Das x-te Geschlecht

georgeHeute Morgen hat im Rahmen des Harbourfront Literaturfestivals in Hamburg Alex Gino in der Zentralbibliothek Hamburg aus dem Roman „George“ gelesen. Etwa 100 Kinder zwischen zehn und 12 Jahren lauschten und stellten Fragen. Die deutsche Übersetzung von Alexandra Ernst hat die Schauspielerin Jodie Ahlborn einfühlsam vorgetragen. Perfekt moderiert wurde die Veranstaltung von Stefanie Ericke-Keidtel.

In „George“ geht es um ein Transgendermädchen, die irgendwann den Mut aufbringt, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Berichtet habe ich von dem wichtigen Buch bereits hier. Nun Alex Gino live zu sehen, war ein wunderbares und aufschlussreiches Erlebnis, denn die Geschichte von George ist in gewissen Zügen Alex Ginos eigene Geschichte.
Vor 38 Jahren in Staten Island/New York geboren war Alex schon recht früh bewusst, anders zu sein. Nur gab es damals in den 80er Jahren keine Worte für dieses Anderssein. Im Gegensatz zu heute, wo auf die Frage, ob denn die Zuschauer schon mal von Transgender gehört hätte, fast alle Kinder die Finger hoben und wissend nickten, als ob das ein alter Hut wäre.

Alex jedoch kämpfte sich durch Kindheit und Pubertät und eröffnet mit 17 den Eltern, queer zu sein. Mit 20 sagte Alex ihnen dann, transgender queer zu sein. Ein doppeltes Coming-out quasi. Die Qualen, Unsicherheiten und Zweifel ahnt man. Alex hatte Glück, dass die Eltern rückhaltlos zu ihrem Kind standen, Alex auf dem schwierigen Weg also Beistand und Hilfe bekam und sich nicht verstecken musste – etwas, was die Romanfigur George als genauso schwierig bezeichnet.

Alex jedoch ist etwas anders als die Romanfigur George, die genau weiß, dass sie ein Mädchens ist. Alex bezeichnet sich als „gender queer“, was für Alex bedeutet, mal Mann, mal Frau sein zu wollen. Alex  legt sich nicht fest, will einfach Alex sein. Ein sehr nachvollziehbarer Wunsch, der jedoch auch Probleme mit sich bringt.
So stellte ein Mädchen aus dem Publikum umgehend eine der drängendsten Fragen: Wie soll man über Alex reden – als sie oder als er? Das Deutsche kennt ja wie das Englische kein x-tes Geschlecht. Und schon betritt man ein sprachliches Minenfeld, wenn man queeren Transmenschen gegenüber nicht unhöflich und unsensibel auftreten möchte.

alexAlex berichtete dann von der langen Suche nach dem richtigen Pronomen für sich – und der Entscheidung für das englischen Singular they, das auch schon Shakespeare benutzt hat, wie Alex mit einem Augenzwinkern hinzufügt.
Dafür eine Entsprechung im Deutschen zu finden ist nicht einfach. Seit Jahren wird über gender-neutrale Sprache gestritten. Einzelne Worte, wie „Studierende“ statt „Studenten“ und gewissen Neutralisierungen setzen sich langsam durch, haben diese aber auch den Vorteil, eine Gruppe von Menschen zu bezeichnen, bei der wir den Plural ganz entspannt benutzen können.
Beim Reden über Einzelpersonen jedoch wird es kompliziert, wenn diese sich keinem der beiden grammatikalischen Geschlechter zuordnen lassen wollen. Doch es gibt Versuche gender-neutrale zu Pronomen zu finden, z.B. hier und hier. Das Feld ist weit, ich kann es hier und jetzt nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren (bin auch nicht die Expertin dafür, auch wenn ich mich mehr und mehr bemühe, darauf zu achten). Es wird auf jeden Fall spannend, was sich in den nächsten Jahren in unserem Sprachgebrauch durchsetzen wird. Im Englischen hat das gender-neutrale Mx. (statt Mr. oder Mrs.) bereits den Einzug ins Oxford Dictionary gehalten.
Im Deutschen wird es nicht bei den Pronomen bleiben: Alex hat zwei Nichten und prompt fragte ein Junge, wie diese denn Alex nennen würden, Onkel oder Tante? Etwas zögernd erzählte Alex, dass sie in „uncle Alex“ nennen, einfach weil es besser klingen würde … Fast sah es so aus, als hätte Alex diese Frage noch nie beantworten müssen.
Natürlich grübelt mensch dann automatisch über eine deutsche Alternative zu Onkel und Tante nach: Tankel? Onte? Glücklicherweise ist Sprache immer etwas, das sich entwickelt, Neues schöpfen kann und dieses auch in den Alltag integriert. Irgendwann wird es also einen solchen Begriff im Duden geben, da bin ich mir sicher.

Erfreulich an diesem heiteren Vormittag in der Zentralbibliothek waren – neben einex umwerfend charmanten und überzeugenden Alex Gino – die Offenheit und Neugierde der Kinder. Natürlich fanden es ein paar viel spannender, dass Alex das Computerspiel Mario Kart und die Figur Toad liebt, doch mir war, dass die meisten zumindest ein Gefühl für die Ängste und Nöte von Transmenschen mitbekommen haben. Für einen respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft ist damit wieder jede Menge Saat ausgebracht, die hoffentlich reichlich Frucht tragen wird.
Gleichzeitig haben die Kids hautnah erlebt, wie mitreißend fröhlich mensch sein kann, wenn er/sie einfach zu sich steht und sein/ihr Ding macht. Und genau dafür ist das Buch von Alex Gino einfach enorm wichtig!

Alex Gino: George, Übersetzung: Alexandra Ernst, Fischer Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Unbändiger Forscherdrang

reiseBücher, die das Wort „Reise“ im Titel tragen, üben auf mich eine seltsame Anziehung aus. Vielleicht, weil ich selbst gern reise. Denn jede Reise ist Aufbruch, Entdeckung von Neuem, Erweiterung des eigenen Horizonts, Abenteuer. Wer wünscht sich das nicht?

Der 11-jährige Archer in Nicholas Gannons Debüt-Roman Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt kann genau das eigentlich gar nicht erwarten. Er will endlich aufbrechen, hinaus aus seinem Haus, in dem ihn die Mutter fast wie einen Gefangenen hält. Dies tut sie allerdings nicht aus Bosheit, sondern aus Angst. Denn Archer hat eine Neigung. Die Neigung, alles zu erforschen und zu ergründen. Diese Neigung hat er von seinen Großeltern, den bekannten Naturforschern Ralph und Rachel Helmsley. Das Haus, in dem Archer mit seinen Eltern lebt, gehört den Großeltern und ist dem entsprechend ausgestattet mit ausgestopften Tieren aus aller Welt und anderen Objekten, die die Großeltern von ihren Forschungsreisen mitgebracht haben.
Doch seit zwei Jahren sind die Großeltern verschollen. Angeblich sind sie auf einem Eisberg festgefroren. Archer glaubt jedoch nicht daran. Er will Oma und Opa, die er noch nie im Leben gesehen hat, in der Antarktis suchen.

