Manchmal erscheinen Bücher zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt auf erschreckende Weise zu dem aktuellen Tagesgeschehen passt. Dazwischen: Wir von Julya Rabinowich ist so ein Beispiel. In der Fortsetzung von Dazwischen: Ich von 2016 erzählt die Wiener Autorin die Geschichte von Madina weiter, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und in einer Kleinstadt Zuflucht gefunden hat.
Mittlerweile wohnt Madina mit Mutter, Tante und Bruder Rami bei ihrer besten Freundin Laura, im ehemaligen Büro deren Vaters. Madinas Vater ist wieder in seine Heimat zurückgegangen, um zu kämpfen. Wieder belässt Rabinowich es im Unklaren, woher die Familie geflüchtet ist, es ist weiterhin unerheblich. Nun wartet die 15-Jährige täglich auf Nachricht von ihm.
Ein fast normales Teenager-Leben
Doch Madina, die wieder Tagebuch schreibt, berichtet auch von ihrem neuen Alltag, in dem sie in der Schule immer besser wird – auch durch die gnadenlose Förderung und Forderung der Klassenlehrerin King. Mit Laura und ihrem Bruder Markus erlebt sie so manches emotionale Hoch und Tief, träumt von einer Jeans und Reisen, möchte einfach nur dazugehören und hat eigentlich ein neues Zuhause gefunden. Im Grunde liefert sie das Bild eines ganz normalen Teenagermädchens. Wären da nicht die fremdenfeindlichen Typen im Ort, die sich irgendwann immer Donnerstags vor dem Café treffen und gegen Migranten pöbeln. Zunächst duckt Madina sich noch weg, macht einen Bogen um diese Ansammlung. Als Hassparolen an den Hauswänden auftauchen, gründen Madina und Laura eine Gang, die diese Schmierereien einfach selbst übersprayen. Nach und nach entwickelt Madina immer mehr Mut, macht sich grade, wie sie sagt, bis sie schließlich den Pöblern entgegentritt …
Beunruhigende Aktualität
Vieles in dieser Geschichte ist von einer beunruhigenden Aktualität, die mich durch die Seiten getrieben hat. Man kommt als Leser:in nicht umhin, eine Parallele zu den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine zu ziehen, deren Männer und Väter in der Heimat kämpfen. Konnte man Dazwischen: Ich als Spiegel auf die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten 2015 lesen, so gleicht Teil 2, der sich inhaltlich nahtlos an den ersten Band anschließt (aber auch ohne ihn gut verständlich ist), wie ein Kommentar zu den jetzigen Ereignissen. Viele Geflüchtete kommen momentan glücklicherweise privat unter, und wir können nur hoffen, dass sie hier weiterhin viele positive Erfahrungen machen.
Doch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, die aus unserer Gesellschaft ja nicht verschwunden sind, lauern da draußen quasi schon. So hat mich (als alte Leserin) der fremdenfeindliche Aufmarsch vor Madinas Haus unwillkürlich an die Anschläge von Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erinnert. Ich verbiete mir jetzt aber, diesen Gedanken weiterzudenken, und setze darauf, dass sich doch etwas bei uns geändert hat.
Hoffnungsfigur Madina
Die Figur Madina jedenfalls zeigt mit ihrer liebenswerten und lebensfrohen Art, mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Wut die universellen menschlichen Eigenschaften, die es so völlig unerheblich machen, woher ein Mensch stammt. Ihr Mut macht deutlich, dass Geflüchtete sich nicht alles gefallen lassen müssen, sondern ein Recht haben, sich zu wehren – im Großen wie im Kleinen. Die Solidarität, die Madina erlebt, schürt die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Bücher wie Dazwischen: Wir bringen die Saat dafür aus, die in den jugendlichen Leser:innen hoffentlich aufgeht.
Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir, Hanser, 2022, 256 Seiten, ab 14, 17 Euro
In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.
Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.
Andere Zeiten, andere Geschichten
Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.
Neues Kleid für Capy
Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.
Ähnliche Geschichte
Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht. Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…
Wasserschweine mit Botschaft
Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.
So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …
Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.
Zurück zur Natur
In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück. Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.
Bedrohter Lebensraum
Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.
Das unübersetzte Capybara
Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).
Mehr Capybara sein
Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.
Wasserschweine im Selbstverlag
Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.
Bitte mehr Wasserschweingeschichten
Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.
Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro
Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro
Bei mir auf dem Schreibtisch hat sich in den vergangenen Wochen, sei es bei meiner Arbeit als Übersetzerin und Lektorin, als auch bei der Suche nach »schönen« Kinderbüchern ein Thema herauskristallisiert: die Angst. Gefühlt leben wir in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr Angst haben. Vor Viren oder Impfstoffen dagegen, vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe, vor drohenden Kriegen in nicht allzu weiter Entfernung. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.
Ein Leben ohne Angst gibt es allerdings nicht und hat es auch nie gegeben. Das Gefühl der Angst ist uns angeboren und erfüllt eine wichtige Funktion, in dem sie uns vor lebensbedrohenden Gefahren schützen will. Nur, dass wir in unserem hochtechnisierten und durchgetakteten Leben voller Ansprüche und Erwartung mittlerweile auch vor Dingen Angst haben, die nicht unbedingt lebensgefährlich sind. Aber wie oft hat man als Erwachsener Angst um den Ruf oder den Job. Menschen wollen dazugehören, denn auch das sichert unser Überleben.
Kindern geht es nicht anders. Nur verfügen sie noch nicht über die Erfahrung, wie sie das unangenehme Gefühl Angst bewältigen können, welche Tricks und Kniffe man anwenden kann, um es wieder loszuwerden. Oder auch hinter die Schatten zu blicken. Aus Erwachsenenperspektive von oben herab zu sagen: »Da ist doch gar nichts« hilft den Kindern nicht. Die Angst bleibt und wird im schlimmsten Fall größer.
Bei der Durchsicht der aktuellen Verlagsvorschauen sind mir dann eine Vielzahl von Neuerscheinungen zum Thema Angst aufgefallen. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgesehen und erst einmal die Bilderbücher aus den vergangenen drei Jahren gesichtet (weiter zurück zu gehen würde das Internet sprengen…). Die Bandbreite bei Bilderbüchern zum Thema Angst ist riesig. Auffallend ist, dass hauptsächlich tierische Akteuere auf die eine oder andere Art gegen ihre Angst ankämpfen, vom Opossum bist zum klassischen Wolf, vom Hasen bis zum Mops, es ist alles dabei. Sogar ein Ents-ähnlicher Baum hilft bei der Angstbewältigung. Mag sein, dass die Angst so weniger Angst macht und die Identifikation leichter fällt. Dazu gibt es in so einigen Büchern Reime und Bannsprüche, die im realen Leben Halt und Hilfe geben können.
Ich habe versucht, die Bücher ein wenig nach Themen zu sortieren. Aber ich erhebe hier natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch ersetzt die Lektüre nicht eine professionelle psychologische Betreuung, wenn ein Kind unter einer Angst so sehr leidet, dass es davon ernsthaft krank wird. Aber meine kleine Hoffnung ist, dass ihr hier vielleicht Anregungen findet, wie ihr eurem Kind die Angst vor der Angst nehmen könnt. Es gibt hier sehr viel zu gucken, zu entdecken, zum Schmunzeln und zum Lachen. Vor der Angst braucht sich niemand zu fürchten. Sie gehört zu uns, zu unserem Leben dazu. Es ist eine Frage der Einstellung und des Wissens, wie wir ihr begegnen. Und sie dann letztendlich in Mut verwandeln und uns viel mehr trauen. Viel Spaß beim Stöbern.
Sich etwas trauen gegen die Angst
Schon für die kleinsten Leser:innen lässt sich das Gefühl Angst mit Hilfe eines Buches bewältigen. Das Pappbilderbuch Kleiner Angst-Frosch hab doch Mut! von Christine Kugler und Jutta Berend zeigt kindgerechte Alltagssituationen, in denen Angst aufkommen kann: auf der Rutsche, beim Sprung ins Schwimmbecken, abends im Bett oder auf der Bühne beim Chorkonzert. In kurzen gereimten Texten wird die Situation erklärt und Hilfe in Form von Freunden, Taschenlampe oder Mitsingenden geboten. So überwindet Frosch Ferdi schließlich seine Angst. Und jede kleine Leser:in erfährt schon hier, dass Angst etwas ganz Normales ist.
Angst versus Mut treffen unmittelbar im Wendebuch von Andrea Schütze und Stéffie Becker aufeinander: Ich trau mich/Ich trau mich nicht. Das mutige Orang-Utan-Mädchen Olivia und der ängstliche Tiger Jonte leben im Urwald und wüschen sich eigentlich nur einen Freund, ganz für sich. Die Elternteile können den beiden dabei nicht besonders gut helfen, ermuntern den jeweiligen Spross aber, auf die Suche zu gehen. Olivia und Jonte begegnen dem Krokodil Rokko, der sich als Freund anbietet. Allerdings unter der Bedingung, dass die beiden eine Mutprobe bestehen sollen … Das Gegenüber der unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Figuren lässt kleine Leser:innen sicher über die Vielfalt im Leben nachdenken. Die identische Reaktion von Olivia und Jonte auf die Mutprobenfrage von Rokko macht ihnen jedoch auch klar, dass Freundschaft nicht unter Bedingungen geschlossen werden kann – und es mitunter sehr mutig ist, Nein zu sagen.
Die Neuausgabe von Valeri Gorbachevs Nur Mut, kleine Küken! ist im Grunde ein Klassiker von 2001 und begleitet zwei Kükengeschwister bei ihrem ersten Besuch auf den Spielplatz. Alles ist groß und scheinbar gefährlich: die Wippe mit den Hundekindern, das Karussell mit den Ferkeln drauf, die Schaukeln, die von den Kätzchen besetzt sind. Die anderen Tierkinder sind nett und fragen die Küken, ob sie mitmachen wollen, doch die beiden antworten stets: »Danke, aber dafür sind wir noch zu klein.« Man kann es ihnen nicht verdenken… Doch als der Biberjunge auf der Rutsche Verständnis für ihre Angst zeigt (er hatte beim ersten Mal auch Angst) und mit ihnen gemeinsam rutscht, überwinden die beiden ihre Scheu. Die nicht Verurteilung von Angst, das Verständnis der anderen und die Hilfsbereitschaft, die knuffige Tierfiguren hier zeigen, fördern auch bei den Betrachter:innen den Mut, sich auf neue Abenteuer, sei es auf dem Spielplatz oder sonst wo im Leben, einzulassen.
Der kleine rote Drache mit den niedlichen Flügeln traut sich nicht – zu fliegen. Obwohl das doch genau das ist, wozu er geboren ist, finden die großen Tiere wie Fuchs, Hase und Dachs. Allein Mama Drossel verteidigt den Ziehsohn: »Ach, das macht er schon noch, wenn die Zeit gekommen ist.« Bis dahin entdeckt der kleine Drache die Moosrutsche auf dem Baumstamm, malt Bilder in den Sand, betrachtet hübsche Blumen. Alle Versuche seiner tierischen Genossen, ihn zum Fliegen zu bewegen, bringen nichts. Bis er es eines Nachts selbst ausprobiert … Neben der Bewältigung der Furcht vor einer zu erlernenden Fähigkeit, geht es in Ein komischer Vogel traut sich was von Michael Engler und Joëlle Tourlonias auch um das Aushalten von gesellschaftlichem Druck. Alle erwarten etwas, drängen den kleinen Drachen förmlich – doch nur die Ziehmutter hat im Blick, dass jedes Wesen seinen eigenen Rhythmus hat und Zeit braucht. Ein Mutmachbuch für kleine Leser:innen der besonderen Art, ganz im Sinne: Kommt Zeit, kommt Mut.
Tiere gibt es im psychologischen Bilderbuch Muträuber von Johannes Traub, Wiebke Alphei und Suse Schweizer nicht: Dafür sind die Räuberbrüder Hugo und Zugo ziemlich verschieden. Hugo ist eher der angstfrei Draufgänger, Zugo der ängstlich Zurückhaltende. Zugo möchte gern mutiger sein, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Der Räubervater gibt ihnen den Tipp, sich Mut zu räubern. Und Mut findet man da, wo Angst ist … und so stellt sich Zugo seinen Ängsten (der großen Rutsche, Radfahren). Hugo unterstützt ihn dabei, so dass auch Zugo sich schließlich traut. Geschickt sind hier im Text verschiedene Arten von Angst und ihre körperlichen Merkmale eingebaut. Die bestärkende Art von Hugo gegenüber dem Bruder zeigt den Lesenden, wie bei Kindern Ängste abgebaut werden sollten. Die Variante, dass hier nur Jungs und der Vater auftreten, macht das Buch zu einer perfekten Vater-Sohn-Vorlesegeschichte.
Mitmachbücher
Konkrete Strategien, wie Kinder mit ihren Ängsten umgehen können, liefern Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer in Wenn ich ängstlich bin. Murmeltier Mumm verlässt seinen Bau und ist plötzlich einsam und bekommt Angst. Bär, Luchs, Mauerläufer und Steinbockmädchen machen ihm vor, wie sie ihre Angst wegbrummen, weghopsen, sich groß machen oder sich schöne Orte vorstellen. Mumm probiert das alles aus und findet schließlich das, was er am besten kann: pfeifen.
Mit kleinen Aufforderungen im Text werden die Kinder beim Betrachten der Bilder animiert, beispielsweise auf die Blüten zu tippen, über einen Stein zu streichen oder sich ihren Lieblingsplatz vorzustellen. Die Macherinnen zeigen den Kids durch süße Bilder und einfache Texte, wie sich die Angst körperlich zeigt (zittern), wofür sie gut ist (Warnung) und wie sie damit umgehen können (atmen, vorstellen, hopsen). Das Abenteuer von Mumm hat Unterhaltungswert und hilft Kindern und Eltern gleichzeitig mit alltäglicher Angst umzugehen.
