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Schönste Vogelkinder

Schönheit liegt immer im Auge des Betrachtenden, sie ist per se und auch trotz zeitgenössischer Standards nicht wirklich objektiv. Kommt Liebe ins Spiel, wird sie zunehmend subjektiv.
Bei einer speziellen Form von Liebe, der von Eltern zu ihren Kindern, wird Schönheit absolut erratisch. So sei es der liebenswerten Eulenmutter verziehen, dass sie das Pfauenkind nicht findet. »Könnten Sie meinem Sohn auch sein Pausenbrot mitnehmen?«, fragte Herr Pfau. Soeben ist Frau Eule zufällig bei ihm vorbeigekommen, um ihrem Küken das vergessenen Brot in die Schule zu bringen. »Natürlich!«, sagte Frau Eule. »Aber woher soll ich wissen, wer Ihr Sohn ist?« Herr Pfau lachte und putzte sich: »Gib es einfach dem schönsten Kind dort«, sagte er.

Typisch eitler Gockel, denkt man unwillkürlich. Aber nicht die freundliche Eule.
Als sie in der Schule mit den beiden Päckchen ankommt, ist gerade Pause. Also versorgt sie schnell das eigene Kind. Und macht sich dann gewissenhaft auf die Suche, nach dem angeblich schönsten Kind. »Sie betrachtete jedes Kind ganz genau. Dann verglich sie die einzelnen Kinder miteinander. Sie ordnete sie in einer Reihe und musterte sie aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.«

Farbenprächtig und urkomisch in allen Typen

William Papas hat wunderbare, farbenprächtige und urkomische Vögel in allen Größen, Farben, Arten und Typen gemalt. Es gibt nämlich nicht nur kleine und große Vögel (hier spielt auch geschickt die Typografie mit, also kleine und große Vögel), sondern unter anderem auch mürrische und glückliche. Und auf dem Schulhof kleine verdutzte, zutrauliche, freche, verspielte, grimmige, gelangweilte, muntere und leicht verpeilte Vögelchen. Letzteres ist das Eulenkind, man merkt, dass das wirklich nicht seine Tageszeit ist, trotz seiner weit aufgerissenen Augen sieht es sehr verschlafen aus. Mittendrin ein gar nicht eitel scheinendes Pfauenkind, das brav abwartend in der Reihe steht.

Durch die großen, liebevollen Augen von Frau Eule

Absolut zauberhaft, wie der langjährige Karikaturist des Guardian hier seine große Kunst ausspielt: Warmherzige und vielfältige Typenzeichnungen. Der 1927 in Südafrika geborene Künstler produzierte auch Cartoons für die Sunday Times und das Satiremagazin Punch – pointiert, subtil und mit feinem Strich. 1973 hat Papas dieses prächtige Bilderbuch gemalt, jetzt hat der Schweizer Verlag Aracari es wiederveröffentlicht. Selten hat man so schön, so bunt und so lustig diesen liebevollen Blick, mit dem Eltern ihre Kinder betrachten, so gesehen, wie durch die großen, gelben Augen der freundlichen Frau Eule.

Auch im nächsten Bilderbuch wird ein kleiner Vogel sehr genau von mehreren großen Tieren betrachtet, aber sehr kritisch. Weil die kleine Ente sagt Miau. So heißt das entzückende Pappbilderbuch der neuseeländischen Bilderbuchautorin Juliette MacIver und der in Auckland arbeitenden Illustratorin und Designerin Carla Martell.
Das geht natürlich gar nicht. »Muh! Macht die Kuh« »Wuff macht der Hund« »Gack macht das Huhn« »Und Ente macht … Miau«

Tanzt dem Yak auf dessen haarigen Kopf herum

Also nochmal: »Muh!« (in großer Sprechblase) macht die Kuh. Und immer mehr Tiere kommen zum Sprachunterricht für das Küken hinzu: Pferd, Spatz, Schwein, Schaf und Yak und sogar eine Schlange. Doch egal, wie hartnäckig ihm die erwachsenen Tiere versuchen, ein korrektes Quak zu entlocken. Das gelbe Daunenbündel sagt zuverlässig, genau … »Miau«. Punkt. Und tanzt dem Yak damit wortwörtlich auf dessen haarigem Kopf herum.

Muttersprache

Carla Martells vor verschiedenen monochromen Hintergründen markant in Szene gesetzte Tiere sind hinreißend. Die Großen, wie sie hartnäckig in Sprechblasen den für sie typischen Laut wiederholen. Und dann das flauschige Entlein, das mal keck von schräg oben, mal selbstbewusst allein mitten auf einer blauen Seite stehend ebenso konsequent Miau wiederholt. Dann plötzlich »ruft Ente Mama!« Kuh sagt: »Juhu! Hör einfach deiner Mama zu.«
Dieses Pappbilderbuch ist das schönste des Jahres, mindestens. Auf jeden Fall ist es das Schönste überhaupt zum Thema Muttersprache. Das sage ich jetzt ganz objektiv.

William Papas: Das schönste Kind überhaupt, Aracari, 32 Seiten, 15 Euro, ab 6 Jahre

Juliette MacIver, Carla Martell (Illustration): Ente sagt Miau, Übersetzung; Bernd Stratthaus, Annette Betz Verlag, 24 Seiten, 12 Euro, ab 1 ½ Jahre

Beschwingt

Zum Jahresende denke ich noch mal an die vielen guten, auch brillanten, hinreißenden, entzückenden Bücher, die ich in den vergangenenMonaten lesen und hier vorstellen durfte. Und überlege, welche ich verpasst und übersehen haben könnte und was manchmal auch auf dem Postweg verloren gegangen ist (A.L. Kennedys Onkel Stan, Dan und das fast ganz ungeplante Abenteuer hätte ich schon gern gelesen, wo das wohl gelandet ist?).