Auf seiner Reise sollen ihn die Nachbarkinder Oliver Glub und Adelaide Belmont begleiten. Zu dritt machen sie sich heimlich an die Vorbereitungen. Nur ist Oliver etwas ängstlich, was sich immer darin äußert, dass er die Augen zumacht, wenn es gefährlich wird.
Adelaide hingegen, die eine talentierte Ballerina war, hat durch einen Unfall ein Bein verloren, kann jedoch niemandem die Wahrheit sagen, sondern erfindet lieber abenteuerliche Geschichten, die ihre Freunde auf eine falsche Fährte locken, was ihre Reise-Erfahrung angeht.
Gemeinsam jedoch nehmen die drei Freunde es mit all den Erwachsenen auf, die ihnen Hindernisse in den Weg legen wollen …

Nun ja, dass die drei es nicht ganz bis zum Südpol schaffen, darf ich wohl verraten. Doch wie es dazu kommt, ist ein ganz großes Lesevergnügen, nicht zuletzt durch die frech frische Übersetzung von Harriet Fricke. Die drei Helden erleben schon vor Abreise jede Menge Abenteuer, die sie als Freunde immer enger zusammenschweißen. Sie beweisen dabei ganz nonchalant, dass der Weg das Ziel sein kann. Und dass man sich von den Meinungen der Erwachsenen nicht gleich von seinen Überzeugungen abbringen lassen sollte.

Die Geschichte von Archer, Oliver und Adelaide ist mit Illustrationen vom Autor selbst ausgestattet. Und diese Illustrationen sind so wundersam wie die Geschichte selbst. In zarten Sepia- und Rottönen entführt Gannon die Lesenden in das Haus der Helmsleys, zeigt die vielen Tiere, Globen und geheimnisvollen Schränke, Schubladen und Koffer. Er liefert architektonische Zeichnungen vom Haus und der Schule der Kinder. Es ist eine verwunschene Welt, der jegliche heutige Technik fehlt, in der es noch genügend Raum für Fantasie und Träumereien gibt. Ein echter Kindheitskokon.

Man ahnt, dass die drei Helden, sobald sie diesen Kokon wirklich verlassen und es in die harte Welt hinausschaffen, sie sich irgendwann genau danach wieder zurücksehen. Die Fortsetzung des Romans wird zeigen, wie es mit ihnen weitergeht. Bis dahin kann man schon mal seine eigenen wundersamen Reisen sonst wohin planen …

Nicholas Gannon: Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt, Übersetzung: Harriet Fricke, Coppenrath Verlag, 2016, 368 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

[Jugendrezension] Berliner Machenschaften

51zirbsinml-_sx350_bo1204203200_Die Geschwister Johanna und Finn aus City Crime – Blutspur in Berlin von Andreas Schlüter nehmen am ersten Kinderparlament im Bundestag teil.
Dort dürfen die Kinder entscheiden, ob neben dem Reichstag ein Abenteuerspielplatz oder ein Gamehouse gebaut wird. Aber schnell merken die Geschwister, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Erst wird Johanna fast „über den Haufen“ gefahren, dann taucht der Mann, der Johanna beinahe umgefahren hätte, auf dem Klo im Bundestag auf und droht Finn. Viele der jungen „Parlamentarier“ besitzen plötzlich die neuesten Smartphones. Werden sie etwa bestochen?

Spätestens als eine von denen, die vorher für den Abenteuerspielplatz war, plötzlich gegen ihn ist, wird auch Johanna klar, dass es um mehr als nur um das Gamehouse geht. Mit Hilfe von ihren Freunden versuchen Johanna und Finn Vieles aufzudecken. Doch nun wird es auch noch gefährlich, zum Beispiel als die Kinder in ein Büro einbrechen…

BerlinWenn ich euch jetzt neugierig gemacht habe, dann lest das Buch City Crime – Blutspur in Berlin doch auch einmal!

Ich empfehle dieses spannende Buch Jungen und Mädchen ab 10 Jahren.

Lese-Lotta, 9 Jahre

Andreas Schlüter: City Crime – Blutspur in Berlin, Tulipan, 2016, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

 

 

Das eigene Geschlecht

georgeDieses Buch beginnt mit einer grammatikalischen Irritation: Gleich im zweiten Satz wird der Name George mit weiblichen Pronomina („ihre“) kombiniert. Manche werden vielleicht an Enid Blytons George aus den Fünf Freunden denken und einfach weiterlesen. Doch im Grunde öffnet sich hier bereits das ganze Dilemma der 10-jährigen Protagonistin.

George wurde nämlich als Junge geboren, doch sie fühlt sich als Mädchen. Eigentlich immer schon. Mit drei hat sie die Röcke der Mutter angezogen, heimlich sammelt sie Mädchen- und Frauenzeitschriften, aber bis jetzt hat sie sich noch niemandem anvertraut. Selbst ihre beste Freundin Kelly denkt immer noch, dass George ein Junge ist. George selbst ist bei allem sehr wohl bewusst, dass sie transident ist – sie hat im Internet alles darüber gelesen und weiß, was auf sie zukommt.

Als nun in der Schule die Geschichte vom Schweinchen Wilbur und seiner Freundin Charlotte, der Spinne, aufgeführt werden soll, würde George gern die Rolle von Charlotte übernehmen. Kelly ist begeistert, begreift aber zunächst noch nicht den eigentlichen Hintergrund, nämlich dass George so ihrer Mutter beweisen will, dass sie ein Mädchen ist. Auch die Lehrerin ist nicht begeistert und verweigert George, trotz ihres perfekten Vorsprechens, die Rolle.
Doch Kelly findet schließlich eine Lösung …

Die Geschichte von Alex Gino, die Alexandra Ernst feinfühlig übersetzt hat, ist eine sehr klassische Coming-out-Story – mit transidenten Vorzeichen. George zweifelt an sich, kämpft gegen innere Widerstände und die Hindernisse von außen sowie das Mobbing ihrer Mitschüler. So weit eigentlich völlig normal. Und dennoch ist es bewegend zu lesen, wie aus George – mit Hilfe von Kelly und schließlich auch mit dem Rückhalt ihrer Familie – Melissa (diesen Mädchennamen wählt George für sich) wird.
Hierbei geht es mitnichten um die medizinische und psychologische Behandlung, der sich Transmenschen irgendwann unterziehen, sondern um den Schritt davor: Wie macht ein Mensch seiner nächsten Umgebung, der Mutter, die George immer „mein Junge“ nennt, dem Bruder, der schlüpfrige Witzchen reißt, oder der besten Freundin klar, dass er/sie nicht dem biologischen Geschlecht entspricht, mit dem er/sie zur Welt gekommen ist? Vielleicht ist dies die größte aller Hürden, die es für Transmenschen zu bewältigen gilt.
George zeigt jedoch auch, dass die dummen Sprüchen eines großen Bruders oder die vermeintliche Besorgnis der Mutter ganz schnell verschwinden, sobald sie wirklich begreifen, dass es diesem Menschen ein elementares Grundbedürfnis ist, sich von seinem biologischen Geschlecht zu trennen. Die Heldin, die man durch Alex Ginos liebevolle Darstellung vom ersten Satz an ins Herz schließt, gelingt dieser Schritt – und macht damit allen jungen Lesenden Mut, die ähnliche Überzeugungen und Gefühle in sich spüren.