Ähnlich geht es in dem Mitmachbuch Nur Mut, kleiner Schmollmops von von Lucy Astner und Alexandra Helm zu: Der Mopswelpe hat vor seinem ersten Tag in der Möpschen-Spielgruppe ein ganz seltsam kribbeliges Gefühl im Bauch. Mops-Eltern und -Großeltern konstatieren dem Nachwuchs Angst und reden ihm Mut zu. Doch wie wird man mutig? Hilfe naht durch Specht, Hamster, Dachs und Katze. Jedes Tier bringt dem kleinen Mops eine Entspannungs-Mutmach-Technik bei, die die kleinen Leser:innen dem Schmollmops aktiv vormachen sollen. Da wird geklopft, Katzenbuckel gemacht, die Backen aufgeblasen und durchgeatmet. Der Trick, den Kindern so ein paar Entspannungskniffe beizubringen, ist entzückend, bedarf aber sicher mehr als eine Lektüre, um alles wirklich zu verinnerlichen. Am Ende merkt der Schmollmops, dass es in der Spielgruppe gar nicht schlecht ist und er einfach seinem Herzen folgen sollte.
Angst vor Unbekanntem
Angst hat immer auch etwas mit dem Unbekannten, dem Fremden zu tun. Darum geht es in Jessica Meserves Die Welt da draußen. Die Betrachtenden tauchen ein in die Welt der Kaninchen, die am liebsten zu Hause und mit ihresgleichen zusammen sind. Am liebsten futtern sie Möhren und haben es gern kuschlig warm in ihrem Bau. Das Helden-Kaninchen gerät beim Ausrupfen eines leckeren Mörchens, das ein klein wenig außerhalb des bekannten Gefildes wächst, ins Neuland. Es kullert in ein unbekanntes Loch und erlebt ganz unkaninchenhafte Dinge wie Nasswerden und Luftanhalten. Auf seiner Reise begegnet es einem Tier mit Krallen und Haaren, vor dem Kaninchen immer gewarnt wurde. Kaninchen steht böse Ängste aus. Doch das Nicht-Kaninchen ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, es versorgt Kaninchen mit lecker Essen … Und so kommt Kaninchen auf den Geschmack, dass es auch noch was anderes im Leben geben kann. In einem Baum, auf den es ganz unkaninchenhaft klettert, findest es Freunde mit Federn, Schuppen, Hörnern oder Hufen – und von allen kann es etwas lernen … Diese neue Häschen-Schule ist quasi ein Plädoyer für eine bunte Gesellschaft, in der wir alle von anderen sehr viel lernen können. Der Angst vor dem Fremden, dem vermeintlich Gefährlichen, wird hier eine charmante Absage erteilt – und tut uns allen gut.
Schon ganz junge Bilderbuchbetrachter:innen nimmt der kleine Bär, ein Puh-der-Bär-Look-a-like, mit auf einen Weg gegen die Furcht. Nach dem Besuch bei Großvater Bär geht der kleine Bär allein, aber mit einer Laterne in der Pfote nach Hause. Im Wald hört er immer wieder unheimliche Geräusche und findet kleine Tierkameraden, die sich im Dunkeln fürchten. Mit dem titelgebenden Mantra »Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!« nimmt er die Freunde mit und so gelangen alle schließlich sicher nach Hause. Gerade dieser Reim, den auch kleine Kinder ganz rasch behalten, wirkt wie eine erhellende Ermutigung. Der blau gehaltene Nachtwald mit den Augen, den versteckten Tierchen und deren süßen Behausungen (genau hinschauen!) machen das Buch von Brigitte Weninger und Laura Bednarski zu einer Lektüre voller Überraschungen.
Auf eine Reise oder einen Weg begibt sich auch die Ente. Zusammen mit der Maus macht sie sich in Wird schon schiefgehen, Ente! von Daniel Fehr und Raphaël Kolly auf, den Biber an seinem neuen Damm zu besuchen. Nur plagen die Ente unzählige Alltagsängste: Man könnte sich verlaufen, sich im Regen erkälten, verhungern oder verdursten. Zum Glück hat die entspannte Maus Proviant dabei und erträgt die schwarzseherische Ente mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Und plötzlich sind die beiden am Ziel – und nichts ist passiert. Dieser sommerlich orangefarbige Reisegeschichte ist im Grunde der Monolog der ängstlichen Ente. Die Maus reicht ihr zu essen und zu trinken und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch so kann man oder sollte man Ängsten von anderen vielleicht begegnen: Nicht viel sagen, sondern einfach weitermachen. Das Ergebnis ist überzeugender als jede Erklärung.
In einem tiefen, aber wunderbar bunten Wald treffen in Ab hier kenn ich mich aus von Andrea Schomburg und Amrei Fiedlerein ein Menschenkind und ein Baumwesen, das erstaunlich an die Ents aus »Herr der Ringe« erinnert aufeinander. Das Kind hat sich verlaufen, findet den Weg nicht mehr. Dazu die unheimlichen Geräusche, das Geraschel, Gepiepse, Geheule und Geklopfe. Der Baum erklärt und zeigt, und gemeinsam finden sie den Weg aus dem Wald und gelangen in die Stadt mit den vielen Menschen, Häusern, Autos, der Enge, dem Gerumpel. Nun erklärt das Menschenkind und findet den Weg nach Hause wieder. Andrea Schomburg reimt was das Zeug hält und öffnet die Augen für die Schönheit der schützenswerten Natur, auch in der Stadt. Der Angst des Kindes im Wald setzt sie die Angst des Baumes in der vollen Stadt entgegen und zeigt, dass die Angst verschwindet, sobald man sich besser auskennt und gewisse Regeln (die Ampel) beachtet.
Angst vor Gewitter
Die Angst vor dem Naturphänomen Gewitter findet sich aktuell in zwei Bilderbüchern. In Da liegt was in der Luft von Malin Hörl wohnt Svea mit ihren zwei Schwestern, Mama und Papa irgendwo auf dem Land, als ein Sommergewitter aufzieht. So ein richtig heftiges. Die Mädchen sind leicht panisch, ziehen im Haus die Stecker aus den Dosen. Aber Papa bleibt cool, erklärt wie man Schutz sucht und die Entfernung des Gewitters berechnet. Dann schmiert er Erdnussbutterbrote und vom geschützten Balkon beobachten Vater und Töchter das Naturspektakel, mit ganz viel Respekt. Dieser und die gelassene Zugewandtheit des Papas bewirkt, dass Svea schließlich sagt: »Ich mag Gewitter.« Die gemeinsame Lektüre und das Betrachten der warmfarbigen, aber sturmbewegten Bilder kann kleinen Menschen vielleicht die Gewitterangst nehmen.
Auch Hibiskus, der Hase, findet Gewitter nicht gerade toll. In Hase Hibiskus und das grausige Gruseln von Günther Jakobs und Andreas König freut sich der Langohrheld auf einen geruhsamen Abend mit Kakao, doch stattdessen zieht ein Gewitter auf und der Strom fällt aus. Allein im Dunkeln ist es ganz schön gruselig. Schaurige Geräusche dringen von außen ins Haus, dunkle Schatten sind zu sehen, Monster schauen durchs Fenster. Doch glücklicherweise sind es lauter Freunde von Hibiskus, die nach und nach vom Gewitter überrascht bei ihm Unterschlupf suchen. So füllt sich das Hasenhaus mit Maus, Bär, Esel, Uhu und Schlange. Und gemeinsam bei einem Becher Kakao sind sich die Freund einig: »Und gruselt dich auch mal etwas, hab keine Angst, wir klären das.« Genaues Hingucken hilft also gegen Angst, erfahren kleine Leser:innen hier – und Kakao im Warmen ist bei Gewitter ein Seelentröster.
Dunkelheit und Schattenwesen
Die generelle Angst vor der Dunkelheit thematisiert das künstlerische Bilderbuch Louisa und die Schattenmonster von Liliane Steiner. Louisas Eltern haben sich für das Mädchen einen Bannspruch ausgedacht, damit es im Dunkeln keine Angst mehr hat: »Feenschmalz und Kräutersalz, lässt verschwinden von allein, Geister, Monster und Gebeine.« Dazu wird Glitzerstaub verstreut. Dennoch wird Louisa mulmig, wenn das Licht aus ist. Die Schatten an der Wand sind einfach unheimlich. Licht und Zauberspruch helfen ihr zunächst. Doch auf dem Weg in die Küche begegnen ihr noch mehr gruselige Schatten… Die Künstlerin arbeitet geschickt mit den Schatten von Alltagsdingen. So werden Holzlöffel, Spaghettizange und Kelle zu einem Skelett, Kehrblech, Handbesen und Wischeimer zu einem Teufel. Die Seiten sind dem Setting entsprechend dunkel gehalten, was für kleine Betrachter:innen spannend sein kann. Louisa enttarnt die Schattenmonster und verliert ihre Angst. Auf dem Vorsatz sind Beispiele für Schattenspiele mit den Händen zu sehen, die sofort zum Nachmachen animieren und die Verwandlung von verschränkten Fingern zu mehr oder minder gefährlichen Tierschatten veranschaulicht.
Die Angst vor der Dunkelheit findet in Hab keine Angst, kleines Dunkel von Peter Vegas und Benjamin Chaud eine reizvolle Umkehrung: Das kleine Dunkel hat nämlich Angst vor dem Licht. Es versteckt sich in Schubladen, unterm Bett und traut sich erst vor die Tür, wenn die Sonne weg ist. Das Dunkel bleibt die ganze Nacht wach, damit die Kinder ruhig schlafen können, auch wenn es selbst dann nichts erlebt. Dafür lieben Fledermäuse und Sterne das Dunkel. Dunkelheit kommt hier als ein sehr sympathisches und wichtiges Element in unserem Leben daher. Es wird Kindern, die sich davor fürchten, wie ein guter Freund präsentiert, dem man durchaus mal »Hallo« sagen kann. Nach dieser Lektüre können junge Leser:innen dem Dunkel mit ganz anderen Augen begegnen.
Ganz anders geht es in der folgenden Geschichte zu: Eines sonnigen Morgens entdeckt Hase, dass etwas nicht stimmt. Da war plötzlich noch jemand: Schwarzhase. Und ganz gleich, was Hase tat – rennen, verstecken, schwimmen – Schwarzhase verfolgte ihn und machte ihm Angst. Erst im dunklen Wald hat er Ruhe vor Schwarzhase. Bis ihn der Wolf zu jagen beginnt. Als Hase aus dem Wald in die Sonne rennt, passiert es … Das Schattenspiel in Philippa Leathers Bilderbuch Schwarzhase verdeutlicht die Funktion von menschlichen Ängsten schon für ganz kleine Leser:innen. Sie sind immer bei uns, aber sie schützen uns vor lebensbedrohlichen Gefahren.
Von Träumen und Albträumen
In der Dunkelheit kann es sein, dass wir von bösen Träumen belästigt werden. So er geht es Anton in Ben Furman und Mathias Weber Buch Antons Albtraum. Er soll bei Oma schlafen. Aber Anton hat in letzter Zeit immer wieder Albträume und kann nur schwer einschlafen. Oma weiß nichts davon und die Eltern vergessen, es ihr zu erzählen. Als Anton ihr selbst davon erzählt, sagt Oma: »Es gibt gar keine Albträume.« Aus dieser überraschenden Aussage entsteht ein Gespräch über Antons Albtraum. Oma nimmt die Bilder aus Antons Traum auf und erzählt dazu eine Geschichte mit einem schönen Ende. Die Beschäftigung damit hilft Anton, ohne Angst einzuschlafen. Nicht alle Albträume sind natürlich so »harmlos« wie Antons, daher erläutert Autor und Psychologe Ben Furman in einem Nachwort, wie Eltern damit umgehen können, wenn ihre Kinder etwas wirklich Erschreckendes erlebt oder gesehen haben. Offene Gespräche über das Erlebte oder Geträumte, das Malen von Bildern oder die Besuche von Orten oder Einrichtungen, die im Traum eine Rolle spielen, helfen den Kindern bei der Verarbeitung. Dieses Buch liefert eine wunderbarer Idee dafür.
Fantasie und Wirklichkeit treffen auf eine leichtere Art im Buch Timo kann was Tolles von Nikola Huppertz und Tobias Krejtschi aufeinander. In seinen Träumen ist Timo mutig, fliegt, hat keine Angst vor Dschungeltieren oder fährt große Feuerwehrautos. Doch tagsüber im Kindergarten schafft er es nicht hoch zu schaukeln, hat Angst einen Regenwurm zu streicheln und seine Bilder sehen aus wie Krikelkrakel. Die anderen Kinder lachen ihn aus. Bis auf Ava. Erst als sie Timo fragt, ob sie etwas zusammen machen wollen, erkennt Timo seine besondere Gabe. Und auf einmal fallen ihm zusammen mit Ava die Dinge ganz leicht. Träum können also wahr werden, wenn Kinder den Mut aufbringen, sich anderen anzuvertrauen. Gemeinsam ist man stärker und kann gewissen Hindernisse überwinden.
Angst als Freundin
Dass wir der Angst anders begegnen können, thematisieren zwei sehr ähnliche Bücher. In Mirjam Zels erdig-pastelligem Bilderbuch Fast wie Freunde geht es um das Mädchen Sophie. Sie wohnt in einer ganz normalen Stadt, in der die Leute sich zwar grüßen, aber nicht so genau hinschauen. Was sie nicht genau sehen, ist zunächst nicht erkennbar. Nach und nach wird klar, dass Sophie eine schwarze Last mit sich herumschleppt: ihre Angst. Sie hat Angst auf den Baum zu klettern oder im Teich zu schwimmen. Niemand versteht, was mit ihr los ist. Erst als sie ganz allein ist, entdeckt sie ihre Angst – und stellt fest, dass sie eigentlich gar nicht so schlimm ist. Sophie ändert ihre Taktik: Statt die Angst einfach herumzuschleppen, nimmt sie sie wie eine Freundin an die Hand und zeigt sie den Menschen in der Stadt. Und nun ändert sich etwas: Sophie erkennt, dass die Angst manchmal ganz sinnvoll ist – als Warnung vor Gefahren –, sie aber oftmals gar nicht nötig ist. Ihr Beispiel steckt an und so zeigen nun auch die anderen Menschen ihre Ängst und alle werden irgendwie netter zueinander. Mut zur Angst ist hier das wichtige Thema. Denn kein Mensch ist ohne Angst. Sie macht uns menschlich. Die eigene Angst zuzugeben, zu ihr zu stehen macht vielleicht angreifbar, aber das Zusammenleben gestaltet sich freundlicher, wenn wir für andere Verständnis entwickeln.
