[Jugendrezension] Auch Zaubern will gelernt sein

magieKönnt ihr euch vorstellen, von eurem Vater zur Tante geschickt zu werden, um eine besondere Schule zu besuchen? Sicher nicht …

Doch genau so ergeht es Nory aus Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel von Sarah Mlynowski,  Emily Jenkins und Lauren Myracle. Eigentlich möchte Nory an die „Genie-Akademie“, eine Schule für besonders begabte Kinder, die magische Fähigkeiten haben und an der ihr Vater Schulleiter ist.
Doch bei ihrer Aufnahmeprüfung geht einiges schief. Statt sich in eine schwarze Katze zu verwandeln, wird sie zur „Dratze“, einer Mischung aus Drache und Katze, beißt ihrem Vater kräftig in die Hand und auch andere Aufgaben kann sie nicht wie gewünscht lösen…
Daraufhin muss Nory ihre Familie völlig überraschend verlassen, was sie aber erst erfährt, als ihre Tante im Wohnzimmer von Norys Familie auftaucht, um sie mitzunehmen. Nun soll sie eine Schule in der Nähe des Hauses ihrer Tante besuchen, genauer gesagt soll sie in eine Klasse gehen mit Kindern, die ihre magischen Fähigkeiten noch nicht vollständig unter Kontrolle haben.
Nory ist alles andere als begeistert, ist traurig und fühlt sich abgeschoben. Nur die Ferien kann sie noch mit ihrer Familie verbringen.

Was Nory nun alles in der neuen Schule erlebt, wen sie kennenlernt, ob sie neue Freunde findet und wie sich ihre magischen Fähigkeiten entwickeln, das kannst du in Murks Magie – Das verflixte Klassen Schlamassel selbst nachlesen. Ich kann dir versprechen, es ist sehr unterhaltsam, spannend und natürlich magisch.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich freue mich schon riesig auf die Veröffentlichung des nächsten Bandes!

Ich empfehle das Buch Jungen und Mädchen ab 8 Jahren, die sich für Magie und Freundschaft interessieren und die gern einmal in eine fremde Haut „schlüpfen“ würden.

Lese-Lotta (8)

Sarah Mlynowski/Emily Jenkins/Lauren Myracle: MurksMagie – Das verflixte Klassen-SchlamasselÜbersetzung: Katrin Segerer, Fischer KJB, 2016, 208 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Konrad und der Bunker

konradGeschichte als Schulfach kann eine ziemlich dröge Angelegenheit sein, die die Schüler regelmäßig zur Verzweiflung treibt. So war es jedenfalls in meiner Erinnerung. Doch sobald man einen persönlichen Bezug zur Geschichte entdeckt, wird es interessant. So erlebt es der Protagonist in Marina Wildners Roman Finsterer Sommer.

Konrad ist 13, hat viel zu lange Arme und kommt sich so kurz vor der Pubertät wie ein unbeholfenes Monster vor. Zusammen mit seinen Eltern und seiner Cousine Lisbeth verbringt er die Sommerferien an der Atlantikküste Frankreichs. Die Mutter wollte aus unerfindlichen Gründen dorthin. Das Wetter ist nasskalt, Erholung Fehlanzeige, die oberschlaue Lisbeth nervt, und Konrad eckt irgendwie überall an. Sommerferien gehen eigentlich anders.

Am Strand vor der Bungalowanlage jedoch liegt ein Bunker halb versunken im Meer. Erstaunlich viele Menschen interessieren sich für den muschelüberzogenen Betonklotz. Eine Joggerin, ein fluchendes Pärchen, das Konrad für Agenten hält, ein seltsamer Mann mit Hund, der behauptet Schriftsteller zu sein. Lisbeth hält Konrad Vorträge über die Bunker an der französischen Westküste, die während des 2. Weltkriegs von der Organisation Todt errichtet worden waren.
Nach und nach kommen Konrad und Lisbeth dahinter, dass dieser Ort etwas mit ihrer Familie und einem Streit zwischen ihren Müttern zu tun hat. Sie sammeln Informationen, beobachten und ziehen ihre Schlüsse. Konrad nicht ganz so schnell wie Lisbeth, was ihn ziemlich wurmt. Schließlich finden sie heraus, was den Bunker (ein wunderbares Bild für die undurchdringliche, unauslöschbare Schuld einer Familie und einer Nation), einen alten einbeinigen Mann und ihren Urgroßvater verbindet – und noch bis heute in ihr Leben nachwirkt.