Da sich die Vielfalt der Welt und somit auch die sexuellen Ausrichtungen der Menschen in Büchern eigentlich generell spiegeln sollte – was in machen Bereichen jedoch immer noch nicht der Fall ist –, kann man George als einen wunderbaren und wichtigen Gewinn bezeichnen. Selbst, wenn die jungen Lesenden nicht transident sind, bekommen sie eindrücklich und authentisch geschildert, was in Transmenschen vorgeht, welche Ängste sie haben und dass sie natürlich keine „Monster“ sind, sondern die liebenswertesten Menschen sein können, die man sich vorstellen kann. Genau dies sollte man Kindern eigentlich so früh wie möglich vermitteln und nicht die Augen davor verschließen oder damit abtun, das Ganze sei eine Phase und die Kinder seien noch viel zu jung. Sie sind es nicht. Weder die Lesenden, noch die Transkinder. Letztere wissen zum Teil schon erstaunlich früh, was für ein Geschlecht sie eigentlich haben.
In der öffentlichen Diskussion darum, wird die Transidentität oft auch als „Störung“ bezeichnet – was einer fürchterlichen Überheblichkeit von normativ geprägten Cis-Menschen gleich kommt, die in überkommenen Rollenverständnissen kleben geblieben sind. Es sollte heutzutage eigentlich möglich sein, allen Menschen zuzugestehen, dass sie in Sachen Gender sein können, was sie wollen. So viel Offenheit und Toleranz ist uns allen durchaus zuzumuten.

Der Weg, den die Transkinder einschlagen, ist nie ein leichter – auch das wissen die Kinder nur zu gut, wenn sie sich den täglichen Widerständen bewusst aussetzen – gerade deshalb sollte ihr engstes Umfeld es ihnen nicht noch schwerer machen. Denn je eher die Kinder die Sicherheit verspüren, bedingungslos geliebt zu werden, egal, als was sie sich fühlen, umso selbstbewusster werden sie heranwachsen. Alex Gino jedenfalls macht mit George allen Transkindern Mut, zu ihrem gewählten und gefühlten Geschlecht zu stehen und sich den Liebsten offen anzuvertrauen.

Alex Gino: George, Übersetzung: Alexandra Ernst, Fischer Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Wer sich George vorlesen lassen möchte: Der wunderbare Julian Greis hat das Buch von Alex Gino eingelesen!

Die Vertreibung aus dem Paradies

postertGeschwister sind etwas Besonderes – für jeden, der das Glück hat, Bruder und/oder Schwester zu haben. Keine Frage, sie können unglaublich nerven und nicht immer ist man einer Meinung mit ihnen. Doch, wenn man sich nicht völlig dämlich anstellt, hat man mit Geschwistern Alliierte fürs Leben.

Kein Wunder also, dass sich die 10-jährige Franka in Petra Posterts Roman Piratenschwestern riesig freut, als endlich ihre große Halbschwester Kim bei Mama, Papa und ihr einzieht. Kim ist Papas erste Tochter, die er aus einer Beziehung mit der Französin Anne hat. Franka malt sich aus, wie sie gemeinsam Sachen machen, Klamotten tauschen, Schwimmen und Shoppen gehen. Die einzige Sorge von ihr ist, dass Kim eine Tussi sein könnte.
Zu ihrem Glück ist Kim alles andere als das. Kurze Haare, große Kreolen, Lederjacke, Boots – Kim ist definitiv cool, eine Piratin eben. Franka findet sogar ziemlich schnell die ersten Gemeinsamkeiten – beide lieben Schokolinsen und das Schwimmbad.

Franka öffnet Kim all ihre Türen. Doch Kim hat natürlich ihr eigenes Leben, eine Clique und sogar einen festen Freund. So bleiben Enttäuschungen bei Franka nicht aus, wenn Kims Freund plötzlich im Schwimmbad auftaucht und die große Schwester mit Beschlag belegt.
Immer wenn Kim nicht im Haus ist, schaut Franka sich in ihrem Zimmer um, probiert heimlich die Sachen der großen Schwester an – auf der Suche nach Nähe. Als Kim sie dabei eines Tages überrascht, schämt sich Franka sehr. Wenig später ist Kim verschwunden. Franka macht sich Vorwürfe und glaubt, dass sie schuld an Kims Verschwinden ist. Sie macht sich auf die Suche nach der Schwester …

Postert verpackt in dieser ungewöhnlichen Patchwork-Schwestern-Kombination sehr geschickt, wie bei Franka das Bewusstsein erwacht, dass es nicht nur ein harmonisches Familienleben gibt, so wie sie es bis zu diesem Moment erlebt hat. Durch Gespräche mit Papa, Mama und der Oma geht der Heldin langsam auf, dass Papa mal eine andere Familie hatte, Mama sich eigentlich noch ein weiteres Kind gewünscht hatte, und Oma nicht glaubt, dass mit dem Backfisch Kim alles bestens läuft.
So wird Franka ganz sanft aus der paradiesischen Kindheit in die komplexere Zeit der Jugend befördert. Dass dabei nicht alles sofort verständlich ist, illustriert Postert ganz wunderbar an Begriffen, die Franka nicht sofort versteht. Sie erfährt, dass Begriffe wie „Schluss machen“, „Backfisch“ oder „Erdbeerwoche“ nicht immer wörtlich zu nehmen sind, sondern durchaus mehr dahinter steckt. So wie bei vielen Dingen im Leben. Sehr häufig ist eben etwas nicht immer das, für was wir es halten. Das Leben ist nun mal eine komplizierte Sache. Das begreift Fanka und mit ihr die Lesenden im Laufe der Lektüre.

Die Geschichte von Franka und Kim geht gut aus – so viel darf ich hier durchaus verraten. Und selbst wenn Franka aus dem Paradies vertrieben wird, so macht Petra Postert klar, dass das Leben mit einer großen Schwester und einer Patchwork-Familie auch in Zukunft herrliche Momente bereithalten wird. Denn manchmal kann auch die kleine Schwester der großen beistehen und helfen. Piratenschwestern ist ein wunderbares, tiefgründiges Buch für kleine Schwestern mit einem großen Vorbild.

Petra Postert: Piratenschwestern, Tulipan, 2016, 188 Seiten, ab 10, 13 Euro

Max macht süchtig

maxIn der vergangenen Wochen fand in Hamburg zum zweiten Mal das Vorlese-Vergnügen, ein Sommer-Literaturfestival für Kinder statt. Initiatoren und Programmgestalter des sind die Autoren Cornelia Franz, Katja Reider, Ulli Schubert und Andreas Schlüter vom „Hamburger Lesezeichen“. Sie haben es geschafft, dass 36 Autoren, darunter Heiko Wolz und Nina Blazon, an den unterschiedlichsten Orten in der Stadt gelesen haben: in der Flussschifferkirche, in einem alten Schienenbus der AKN, in einem Zug nach Lübeck, in einer Boxschule oder in den Fanräumen des FC St. Pauli. Coole Bücher in coolen Locations! Ein Traum für alle Zuhörer, würde ich sagen. Insgesamt 2500 Kinder haben sich an nur sechs Tagen vorlesen lassen.

