Schlagwort-Archive: Freddie und die Bändigung des Bösen

Es ist kompliziert

Es gibt viele Bücher über Freundschaften. Und Lieder. Und Filme. Darin geht es um unerschütterliche Treue, bedingungslose Solidarität, Zuneigung, besondere Chemie, einander guttun. Also das, was Freundschaft und ziemlich beste Freund*innen ausmacht (bff, also best friends forever, sind dann wieder ein anderer Schnack). Wenn nichts davon zutrifft, dann sind es falsche Freunde, eine Alliteration, die das genau Gegenteil meint und die Idee der Freundschaft ad absurdum führt.
Wovon aber selten die Rede ist bei dem, was eine Freundschaft ausmacht, ist die Gegenseitigkeit.
Wenn man den elfjährigen Freddie fragt, warum Mattis sein Freund ist, und das tut die Erzählerin in Anke Stellings Freddie und die Bändigung des Bösen erfrischend direkt, würde er sagen, weil Mattis schon seit der Kita sein Freund und immer an seiner Seite ist. Weil er fast schon Familie ist. Weil Freddie immer weiß, neben wem er in der Schule sitzt, mit wem er zu Mittag isst, dass er in die Mannschaft gewählt wird. Weil Mattis selbstbewusst ist und vor Selbstbewusstsein strotzt. Weil Mattis ein Typ ist, ein Macher. Der weiß genau, was er im Aufsatz über sich selbst schreiben soll. Welches seine Stärken sind. Wo er sich sieht, wenn er erwachsen ist.

Mattis kommt mit jedem Mist durch …

Dass er aber nicht nur wegen seines frechen Grinsens und seiner lässigen Scheißegal-Art immer wieder mit allem Mist durchkommt, das ist die Kehrseite der Medaille. Genauer gesagt: Es ist Freddies Verdienst. Still und heimlich.
Wird jedoch Mattis gefragt: »Hey, Mattis, was magst du an Freddie«
»Was?«

»Warum Freddie dein Freund ist?«
»Hä? Was willst du?«
»Ich will wissen, was du an Freddie magst!«

»Was weiß ich, keine Ahnung.«
… so erzählt dieser Dialog am Anfang des Buchs bereits viel über das Verhältnis der Jungs.
Man mag Freddie, der mit seiner Mutter Nina in einer kleinen Wohnung wohnt. Der Fußball im Verein und auf dem Computer Brawl Stars spielt. Der ein bisschen unordentlich und manchmal etwas eigen ist. Der verantwortungsbewusst und selbstständig und offen und freundlich und mitfühlend ist.

… weil Freddie immer vorausdenkt

Und, man möchte fast sagen, leider Mattis bester Freund ist. Deshalb hilft er Mattis immer wieder aus der Patsche, macht sich selbst zum Idioten, (hat) immer wieder nach Mattis gegriffen oder sogar selbst losgeschrien und irgendwas wirklich Dummes gemacht (zur Ablenkung).
Nie hat’s was genützt. Mattis tut, was er tun muss, immer, und Freddie ist dagegen machtlos.
Und trotzdem versucht Freddie immer wieder, Schlimmeres zu verhindern und vorauszudenken. Jetzt, acht Wochen vor den Sommerferien, darf Mattis keine weitere Verwarnung kassieren, sonst fliegt er von der Schule. Dieses Mattis-Beschützten ist Freddie schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht anders kann. Es ist Teil seiner Identität. Sein Seelenheil hängt davon ab.