Francesca Sanna, die hierzulande mit ihrem Buch Die Flucht bekannt wurde, verarbeitet in diesem künstlerischen Bilderbuch in ähnlicher Weise ihre eigenen Ängst. Sie zeigt ein Mädchen, das ihre Angst als weißes Knuddelmonster immer dabei hat. Diese Angst ist mal kleiner und mal größer, oft beschützt diese Angst das Mädchen. Doch als es in ein neues Land kommt, in dem sich das Mädchen nicht wohl fühlt, wird diese Angst riesengroß. Sie stellt sich zwischen das Mädchen und die neuen Mitschüler:innen, sie verhindert, dass das Mädchen mit anderen reden kann, sie zerrt das Mädchen immer gleich wieder nach Hause. Erst als ein Junge aus ihrer Klasse ihr etwas zeigt und später beim Spielen seine eigene Angst offenbart, wird die Angst des Mädchens wieder kleiner. Die Darstellung der Angst als Barbapapa-förmiges Etwas entspricht der von Mirjam Zels in Fast wie Freunde. Die Beherrschung von Angst durch die Hilfe eines Freundes ist auch hier eine wichtige Botschaft.
Märchen reloaded
Seit Rotkäppchen und der Wolf ist dieses wunderbare Tier zu einem Angstsymbol geworden – völlig zu Unrecht. Er bietet sich trotzdem immer wieder an, die Angst zu illustrieren oder damit zu spielen. Ein herrliches Spiel mit diesen Stereotypen ist das Bilderbuch von Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf. Schon der Titel könnte stutzig machen: Warum wird der Große Wolf angesprochen? Das zeigt sich auf der ersten Doppelseite: Der kleine Wolf geht mit dem großen Papa Wolf in den Wald. Der kleine marschiert voran, der große mit angstvoller Schnauze hinterher. In farblich schön reduzierten Bildern lockt der Wolf-Sohn den Vater durch das Unterholz, erklärt, was für Geräusche zu hören sind, was es so zu sehen und zu riechen gibt. Bis die zwei tatsächlich jemandem begegnen und der große Wolf reiß aus nimmt. De Kinder spielt geschickt mit dem Märchen von Rotkäppchen. Er löst Ängst durch genaues Beobachten auf. Gleichzeitig zeigt er Kindern durch die Umkehrung der Vater-Sohn-Rolle, dass sie mutiger sein können als der Papa. Und nimmt am Ende das psychologische Trauma des Vaters aufs Korn – was für erwachsene Vorleser:innen eine sehr amüsante Pointe darstellt.
Das angebliche Angsttier Wolf schwebt auch in Myriam Ouyessads und Ronan Badels Der Wolf kommt nicht, quasi über allem. Hasenmutter bringt hier ihr Hasenkind ins Bett, das ständig fragt: »Bist du ganz sicher, dass der Wolf nicht kommt?« Hasenmutter beruhigt mit allen möglichen Argumenten: Es gibt keine Wölfe mehr, sie leben weit weg im Wald, ein Wolf kommt nicht in die Stadt, im Verkehr würde er nicht überleben und so weiter. Häschen versteckt sich derweil unter der Decke, schaut erschreckt. Die Hasenszenen mit dem Text finden sich immer auf der linken Seite, während rechts der Wolf in den verschiedenen Situationen gezeigt wird und immer näher kommt. Als sich Häschen scheinbar beruhigt hat und das Licht aus ist, klingelt es an der Tür … Die Auflösung ist so charmant, die müssen die Lesenden selbst herausfinden. Der Twist, den die Geschichte dadurch bekommt, ist absolut Angstvertreibend.
Ein weiteres Spiel mit Märchenklischees ist Prinzessin Riesenmut von Rachel Valentine und Rebecca Bagley. In knallbunten Illus machen sich die drei Prinzessinnen-Schwestern Thea, Juno und Liliy entgegen dem Verbot ihres Königs-Großvaters auf, den Riesen zu suchen. Dieser hat das Land verwüstet und treibt sein Unwesen. Angst kennen die drei scheinbar nicht: der Zauberwald schreckt sie nicht. Die Spinnen, die darin hausen, setzen sie geschickt außer Gefecht. Eine kaputte Brücke über eine Schlucht überqueren sie mit Kreativität. Und schließlich holen sie den Riesen ein, verschnüren und verhaften ihn. Ein klärendes Gespräch liefert dann die Erklärung für das zerstörerische Verhalten des Riesen … und alles wird gut. Der Mut der Prinzessinnen und ihr resolutes, aber auch einfühlendes Vorgehen räumt gehörig mit dem Image von braven Prinzessinnen auf, die auf ihren Prinzen warten und sich ihm unterwerfen. Die moderne Prinzessin trägt Kopfhörer und Sneakers, fährt Rollerskates, ist mit technischem Gerät ausgestattet und tanzt durchs Leben, ohne sich von schissigen Rittern Angst machen zu lassen. Die coolen Prinzessinnen geben vorzügliche Rolemodels ab.
Ängste im Alltag
Manchmal ist es natürlich auch so, dass wir mit der Angst leben, sie in unseren Alltag integrieren müssen. Wie so etwas entspannter geht, zeigt Kommt Zeit, kommt Opossum von Jennifer Black Reinhardt, das im April erscheint. Wenn Opossum Alfred Angst hat, erstarrt es und stellt sich tot. Das ist jedoch nicht besonders hilfreich in der Schule oder beim Sport. Freunde hat er so auch nicht gefunden. Doch dann lernt er Sofia, das Gürteltier, kennen. Sie rollt sich immer zu einer Kugel zusammen, wenn sie sich erschrickt. Die Erkenntnis der beiden, dass sie etwas gemeinsam haben, entspannt die Lage schließlich. Immer wenn der eine erstarrt oder die andere sich zusammenrollt, wartet er oder sie einfach ab. Und mit der Zeit passiert es ihnen immer seltener. Stattdessen entdecken sie, dass auch die anderen ihre Ängste habe: der Krake versprüht schwarze Tinte, die Schildkröte versteckt sich im Panzer, die Ziege fällt auf den Rücken. Doch mit Geduld und Verständnis weitet sich so ihr Freundeskreis aus. Die Verteidigungs- und Schutzmechanismen aus der Natur hat die Autorin für diese charmante Geschichte genutzt, um zu verdeutlichen, dass alle Menschen Ängste haben – und sogar die Tiere. Die Hilfe gegen die Angst liegt hier im Verständnis, das wir anderen gegenüber aufbringen sollten.
Auch Igel können Angst haben und bekanntermaßen rollen sie sich bei Gefahr zu stachligen Kugeln zusammen. Bei Autos haben sie damit leider nicht viel Glück. Doch in Britta Teckentrups Ich hab doch keine Angst! entgehen der große und der kleine Igel diesem Schicksal. Die beide Stacheltiere verleben einen schönen Tag zusammen, aber auch hier gibt es immer wieder Momente, in denen sie Angst haben könnten: der dunkle Keller, Geräusche im Wald, der Fuchs, das herannahende Auto, der Nebel. Dabei hat der große Igel genauso wie der kleine Igel Angst. Der Lütte behauptet jedoch steif und fest: »Ach was, ich hab doch keine Angst!« – was nicht immer ganz stimmt. In poetischen Illustrationen erleben die Betrachtenden hier, dass auch Erwachsene Ängst haben und damit umgehen müssen. Die Hilfe der befreundeten Katze verschafft den beiden Igeln schließlich einen guten Tagesabschluss.
In Kate Hindleys und Pamela Butcharts Buch Mika und das mutigste Mädchen der Welt hat der Titelheld Mika Angst vor allem: verbranntem Toast, komischen Socken, entlaufenen Dinos, zu knusprigen Keksen, bösen Eichhörnchen. Er benutzt keine Reißverschlüsse mehr, weil die ja klemmen könnten. Und am schrecklichsten ist der Wind, der ihn wegwehen könnte. Als Mika die unbeschwerte Emily trifft, die immer sagt: »Was soll schon passieren?«, erwacht sein Beschützerinstinkt. Doch da passiert’s: Der Wind bläst ihn davon, über Schnee und Meer zu den Piraten, bis ein Hubschrauber ihn rettet. Mika merkt, dass das alles gar nicht so schlimm ist und sogar Spaß machen kann. Und so wird er genauso mutig, wie das mutigste Mädchen der Welt. Gleichzeitig machen er und das Emily den jungen Leser:innen Mut, Dinge einfach mal auszuprobieren, denn: Was soll schon passieren?
Der Klassiker
Momentan ist auch wieder ein Klassiker der der psychologischen Bilderbücher zum Thema Angst auf dem Markt: Susi Bohdals Selina, Pumpernickel und die Katze Flora. In Neuauflage ist er seit vergangenem Jahr wieder zu haben. In schwarzweißen Federzeichnung erzählt Bohdal die Geschichte von Selina, die sich mit der Maus Pumpernickel anfreundet. Pumpernickel hat jedoch Angst vor der großen Katze Flora, der besten Mäusefängerin der Stadt. Als Selina sich zwischen Flora und Pumpernickel stellt, wird Flora wild und verfolgt das Mädchen. Immer größer wird die Angstkatze, während Selina mit der Maus vor ihr flieht. Eindrucksvoll ist die Katze auf den Illus irgendwann größer als die Häuser der Stadt. Pumpernickels Rat: »Du musst gegen sie laufen und ihr fest in die Augen sehen!« Selina nimmt allen Mut zusammen und wendet sich der Katze zu. Sie blickt ihr in die Augen. Und so wird Flora wieder kleiner. Natürlich merkt man diesem Buch sein Alter an. Illustrationen und Erzählstil haben eben schon 40 Jahre auf dem Buckel. Doch die Message gilt immer noch: Sich der eigenen Angst stellen, ihr in die Augen zu sehen, das kann helfen.
Das Sachbuch
Fiktive Geschichten können mit bunten Bildern, knuffigen Figuren und aufregenden Abenteuern bei der Angstbewältigung eine Form von Hilfe sein. Aber auch sachliche Texte, die zur Reflexion anregen, sind natürlich nicht zu unterschätzen. Ein solches Sachbuch ist Hey, du bist großartig von Karen Young und Norvile Dovidonyte, in dem es um Angst, Mut und die besonderen Fähigkeiten von kleine Menschen geht. Karen Young erklärt in einfachen Sätzen, was es mit unseren Angst-Gefühlen auf sich hat, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und wie wir es trainieren oder verändern können. Bestärkende Gefühle und Gedanken können die Kinder quasi zu Superhelden machen, so dass sie in sich den Mut finden, schwierige Dinge zu meistern – beispielsweise vom Sprungturm im Schwimmbad zu springen. Young zeigt den jungen Lesenden, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf das Hier & Jetzt lenken können, wodurch die Angst ebenfalls verschwinden kann. Sie fördert die Kinder in ihrer Kreativität und ihrer Entdeckerlust, unterstützt sie bei Entscheidungsfindungen. Dieses bestärkende Buch spricht die Kinder direkt als »du« an, kommuniziert also auf Augenhöhe und gibt ihnen das Gefühl, dass sie wichtig und eben großartig sind. Ein paar einfache Achtsamkeitsübungen schließen den Text ab und hinterlassen ein wohliges Gefühl.
Christine Kugler: Kleiner Angst-Frosch, hab doch Mut!, Illustration Jutta Berend, Penguin Junior, 2022, 12, Seiten, ab 2, 9 Euro Andrea Schütze: Ich trau mich/Ich trau mich nicht!, Ein Wendebuch, Illustration: Stéffie Becker, Ellermann, 2022, 52 Seiten, ab 5, 15 Euro Valeri Gorbachev: Nur Mut, kleine Küken!, Übersetzung: Christiane Jung, NordSüd, überarbeitete Neuausgabe 2022 (2001), 40 Seiten, ab 4, 15 Euro Brigitte Weninger: Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!, Illustration: Laura Bednarski, Annette Betz, 2019, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro Michael Engler: Ein komischer Vogel traut sich was, Illustration: Joëlle Tourlonias, Annette Betz, 2020, 32 Seiten, ab 3, 14,95 Euro Johannes Traub/Wiebke Alphei: Muträuber. Hugo und Zugo besiegen die Angst, Illustration: Suse Schweizer, Balance, 2020, 40 Seiten, ab 3, 17 Euro Nanna Neßhöver: Wenn ich ängstlich bin, Illustration: Eleanor Sommer, Carlsen, 2022, 40 Seiten, ab 3, 15 Euro Lucy Astner: Nur Mut, kleiner Schmollmops, Illustration: Alexandra Helm, esslinger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14 Euro Jessica Meserve: Die Welt da draußen, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Bohem, 2022, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro Daniel Fehr: Wird schon schiefgehen, Ente!, Illustration: Raphael Kolly, Thienemann, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro Andrea Schomburg: Ab hier kenn ich mich aus, Illustration: Amrei Fiedler, Tulipan, 2021, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro Malin Hörl: Da liegt was in der Luft, annette betz, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro Günther Jakobs: Hase Hibiskus und das grausige Gruseln, Illustration: Andreas König, Ravensburger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro Liliane Steiner: Louisa und die Schattenmonster, Kunstanstifter, 2021, 28 Seiten, ab 4, 20 Euro Peter Vegas: Hab keine Angst, kleines Dunkel, Illustration: Benjamin Chaud, Übersetzung: Ebi Naumann, Aladin, 2022, 36 Seiten, ab 4, 14 Euro Philppa Leathers: Schwarzhase, Übersetzung: Salah Naoura, Thienemann, 2019 (2013), 40 Seiten, ab 4, 13 Euro Ben Furman: Antons Albtraum, Illustration: Mathias Weber, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 28 Seiten, ab 4, 19,95 Euro Nikola Huppertz: Timo kann was Tolles, Illustration: Tobias Krejtschi, Tulipan, 2022, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro Mirjam Zels: Fast wie Freunde, Kunstanstifter, 2. korrigierte Auflage 2020 (2017), 44 Seiten, ab 4, 22 Euro Francesca Sanna: Ich und meine Angst, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 2019, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2020, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro Myriam Ouyessad: Der Wolf kommt nicht, Übersetzung: Ina Kronenberger, Illustration: Ronan Badel, Gerstenberg Verlag, 2020, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro Rachel Valentine: Prinzessin Riesenmut, Übersetzung: Sabine Rahn, Illustration: Rebecca Bagley, Penguin Junior, 2021, 38 Seiten, ab 4, 14 Euro Jennifer Black Reinhardt: Kommt Zeit, kommt Opossum, Übersetzung: Ingrid Ickler, dtv, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro – erscheint am 13.4.2022 Britta Teckentrup: Der große und der kleine Igel – Ich hab doch keine Angst, Jacoby & Stuart, 2022, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro Kate Hindley: Mika und das mutigste Mädchen der Welt, Illustration: Pamela Butchart, Übersetzung: Michael Petrowitz, Ravensburger, 2021, 32 Seiten, ab 3, 12,99 Euro Susi Bohdal: Selina, Pumpernickel und die Katze Flora, Carl-Auer, 3. Auflage 2021 (ursprünglich 1981), 30 Seiten, ab 4, 19,95 Euro Karen Young/Norvile Dovidonyte: Hey, du bist großartig! Ein Buch über Angst, Mut und deine besonderen Fähigkeiten, Übersetzung: Siegfried Joel, Peter Lieder und Weronika M. Jakubowska, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 38 Seiten, ab 6, 19,95 Euro
Langeweile – dieser vermeintlich total uncoole Lebenszustand ist ein großes Buchthema. Es gibt wohl kaum einen Verlag, der nicht eine Publikation zum Thema im Programm hat. Meist mit dem Tenor: So werdet ihr die Langweile ganz schnell wieder los. Aktivismus ist das Mittel, um ja nicht in der Langeweile zu versinken.