Ich hatte das Vergnügen, die Lesung von Lisa Dickreiter aus ihrem neuen Max-Band mitzuerleben – zusammen mit etwa 70 Kindern. Zwar kannten die wenigsten Kinder die Reihe um Max und seine Renterfreunde, die gemeinsam im Altenheim auf der Burg Geroldseck leben, doch Lisa Dickreiter verstand es hervorragend, in die Örtlichkeiten und die Besonderheiten dieser Freundschaft einzuführen. Unterbrochen von Gesprächen mit ihren jungen Zuhörer_innen las Dickreiter über eine Stunde. Drei Mal forderten die Kinder Zugaben und hätten am liebsten selbst aus dem Buch weiter vorgelesen. Ein größeres Kompliment kann man Max & seinen Schöpfern wohl nicht machen! Und das mit Recht.

Denn es geht extrem spannend in diesem dritten Teil der Reihe zu. Nach einem Besuch beim Tierarzt – Maxens Kater Motzkopf ist leider zu dick – wird das Tier auf offener Straße von Männern mit einem üblen Drachentattoo entführt. Die Polizei glaubt Max allerdings kein Wort, was auch dran liegt, dass Max keine stichhaltigen Beweise liefern kann. Max ist am Boden zerstört, vermisst Motzkopf unsagbar, doch dann erwacht sein Detektivgeist wieder. „Für Motzkopf“ lautet die Parole, mit der der Titelheld, die Schauspielerin Vera, Professor Kilian und Fußballtrainer Horst sich auf die Suche nach dem Haustier machen. Sie finden heraus, dass in der ganzen Stadt zwanzig Tiere verschwunden sind. In den nächsten Tagen sollen sie in ein Tierversuchslabor gebracht werden. Der absolute Horror für jeden Haustierbesitzer. Max und der wilden 7 bleibt nicht viel Zeit.

Das Thema Haustiere hat bei der Lesung die Zuhörer_innen besonders gefesselt. Fast jedes Kind konnte nämlich von eigenen Haustieren berichten. Sie werden daher den Schmerz, den Max beim Verlust von Motzkopf empfindet, bei der vollständigen Lektüre sehr gut nachvollziehen können.

Als Lesende ist man aber sowieso immer ganz dicht bei Max und seinen Gefühlen, da das Autoren-Duo aus einer engen personalen Sicht von Max erzählt. Das heißt, nur das was der Held sieht und empfindet, erfährt der Lesende. Ich mag diese Perspektive sehr, die in meinen Ohren einen Hauch literarischer klingt, als die momentan sehr beliebte Ich-Erzählart. Vielleicht rückt Max für mich daher immer mehr in die Nähe von Erich Kästners Geschichten.

Auf jeden Fall überzeugen Dickreiter und Oelsner – wieder einmal – mit der perfekt gelungenen Mischung aus Action, kindlicher Unsicherheit und Gefühlschaos, kombiniert mit Mut, Überwindung und einer gehörigen Portion Humor (unschlagbar: Horstens Namensschwäche!). Kinder können sich hier wiederfinden – auch die Mädchen, die nach der Lesung sofort fragten, wo man das Buch denn ausleihen könne –, sie können mitfiebern und wissen, dass Max, trotz aller Aufregung, immer gut aufgehoben ist und von großartigen Freunden und einer manchmal strengen, aber sehr liebevollen Mutter, die dieses Mal auch ein Geheimnis haben darf, unterstützt wird.

Die Folge von allem ist, dass man als Lesende süchtig wird nach Max und Konsorten. Die Kinder haben das mit ihren vehementen Nachfragen ganz deutlich gezeigt. Mir ging es ebenso – ich musste Max nach der Veranstaltung sofort zu Ende lesen. Zum Glück ist der nächste Band bereits in Arbeit. Freuen wir uns drauf!

Lisa-Marie Dickreiter & Winfried Oelsner: Max und die wilde 7 – die Drachen-Bande, Band 3, Oetinger, 2016, 255 Seiten, ab 8, 12 Euro

[Jugendrezension] Ein brennendes Problem

51BxFKbFxoL._SX315_BO1,204,203,200_Wer will nicht mit magischen Tieren reden können? Pip Bartlett aus dem Buch Pip Bartlett und die magischen Tiere – Die brandgefährlichen Fussels von Maggie Stiefvater & Jackson Pearce kann es.
Es muss aber auch nicht immer spaßig sein, mit magischen Tieren zu reden. Es kann auch sein, dass man deswegen 3 Cellos, 40 einwandfreie Burger, ganz viele Steine (Pips Vater nennt sie Geoden) und eine Brille schrottet. Genau das ist Pip Bartlett passiert.

Und was ist, wenn man sagt, dass das nicht mit Absicht war? Trotzdem: den Rest des Schuljahres Hausarrest.
Das Chaos ist auch daran schuld, dass sie die Sommerferien bei ihrer Tante Emma in einer Kleinstadt verbringen muss. Schlimm ist es eigentlich nicht, denn Pips Tante arbeitet in einer Tierarztpraxis für magische Tiere. Dort kann sie mit ganz vielen verschiedenen Tieren reden. Doch dann wird es brandgefährlich und das wortwörtlich, denn es tauchen überall Fussels auf. Die gehen immer in Flammen auf, wenn sie sich erschrecken oder wenn sie sich freuen. Zusammen mit ihrem neuen Freund Thomas versucht Pip herauszufinden, warum die Tierchen in die Kleinstadt gekommen sind. Zu doof, dass Pip mit allen magischen Tieren reden kann, außer mit Fussels.

Wird Pip es schaffen, die Fussels an einen Ort zu bringen, wo sie keinem schaden? Das musst du selber herausfinden. Ich empfehle das Buch Jungen und Mädchen von 8-11 Jahren, die sich für spannende und lustige Bücher interessieren.

Lese-Lotta (8 Jahre)

Maggie Stiefvater & Jackson Pearce: Pip Bartlett und die magischen Tiere – Die brandgefährlichen Fussels, Übersetzung: Stefanie Frida Lemke, Heyne fliegt, 2016, 240 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

IMG_20160526_111950PS: Lese-Lotta hat diese Rezension als ein buntes Gesamtkunstwerk gestaltet. Ihre Mutter hatte beim Abtippen zwar etwas Mühe, weil die Neonfarben doch etwas schwer zu lesen sind, aber ich finde es großartig. Danke, liebe Lese-Lotta!

ulrike

[Jugendrezension] Die Welt ist ein chaotischer Ort

antonIn der Welt von Anton und Marlene, die sich gerade erst kennengelernt haben, herrscht plötzlich Chaos. In dem Roman Anton und Marlene und die tatsächlichen Tatsachen von Antje Herden ist plötzlich nichts mehr wie es war oder wie es sein soll. Die Kinder begegnen „kriechender Erde“, „seufzenden Moosbüscheln“, „atmenden Steinen“ und „trockenem Regen“. Wie kann es etwas geben, das es gar nicht gibt?