Bücherberg

Und dann kommen kurz vor Schluss unverhofft noch zwei sehr schöne Bilderbücher daher, die beide herausragend sind, obwohl sie weder durch besondere Aufmachung (anders als Marthas Reise von Christina Laube – das ist mit seinen filigranen Lasercut-Seiten ganz interessant, doch eher ein Coffeetablebook für Eltern als ein „haptisches Erlebnis“ für Kinder) noch mit berühmten Namen glänzen.

Dass das eine, Rocio Bonillas Der höchste Bücherberg der Welt, nicht zuletzt auch ein Plädoyer für Bücher und das Lesen an sich ist, macht es natürlich umso besser. Auch Einat Tsarfatis Wie sieht es aus in unserem Haus? macht Kinder zu besonders aufmerksamen Bilderlesern, dazu gleich mehr.

Bücherberg

Lukas in Der höchste Bücherberg der Welt wünscht sich nur eins: Fliegen! Er bastelt sich eine Million Flügel, malträtiert die Sprungfedern seines Betts und ist natürlich entsprechend angefressen, dass der Weihnachtsmann ihm jedes Jahr nur nutzlose Spielzeug-Flügel bringt. Der Gesichtsausdruck des zierlichen Jungen mit dem großen Kopf neben dem Christbaum spricht Bände.

Dann schenkt Mama Lukas ein Buch mit den rätselhaften Worten: „Man kann auch anders fliegen, Lukas.“ Und Lukas wird zum besessenen Leser und manischen Geschichtenverschlinger, so exzessiv und blind für alles andere, wie vor allem Jungs (ich spreche aus Erfahrung) eine Sache betreiben können. Die Bücher, die Verwandte, Nachbarn, sogar der Bäcker ihm geben, wachsen unter ihm zu einem imposanten Berg. Und schließlich kann Lukas, beschwingt durch soviel Leseglück, sogar fliegen. Und das ist soviel mehr, als sich nur durch die Lüfte schwingen.

Rocio Bonilla erzählt in großflächigen, meist doppelseitigen Bildern und zeigt, wie Lukas in die Geschichten eintaucht. Comicelemente und fast trickfilmartige Sequenzen fügen sich stimmig mit zarten Bleistiftzeichnungen auf Aquarellen in überwiegend gedeckten Farben zusammen. Es gibt sehr hübsche Details, eine schwarze Katze ist mehrmals zu sehen, der Feuerwehrmann, gerufen, um Lukas vom Berg zu holen, ist sichtbar genervt von dem total selbstvergessenen Jungen. Und wenn King Kong, von Lukas unbemerkt, am Bücherberg rüttelt (Zitat der berühmten Szene am Empire State Building, inklusive Flugzeug), wird deutlich, wie hoch der Turm mittlerweile ist – und wie tief Lukas in die Fantasiewelten eingetaucht ist.

Geheimnisvolle Türen

Optisch ganz anders, doch nicht minder fantasievoll ist Einat Tsarfatis Wie sieht es aus in unserem Haus? (im Original schlicht „The Neighbours“). Angedeutet wird die nachbarschaftliche Vielfalt in einem Haus mit sieben Stockwerken schon bei den Briefkästen. Ein Mädchen steigt nach ganz oben. Inspiriert durch die unterschiedlichen Wohnungstüren und was davor steht, stellt sie sich die Nachbarn vor, die dahinter wohnen. Hinter der Tür im Erdgeschoss mit den vielen Schlössern lebt eine Diebesfamilie, die einen Pharaonenschatz hütet. Große Grünpflanzen und Matsch vorm Eingang – das kann nur ein alter Jäger mit seinem zahmen Tiger sein. Und wenn im vierten Stock immer das Licht ausgeht, ist es eindeutig: Hier wohnt ein Vampir. Hinter jeder profanen Tür tun sich fantastische Welten auf – auf kunterbunten und detailreichen Wimmelbildern, die jeweils eine Doppelseite randvoll füllen. Und auf jeder Seite tummelt sich auch irgendwo ein vermisster Hamster, was den Betrachter auf der Suche nach ihm immer neue Anspielungen und Querverweise entdecken lässt. Und ganz oben: „Hinter der siebten Tür wohne ich mit meinen Eltern“, erzählt das Mädchen. Hier ist es zwar immer noch hübsch farbig, aber sehr aufgeräumt. „Sie sind furchtbar langweilig“, kommentiert sie ihr Zuhause und seine Bewohner. Aber, und das ist ein zauberhafte Fazit dieser Bilderbuchfantasie: „Ich hab sie trotzdem sehr lieb.“
Fantasie beflügelt nicht nur – sie macht auch gelassen.

Rocio Bonilla: Der höchste Bücherberg der Welt, Übersetzung: Renate Loew, Jumbo, 44 Seiten, ab 3, 15 Euro

Einat Tsarfati: Wie sieht es aus in unserem Haus?, Übersetzung: Bernd Stratthaus, Annette Betz, 44 Seiten, ab 4, 14,95 Euro