Auch der Dachs, den wir schon in seiner übellaunigen Variante kennengelernt haben (Der Dachs hat heute schlechte Laune), langweilt sich im neuesten Band mit dem Titel Der Dachs hat heute Langeweile! Und zwar so sehr, dass ihm gar nichts einfällt, was er mal tun könnte. Er sitzt grübelnd vor seiner dampfenden Teetasse und überlegt, was er eigentlich am liebsten macht. Doch selbst seine Lieblingsbetätigung, das Malen, hilft nicht gegen seine Langweile. Die Leinwand auf der Staffelei bleibt leer. Zum Glück klopft der Fuchs an die Tür – doch auch ihm ist langweilig. Der Dachs, ganz schlau, schlägt ihm vor, etwas zu bauen, weil der Fuchs das doch am liebsten macht. Und das Resultat? Genau: Langeweile.
Aktionismus nützt nichts
Ganz im Dachsstil tauchen nun nach und nach die anderen Freunde vom Dachs auf, spielen alle Lieblingsspiele durch und langweilen sich fürchterlich. Erst als die Maus auftaucht und eine Augenklappe trägt, weil sie sich wehgetan hat, geht es der Langeweile an den Kragen … Es ist hier also nicht der gut gemeinte Aktionismus, der durch Altbekanntes Ablenkung und Kurzweil schaffen will, sondern es ist das Leben selbst, das zu etwas Unerwartetem anregt. So erfindet die Gemeinschaft der Freunde etwas ganz Neues. Sie lassen ihrer Fantasie feien Lauf und können sich schließlich vor Einfällen gar nicht mehr retten. Es ist das Aushalten-müssen der Langeweile – zumindest für eine gewisse Zeit –, was den Kopf anregt. Das erfahren kleine Leser:innen in diesem Buch ganz nebenbei. Vielleicht hilft es auch den vorlesenden Eltern, nicht immer mit Vorschlägen zu kommen, wenn die eigenen Kinder „Mir ist langweilig“ sagen, sondern sie einfach mal damit in Ruhe zu lassen. In Kombination mit guten Freund:innen, die den Zustand der Langeweile ja auch kennen, entsteht dann meist ganz von allein etwas Aufregendes.
Im NEINhorn-Universum von Marc-Uwe Kling herrscht zunächst einmal keine Langweile, sondern Streit. NEINhorn und KönigsDOCHter kloppen sich um Süßigkeiten. NAhUND und WASbär könnten nicht wirklich helfen.
So macht sich NEINhorn genervt vom Acker, pfeift auf Freunde, die doch kein Mensch braucht, und gerät in den Dschungel, wo ihm die SchLANGEWEILE begegnet. Natürlich fragt sie das NEINhorn, was sie denn so gegen die Langweile machen könnte. Doch nichts was das NEINhorn vorschlägt sagt ihr zu: »Ich schlache nie über Witzzze.«, »Nicht schlustig.«, »Ich bin doch keine Schluftschlange« »Zu schlaut«, »Zu schleise«, »Zu schlangsam«, erwidert sie auf alle möglichen Vorschläge in ihrer seltsam-komischen Art zu reden. Dieses ständige Nein wird da selbst dem NEINhorn zu viel. Wieder haut es ab und galoppiert auf den wunderlichen Vulkan.
Ausklappbare Wunderwelt
Auf einem fünfseitigen, ausklappbaren Leporello schaut es nun in eine von Astrid Henn in zarten Bonbonfarben hingehauchte Welt mit Montgolfieren, Drachen, Burgen, chinesischen Tempeln, Dschunken, Fluggeräten, Gorillas und diebischen KLAUmeisen. Bei so viel Entdeckungspotential in der Welt kann sich selbst das NEINhorn nur noch wundern, wie uns eigentlich überhaupt langweilig sein kann. Aber dieses Gefühl ist nun einmal Teil von uns, da kann auch kein NEINhorn gegen an. Doch es findet, dass es traurig ist, diese wundersame Welt allein erkunden zu müssen. Also ruft er seine nervigen Freunde herbei, und selbst die SchLANGEWEILE schließt sich der Crew an. Und was soll man sagen: Am Ende haben die fünf trotz ihrer kleinen Fehler (die Verfressenheit des WASbären oder die Überheblichkeit der KönigsDOCHter) bannig viel Spaß. Auch hier sind es wieder die Welt an sich und die Kombi mit den Freunden, die jenseits von hektischem Aktionismus, der Langeweile den Garaus machen. Fast möchte man von DEM Mittel gegen Langeweile sprechen …
Sprachspielereien bis zum Anschlag
Bücher von M-U-K wären nicht von Marc-Uwe Kling, wenn sie nicht vor herrlich rotziger Sprache strotzten und jede Menge Sprachspiele enthielten. Neben der vergnüglichen Sprechart der SchLANGEWEILE, die Nachahmungspotential in sich trägt, gibts am Ende sogar noch ein paar Spiele des Buchstabendurcheinanderbringers, die mit einem Haufen Freunde natürlich viel mehr Spaß bringen …
Moritz Petz: Der Dachs hat heute Langeweile!, Illus: Amélie Jackowski, NordSüd, 2021, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro
Marc-Uwe Kling: Das NEINhorn und die SchLANGEWEILE, Illus: Astrid Henn, Carlsen, 2021, 54 Seiten, ab 3, 13 Euro
Federvieh in der KJL hat momentan Hochkonjunktur. Neulich hatten wir hier das ultimative Hühnerbuch, jetzt gibt es gleich zwei Bücher mit entsprechenden Protagonisten. Bei Ulrich Hubs neuestem Werk meint man vielleicht in einem Treppenwitz gelandet zu sein, wenn man den Titel Lahme Ente, blindes Huhn betrachtet und die Assoziationen im Kopf schießen sofort ins Kraut. Doch die Lektüre offenbart bereits auf Seite eins eine der entzückendsten Fabeln über das Leben, versteckte Wünsche, die Macht der Fantasie und die Freundschaft.
Eine tierisch gute Kombination
In einem grauen Hinterhof lebt die lahme Ente, futtert Erdnüsschen und wünscht sich eigentlich jemanden, mit dem sie diesen Snack teilen könnte. Eines Tages schneit das laute und selbstbewusste blinde Huhn herein und lässt sich durch nichts beirren. Die beiden raufen sich zusammen und ziehen hinaus in die Welt. Das Huhn stützt, die Ente sieht. So geht es eine lange Straße entlang, durch einen dunklen Wald, über eine hohe Schlucht, den höchsten Berg hinauf bis zum goldenen Tor, hinter dem die verborgenen Wünsche erfüllt werden.
Perfekte Ergänzung und das Wesentliche
Natürlich geht so eine Reise nicht ohne Konflikte und Streitigkeiten ab. Doch der Weg verändert die beiden Held:innen. Sie lernen sich gegenseitig besser kennen, aber auch sich selbst – so entdeckt die Ente, dass Fliegen ja ganz leicht ist … Und sie finden heraus, auf was es im Leben wirklich ankommt. Ulrich Hub, Experte für allzu menschliche Tierstorys, erzählt dies mit so hintersinniger Leichtigkeit, dass auch Erwachsene an dieser Geschichte Gefallen finden werden. Denn hier spiegelt sich der Kern des Lebens in seinen Facetten: Wir sind alle nicht perfekt, gleichen uns jedoch in unseren grundsätzlichen Wünschen nach Gesehen-werden und Freundschaft. Das alles suchen wir manchmal an weit entfernten Orten, können gar nicht schnell genug vom Hof kommen … um dann festzustellen, dass so manches schon ganz nah ist. Allen Redewendungsassoziationen zum Trotz gleitet Ulrich Hub aber nie ins Banale oder Kitschige ab, sondern schafft es mit feiner Ironie und viel Humor, dass einem mit jeder Seite Huhn und Ente mehr ans Herz wachsen und man das Wesentliche unsere Existenz erkennt.
Love rules
Eine weitere ungewöhnliche Vogelpaarung findet sich in dem Bilderbuch Der Habicht und der Hahn von Käptn Peng und Melanie Garanin. Der Habicht, der normalerweise eine Gefahr für Hühner darstellt, mag in diesem Fall den Hahn. Und dieser erwidert die Gefühle, sehr zum Unverständnis von Bauer und Hühnerschar. Doch die beiden lassen sich von ihrer Umwelt nicht abhalten und verschmelzen zu einer Einheit.
Dynamisch in Musik und Strich
Der kurze Text stammt aus dem gleichnamigen Song von Käptn Peng, auch bekannt als Robert Gwisdek, Schauspieler, Musiker, Autor. Man kann sich das Buch also quasi vorsingen lassen und zwar in bester Liedermacherqualität, bei der die Stärke des Textes so richtig zu Geltung kommt. Doch auch die schwarzkonturierten, aber farbig-strahlenden Aquarelle von Melanie Garanin sind eine Wonne, die den Aufruhr im Hühnerstall um die beiden Liebenden dynamisch und verspielt zeigen. Da wird der Bauer fast zum Schwein und der Regenwurm schwingt die Rassel.
Liebe, wen du willst
Die Botschaft ist natürlich klar und ein Plädoyer für eine grenzenlose Liebe, jenseits von Geschlechtern oder sonstigen Schubladen. Das ist zum einen ein Buchtrend unserer Zeit, aber eben auch immer noch nicht selbstverständlich und daher wichtig, es auch den ganz jungen Menschen auf so charmante Weise klarzumachen. Nur mit solchen Geschichten wird es vielleicht mal Generationen geben, die um gleichgeschlechtliche Liebe und queere Lebensformen kein Gewese mehr machen werden.
Ulrich Hub: Lahme Ente, blindes Huhn, Illus: Jörg Mühle, Carlsen, 2021, ab 8, 13 Euro Käptn Peng: Der Habicht und der Hahn, Illus: Melanie Garanin, Huckepack, 2021, ab 5, 15 Euro
Will ein Mensch dazugehören, dann muss er im Hinterhof abhängen. Aber es gibt Momente, da merkt man, dass das nicht reicht. Auf dem Hinterhof ist meine Position Abseits. Da will doch niemand stehen. ›Ich geh dann mal nach Hause‹, sage ich und gehe, und keiner hält mich auf. Ich habe mich selbst ausgewechselt. In meiner Wohnung ziehe ich die Badekappe über. Und dann fange ich an zu heulen. So endet die Geschichte.« Wie, das war’s jetzt? So deprimierend könnte Sarah Jägers Romandebüt Nach vorn, nach Süden enden. Tut es aber nicht. Weil die Suche nach Jo noch nicht beendet ist. Weil durch sein Verschwinden das Geflecht der Leute im Hinterhof der Penny-Filiale in Bewegung geraten ist. Weil die Erzählerin mehr damit zu tun hat, als alle ahnen. Weil sie Lena heißt, von allen aber Entenarsch genannt wird. Weil ein halber Roadmovie im Landstraßentempo kein ganzer Roman ist.
Man chillt und grillt zusammen
Sarah Jäger erzählt sehr raffiniert mit interessanten Umwegen, Abzweigungen und Zeitsprüngen von einer zusammengewürfelte Bande aus Angestellten, Aushilfen, Freundinnen und jüngeren Brüdern von Aushilfen. Man chillt und grillt zusammen. Man küsst und zofft sich. Zwei haben eine gemeinsame kleine Tochter, sind aber nicht mehr zusammen. Manche sind verliebt, manche glücklich, manche geheim.
Festgefahrene Strukturen werden dynamisch
Lena alias Entenarsch ist die einzige mit Führerschein und eigenem, bisher wohlweislich nie genutztem Auto. In dem macht sich ein Teil der Hinterhoffamilie auf den Weg nach Süden, um Jo, Maries Liebsten zu finden. Die anderen aus dem Hinterhof fahren virtuell mit Tipps und Kommentaren mit. Vordergründig ist es ein Roadmovie oder Roadroman, und wie bei jedem guten Werk aus diesem Genre ist der Weg das Ziel. Vermeintlich festgefahrene Strukturen werden dynamisch. Zwei, die fast nichts miteinander zu tun haben, kommen sich sehr nahe. Man muss wegfahren, um anzukommen. Schnurgerade Straßen Richtung Zukunft werden zu Serpentinen und können sich sogar als Sackgasse entpuppen.