Martina Wildner, die 2014 mit Königin des Sprungturms den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen hat, ist mit Finsterer Sommer eine überaus vielschichtige und spannende Geschichte mit Krimielementen gelungen, in der sie heutige Familienverhältnisse, Erbstreitereien, Tod und den Wunsch nach schönen Sommerferien mit dem Erbe der Vergangenheit verbindet. Sie lässt Konrad die Erlebnisse erzählen und zeigt so, wie sich die Taten des Urgroßvaters, dessen Namen der Junge nicht einmal kannte, immer noch nachwirken. Konrad formuliert es so: „Aber nun war diese ferne Zeit wieder da, mit einem Schlag, mit diesem Namen, und sie lebte in mir weiter. Ich war verwandt mit einem schlimmen Nazi. Ich fühlte mich hässlich und schmutzig und schämte mich plötzlich, dass so jemand wie ich in Frankreich, das damals von Deutschland einfach erobert worden war, Urlaub machen konnte.“

Eindrucksvoller habe ich das Empfinden von kollektiver Schuld und das Verantwortungsgefühl für die Vergangenheit für junge Leser, die auf der Schwelle zum Teenageralter stehen, bis jetzt noch nicht gelesen.
Wenn Kriegskinder und Kriegsenkel heute glauben, sie haben genügend aufgearbeitet und sich ihrer Vergangenheit gestellt, so zeigt Wildner, dass das nicht genug ist. Auch die Urenkelgeneration, die gerade heranwächst, muss erfahren, was in den eigenen Familien damals passiert ist, mag es für die Kinder auch gefühlt unendlich lange her sein.
Die allgemeine Behandlung der Schrecken der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges ist dabei natürlich unabdingbar, doch den Blick auf die persönliche Ebene zu lenken, auf den kleinsten gesellschaftlichen Nukleus, die Familie, gehört ebenso dazu. Das macht Martina Wildner unmissverständlich klar.

Finsterer Sommer könnte ich mir als Schullektüre vorstellen. Sprachlich bleibt Wildner durch ihren Erzähler Konrad dicht an der Zielgruppe und schildert somit die geschichtlichen Hintergründe verständlich, ohne die Leser mit den allergrößten Horroszenarien zu schocken.
Lisbeth, die schlaue Cousine, macht deutlich, dass Wissen wichtig ist und es hilfreich sein kann, auch mal im Duden einen Begriff nachzuschlagen. Hier treiben nicht die nervigen Eltern zum Lernen an, sondern Lisbeth lebt es Konrad auf Augenhöhe vor – was am Ende wirkungsvoller ist alle möglichen elterlichen Ermahnungen.
Von diesem didaktischen Kniff mal abgesehen, wird meiner Ansicht nach jede/r junge Leser/in nach dieser Lektüre Nachforschungen anstellen wollen, was in der eigenen Familie vor über 70 Jahren geschehen ist. Die Aufarbeitung und Bewahrung von Historie sowie die Vorbeugung vor Wiederholung des Schreckens könnten somit nicht besser in der Urenkelgeneration verankert werden.

Martina Wildner ist die bewundernswerte Meisterleistung gelungen, eine spannende Geschichte für Jungen und Mädchen mit Tiefe, historischer Aufklärung und dem Bezug zu unserer Gegenwart zu schaffen, die auch nach dem Lesen weiterwirkt.

Martina Wildner: Finsterer Sommer, Beltz & Gelberg, 2016,  238 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

AusLese 2016

cneutNach fünf Jahren Abwesenheit hat es mich dieses Jahr mal wieder auf die Leipziger Buchmesse getrieben. Pressekollegen und Auftraggeber treffen, Hallenluft schnuppern, Cosplayer bewundern, Bücher bestaunen und auf Inspirationssuche gehen. Zusätzlich stand die Nominierungsveranstaltung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 auf dem Programm. Die Verleihung habe ich in Frankfurt bereits mal erlebt, aber noch nie die Nominierung.

Das Schöne an der Sache war dann, dass diese Nominierungen für mich zu einer ganz persönlichen Freude wurde. Denn in der Kategorie Bilderbuch ist „Der goldene Käfig“ von Anna Castagnoli und Carll Cneut der Bohem Press ausgewählt worden – in meiner Übersetzung. Ein absolutes Glücksgefühl! Dieses opulente Bilderbuch habe ich hier auch schon mal vorgestellt.