Vier Wissenschaftler und Professoren, die Marvel Helden, erforschen, ob alle Dinge, die vorstellbar sind, auch tatsächlich wahr werden können. Aufgrund ihrer Experimentierfreudigkeit gerät so einiges außer Kontrolle. Eigentlich experimentieren sie nur in ihrem Versuchszentrum, einem Raum unterhalb von dem Ballettstudio, in dem Marlene tanzt. Einer der Wissenschaftler hat allerdings eigene, geheime Pläne. Er möchte sich ein eigenes Imperium aufbauen und zum Herrscher in einer Welt des Chaos werden.
Anton und Marlene wollen dies verhindern und so suchen sie in der wirklichen Welt nach Dingen, die dort nicht hingehören. Dennoch nimmt das Chaos zu, es passieren immer mehr merkwürdige Sachen, es verschwinden irgendwann sogar Kinder, ohne dass sich jemand dafür zu interessieren scheint. Außerdem haben Anton und Marlene das Gefühl, ständig beobachtet zu werden…

Doch, ob die beiden es schaffen, die chaosfreie Welt zu retten und ob die verschwundenen Kinder wieder auftauchen, müsst ihr selbst herausfinden…
Insgesamt hat mir das Buch Anton und Marlene und die tatsächlichen Tatsachen ganz gut gefallen, wobei es auch in meinem Kopf manchmal ein bisschen chaotisch zuging. Ich konnte mich gut in die Welt von Anton und Marlene hineinversetzen und an manchen Stellen wurde das Buch richtig spannend.
Ich empfehle das Buch Jungen und Mädchen ab 10 Jahren, die Spannung mögen und viel Fantasie haben!

Lese-Lotta (8 Jahre)

Antje Herden: Anton und Marlene und die tatsächlichen Tatsachen, Illustration: Regina Kehn, Fischer KJB, 2016, Bd.2, 256 Seiten,  ab 10, 12,99 Euro

[Gastrezension] Fantastico!

mathildeAcht Geschichten versammelt dieser von Ulf K. pfiffig bebilderte Band der norwegischen Schauspielerin und Sängerin Andrea Bræin Hovig rund um die sechsjährige Wilde Mathilde und ihren Papa, den Christel Hildebrandt knackig und frech übersetzt hat.

Mathilde und Papa leben allein, wo Mama ist, spielt keine Rolle. Es geht um die Beziehung Tochter-Vater, um Mitmenschen, Ausflüge, Feste. Da wird aus dem nörgeligen Nachbarn Iversen, dem stets alles zu laut ist, plötzlich ein Rock-Fan. Weil ihn die Begeisterung der luftgitarrenspielenden Mathilde so mitreißt? Beim Arzt trifft Mathilde auf Dr. Mari Sville, die derart überarbeitet ist, dass sie alle Wörter verdreht und selbst das Bett hüten müsste. Kurzerhand assistiert die fieberkranke Patientin und zeigt Frau Doktor erst einmal, wie sie ihr Stethoskop richtig benutzt. Später begegnet sie Mari zusammen mit deren Nichte Liv im Schwimmbad. Papa meint, seine Tochter müsse schwimmen lernen, doch der graust es vorm Wasser. Als es Mathilde schließlich zu bunt wird, erklärt sie dem Schwimmlehrer mutig-laut, dass sie Angst habe und deshalb nicht weiter mitmachen werde. Der turbulente Tag endet bei heißem Kakao mit Liv, Mari und Papas gerötetem Gesicht. Ist der vielleicht verliebt?

Mathilde erkennt die Wahrheit oft fixer als Papa, auch bei ihrem Zeltausflug. Hat Papa wirklich Ahnung? Nun, das Zelt will nicht stehen, dazu regnet es in Strömen. Zum Glück entdeckt sie ein hell beleuchtetes Haus mitten im Wald, und der schrullige Besitzer gewährt Obdach. Zupacken, das kann die Wilde Mathilde auch im Osterurlaub, als Papa unbedingt Ski fahren will. Aber die Piste ist nix für sie, deshalb wird gestreikt – und es folgen lustige Tage ohne Sportgedöns. Doch nicht nur Papa lernt dazu. Als Mathilde Weihnachten mit fremden Menschen feiern soll statt mit Onkel Torstein, zieht sie aus Protest ihr Zwiebelkostüm an. Papa nimmt’s gelassen, und Mathilde erlebt ihr schönstes Fest mit Riesentanne, Geschenketausch und Scharade.

Mathilde und Papa sind ein absolutes Traumpaar – herzumgarnend, ehrlich, liebevoll. Sie probieren vieles aus, lernen voneinander, vertrauen sich, selbst wenn es manchmal Missverständnisse gibt. Und weiß Mathilde einmal keinen Rat, dann wackelt sie einfach mit dem Po und ruft: „Ich bin fantastico.“

Zum Nachahmen empfohlen!

Heike Brillmann-Ede

Andrea Bræin Hovig: Die Wilde Mathilde. Geschichten zum Vorlesen, Illustration: Ulf K., Übersetzung: Christel Hildebrandt, Gerstenberg Verlag, 2016, 120 Seiten, ab 5, 12,95 Euro

Heldenhaft offenherzig

tessaWenn man sich auf Montage freut, kann es eigentlich nur einen Grund geben: Man sieht nach einem endlos erscheinenden Wochenende einen geliebten Menschen wieder. Das jedenfalls stellt Paul, 11 Jahre, in Lena Hachs erstem Kinderbuch Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis ziemlich verwundert fest.

Seit Tessa mit ihrem Vater im Haus gegenüber eingezogen ist, hat Möchte-gern-Detektiv Paul eine neue ZP – Zielperson – direkt vor der Tür. Paul beobachtet, macht sich Notizen und ja, man kann es nicht anders sagen, er entbrennt auf den ersten Blick für die rotgelockte Tessa, die ihn irgendwie an sein Lieblingseis, Kirsch-Sahne, erinnert.

Doch die Liebe wäre langweilig, würde sie einfach so geschehen. Paul tastet sich langsam an Tessa heran, beobachte sie auf dem Weg zur Schule und im Unterricht. Im Gegensatz zu Paul ist Tessa ein Mathegenie, allerdings mit merkwürdigen Eigenheiten: die Pause verbringt sie im Gebäude, auf der Straße macht sie merkwürdige Hüpf- und Trippelschritte, freundliche Angebote vom beliebtesten Mädchen der Klasse schlägt sie aus.