Je knapper die Sätze, umso gewichtiger ihre Bedeutung
Sarah Jäger erzählt aus Lenas Sicht. Mit ihren Augen entdecken wir nach und nach ganz unterschiedliche, vielschichtige Charaktere. Diese sind verwoben in spannenden Wahlverwandtschaften. Eine Schicksalsgemeinschaft aus sozial eher unterprivilegierten jungen Menschen, die sich aber nicht unterbuttern lassen. Besonderheiten, tragische Erlebnisse oder familiäre Schwierigkeiten werden nur dann angerissen, wenn es sich aus dem Verlauf ergibt und die Handlung dadurch vorangetrieben wird. Je knapper die Sätze, umso gewichtiger ihre Bedeutung.
T-Shirt-Sprüche wirken wie Zwischenüberschriften
Dabei ist Jägers furioses Debüt keinesfalls wortkarg oder minimalistisch. Es lebt von Wortwitz und dem Spiel mit Sprache. »Die Luft ist so dick und schwer wie ein Vorgartenbuddha, aber sie lächelt nicht, sie ist so mies gelaunt, dass es einem den Atem raubt«, beschreibt Lena nicht nur die dicke Luft eines heraufziehenden Gewitters. »Ich möchte in keiner Sackgasse wohnen«, sagt Can. »Was ist mit Einbahnstraßen?« »Wenigstens weiß man bei einer Einbahnstraße in welche Richtung es geht.« »Auch wieder wahr, das hilft bei absoluter Planlosigkeit.« Über Kreisverkehr, Standstreifen, Dauerbaustelle und Fahrbahnverengung kalauern Lena und ihr Schwarm Can in schlagfertigem Screwballstil und kommen sich näher. T-Shirt-Sprüche wirken wie pointierte Zwischenüberschriften. Zuckerwatte ist eben nicht nur süßes, klebriges Zeug, sondern steht für die Leichtigkeit des Seins. Nicht zuletzt geht es auch um Namen, Namen, die wie eine Auszeichnung sind. Und Namen, die sehr verletzend sein können und nicht nur dem Namensträger schaden.
Eine Geschichte wie aus einer verlorenen Zeit
Die Autorin konnte es nicht ahnen, aber Nach vorn, nach Süden wirkt wie eine Erzählung aus einer anderen, einer verlorenen Zeit: Es ist heiß, junge Leute verreisen dichtgedrängt, machen Party und tanzen auf Festivals. Gut also, dass die Geschichte nicht auf halber Strecke endet. Dass es nicht nur eine zweite Reise und etliche Kilometer mehr gibt. Und dass dieses von mir verspätet entdeckte Debüt den Horizont weitet und neugierig macht auf mehr: »Ich klettere auf die Plattform und höre die Stimme von unserem Pavel. ›Man muss doch mal weit gucken … das braucht man doch mal.‹« Absolut. Nicht nur in diesen erstarrten, distanzierten und vergnügungsfernen Zeiten.
Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden, Rowohlt 2020, 224 Seiten, ab 14, 18 Euro
Es gibt viele Bücher über Freundschaften. Und Lieder. Und Filme. Darin geht es um unerschütterliche Treue, bedingungslose Solidarität, Zuneigung, besondere Chemie, einander guttun. Also das, was Freundschaft und ziemlich beste Freund*innen ausmacht (bff, also best friends forever, sind dann wieder ein anderer Schnack). Wenn nichts davon zutrifft, dann sind es falsche Freunde, eine Alliteration, die das genau Gegenteil meint und die Idee der Freundschaft ad absurdum führt. Wovon aber selten die Rede ist bei dem, was eine Freundschaft ausmacht, ist die Gegenseitigkeit. Wenn man den elfjährigen Freddie fragt, warum Mattis sein Freund ist, und das tut die Erzählerin in Anke Stellings Freddie und die Bändigung des Bösen erfrischend direkt, würde er sagen, weil Mattis schon seit der Kita sein Freund und immer an seiner Seite ist. Weil er fast schon Familie ist. Weil Freddie immer weiß, neben wem er in der Schule sitzt, mit wem er zu Mittag isst, dass er in die Mannschaft gewählt wird. Weil Mattis selbstbewusst ist und vor Selbstbewusstsein strotzt. Weil Mattis ein Typ ist, ein Macher. Der weiß genau, was er im Aufsatz über sich selbst schreiben soll. Welches seine Stärken sind. Wo er sich sieht, wenn er erwachsen ist.
Mattis kommt mit jedem Mist durch …
Dass er aber nicht nur wegen seines frechen Grinsens und seiner lässigen Scheißegal-Art immer wieder mit allem Mist durchkommt, das ist die Kehrseite der Medaille. Genauer gesagt: Es ist Freddies Verdienst. Still und heimlich. Wird jedoch Mattis gefragt: »Hey, Mattis, was magst du an Freddie« »Was?« »Warum Freddie dein Freund ist?« »Hä? Was willst du?« »Ich will wissen, was du an Freddie magst!« »Was weiß ich, keine Ahnung.« … so erzählt dieser Dialog am Anfang des Buchs bereits viel über das Verhältnis der Jungs. Man mag Freddie, der mit seiner Mutter Nina in einer kleinen Wohnung wohnt. Der Fußball im Verein und auf dem Computer Brawl Stars spielt. Der ein bisschen unordentlich und manchmal etwas eigen ist. Der verantwortungsbewusst und selbstständig und offen und freundlich und mitfühlend ist.
… weil Freddie immer vorausdenkt
Und, man möchte fast sagen, leider Mattis bester Freund ist. Deshalb hilft er Mattis immer wieder aus der Patsche, macht sich selbst zum Idioten, (hat) immer wieder nach Mattis gegriffen oder sogar selbst losgeschrien und irgendwas wirklich Dummes gemacht (zur Ablenkung). Nie hat’s was genützt. Mattis tut, was er tun muss, immer, und Freddie ist dagegen machtlos. Und trotzdem versucht Freddie immer wieder, Schlimmeres zu verhindern und vorauszudenken. Jetzt, acht Wochen vor den Sommerferien, darf Mattis keine weitere Verwarnung kassieren, sonst fliegt er von der Schule. Dieses Mattis-Beschützten ist Freddie schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht anders kann. Es ist Teil seiner Identität. Sein Seelenheil hängt davon ab.
Es ist viel komplizierter, wenn man mitten drin steckt
Man ahnt, es wird böse enden. Und man möchte Freddie schütteln, ihm sagen: Jetzt hör doch mal auf, du kannst doch nicht immer für Mattis den Kopf hinhalten! Oder wie Klassenkameradin Erna es beim Spiel Ich habe noch nie auf den Punkt bringt: Ich habe noch nie nicht gemacht, was Mattis sagt. Warum tust du das? Was tut Mattis für dich? Dass aber weder das Leben noch Freundschaften so einfach sind, wenn man mitten drinsteckt und nicht als neutraler und doch emotional sehr mitgehender Leser außen vor steht, zeigt Anke Stelling in ihrem zweiten Kinderbuch klug und mitreißend (das erste findet ihr hier). Bekannt und ausgezeichnet wurde sie für ihre Romane Bodentiefe Fenster und Schäfchen im Trockenen, exzellente Milieustudien über starke Charaktere mit Haltung.
Niemand ist absolut klar und gradlinig
Zahlreiche authentische, interessante Figuren gibt es auch in dieser Erzählung für junge Leser. Spannend ist vor allem, wie sie interagieren: Sprache, Kommunikation, wie etwas gesagt und vor allem wie es nicht gesagt wird – die brillante Beobachterin Stelling zeigt mit Freddies Augen, dass niemand absolut klar und gradlinig ist. Und das ist wahrscheinlich auch gar nicht möglich. Freddies Mutter zum Beispiel sagt egal, wenn sie sich eigentlich richtig über etwas ärgert. Freddies Vater Olaf ist mit seiner neuen Frau Misaki nicht immer einer Meinung, spricht aber nicht drüber, und das liegt nicht an der Sprachbarriere zwischen Deutsch und Japanisch. Und wenn schon die Älteren, die ja einige Jahre mehr Übung und Erfahrung haben, nicht richtig kommunizieren können, wie sollen dann Kinder die richtigen Worte finden. Aus irgendeinem Grund denken die Erwachsenen, das sei für Kinder ganz leicht. Leichter als für sie selbst, also wirklich: Wie kommen sie darauf?
Schlampige Deutsche und deprimierte Italiener
Stelling weist auf Vorurteile hin, die jeder irgendwo hat und die sich schnell verfestigen. Die eine Lerngruppe oder Klasse gilt als anstrengend und gefährlich, während die andere schon immer als unkompliziert und brav war. Wie so ein Ruf entsteht, frage ich mich. Alle wissen, dass es im Grunde Quatsch ist: Zum Beispiel zu behaupten, Deutsche seien pünktlich und gewissenhaft und Italiener lustig und temperamentvoll – schließlich gibt es haufenweise schlampige Deutsche und deprimierte Italiener. Irgendwann sitzt Freddie weinend auf dem Schulklo, mit Schluchzen und Stöhnen und dem Kopf auf den Knien – er ist so hilflos und verzweifelt, weil ihn keiner auf der Welt versteht. Und dieses keiner inzwischen leider heißt: auch er selbst nicht.
Keiner versteht Freddie. Das heißt leider: auch er sich selbst nicht
Das ist richtig schlimm. Und es tut einem beim Lesen weh. Man möchte mit der forschen Erzählerin sagen Es reicht! Man möchte Mattis anschreien, er soll Freddie wenigstens einmal um Entschuldigung bitten. Und die Sache geradebiegen. Bei Erwachsenen spricht man von toxischen Freundschaften, wenn der eine den anderen immer nur ausnutzt.
Aber Freddie mag ihn
»Weißt du«, sagt Nina, stellvertretend für den Leser, »das macht mich einfach wütend … er nutzt dich aus! Und du darfst dir das nicht alles gefallen lassen!« Nina starrt Freddie an. Freddie hält ihren Blick. »Er ist mein Freund«, sagt er. »Verstehst du? Mein Freund. Und ich mag ihn.« So einfach ist das manchmal. Und wir mögen Freddie, trotzdem oder gerade deshalb. Er bringt uns zum Nachdenken über das Wesen von Freundschaften, die eben ziemlich kompliziert sein können.
Anke Stelling: Freddie und die Bändigung des Bösen, cbj, 256 Seiten, ab 9, 13 Euro
Manchmal allerdings, da kochte die Energie über und spülte eine rasche rote Welle in Helsins Körper hoch, und dann sieht und hört und riecht und schmeckt Helsin nichts anderes mehr als FEUERROT. Ihr ganzer Körper kribbelt von den Beinen bis in die Haarspitzen, die Nasenspitze zittert wie eine Autoantenne bei 200 Stundenkilometern, und die rote Kribbelwelle wird immer gewaltiger, bis sie überschwappt: schwupp, raus aus Helsin, und zack! Hinaus in die Welt.« Das ist der titelgebende Wutanfall aus Stefanie Höflers erstem Kinderbuch Helsin Apelsin und der Spinner. Mit letzterem ist nicht der Neue in der Klasse gemeint. Spinner, so nennen alle diese kurzen, heftigen Gewitter, die die achtjährige, quirlige Helsin überkommen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt oder etwas in den falschen Hals bekommt.
Explosiv wie Barb Wire
Zum Beispiel als Louis, während ihm seine Mitschüler vorgestellt werden, spontan Helsin, Apelsin, Apfelsine reimt. Der für ihn überraschende Effekt erinnert an die legendäre cleaning woman aus dem Film Tote tragen keine Karos oder Pamela Andersons drohend gefauchtes »Nenn mich nicht Babe!« im Actionheldin-Knaller Barb Wire. Und endet in dem Fall mit Louis‘ blutig gehauener Nase. Stefanie Höflers neue Heldin Helsin ist ein ganz besonderes Mädchen und mir auch gerade wegen ihrer Ausraster sehr sympathisch, weil es sie gleichzeitig stark und verletzlich macht. Mit Louis beginnt ein wahrhaftig actiongeladenes Abenteuer, ein fast Roadmovie, eine Geschichte von Freundschaft und Familie.
Finnen spinnen auch nicht mehr als andere Leute
Helsin heißt nach der Stadt, aus der sie adoptiert wurde – Helsinki, der Hauptstadt Finnlands. »Glaubst du, dass meine Spinner irgendwas mit Finnland zu tun haben?« »Quatsch!«, lachte Mama. »Die Finnen spinnen auch nicht mehr als andere Leute.« »Und glaubst du, dass meine ersten Eltern auch Spinner hatten?« Mamas Gesicht wurde wieder ernst. Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Helsin hat wirklich die weltbesten und geduldigsten Eltern, die man sich vorstellen kann. Die ruhige, rationale, liebevolle Mutter, die auch mal bad-hair-Tage hat. Und den immer gut gelaunten, herzlichen Vater. Sie sind nur zwei von einem ganzen Panoptikum außerordentlich lebendig und vielschichtig gezeichneter Persönlichkeiten. Mit der klugen, einfühlsamen Grundschullehrerin Frau Coroni hat Höfler, wie sie selbst überrascht in einem Interview feststellte, ihre erste absolut sympathische Lehrerfigur geschaffen.
Gefahr für Eichhörnchen, Hamster und Fidschileguan
Weil Helsin spürt, wie anders sie in ihrem Wesen ist und aussieht, beschäftigt sie das Thema ihrer Herkunft. Finnland wird nicht nur deshalb zeitweilig zum Sehnsuchtsort. Das Mädchen mit der biegsamen Grashüpferfigur, den wild in alle Richtungen abstehenden Locken und bitterschokoladenbraunen Augen wird im Laufe der Geschichte wiederholt zur Diebin. Sie lügt, verzweifelt über sich selbst und schweigt im falschen Moment. Sie setzt Freundschaften aufs Spiel und bringt nicht nur diverse Tiere in Lebensgefahr. Eichhörnchen, eine Hamsterin namens Tyrannosaurus und ein Fidschileguan spielen nämlich auch wichtige Rollen.
