Um immer frische Regenwürmer zu haben, verstümmeln sie die lebendigen Kriechtiere.
Tereza Vostradovská malt meist doppelseitige naturalistische Panoramen. Die getuschten Illustrationen von kleinen und großen Säuge- und Pelztieren, Vögeln und Fischen sind lebensecht und erinnern an Darstellungen klassischer Naturzeichnungen. Dazwischen tummelt sich die Entdeckermaus als Autorin. Sie ist ganz niedlich, aber nicht süßlich disneyhaft, mehr eine passende Gefährtin zu Zdeněk Milers kleinem Maulwurf.

Sympathisch aus der Zeit gefallen

Komm mit raus, Entdeckermaus ist sympathisch aus der Zeit gefallen. Kinder können heute kaum allein durch die Gegend stromern, es gibt keine verwilderten Grundstücke mehr wie in meiner Kindheit. Einen Garten haben zumindest die in der neuen Schrebergartengeneration.
Der Wald aber ist fast ein fast exotisches Habitat, dass auch die meisten Erwachsenen mehr aus den Büchern Peter Wohllebens kennen als durch eigene Anschauung, und wenn, dann als ein eher unnatürlich bewirtschaftetes Stück Forst. Trotzdem ist es ein großes Vergnügen mit der Maus ihren Lebensraum zu entdecken.

Auch im Wald, allerdings dem wirklich exotischeren, bunteren Dschungel, tummelt sich Äffchen. Die Großen schließen ihn aus ihren Vergnügungen aus – weil er noch zu klein sei. Deshalb macht sich Äffchen auf zu einer Soloklettertour. Mutig und unbekümmert überquert er den Fluss, hangelt sich zu den leckeren Früchten herauf und erklimmt den höchsten Wipfel. Dabei ist er sich der wahren Gefahr nicht bewusst, typischer Effekt, wenn Kinder nicht für voll genommen werden.
Das hätte auch grotesk schief gehen können, weil der von den älteren Affen getriezte Tiger sich durchaus an dem allein durch die Gegend stromernden Äffchen hätte rächen können. Stattdessen schwingt der Kleene sich zum krönenden Abschluss ausgerechnet am Schwanz der Raubkatze, den er für eine Liane hält, elegant vom höchsten Baum herab, direkt in die Arme der besorgten und liebenden Affenbande.

Äffchen wächst an seinem Abenteuer

Marta Altés erzählt in satten Farben mit subtilem Witz von der tierischen Exkursion. Dabei besticht auch wieder die hochwertige Ausstattung des Bilderbuchs aus dem Bohem Verlag: Die Titelseite in Leinen mit Prägedruck fühlt sich gut an, auf dem Vorsatzpapier schwingen grüne Palmwedel, wie ein elegantes Tapetenmuster. Altés Tiere haben Ausdruck und Charakter. Äffchens mit jedem überwundenen Hindernis größer werdende Freude und sein wachsendes Selbstbewusstsein stehen in schön illustriertem Kontrast zur immer schlechter werdenden Laune des ihn verfolgenden Tigers.
Äffchen beweist seinen Mut, erobert für sich selbst den Dschungel und wächst an diesem Abenteuer. Auch durch den Perspektivwechsel: Vom Wipfel des Baumgiganten sehen nämlich die Welt und alle anderen ganz klein aus.

maus

Die Perspektive wechselt auch zwischen den skurril verbundenen Helden Der Wolf, die Ente und die Maus von Marc Barnett und Jon Klassen. »Eines frühen Morgens traf eine Maus auf einen Wolf« (… umblättern…) »und wurde gleich verschlungen.« Einmal zu sehen und schon wieder verschwunden, und man denkt, arme Maus, böser Wolf. Aber die Maus lebt noch, das Phänomen tierischer Gier kennt man aus Rotkäppchen und Peter und der Wolf. »Oje! Ich bin gefangen im Bauch dieses Untiers. Gleich ist es aus mit mir.«
Aber von wegen: Die Maus trifft die Ente, die es sich schon länger im Wolf gemütlich macht. »Als ich draußen war, hatte ich jeden Tag Angst, ein Wolf könnte mich verschlingen. Hier drin gibt es solche Sorgen nicht.« Und weil so Einiges im Wolf landet, können Maus und Ente es so richtig krachen lassen mit lecker Essen, Tanz und Musik.
Davon bekommt der unfreiwillige Gastwirt schlimme Magenschmerzen, stöhnt und lockt einen Jäger an, dem er nicht entkommen kann.

Schau mir in die Augen, Kleines

Maus und Ente fürchten zu Recht das Schlimmste. Mutig und tollkühn verteidigen sie ihren Lebensraum und schlagen den Jäger in die Flucht. So retten sie dem Wolf das Leben. Zum Dank haben sie einen Wunsch frei … Armer Wolf, jetzt weiß man, warum er heult.
Jon Klassens Tierbilder sind hinreißend und entzückend. Vor überwiegend in dunklen Farben gehaltenem Hintergrund, die Geschichte spielt im Wolf und bei Nacht, zeichnen sich die weiß umrandeten Figuren in Buntstift und Wachsmalkreide ab.
Hell und höchst lebendig sind die Augen von Wolf, Ente und Maus: Die Pupillen sind die ganze Mimik und spiegeln alle Emotionen wider. Schau mir in die Augen, Kleines.

Tereza Vostradovská: Komm mit raus, Entdeckermaus!, Übersetzung: Jaromir Konecny, cbj, 2019, 56 Seiten, ab 4, 15 Euro

Marta Altés: Äffchen, Übersetzung: Gertrud Posch, Bohem Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro

Marc Barnett, Jon Klassen (Illustrationen): Der Wolf, die Ente & die Maus, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 5, 15 Euro