Es ist viel komplizierter, wenn man mitten drin steckt

Man ahnt, es wird böse enden. Und man möchte Freddie schütteln, ihm sagen: Jetzt hör doch mal auf, du kannst doch nicht immer für Mattis den Kopf hinhalten! Oder wie Klassenkameradin Erna es beim Spiel Ich habe noch nie auf den Punkt bringt: Ich habe noch nie nicht gemacht, was Mattis sagt. Warum tust du das? Was tut Mattis für dich?
Dass aber weder das Leben noch Freundschaften so einfach sind, wenn man mitten drinsteckt und nicht als neutraler und doch emotional sehr mitgehender Leser außen vor steht, zeigt Anke Stelling in ihrem zweiten Kinderbuch klug und mitreißend (das erste findet ihr hier).
Bekannt und ausgezeichnet wurde sie für ihre Romane Bodentiefe Fenster und Schäfchen im Trockenen, exzellente Milieustudien über starke Charaktere mit Haltung.

Niemand ist absolut klar und gradlinig

Zahlreiche authentische, interessante Figuren gibt es auch in dieser Erzählung für junge Leser. Spannend ist vor allem, wie sie interagieren: Sprache, Kommunikation, wie etwas gesagt und vor allem wie es nicht gesagt wird – die brillante Beobachterin Stelling zeigt mit Freddies Augen, dass niemand absolut klar und gradlinig ist. Und das ist wahrscheinlich auch gar nicht möglich.
Freddies Mutter zum Beispiel sagt egal, wenn sie sich eigentlich richtig über etwas ärgert.
Freddies Vater Olaf ist mit seiner neuen Frau Misaki nicht immer einer Meinung, spricht aber nicht drüber, und das liegt nicht an der Sprachbarriere zwischen Deutsch und Japanisch.
Und wenn schon die Älteren, die ja einige Jahre mehr Übung und Erfahrung haben, nicht richtig kommunizieren können, wie sollen dann Kinder die richtigen Worte finden. Aus irgendeinem Grund denken die Erwachsenen, das sei für Kinder ganz leicht. Leichter als für sie selbst, also wirklich: Wie kommen sie darauf?

Schlampige Deutsche und deprimierte Italiener

Stelling weist auf Vorurteile hin, die jeder irgendwo hat und die sich schnell verfestigen. Die eine Lerngruppe oder Klasse gilt als anstrengend und gefährlich, während die andere schon immer als unkompliziert und brav war.
Wie so ein Ruf entsteht, frage ich mich.
Alle wissen, dass es im Grunde Quatsch ist: Zum Beispiel zu behaupten, Deutsche seien pünktlich und gewissenhaft und Italiener lustig und temperamentvoll – schließlich gibt es haufenweise schlampige Deutsche und deprimierte Italiener.
Irgendwann sitzt Freddie weinend auf dem Schulklo, mit Schluchzen und Stöhnen und dem Kopf auf den Knien – er ist so hilflos und verzweifelt, weil ihn keiner auf der Welt versteht. Und dieses keiner inzwischen leider heißt: auch er selbst nicht.

Keiner versteht Freddie. Das heißt leider: auch er sich selbst nicht

Das ist richtig schlimm. Und es tut einem beim Lesen weh. Man möchte mit der forschen Erzählerin sagen Es reicht! Man möchte Mattis anschreien, er soll Freddie wenigstens einmal um Entschuldigung bitten. Und die Sache geradebiegen. Bei Erwachsenen spricht man von toxischen Freundschaften, wenn der eine den anderen immer nur ausnutzt.

Aber Freddie mag ihn

»Weißt du«, sagt Nina, stellvertretend für den Leser, »das macht mich einfach wütend … er nutzt dich aus! Und du darfst dir das nicht alles gefallen lassen!«
Nina starrt Freddie an. Freddie hält ihren Blick.
»Er ist mein Freund«, sagt er. »Verstehst du? Mein Freund. Und ich mag ihn.« So einfach ist das manchmal.
Und wir mögen Freddie, trotzdem oder gerade deshalb. Er bringt uns zum Nachdenken über das Wesen von Freundschaften, die eben ziemlich kompliziert sein können.

Anke Stelling: Freddie und die Bändigung des Bösen, cbj, 256 Seiten, ab 9, 13 Euro