Irrational und unvernünftig die Kurve kriegen
Das ist manchmal beim Lesen schwer auszuhalten. Aber Kinder können nun mal nicht rational und vernünftig handeln, dafür fehlt ihnen einfach die Erfahrung und die Fähigkeit zur nüchternen Distanz. »Ich möchte Konflikte so erzählen, wie sie halt oft auch stattfinden, wie sie vor allem auch gelöst werden, nämlich unerwartet«, sagt Höfler. Das beschreibt sie bewundernswert konsequent und überzeugend – und höchst spannend. Umso schöner und herzzerreißender ist es, wie dieses wilde Mädchen zu guter Letzt nicht nur die Kurve kriegt – sondern sogar ihre Spinner in den Griff.
Onomatopoesie und Kuhlsche Kulleraugen
Nach Mein Sommer mit Mucks und Tanz der Tiefseequalle, zwei ausgezeichneten Jugendbüchern über häusliche Gewalt und Mobbing, hat Stefanie Höfler, die übrigens immer noch aus Überzeugung als Lehrerin arbeitet, ein hinreißendes Kinderbuch geschaffen. Besonders lebendig ist Höflers Sprache auch durch die zahlreich eingestreuten onomatopoetischen Wörter: Rätsch. Boing, boing, boing. Wusch. Dazu passen Anke Kuhls witzige Illustrationen, lauter quicklebendige Kinderfiguren mit den typisch Kuhlschen Kulleraugen. Mit Manno! hat Kuhl übrigens ihre eigene Kindheit zum coolen Kindercomic gemacht. Brillante Bücher für junge Leser, bitte mehr davon.
Stefanie Höfler/Anke Kuhl (Ill.): Helsin Apelsin und der Spinner, Beltz & Gelberg, 205 Seiten, ab 8, 12,95 Euro
Dieser Tage häufen sich in den Medien die Rückblicke und Erinnerungen an den Mauerfall vor 30 Jahren. Hierzu gibt es natürlich eine Reihe von Publikationen für eine junge Zielgruppe. Vier davon habe ich herausgegriffen, die den Kids, für die dieses Kapitel jenseits der persönlichen Erfahrung liegt und über das sie nur von Eltern oder Großeltern Dinge erzählt bekommen, einen guten Eindruck von der damaligen Zeit liefern. Bei zweien muss ich feststellen, dass es tatsächlich gewisse erzählerische Wendungen gibt, die offensichtlich in der Luft liegen und nicht durch Plagiat entstanden sein können (es würde mich jedenfalls sehr wundern). Denn sowohl in Helen Endemanns Roman Todesstreifen und in dem Briefroman Mauerpost von Maike Dugaro und Anne-Ev Ustorf entwickeln die Autorinnen einen Blick von zwei Seiten auf die Mauer, sprich auf die DDR und die Lebensverhältnisse ihrer Bewohner. Endemann erzählt vom Ben, der in einem Westberliner Sportinternat wohnt und mit seiner Mannschaft zu einem Freundschaftstreffen in den Ostteil der Stadt fährt. Geplant ist ein Tag Aufenthalt mit Wettkampf. Doch für Ben wird es eine Odyssee, denn während des Querfeldeinlaufs wird er von zwei DDR-Jungs entführt und in einen Schuppen verschleppt. Dort steht ihm dann Marc gegenüber – und der sieht Ben verdammt ähnlich.
Republikflucht und Jugendwerkhof
Marc schlüpft in die Klamotten von Ben und fährt mit den westdeutschen Sportschülern nach Westberlin. Keiner der Schüler merkt, dass Marc nicht Ben ist. Ben hingegen soll zu Marcs Oma und dessen Vater, die ihn dann – so die Vorstellung der Entführer – gleich wieder an der Grenze abliefern, weil er ja nicht Marc ist. Dass dieser halbgare Plan von Marc nicht aufgeht, merken Ben und die zwei »Fluchthelfer« von Marc, als vor dessen Haus die Stasi steht und Ben/Marc in einen Jugendwerkhof steckt, weil er kein ordentliches Mitglied der DDR-Gesellschaft ist. Ben sitzt in der Falle und die Möglichkeiten, rasch und unbehelligt wieder in den Westen zu gelangen sind gleich Null.
Beklemmende Atmosphäre
Das ist spannender Lesestoff, der auf sehr intensive Weise die beklemmende Atmosphäre, die Überwachung und das Eingesperrtsein in der DDR vermittelt. Jeden Weg, den die Jungs sich überlegen, wie Ben wieder nach Westen kommen kann, ist versperrt. Auch aus dem Westen ist keine Hilfe zu erwarten, denn Bens Eltern sind in Afrika auf einer Hilfsmission. Marc hingegen macht sich im Westen auf die Suche nach seiner Mutter, die vor Jahren illegal über die Grenze geflüchtet ist. Doch auch er stößt auf Hindernisse: eine Tante, die etwas über die Mutter wissen könnte, ist dement. So ist es schließlich seine Oma, die den Enkeltausch natürlich gleich erkennt, nachdem Ben aus dem Jugendwerkhof zurückkommt, die als Botin zwischen den Welten wandelt.
Die Verbindung zwischen Ost und West
Eine grenzgängerische Oma ist auch in dem Briefroman Mauerpost das verbindende Element zwischen Ost und West. Hier vermittelt Oma Ursel eine Brieffreundschaft zwischen ihrer Westberliner Enkelin Ines und der Ostberliner Nachbarstochter Julia. Die Mädchen beginnen sich zu schreiben, erzählen der jeweils anderen von ihrem Alltag und der Schule. Waren die Jungs noch 1985 in Berlin unterwegs, so kommunizieren die Mädchen bereits 1988 und schreiben sich mehr als ein Jahr, sodass die Ereignisse in der DDR, die zum Mauerfall geführt haben, in die die Briefe einfließen. Julia erzählt von den Demos auf der Straße, während Ines von dem merkwürdigen Verhalten der Mutter erzählt, die einst aus der DDR freigekauft wurde.
Erzählerische Parallelen
Hier entfaltet sich zwischen den beiden nach und nach ein fesselnder Krimi, in dem zwar nicht die Zustände in den Jugendwerkhöfen, dafür aber die in den Staatsgefängnissen wie Hoheneck und Hohenschönhausen geschildert werden. Dabei entdecken Ines und Julia immer mehr Details, die ihre Schicksale miteinander verbinden. Zwar erzählen beide Romane unterschiedliche Geschichten, so zeigen sich doch bestimmte Muster, die bei beiden auftauchen: Ost trifft West, die Omas werden als Boten benutzt, die Stasi spielt natürlich immer mit, der Knast in der DDR ist für Jugendliche nicht weniger schlimmer wie der für Erwachsene, und am Ende stehen die Helden in beiden Geschichten in einem gewissen Verhältnis zueinander, dass ich nicht nennen werde, das man sich aber in beiden Geschichten relativ schnell denken kann. Es liegt eben in der Luft, 30 Jahre nach dem Mauerfall. Parallel ist in beiden Romanen selbst eine gewisse Verwirrung um Ostberliner Stadtteile: So liegt im Todesstreifen eine Psychiatrie mal in Potsdam, ein paar Seiten weiter dann in Pankow (S. 194 vs. 202), in der Mauerpost werden Kekse in ein und demselben Laden gekauft, der mal in Friedrichshain, mal im Prenzlauer Berg zu finden ist (S. 100 vs. 134). Früher hat mich so was immer geärgert, heute schmunzle ich, weil das nun mal in der Hektik der Buchproduktion passiert. Es wäre trotzdem schön, wenn das in den nächsten Auflagen, soweit es die geben wird, behoben wird. Beide Geschichten entwickeln jedoch einen packenden Drive und lassen die Leser und Leserinnen in die Zeit vor der Wende und vor dem Mauerfall eintauchen.
Blutsbrüder über die Mauer hinweg
Etwas anders verhält es sich mit dem Kinderroman Alles nur aus Zuckersand von Dirk Kummer. Hier geht es hauptsächlich um eine Jungenfreundschaft in der DDR im Jahr 1979. Fred und Jonas sind dickste Kumpels, verbringen ihre Zeit zusammen, schließen Blutsbrüderschaft und erzählen sich alles – bis Jonas‘ Mutter einen Ausreiseantrag stellt. Fred, dessen Vater beim Grenzschutz in Falkensee arbeitet, verbietet ihm den Kontakt mit Jonas. Doch daran hält er sich natürlich nicht. Stattdessen fangen die Jungs an, angeregt durch die Erzählungen vom alten Nachbar Marek über Australien, einen Tunnel in den brandenburgischen Sand zu graben. Sie wollen sich später in Australien treffen …
Kindgerechter Blick auf die DDR
Aufgrund der noch jüngeren Zielgruppe sind die Schrecken der DDR hier nicht ganz so heftig zu spüren wie in den beiden Jugendromanen. Fred fungiert als Ich-Erzähler und zeigt durch seine kritischen Kommentare alles das, was in der Schule und im System schief läuft. Er konstatiert, dass die Lehrerin den Schülern Angst macht, dass das System den Menschen Angst macht vor allem, was aus dem Westen kommt. Fred aber will keine Angst haben, sondern nur mit Jonas zusammen sein. Als Jonas dann tatsächlich mit seiner Mutter ausreist und plötzlich weg ist, vermisst Fred ihn sehr. Ein Brief, den er an Jonas schreibt, kommt zurück, da Westkontakt verboten ist.
Das Buch nach dem Film
Wem diese Geschichte jetzt vielleicht bekannt vorkommt, liegt richtig, denn dieses Buch beruht auf dem gleichnamigen Film von Dirk Kummer, der 2018 mit den Grimme-Preis ausgezeichnet ist. Sind normalerweise erst die Bücher in der Welt und die Verfilmungen folgen später, so ist hier der andere Weg gegangen worden – allerdings mit einem entscheidenen Haken. Um das Buch für Zehnjährige erträglich zu machen, haben Autor und Verlag auf einen Erzählstrang aus dem Film völlig verzichtet. Da ich den Film bereits kannte, habe ich mich zu Beginn der Lektüre noch gefragt, wie dieser Teil im Buch wohl erzählt wird (Achtung Filmspoiler: Jonas läuft kurz vor der Ausreise, als er mit der Mutter schon im Tränenpalast ist, noch einmal weg und findet in dem bereits gegrabenen Loch der Jungs ein schreckliches Ende). Dieser Teil wird gar nicht erzählt, was mich kurzfristig enttäuscht hat. Doch ich kann diese Auslassung verstehen, denn Jonas Schicksal ist im Film selbst für Erwachsene kaum zu ertragen. So bleibt für junge Lesende eine liebevolle Freundschaftsgeschichte aus einem anderen Land. Sie erzählt von dem zerstörerischen Einfluss eines Staats in das Privatleben, aber auch noch ein Fünkchen Hoffnung aufblitzen lässt, dass die Jungs sich möglicherweise nach ein paar Jahren wiedersehen.
Doku-Fiktion zum Lesen
Junge Lesende, die es nicht so sehr mit Romanen haben, können sich hingegen in dem Sachbuch Mein Mauerfall über die Zeit vor 30 Jahren informieren. Hier führt zwar der zwölfjährige Theo mit Erzähltexten durch das Buch, doch viele Fakten zur deutsch-deutschen Geschichte werden in Infokästen, Sprechblasen, Grafiken und Bildern in kurzen Texten geliefert. Dabei geht Autorin Juliane Breinl auch auf die historischen Gründe für die deutsche Teilung ein, erläutert, was Hitler und die Nazis mit all dem zu tun haben und wie es überhaupt zu zwei deutschen Staaten gekommen ist.
BRD versus DDR
Gerade diese Gegenüberstellung von BRD und DDR zieht sich durch das Buch. Die Unterschiede, die wir heute immer noch spüren, wenn wir von West nach Ost und von Ost nach West fahren, bekommen in diesem Sachbuch ein Gesicht und eine Erklärung. Das mag uns Erwachsenen selbstverständlich vorkommen, doch den jungen Generationen das auf diese Art noch einmal vor Augen zu führen erscheint mir wichtig zu sein – und sehr gelungen.
DDR-Alltag und Zeitzeugenberichte
Breinl berichtet von den alltäglichen Unterschieden in beiden Staaten, von der allgegenwärtigen Überwachung in der DDR, den unterschiedlichen Inhalten in den Schulen, den Trabis und den Intershops, dem West-Konzert an der Mauer, zu denen die Ost-Jugend pilgerte und brutal niedergeknüppelt wurde. Doch auch staatlich organisierte Konzerten im Osten konnten die Menschen nicht mehr besänftigen, die Unzufriedenheit wuchs, man wollte raus und ging dafür in Massen auf die Straße. Die Mauer fiel. Von all dem lässt Breinl unter anderem Zeitzeugen erzählen, bekannte wie Jana Pallaske (Ost) oder Peter Wohlleben (West) und unbekannte, und bringt so jede Menge Authentizität in ihre Darstellung der damaligen Ereignisse.
Brüderlichkeit und Freiheit
Doch mit dem Mauerfall endet das Buch nicht. Es schlägt vielmehr eine Brücke bis in die Gegenwart, zum neuaufgeflammten Rechtspopulismus, ja Rechtsextremismus, dem grassierenden Fremdenhass, aber auch zum Bekenntnis für Europa, für Brüderlichkeit und eine grenzenlose Freiheit. Je länger ich in dem Buch vor und zurück gelesen habe, umso öfter wünschte ich mir, dass nicht nur Kinder dieses Buch lesen, sondern alle, die diese blöde blaue Partei wählen und anscheinend vergessen haben, was die Politik vor 80 Jahren und in den 40 Jahren der DDR-Geschichte angerichtet hat. Mögen die Kinder durch diese Lektüre ordentlich angeregt werden, in den eigenen Familien nachzufragen und die eigenen Familiengeschichten erkunden, ganz gleich, ob in Ost oder West.
