Schlagwort-Archive: Magali Le Huche

Vier Schutzheilige namens John, Paul, George und Ringo

Wo auf der Schwelle vom Kind zum Teenager sich das Mädchen Magali befindet, kann sie nicht so genau sagen. Aber wo sie definitiv auf keinen Fall sein möchte, weiß das Nowhere Girl absolut und ohne Zweifel: In der neuen Schule.
Das sagt der Elfjährigen sogar ziemlich bald ihr Körper ganz unmissverständlich: Erst fällt sie vor der versammelten Klasse in Ohnmacht. Dann kotzt sie jeden Morgen, wenn sie auch nur in die Nähe der gefürchteten Schule kommt.

Vom Ranzen erdrückt

So beginnt Magali Le Huche ihren umwerfenden, autobiografischen Comic Nowhere Girl. Paris in den 1990er Jahren, die junge Magali kommt auf die weiterführende Schule, wo auch ihre große Schwester ist. Schon bald wird das verspielte Mädchen mit den Pippi-Langstrumpf-orangeroten Haaren von selbstauferlegtem Perfektionismus und den Leistungsforderungen unsensibler Lehrkörper zunehmend erdrückt. Immer größer und schwerer wird der Ranzen auf ihrem Rücken. Sie verschwindet fast unter der übermenschlich schweren Last, die sie auf dem geradezu höhnisch sanftrosa kolorierten Schulweg schleppt. Flächiges Rosa ist neben Magalis roten Haaren die einzigen Farben auf den schwarz-weiß gezeichneten Panels der ersten Seiten. Die gestalterisch wahrscheinlich nicht ganz zufällig an ein anderes, allerdings ungleich unbekümmerteres und lebenslustigeres Mädchen ihres Alters erinnern – Kay Thompsons fabelhafte Eloise in Paris, ein Klassiker aus den 1950er Jahren.

Diagnose: Schulphobie

Magalis Eltern sind beide Experten für kranke Seelen, die Mutter Psychoanalytikerin, der Vater Phonetiker, der Stotternden und anderweitig Sprachgehemmten das Sprechen beibringt. Doch bei der eigenen Tochter sind sie ratlos. Zumal doch die Ältere die Schule problemlos, sogar mit Bravour und Spaß wuppt. Was tut man mit einem Mädchen, das unerklärliche Angst vor der Schule hat. Eine Schulpsychologin gibt der Sache sogar eine solide wissenschaftliche Diagnose: Schulphobie. Allerdings ohne eine wirkliche Lösung anbieten zu können, außer – Vorteil des französischen Schulsystems – der Schulpflicht per Fernunterricht von zu Hause nachzukommen, was per zugeschicktem Material funktioniert.

Schockverliebt in nie zuvor gehörte Musik

Und dann, eines Tages, entdeckt Magali ganz andere, bisher noch nie gehörte Musik: die der Beatles. Und ein psychedelisches Feuerwerk an Farben und fantastischen Figuren fließt über die Seiten. Magali ist schockverliebt in die Melodien und Stimmen. Eine Liebe, die ihr ganzes Leben verändern wird. Sie flüchtet sich in wohlklingenden Harmoniegesang und schräge Parallelwelten, geht mit dem Yellow Submarine auf Tauchstation und entflieht ihren Ängsten. Nebenbei wird sie zur Expertin, liest alles über die Fab Four. Und fällt ihrer Umgebung auch ein bisschen auf die Nerven mit ihrem unerschöpflichem kuriosen Wissen, das sie leidenschaftlich jedem kundtut.

Die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer

John, Paul, George und Ringo werden zu Magalis Schutzheiligen. Wobei sie alle vier gleich wertschätzt, den einen wegen seiner bodenständigen Art, den anderen wegen der frechen, unbekümmerten oder auch zurückhaltenden Natur. Die klassische Frage Beatles oder Stones stellt sich für sie nie, ebenso wenig die, ob man John oder Paul lieber mag.
Ihr Körper verändert sich, sie bekommt ihre erste Periode, die behütete Zeit des Fernunterrichts zu Hause endet nach zwei Jahren – doch die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer. Durch die Bilder in ihrem Kopf entdeckt die junge Magali für sich auch das Zeichnen – eine Leidenschaft und Berufung, die die französische Comickünstlerin schließlich zu ihrem Beruf macht.

Nowhere Girl ist eine zauberhafte Geschichte vom Ende der Kindheit – und wie man sich trotzdem Fantasie und das Spielerische bewahrt. Von den Beatles lernen, heißt nicht nur richtig gut Englisch lernen, die Songtexte haben sich bei vielen unvergesslich ins Gedächtnis gegraben.
Von den Beatles lernen heißt manchmal auch fürs Leben lernen.

Magali Le Huche: Nowhere Girl, Übersetzung: Silv Bannenberg, Reprodukt, 120 Seiten, ab 11, 24 Euro