Jeder andere Junge hätte vermutlich die Segel gestrichen, sich an die Stirn getippt und wäre bolzen gegangen. Nicht so Paul. Das wohlige Gefühl im Bauch, sobald er Tessa sieht, ist einfach zu schön. Und merkwürdig sind wir doch alle ein bisschen. Also bleibt er dran und knüpft tatsächlich erste freundschaftliche Bande zu Tessa. Nach und nach bekommt er heraus, warum Tessa ständig den Inhalt ihres Schulrucksackes kontrolliert, Rillen ausweicht und die Erbsen erst zählen muss, bevor sie sie isst.

Lena Hach erzählt in Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis in liebevollem, leichtem Ton und einer Extraportion Sahne-Humor vom ersten Verliebtsein und von der Großherzigkeit von Kindern, anderen ihre „Macken“ zuzugestehen. Natürlich erfährt man im Verlauf des Buches, dass Tessa diese Macken nicht einfach so hat, sondern ein ernsthaftes psychologisches Problem dahinter steckt. Doch das ist im ersten Augenblick völlig wumpe. Paul sieht die Schönheit von Tessa, ganz gleich, womit sie im Leben zu kämpfen hat. Dieser Blick geht uns Erwachsenen leider oftmals viel zu schnell verloren, bzw. wir haben ihn schon gar nicht mehr, sehen wir doch meist nur die Probleme und Hindernisse, die bei einer Begegnung mit einem Fremden angeblich auf uns zukommen. Wir sollten uns mehr von Paul und seiner Offenheit abschauen, seiner uneingeschränkten Bereitschaft zu helfen – egal, ob das dann wirklich hilft oder eher kontraproduktiv ist. Paul ist auf jeden Fall ein Held, der klar macht, dass eine psychische Krankheit nicht der einzige und ausschließliche Aspekt eines Menschen ist, nachdem dieser bewertet werden darf.

Heldenhaft finde ich zudem die Erzählperspektive, die Lena Hach gewählt hat: Offensichtlich ist Paul der Ich-Erzähler, was jetzt nicht so etwas Besonderes wäre, ABER er spricht Tessa beständig an, so dass er die meiste Zeit in der zweiten Person Singular erzählt und das alles in der Vergangenheitsform. Das ist für mich so was von erfrischend! Die ganzen Ich-Erzählungen im Präsens aus den vergangenen Jahren haben mich echt geschafft, ich konnte nicht mehr – ernsthaft, manchmal habe ich Bücher sofort wieder zugeschlagen, wenn mir eine Ich-Figur im Präsens eine Geschichte erzählen wollte. Das ist sicher nicht nett und nicht fair, aber es war wie zu viel Kuchen, den man irgendwann nicht mehr runterbekommt – und jetzt gab’s zur Abwechslung endlich mal erzähltechnisches Kirsch-Sahne-Eis, vor dem ich höchsten Respekt  habe.  Diese Ich-Du-Kombination ist nicht ganz einfach durchzuziehen, vor allem, wenn es dann um vorzeitige Geschehnisse geht. Doch hier ist es perfekt gelungen. Der Ton ist leicht, man hört Paul ununterbrochen mit Tessa quatschen, selbst wenn sie nicht anwesend ist. Er wächst einem bereits nach den ersten Sätzen an Herz. Und durch dieses „Du“ kommt dem Leser auch Tessa ganz nah. Das Ich existiert nur durch das Du, so ähnlich sagte es Martin Buber. Es zeugt für mich vom höchsten Grad der Liebe. Und den zeigt uns Paul – wie gesagt – ganz heldenhaft.

Paul und Tessas Geschichte wird von leichten, sehr treffenden schwarzweiß Illustrationen von Kerstin Meyer begleitet. Der Held und seine Angebetete sind hervorragend getroffen, sie passen perfekt zum Text.
Doch – mag sein, dass ich jetzt pingelig werde, aber ich habe vor einiger Zeit schon mal darauf aufmerksam gemacht und werde es auch in Zukunft tun – eines hat mich gestört: das Bild der Großeltern! Ja, Pauls Großeltern sind alt und schon ewig miteinander verheiratet. Das heißt aber nicht, dass sie aussehen müssen, wie vor hundert Jahren. Ich sage nur: Nena ist Großmutter. Sie ist natürlich nicht das Maß aller Dinge, doch zur Orientierung, dass Großeltern in Bilder- und Kinderbüchern auch mal etwas jünger, modischer, heutiger dargestellt werden sollten, könnte sie schon dienen.
Sollte ich je die Illustration von jugendlichen Großeltern in die Hand bekommen, jenseits von irgendwelchen Oma- und Opa-Klischees, ich werde ein Fest feiern.

Bis dahin feiere ich Paul als den unerschrockenen, offenherzigen Held und Role-Model zukünftiger (Männer)Generationen!

Lena Hach: Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis, Illustration: Kerstin Meyer, mixtvision, 2016, 248 Seit, ab 10, 12,90 Euro

[Jugendrezension] Auch Zaubern will gelernt sein

magieKönnt ihr euch vorstellen, von eurem Vater zur Tante geschickt zu werden, um eine besondere Schule zu besuchen? Sicher nicht …

Doch genau so ergeht es Nory aus Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel von Sarah Mlynowski,  Emily Jenkins und Lauren Myracle. Eigentlich möchte Nory an die „Genie-Akademie“, eine Schule für besonders begabte Kinder, die magische Fähigkeiten haben und an der ihr Vater Schulleiter ist.
Doch bei ihrer Aufnahmeprüfung geht einiges schief. Statt sich in eine schwarze Katze zu verwandeln, wird sie zur „Dratze“, einer Mischung aus Drache und Katze, beißt ihrem Vater kräftig in die Hand und auch andere Aufgaben kann sie nicht wie gewünscht lösen…
Daraufhin muss Nory ihre Familie völlig überraschend verlassen, was sie aber erst erfährt, als ihre Tante im Wohnzimmer von Norys Familie auftaucht, um sie mitzunehmen. Nun soll sie eine Schule in der Nähe des Hauses ihrer Tante besuchen, genauer gesagt soll sie in eine Klasse gehen mit Kindern, die ihre magischen Fähigkeiten noch nicht vollständig unter Kontrolle haben.
Nory ist alles andere als begeistert, ist traurig und fühlt sich abgeschoben. Nur die Ferien kann sie noch mit ihrer Familie verbringen.

Was Nory nun alles in der neuen Schule erlebt, wen sie kennenlernt, ob sie neue Freunde findet und wie sich ihre magischen Fähigkeiten entwickeln, das kannst du in Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel selbst nachlesen. Ich kann dir versprechen, es ist sehr unterhaltsam, spannend und natürlich magisch.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich freue mich schon riesig auf die Veröffentlichung des nächsten Bandes!

Ich empfehle das Buch Jungen und Mädchen ab 8 Jahren, die sich für Magie und Freundschaft interessieren und die gern einmal in eine fremde Haut „schlüpfen“ würden.