Helen Endemann: Todesstreifen, Rowohlt, 2019, 256 Seiten, ab 13, 14 Euro Maike Dugaro/Anne-Ev Ustorf: Mauerpost, cbt, 2019, 336 Seiten, ab 13, 9,99 Euro Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand, Carlsen, 2019, 144 Seiten, ab 10, 12 Euro Juliane Breinl: Mein Mauerfall. Von der Teilung Deutschlands bis heute, arsEdition, 2019, 144 Seiten, ab 10, 15 Euro
Dieser Tage vor 80 Jahren löste Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus und stürzte die Menschheit in eine Katastrophe, deren Auswirkungen zum Teil heute noch spürbar sind. Dass davon auch die Kinder betroffen waren, ist eine Binse. Wie genau jedoch das Leben der Kinder und Jugendlichen vom Krieg beeinflusst wurde, zeigen momentan zwei Bücher. Ganz aktuell ist Darstellung der Erlebnisse des jungen Paul Haentjes, der 1943 in Köln Flakhelfer wird. Was sich zunächst wie ein Abenteuer mit den Kameraden aus der Schule und der HJ anhört, wird bald zu einer bedrohlichen Angelegenheit.
Eine deutsche Jugend
Paul ist für die damalige Zeit »typisch deutsch« aufgewachsen. Das Regime stellt er nicht infrage, er wird mit zehn Jahren Mitglied in der Hitler-Jugend, interessiert sich für alles, was mit Militaria und der Verteidigung des Vaterlandes zu tun hat. Die Jugendlichen an den Flugabwehrkanonen konkurrieren mit anderen Flakstellungen um die meisten Abschüsse. Doch selbst nach einem Jahr ist der ursprünglich auf ein halbes Jahr angedachte Einsatz immer noch nicht zu Ende. Die Stimmung bei Paul und den Kameraden kippt. Paul erzählt in Briefen seinem Bruder Werner davon, und sein Ton wird im Laufe der Zeit immer sarkastischer.
Von der Front in die Kriegsgefangenschaft
So wird Paul im Krieg erwachsen, er meldet sich zum Militär, wird Soldat und noch im März 1945 an die Front nach Plauen geschickt – obwohl die Alliierten und die Russen bereits im Land sind. Schlussendlich stellt sich Paul den Amerikanern und erlebt das Ende des Krieges als Gefangener in den fürchterlichen Rheinwiesenlagern. Doch Paul übersteht auch das, vielleicht weil sein Glaube an Gott ihm Kraft gibt, vielleicht weil er einfach Glück hat. Erstaunlich ist, dass er wohl nie über seine verlorene Jugend verbitterte.
Pauls Geschichte, ein Tatsachenbericht, erzählt seine Tochter Dorothee auf eine sehr sachliche Art, die nicht bewertet. Sie druckt die erhaltenen Briefe von Paul ab, lässt ihn somit selbst zu Wort kommen, zeigt Fotos von ihm mit seinen Kameraden. Und in unzähligen Info-Kästen liefert sie Hintergrundwissen zum Leben in Nazi-Deutschland, den politischen Vorgängen, den Kriegsgeschehnissen, sodass sie jungen Leser_innen ein komplexes Bild jener Zeit vermittelt und möglicherweise deren Interesse an dem Thema weckt. Gerade, dass Jugendliche als Helfer herangezogen wurden und noch kurz vor Kriegsende an die Front geschickt wurden, macht wieder einmal eindrücklich klar, wie verabscheuungswürdig Krieg ist – damals, heute, in Zukunft, in jeder Art, die es gibt.
Antikriegs-Kinderroman
Die Verdammung von Krieg ist auch das Anliegen von Erika Mann gewesen, die heute vor 50 Jahren in Zürich starb. Im amerikanischen Exil schrieb sie bereits 1942 den Roman Zehn jagen Mr. X. Darin treffen in der fiktiven kalifornischen Hafenstadt El Peso zehn Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern im Internat »Neue Welt« aufeinander. Als Erzählerin fungiert die Journalistin »Depesche«, die als mütterliche Freundin die Kinder bei ihren Aktionen gegen Hitler und den Krieg unterstützt. Als ein geheimnisvoller Mann in El Peso auftaucht, beginnt eine wendungsreiche Spionage-Geschichte.
Vereinte Kinder gegen das Böse
Erika Mann erzählt im Stil von Erich Kästner, stellt sich auf die Seite der Kinder und lässt einen Teil von ihnen, ihre Erlebnisse in Europa während des Krieges erzählen. Ihre Idee, dass sich die Kinder als »Vereinte Kinder« zusammentun und ihre unterschiedlichen Wurzeln feiern und dennoch gemeinsam gegen das Böse kämpfen, ist ein Verweis auf die Bildung der Vereinten Nationen, die Anfang der 1940er-Jahre gerade im Entstehen waren. Den Gedanken, dass man über nationale Grenzen hinweg gemeinsam gegen das Böse kämpfen sollte und so viel mehr erreichen kann, den jungen Leser_innen auf diesem Wege näherzubringen ist das große Verdienst dieses Buches. Der Geschichte, die Erika Mann auf Englisch geschrieben hat, ist das Alter durchaus und der politische Anspruch auf jeden Fall anzumerken, weshalb die Lektüre für junge Leser_innen eventuell nicht immer ganz einfach ist. Doch ein Glossar erläutert so wichtige Begriffe wie »Fünfte Kolonne«, »Minzjulep« oder historische Persönlichkeiten wie Hirohito oder Abraham Lincoln.
Eine authentische Stimme aus der Vergangenheit gegen den Krieg
Dass Erika Mann bereits 1942, als das Ende des Krieges noch lange nicht abzusehen und die schlimmsten Gräuel noch nicht geschehen waren, so ein vehementes Dokument gegen Hitler und den Krieg verfasste, berührt mich. Sie gehört für mich so auf eine gewissen Art zu den Widerstandskämpfern – zwar aus einer anderen Position und vom anderen Ende der Welt –, die seit Jahren immer wieder gegen das Regime schrieb und agierte. Sich dabei nicht so sehr an Erwachsene, sondern an die Kinder zu richten und von deren Schicksalen zu erzählen, zeigt, dass sie die Kinder als Zielgruppe für die wesentlich verständigeren hielt. Kinder können sich anscheinend leichter über persönliche Befindlichkeiten und Ansprüche hinwegsetzen. Sie sehen die Gefahr und finden im Kampf gegen das Böse gemeinsam. Erika Mann weckt so die Hoffnung, dass die nachkommenden Generationen nicht wieder so einen Krieg anfangen. Wer weiß, was sie heute über die herrschenden Populisten geschrieben hätte … Vermutlich nicht viel anderes.
Dorothee Haentjes-Holländer: Paul und der Krieg. Als 15-Jähriger im Zweiten Weltkrieg, arsEdition, 2019, 144 Seiten, ab 12, 15 Euro
Erika Mann: Zehn jagen Mr. X, Übersetzung: Elga Abramowitz, Rowohlt rotfuchs, 2019, 270 Seiten, ab 12, 15 Euro
Wie überwindet man seine Schüchternheit? Wie reagiert man am besten, wenn man als Mädchen Juli heißt und der neue Nachbarsjunge August? Das ist ja eine förmliche Einladung zu blöden Kommentaren, findet Juli. Sie soll sich, in Katja Reiders Roman Cool in 10 Tagen, um den Neuen im Haus kümmern – worauf sie nicht wirklich Lust hat. Doch Gus, wie er sich selbst nennt, scheint ein ganz netter Typ zu sein. Und zum Glück gehen die beiden nicht auf dieselbe Schule, sodass ihnen tägliche Spottattacken erspart bleiben. Dennoch muss ein Plan her, wie man im Notfall cooler reagiert. Zum Glück ist Julis Mutter Unternehmenscoach und bringt anderen bei, sich durchzusetzen, eigene Wünsche zu erfüllen und eben auch cooler zu sein. So weit, so cool, auch wenn die Mutter Juli mit ihren To-do-Listen manchmal ganz schön nervt.
Coaching hilft
Anhand einer Broschüre der Mutter machen Juli und Gus sich daran, ein 10-Tage-Programm durchzuziehen. Sie stellen sich gegenseitig Aufgaben: Etwas tun, was man noch nie getan hat; fremden Leuten ein Kompliment machen; etwas im Alltag verändern; sich in die erste Reihe zu setzen; sich in Diskussionen einzumischen und Stellung zu beziehen. Juli fällt das durchaus nicht leicht, aber sie hat ihr Ziel vor Augen und traut sich, selbst wenn sie sich dabei schon mal den Fuß verstaucht. Dass sie sich wirklich verändert, fällt ihrer Freundin Stine schnell auf. Und auch bei Gus scheint das Coolness-Programm anzuschlagen – zumindest erzählt er es.
Mut wird belohnt
Dass es dann am Ende natürlich doch nicht ganz so easy ist, liegt in der Natur solcher Erzählungen. Und manchmal hängt cool sein auch nicht nur von einem selbst ab, sondern auch vom Verhalten der Eltern und wie sie zu einem stehen … Reider macht jedoch allen schüchternen Kindern (mit unvorteilhaften Namen) Mut, sich zu stellen. Dem Namen. Der Situation. Dem Leben. Denn man kann so gut wie alles lernen, selbst das Coolsein. Diese Buch ist eine Aufforderung, aus dem eigenen Schneckenhaus herauszukommen – denn oftmals sind die Reaktionen, die man für seine Offenheit und Zugewandtheit bekommt, anders als man es sich in seiner Angst vorher ausgemalt hat.
Zur Nachahmung empfohlen
Abgesehen davon, dass junge Leser_innen von Reiders locker-coolen Geschichte ganz vorzüglich unterhalten werden, lassen sich die Aufgaben von Juli und Gus durchaus auch im echten Leben nachmachen. Der Erkenntnisgewinn und die Wirkung auf das Leben dürften nicht lange auf sich warten lassen. Soll also niemand behaupten, dass Literatur nicht auch zu etwas ganz Konkretem nützlich wäre.
Katja Reider: Cool in 10 Tagen, Illustration: Anke Kuhl, Rowohlt Verlag, 2019, 176 Seiten, ab 10, 10 Euro
Gustav schämt sich. Denn ihr wachsen zwei Erbsen auf der Brust. Doch, doch, das Geschlecht im zweiten Satz stimmt schon, denn Gustav ist ein Mädchen, heißt eigentlich anders, aber daran scheint sich in Lara Schützsacks Roman Sonne Moon und Sterne niemand mehr zu erinnern. Gustav wird bald zwölf, und sie merkt, dass ab diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie zuvor. Nicht nur wegen der Erbsen. Denn zwischen ihren Eltern Iris und Erik herrscht Krise – die Pubertät der Eltern wie Gustav das nennt. Weshalb der Urlaub in Dänemark ausfällt, denn die Erwachsenen brauchen Abstand voneinander und wollen nicht im engen Camper aufeinander hocken. Gustavs Schwestern Ramona und Sara sind da auch keine Hilfe. Sie ziehen Gustav wegen der Erbsen auf, hängen nur am Musiktropf des iPods und jammern über nicht sichtbare Pickel. Und schwärmen von Jungs. Was Gustav völlig unerträglich findet.
Geheimnisvolle Glitzerleggins
Doch kurz vor den Sommerferien taucht in ihrer Klasse Moon auf. Er trägt Glitzerleggins und lange Haare und ist irgendwie geheimnisvoll. Während Gustavs Familie also im Krisen-Chaos versinkt, geht sie mit ihrem altersschwachen Hund Sand Gassi – und trifft Moon beim Flaschensammeln wieder. Und in dem brütend-heißen Berlin entspinnt sich eine der charmantesten und ans Herz gehendsten Freundschafts- und Erste-Liebe-Geschichten, die mir seit langem untergekommen ist.
Jenseits aller Klischees
Schützsack erzählt mit wunderbaren Bildern (»In der Küche macht sich eine beklemmende Stimmung breit wie ein Tiefdruckgebiet.«) von einer Umbruchzeit im Leben eines Kindes – ohne auch nur irgendwie klischeehaft zu werden. Sie thematisiert nicht, warum Gustav Gustav genannt wird oder Moon Glitzerleggins trägt, sie zeigt es einfach und lässt ihren Figuren alle Freiheiten, so zu sein, wie sie wollen. Das ist in Zeiten, wo sich gefühlt alle Welt auf Instagram als Supermodel darstellt, so erholsam und wohltuend, dass man Gustav und Moon nach dem Schluss der Geschichte eigentlich gar nicht gehen lassen möchte. Aber man ahnt zum Glück, dass die beiden noch eine ganze Weile den Weg des Lebens gemeinsam bestreiten und dabei ganz viel Knisterkaugummi futtern werden.
Hoffnungsfroh in die Zukunft
Das soll jetzt nicht heißen, dass in Sonne Moon und Sterne alles schön und positiv ausgeht. Der Tod gehört zu dieser Geschichte genauso wie das Ende einer Liebe und der Anfang einer neuen. Damit macht Lara Schützsack ihren Leser_innen, die am Ende ihrer Kindheit ankommen, klar, dass das Leben eben nicht nur Glitzer und Knister bereithält. Doch dies gelingt ihr auf ganz großartige und hoffnungsfrohe Art, sodass diese Geschichte noch lange nachhallt – und man sich auf den nächsten Sommer, die kommenden Umbrüche und vielleicht eine neue Liebe freut.
Lara Schützsack: Sonne Moon und Sterne, Säuerländer, 2019, 240 Seiten, ab 10, 14 Euro
Trudel Gedudel, das Huhn, wohnt auf dem Hühnerhof Das-Gelbe-vom-Ei. Es ist ein netter Hühnerhof, mit Hühnerhaus, Misthaufen, Hahn, anderen Hühnern und den beiden Puten Ete und Petete. Muss man mehr wissen, über das entzückende Bilderbuch Trudel Gedudel purzelt vom Zaun von Eva Muszynski und Karsten Teich? Aber sicher doch! Denn Trudel ist nicht wie andere Hühner, die nur auf einem Haufen hocken und viel zu spät für den ersten Wurm aufstehen. Trudel geht ihrer eigenen Wege – bis zum Zaun. Und nicht weiter. Denn hinter dem Zaun wohnt der Fuchs, und vor dem hat Trudel Respekt.
An diesem Morgen sitzt jedoch die Möwe Gräten-Käthe auf dem Zaun und schwärmt vom Meer, von Kartoffelchips und Pommes, lauter Leckereien, die es in Das-Gelbe-vom-Ei nicht gibt. »Hinter dem Zaun, Sprudel, da wohnt die Freiheit! Da gibt es Abenteuer und Currywurst!“, erzählt Käthe. Mal ehrlich, wer kann da noch widerstehen, selbst wenn er in Das-Gelbe-vom-Ei wohnt?