Lese-Lotta (8)

Sarah Mlynowski/Emily Jenkins/Lauren Myracle: MurksMagie – Das verflixte Klassen-SchlamasselÜbersetzung: Katrin Segerer, Fischer KJB, 2016, 208 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Konrad und der Bunker

konradGeschichte als Schulfach kann eine ziemlich dröge Angelegenheit sein, die die Schüler regelmäßig zur Verzweiflung treibt. So war es jedenfalls in meiner Erinnerung. Doch sobald man einen persönlichen Bezug zur Geschichte entdeckt, wird es interessant. So erlebt es der Protagonist in Marina Wildners Roman Finsterer Sommer.

Konrad ist 13, hat viel zu lange Arme und kommt sich so kurz vor der Pubertät wie ein unbeholfenes Monster vor. Zusammen mit seinen Eltern und seiner Cousine Lisbeth verbringt er die Sommerferien an der Atlantikküste Frankreichs. Die Mutter wollte aus unerfindlichen Gründen dorthin. Das Wetter ist nasskalt, Erholung Fehlanzeige, die oberschlaue Lisbeth nervt, und Konrad eckt irgendwie überall an. Sommerferien gehen eigentlich anders.

Am Strand vor der Bungalowanlage jedoch liegt ein Bunker halb versunken im Meer. Erstaunlich viele Menschen interessieren sich für den muschelüberzogenen Betonklotz. Eine Joggerin, ein fluchendes Pärchen, das Konrad für Agenten hält, ein seltsamer Mann mit Hund, der behauptet Schriftsteller zu sein. Lisbeth hält Konrad Vorträge über die Bunker an der französischen Westküste, die während des 2. Weltkriegs von der Organisation Todt errichtet worden waren.
Nach und nach kommen Konrad und Lisbeth dahinter, dass dieser Ort etwas mit ihrer Familie und einem Streit zwischen ihren Müttern zu tun hat. Sie sammeln Informationen, beobachten und ziehen ihre Schlüsse. Konrad nicht ganz so schnell wie Lisbeth, was ihn ziemlich wurmt. Schließlich finden sie heraus, was den Bunker (ein wunderbares Bild für die undurchdringliche, unauslöschbare Schuld einer Familie und einer Nation), einen alten einbeinigen Mann und ihren Urgroßvater verbindet – und noch bis heute in ihr Leben nachwirkt.

Martina Wildner, die 2014 mit Königin des Sprungturms den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen hat, ist mit Finsterer Sommer eine überaus vielschichtige und spannende Geschichte mit Krimielementen gelungen, in der sie heutige Familienverhältnisse, Erbstreitereien, Tod und den Wunsch nach schönen Sommerferien mit dem Erbe der Vergangenheit verbindet. Sie lässt Konrad die Erlebnisse erzählen und zeigt so, wie sich die Taten des Urgroßvaters, dessen Namen der Junge nicht einmal kannte, immer noch nachwirken. Konrad formuliert es so: „Aber nun war diese ferne Zeit wieder da, mit einem Schlag, mit diesem Namen, und sie lebte in mir weiter. Ich war verwandt mit einem schlimmen Nazi. Ich fühlte mich hässlich und schmutzig und schämte mich plötzlich, dass so jemand wie ich in Frankreich, das damals von Deutschland einfach erobert worden war, Urlaub machen konnte.“

Eindrucksvoller habe ich das Empfinden von kollektiver Schuld und das Verantwortungsgefühl für die Vergangenheit für junge Leser, die auf der Schwelle zum Teenageralter stehen, bis jetzt noch nicht gelesen.
Wenn Kriegskinder und Kriegsenkel heute glauben, sie haben genügend aufgearbeitet und sich ihrer Vergangenheit gestellt, so zeigt Wildner, dass das nicht genug ist. Auch die Urenkelgeneration, die gerade heranwächst, muss erfahren, was in den eigenen Familien damals passiert ist, mag es für die Kinder auch gefühlt unendlich lange her sein.
Die allgemeine Behandlung der Schrecken der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges ist dabei natürlich unabdingbar, doch den Blick auf die persönliche Ebene zu lenken, auf den kleinsten gesellschaftlichen Nukleus, die Familie, gehört ebenso dazu. Das macht Martina Wildner unmissverständlich klar.

Finsterer Sommer könnte ich mir als Schullektüre vorstellen. Sprachlich bleibt Wildner durch ihren Erzähler Konrad dicht an der Zielgruppe und schildert somit die geschichtlichen Hintergründe verständlich, ohne die Leser mit den allergrößten Horroszenarien zu schocken.
Lisbeth, die schlaue Cousine, macht deutlich, dass Wissen wichtig ist und es hilfreich sein kann, auch mal im Duden einen Begriff nachzuschlagen. Hier treiben nicht die nervigen Eltern zum Lernen an, sondern Lisbeth lebt es Konrad auf Augenhöhe vor – was am Ende wirkungsvoller ist alle möglichen elterlichen Ermahnungen.
Von diesem didaktischen Kniff mal abgesehen, wird meiner Ansicht nach jede/r junge Leser/in nach dieser Lektüre Nachforschungen anstellen wollen, was in der eigenen Familie vor über 70 Jahren geschehen ist. Die Aufarbeitung und Bewahrung von Historie sowie die Vorbeugung vor Wiederholung des Schreckens könnten somit nicht besser in der Urenkelgeneration verankert werden.

Martina Wildner ist die bewundernswerte Meisterleistung gelungen, eine spannende Geschichte für Jungen und Mädchen mit Tiefe, historischer Aufklärung und dem Bezug zu unserer Gegenwart zu schaffen, die auch nach dem Lesen weiterwirkt.

Martina Wildner: Finsterer Sommer, Beltz & Gelberg, 2016,  238 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

AusLese 2016

cneutNach fünf Jahren Abwesenheit hat es mich dieses Jahr mal wieder auf die Leipziger Buchmesse getrieben. Pressekollegen und Auftraggeber treffen, Hallenluft schnuppern, Cosplayer bewundern, Bücher bestaunen und auf Inspirationssuche gehen. Zusätzlich stand die Nominierungsveranstaltung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 auf dem Programm. Die Verleihung habe ich in Frankfurt bereits mal erlebt, aber noch nie die Nominierung.

Das Schöne an der Sache war dann, dass diese Nominierungen für mich zu einer ganz persönlichen Freude wurde. Denn in der Kategorie Bilderbuch ist „Der goldene Käfig“ von Anna Castagnoli und Carll Cneut der Bohem Press ausgewählt worden – in meiner Übersetzung. Ein absolutes Glücksgefühl! Dieses opulente Bilderbuch habe ich hier auch schon mal vorgestellt.

Die Nominierungen waren jedoch nicht nur deshalb für mich interessant, denn ich nehme sie, seit ich diesen Blog betreibe, als Anlass noch einmal zurückzudenken und zu vergleichen, welche Bücher ich gelesen und hier rezensiert habe. Bei etwas 8000 Neuerscheinungen im Jahr im Bereich von Kinder- und Jugendbuch kann ich natürlich neben meinem normalen Job nicht alles lesen, und auch mit Hilfe von meinen Gastrezensentinnen kommen wir lange nicht auf alle preiswürdigen Titel. Doch im vergangenen Jahr haben wir ein ganz gutes Näschen gehabt, wie ich finde. Dazu trägt aber auch die Wahl der Jugendjury bei, die erstaunlich harte und politische Bücher ausgewählt hat – für die ich ein Faible habe. So waren da die Überschneidungen am höchsten.

Ein paar der noch nicht gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Monaten bis zur Preisverleihung noch nachholen, und eventuell darüber berichten.

Hier kommen jetzt aber erst einmal alle Nominierten – samt der Links zu den Rezensionen auf letteraturen.

Bilderbuch

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herz des affen

 

 

 

kako

 

 

 

 

 

 

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Marcelo Pimentel (Illustration): Eine Geschichte ohne Ende. Ein Bilderbuch aus Brasilien, Baobab Books, 2015, 20 Seiten,  ab 2, 14,90 Euro

Marianne Dubuc (Text, Illustration): Bus fahren, Übersetzung: Julia Süßbrich, Beltz & Gelberg, 2015, 40 Seiten, ab 3, 13,95

Anja Mikolajetz (Text, Illustration): Das Herz des Affen, Aladin, 2015, 32 Seiten, 16,95 Euro

Emmanuelle Polack (Text)/Barroux (Illustration): Kako, der Schreckliche, Übersetzung: Babette Blume, mixtvision, 32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Edward van de Vendel (Text)/Anton van Hertbruggen (Illustration): Der Hund, den Nino nicht hatte, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Press, 2015, 40 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Anna Castagnoli (Text)/Carll Cneut (Illustration): Der goldene Käfig oder Die wahre Geschichte der Blutprinzessin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten, ab 6, 28, 95 Euro

 

Kinderbuch 

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Uwe-Michael Gutzschhahn (Herausgeber)/Sabine Wilharm (Illustration): Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, cbj Verlag, 2015, ab 6, 19,99 Euro

Frida Nilsson (Text)/Anke Kuhl (Illustration): Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!  Übersetzung: Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt Verlag, 2015, 304 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Stefanie Höfler (Text)/Franziska Walther (Illustration): Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg, 2015, 140 Seiten,  ab 11, 12,95 Euro

Ann M. Martin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2015, 240 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

Ross Montgomery: Alex, Martha und die Reise ins Verbotene Land, Übersetzung: André Mumot, Carl Hanser Verlag, 2015, 336 Seiten,  ab 11, 14,90 Euro

 

Jugendbuch

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Erin Jade Lange: Halbe Helden, Übersetzung: Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, 2015,  ab 12, 16,95 Euro

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Königskinder, 2015, 368 Seiten, ab 12, 17,99 Euro, besprochen hier.

Mariko Tamaki (Text)/Jillian Tamaki (Illustration): Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 12, 29,00 Euro

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute, Rowohlt Rotfuchs, 2015, 464 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Rainbow Rowell: Eleanor & Park, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, 2015, 368 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

 

Sachbuch

abc.de ShackletonwetterleibnizEislandsamia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Iwona Chmielewska (Text, Illustration): abc.de, Gimpel Verlag / Verlag Warstwy 2015, 96 Seiten, ab 6, 19,90 Euro

William Grill (Text, Illustration): Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015,  80 Seiten, ab 8, 19,99 Euro, besprochen hier.

Britta Teckentrup (Text, Illustration): Alle Wetter, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 9, 24,95 Euro

Jean Paul Mongin (Text)/Julia Wauters (Illustration): Leibniz oder die beste der möglichen Welten, Übersetzung: Heinz Jatho, Diaphanes Verlag, 2015, 64 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Kristina Gehrmann (Text, Illustration): Im Eisland, Hinstorff Verlag, 2015, 224 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Reinhard Kleist (Text, Illustration): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen Verlag, 2015, 152 Seiten, ab 14, 17,90 Euro, besprochen hier.

 

Preis der Jugendjury

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nuri

 

bellmont
tagebuch
khmer

 

 

Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt, Übersetzung: Simone Wiemken, Dressler Verlag, 2015, 336 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Dirk Reinhardt: Train Kids,  Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro, besprochen hier.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger Verlag, 2015, 528 Seiten, ab 14, 19,99 Euro, besprochen hier.

Matthew Quick: Goodbye Bellmont, Übersetzung: Knut Krüger, dtv, 2015, 256 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem Herzen, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2015, Seiten, ab 16, 14,99 Euro, besprochen hier.

Herzlichen Glückwunsch allen Nominierten!

Die Gewinner werden am 21. Oktober 2016 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt – in doppeltem Sinne …

 

[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro

[Jugendrezension] Pirateske Schatzsuche

61dHKVlRYXL._SX324_BO1,204,203,200_Was würde man machen, wenn auf dem Supermarktparkplatz plötzlich ein riesiges Piratenschiff auftaucht? Vor diese Frage wird das Mädchen Marill im Buch Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte von Carrie Ryan und John Parke Davis gestellt. Auf den insgesamt 476 Seiten wird die Frage gelöst, aber alles ist noch viel komplizierter, als es am Anfang erscheint.

Als Marill das Schiff entdeckt hat, fragt ein Mann sie viele Dinge, von denen sie nichts weiß. Als sie erfährt, dass es sich um Magier handelt, die Menschen heilen können, klettert sie an Bord, da ihre Mutter krank ist. Jedoch war das Schiff schon wieder im Aufbruch, und plötzlich befindet sie sich in einer anderen Welt, die ziemlich verwirrend ist. Um wieder nach Hause zu kommen, braucht Marill die Überallkarte.

Kurz zur Erläuterung, da diese Parallelwelt sehr kompliziert aufgebaut ist, und sehr vereinfacht gesagt: Es gibt den Großen Strom, an oder in dem alle Dinge dieser Welt liegen. Um als Mensch wieder zurück in die Menschenwelt zu kommen, benötigt man die Überallkarte. Diese besteht aus einer Windrose, einer Karte, einem Band usw.

Zum Glück hat Marill durch die Piraten Helfer, die mit ihr nach der Karte suchen. Und Fin, ein Meisterdieb aus Charrot Quay, einem sehr, sehr verrückten Ort, wo einige Menschen fliegen können, schließt sich auch noch an. Zuerst suchen Marill & Co. nach der Windrose und begeben sich damit auf eine Reise, die bis ins tiefste Eis führt. Doch sie sind nicht die Einzigen …

Ich fand das Buch sehr schön, obwohl ich eher selten derartige Geschichten aus dem Fantasybereich lese. Es gibt aber einen großen Kritikpunkt: Das Buch ist viel zu kompliziert. Man braucht sehr lange, bis man die Welt von Fin und den Piraten versteht. Trotzdem kann ich das Buch vor allem für schnell denkende Menschen durchaus weiterempfehlen.

Ich halte das Buch für Leser ab 10 oder 11 Jahren geeignet. Für Jüngere ist es einfach zu verworren und zu aufregend, vielleicht sogar zu gruselig.

Lector03 (12)

Carrie Ryan/John Parke Davis: Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte, Übersetzung: Wolfram Ströle, Fischer Sauerländer, 2015, ab 10, 480 Seiten, 14,99 Euro