Meerchenhaftes Abenteuer
Käthe jedenfalls fliegt wieder davon und fordert Trudel auf, sie mal besuchen zu kommen, beim alten Strandkorb. Und so beginnt für Trudel ein meerchenhaftes Abenteuer, in dem sie zwar dem Fuchs nicht begegnet, zum Glück, dafür aber Herrn Klabautermann und Siegfried & Roy aus Schiszwack. Und diese neuen Freunde entpuppen sich als wahre Bereicherung und werden mit Sicherheit Kumpane fürs Leben.
Auf den Punkt illustriert
Muszynski und Teich haben hier ein Freundes-Trio erschaffen, dass man sich auch fürs echte Leben wünscht: Sie liefern genügend Anregung, um aus dem eigenen Trott und der eigenen Umzäunung auszubrechen, aber auch ein bisschen Frechheit und Gegrummel, wenn es um die Verteidigung des eigenen Lebensbereichs geht, und stehen am Ende doch für einander ein und sorgen sich um den anderen. Die reduzierten Zeichnungen der tierischen Helden stattet Illustrator Teich mit so passenden Accessoires aus, dass jedem gleich klar ist, wer hier die Hühner-Dame, die Frechmöwe und der grummelnde Ratten-Alte ist. Und so unterschiedlich die Drei auch sind, sie passen bestens zueinander.
Nordisch wortkarg, aber wortverspielt
Texterin Eva Muszynski schafft es dann mit kurzen, lakonischen Sätzen und einer unbändigen Wortspiellust, den nassforschen Humor der Waterkant zu transportieren, sodass Trudel auch des Öfteren mal »Nudel«, »Sprudel« oder »Pudel« genannt wird. Gräten-Käthe wird zu »Gräten-Käse«, und der Klabautermann zu »Klautermann«. Wenn die Kinder, denen dieses Buch vorgelesen wird, am Ende der Geschichte nicht selbst anfangen zu reimen und zu wortspielen, haben sie wahrscheinlich nicht richtig zugehört oder sich von den Illus ablenken lassen. Doch eigentlichen kann man nach dem Ganzen Trudel Gedudel gar nicht anders als sich zum einen noch Meer-Abenteuer auszudenken, und zum anderen sich auf den Weg zu machen, jenseits des eigenen Umzäuns, jenseits vom eigenen Gelbe-vom-Ei sich die wahren Freunde fürs Leben zu suchen. Ganz im Sinne von Trudels Abschluss-Erkenntnis am Meer: »Es gib hier so viel mehr Wasser.«
Eva Muszynski: Trudel Gedudel purzelt vom Zaun, Illustration Karten Teich, cbj, 2019, 88 Seiten, ab 5, 12 Euro
Ich liebe dieses Buch. Das muss ich dieses Mal wirklich als erstes raushauen. Vielleicht bin ich befangen, weil hier ein Thema behandelt wird, dass ich aus meiner Familie sehr gut kenne. Denn Rieke Patwardhan erzählt auf eine wunderbar entspannte Art von den (Spät-)Folgen einer Flucht. Etwas, an das man zunächst nicht unbedingt denkt, wenn Nils, Evi und Lina eine Detektivbande gründen und einen spannenden Fall lösen wollen. Eigentlich passen die drei kaum zusammen: Nils ist ruhig und ausgleichend, Evi impulsiv und spontan, und Lina kommt als Neue in die Klasse. Sie ist mit ihrem Vater aus Syrien geflohen und soll nun „integriert“ werden. Doch das gerät ganz schnell in den Hintergrund, denn Lina kann bereits ziemlich gut Deutsch, ist nicht auf den Kopf gefallen und war schon in ihrer Heimat in einer Detektivbande.
Ein Fall muss her
Umso spannender wird es für die drei, als sie merken, dass bei Nils Großeltern, wo die Bande regelmäßig mittags essen kann, etwas nicht stimmt. Immer öfter gibt es angebrannte Bratkartoffeln, weil Opa kochen muss. Oma hat dafür nämlich keine Zeit mehr, denn sie sitzt die meiste Zeit vor dem Fernseher und schaut deprimierende Nachrichten. Wenn sie das nicht tut, geht sie mit Opa einkaufen – allerdings nicht die üblichen Sachen, sondern Erbsensuppe in der Dose, und zwar in solchen Massen, dass irgendwann die ganze Wohnung mit den Dosen vollgestellt ist. Als Oma auch noch einen großen Koffer mit Winterkleidung, Decken und Kochgeschirr packt, beschließen Nils, Evi und Lina ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Von der Gegenwart in die Vergangenheit
Patwardhan schafft es mit einem Generationsbogen von Großeltern zu Enkel, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Lina als Geflüchtete der Gegenwart erinnert die Großeltern an die eigene Kindheit kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Flüchtlinge aus Ostpreußen bei Familien im Westen einquartiert wurden. Da die Großeltern nicht viel von den schrecklichen Zeiten erzählen, und die Kinder erst einmal auch keinen Grund sehen, intensiver nachzufragen, bleiben wichtige Informationen zunächst ungesagt. Als erwachsene_r Leser_in ahnt man natürlich rasch, was den Großeltern zugestoßen ist, doch junge Leser_innen können hier auf fast spielerische Art dem Trauma der Großeltern-Generation auf die Spur kommen – ohne selbst traumatisiert zu werden.
Von alten und neuen Traumata
Die Autorin baut eine Brücke zwischen den Ängsten der aktuell Geflüchteten – wenn Lina fürchtet, etwas Illegales zu tun und dann womöglich abgeschoben zu werden – und den tiefsitzenden Traumata der Kriegskinder von damals, die bekanntermaßen auch ein knappes Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende wieder hervorbrechen können – wie bei Nils‘ Großmutter. Und so entsteht plötzlich ein Verständnis für die anderen, die Alten und die Menschen aus aktuellen Krisengebieten, bei den Figuren im Buch – und hoffentlich auch bei den Lesenden.
Generationskommunikation
Das Schöne an Forschungsgruppe Erbsensuppe ist aber auch, dass Linas Status als Geflüchtete im Laufe der Geschichte schon fast in den Hintergrund rückt. Sie ist selbstverständliches Mitglied der Bande, hier wird nicht auf irgendeine Tränendrüse gedrückt, weil die Zustände im Flüchtlingsheim möglicherweise ganz klischeemäßig fürchterlich sind. Das alles jedoch, ohne den unsäglichen Zustand von Duldung herunterzuspielen. So eine Darstellung ist immer eine Gratwanderung, hängen doch menschliche Schicksale daran, aber Patwardhan gelingt dieser Spagat. Und so liefert sie eine Geschichte Anregungen in vielen Richtungen: Die Kommunikation unter den Generationen weiter fördert. Denn vermutlich werden nach der Lektüre die Kinder erst einmal ihre Großeltern über deren Kindheit befragen. Was beiden Seiten nur guttun kann, wenn die Jungen begreifen, was die Großeltern als Kinder durchgemacht haben, welche Schicksalsschläge sie geprägt haben. Die Kinder, die von diesen Erfahrungen wissen, können dann vielleicht in der Gegenwart geflüchtete Mitschüler viel selbstverständlicher in ihre Cliquen aufnehmen und ihnen das Leben in einer neuen Heimat etwas leichter machen.
Rieke Patwardhan: Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen, Illustration: Regina Kehn, Knesebeck Verlag, 2019, 144 Seiten, ab 8, 13 Euro
Was für ein Glück, A.L. Kennedy als Babysitterin zu haben! In ihren Romanen und Erzählungen für Erwachsene schreibt die schottische Schriftstellerin über kaputte, traumatisierte, versoffene, gewalttätige und gequälte Menschen, für die es keine Hoffnung gibt. In ihre Geschichten für Kinder von Onkel Stan und Dan aber packt sie so viel Freude, Optimismus, Liebe, Glück und Witz, dass man sie nicht wiedererkennt. Weil es doch extrem schade wäre, wenn die Abenteuer vom Dachs Dan und seinem Freund Onkel Stan im schottischen Hochland bei den Zwillingen der Schauspielerin Tilda Swinton (denen hat Kennedy sie vor Jahren erzählt) verschwinden würden, erscheinen sie jetzt nach und nach in Buchform.
A. L. Kennedy als Kinderbuchautorin
Dabei ist das Leben in Kennedys Kinderromanen keinesfalls ein Ponyhof. Im ersten Band über das fast ganz ungeplante Abenteuer, in dem der Dachs und Onkel Stan sich kennenlernen und Freunde werden, kommt es für einige der späteren Helden als unfassbar trostlose Lamafarm daher. Und für den knuffigen Dan könnte es auch gleich das Ende seines noch jungen Lebens bedeuten, in blutige Fetzen zerbissen bei einem äußerst unfairen Kampf mit drei Kampfhunden.
Der Dachs sowie vier Lamas sind in die Fänge einer absolut bösartigen Farmerfamlie geraten. Wie unglaublich fies diese Leute sind, macht Kennedy von Anfang an deutlich, mit der Entführung Dans durch die Schwestern Esther und Martha: Zwar steckt Dan in einem Sack und sieht zunächst nichts, aber »Dan brauchte bloß einmal zu schnüffeln, da wusste er: Wer ihn wegschleppt, hatte ein Herz voller Nägel, Sand und Gehässigkeit.«
Als er auf einen kalten Steinfußboden geschüttet wird, sieht er dass seine Kidnapperinnen »winzig kleine und verärgerte Augen von der Farbe schlecht schmeckender Bonbons haben«.
Poetische Metaphern schaffen Kopfkino
Es sind diese ungeheuer eindringlichen Bilder und Vergleiche, die dieses Buch so besonders machen. Eine Stimme klingt, »als würde man etwas Hässliches in einen Brunnenschacht fallen lassen.« Oder »Esther kicherte, was sich anhörte wie falsch verlegte Rohrleitungen.« Diese fast poetischen Metaphern schaffen intensives Kopfkino. Hier werden Menschen beschrieben, die aus Spaß andere quälen und alle als extrem ekelige Pasteten enden lassen wollen.
Konterkariert werden diese komplexen Charakterisierungen von Gemma Corrells zahlreichen, sehr reduzierten Zeichnungen (angeblich von einem von ihr mit Karamellbonbons bezahlten Fünfjährigen angefertigt), die mit zahlreichen Erklärungen versehen wie Schautafeln eines sehr schrägen Wissenschaftlers daherkommen. Ingo Herzke hat Kennedys bildgewaltige Prosa mit viel Wortwitz und Fantasie übersetzt, zum Teil selbst kleine Scherze angefügt, zum Bespiel gehört ein Hubschrauber zur Staffel der »Air Forst One«. In eine Reklame für schneeweiße Unterwäsche fügt er, frei nach der mütterlichen Mahnung, immer eine frische Hose anzuziehen, wenn man das Haus verlässt, die raffinierte Zeile »Man weiß nie« ein. Und ein Witz für Freunde von Druckerzeugnissen lautet: »Was kriegt man, wenn man eine Druckerpresse verprügelt? Schlagzeilen!«
Grausame Figuren – aber Hoffnung auf Rettung
Darf man Kindern von so grausamen Menschen erzählen? Ja. Wenn es Hoffnung auf Rettung gibt. Wenn die alte Westernregel, dass das Böse immer gewinnt, widerlegt wird. Wenn die Bösen nicht besser werden und deshalb gerechterweise ein bizarres Ende finden. Wenn das Gute so charmant und liebenswert und klug wie Onkel Stan daherkommt: »Ein großer, ziemlich dünner Mann mit rötlichbraunen Locken, schlaksigen Armen, knochigen Knien, schlenkernde Beinen«, der in seinen Taschen eine dösende Maulwurfsmutter und Käsestangen, aber keine Socken hat, weil er die einem Eichhörnchen als Schlafsack zum Campingurlaubspielen geliehen hat. Ein wahnsinnig netter und sympathischer Kerl, ein Traumtänzer mit scharfem Verstand.
Im zweiten, dem »ungeheuer, ungewöhnlichen Abenteuer« geht es fast Onkel Stan an den Kragen. Genauer gesagt droht er von einem abgrundtief bösen Manipulator zerquetscht zu werden. Dieser Gegner geht sehr systematisch vor, er will alles Ungewöhnliche aus der Welt schaffen – und er hat erschreckend leichtes Spiel damit. Der Herdentrieb und das Streben nach Gleichförmigkeit und Normen sind entsetzlich stark.
Band zwei ist ein Plädoyer für Vielfalt, für den Mut anders zu sein und zu handeln. »Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang der famose Carsten Friedrich einst bei Superpunk. Und mit Der Liga der gewöhnlichen Gentlemen gelingt ihm die Beschreibung des grundguten und kämpferischen Onkel Stans: »Immer freundlich, nie gemein / Und wenn doch, dann muss es sein … Streetwise wie ein East-End-Schläger / Schlau wie ein Nobelpreisträger / Niedlich wie ein Hasenkind / Und berauschend wie Absinth … Die Welt braucht mehr Leute so wie Dich.«
Ein Plädoyer für Vielfalt
Dass dieses Abenteuer dem ureigenen Wesen und der Seele Onkel Stans gefährlich nahe kommt, merkt man, dass dieser im Laufe der Geschichte zu seinem eigenen Erstaunen »innendrin zornig« wird. Obwohl er jedem Gelegenheit gibt, seine Meinung zu ändern, weiß er schließlich, dass es bei diesem Gegner sinnlos ist: »Sie hassen es, wenn Leute sie selbst und glücklich sind.«
Wie gut, dass A.L. Kennedy ihre Helden ganz sie selbst sein lässt. Und was für ein Glück, dass die Ersthörer der Abenteuer von Onkel Stan und Dan mittlerweile erwachsen sind – und deshalb jetzt alle die Geschichten kennen und lieben lernen können.
A.L. Kennedy: Onkel Stan und Dan und das fast ganz ungeplante Abenteuer, 192 Seiten, und Onkel Stan und Dan und das ungeheuerlich ungewöhnliche Abenteuer, 272 Seiten, Orel Füssli, 2018/2019, Illustration: Gemma Correll, Übersetzung: Ingo Herzke, ab 9, je 14,95 Euro