Die Nominierungen waren jedoch nicht nur deshalb für mich interessant, denn ich nehme sie, seit ich diesen Blog betreibe, als Anlass noch einmal zurückzudenken und zu vergleichen, welche Bücher ich gelesen und hier rezensiert habe. Bei etwas 8000 Neuerscheinungen im Jahr im Bereich von Kinder- und Jugendbuch kann ich natürlich neben meinem normalen Job nicht alles lesen, und auch mit Hilfe von meinen Gastrezensentinnen kommen wir lange nicht auf alle preiswürdigen Titel. Doch im vergangenen Jahr haben wir ein ganz gutes Näschen gehabt, wie ich finde. Dazu trägt aber auch die Wahl der Jugendjury bei, die erstaunlich harte und politische Bücher ausgewählt hat – für die ich ein Faible habe. So waren da die Überschneidungen am höchsten.

Ein paar der noch nicht gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Monaten bis zur Preisverleihung noch nachholen, und eventuell darüber berichten.

Hier kommen jetzt aber erst einmal alle Nominierten – samt der Links zu den Rezensionen auf letteraturen.

Bilderbuch

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herz des affen

 

 

 

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Marcelo Pimentel (Illustration): Eine Geschichte ohne Ende. Ein Bilderbuch aus Brasilien, Baobab Books, 2015, 20 Seiten,  ab 2, 14,90 Euro

Marianne Dubuc (Text, Illustration): Bus fahren, Übersetzung: Julia Süßbrich, Beltz & Gelberg, 2015, 40 Seiten, ab 3, 13,95

Anja Mikolajetz (Text, Illustration): Das Herz des Affen, Aladin, 2015, 32 Seiten, 16,95 Euro

Emmanuelle Polack (Text)/Barroux (Illustration): Kako, der Schreckliche, Übersetzung: Babette Blume, mixtvision, 32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Edward van de Vendel (Text)/Anton van Hertbruggen (Illustration): Der Hund, den Nino nicht hatte, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Press, 2015, 40 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Anna Castagnoli (Text)/Carll Cneut (Illustration): Der goldene Käfig oder Die wahre Geschichte der Blutprinzessin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten, ab 6, 28, 95 Euro

 

Kinderbuch 

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Uwe-Michael Gutzschhahn (Herausgeber)/Sabine Wilharm (Illustration): Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, cbj Verlag, 2015, ab 6, 19,99 Euro

Frida Nilsson (Text)/Anke Kuhl (Illustration): Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!  Übersetzung: Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt Verlag, 2015, 304 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Stefanie Höfler (Text)/Franziska Walther (Illustration): Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg, 2015, 140 Seiten,  ab 11, 12,95 Euro

Ann M. Martin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2015, 240 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

Ross Montgomery: Alex, Martha und die Reise ins Verbotene Land, Übersetzung: André Mumot, Carl Hanser Verlag, 2015, 336 Seiten,  ab 11, 14,90 Euro

 

Jugendbuch

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Erin Jade Lange: Halbe Helden, Übersetzung: Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, 2015,  ab 12, 16,95 Euro

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Königskinder, 2015, 368 Seiten, ab 12, 17,99 Euro, besprochen hier.

Mariko Tamaki (Text)/Jillian Tamaki (Illustration): Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 12, 29,00 Euro

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute, Rowohlt Rotfuchs, 2015, 464 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Rainbow Rowell: Eleanor & Park, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, 2015, 368 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

 

Sachbuch

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Iwona Chmielewska (Text, Illustration): abc.de, Gimpel Verlag / Verlag Warstwy 2015, 96 Seiten, ab 6, 19,90 Euro

William Grill (Text, Illustration): Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015,  80 Seiten, ab 8, 19,99 Euro, besprochen hier.

Britta Teckentrup (Text, Illustration): Alle Wetter, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 9, 24,95 Euro

Jean Paul Mongin (Text)/Julia Wauters (Illustration): Leibniz oder die beste der möglichen Welten, Übersetzung: Heinz Jatho, Diaphanes Verlag, 2015, 64 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Kristina Gehrmann (Text, Illustration): Im Eisland, Hinstorff Verlag, 2015, 224 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Reinhard Kleist (Text, Illustration): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen Verlag, 2015, 152 Seiten, ab 14, 17,90 Euro, besprochen hier.

 

Preis der Jugendjury

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nuri

 

bellmont
tagebuch
khmer

 

 

Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt, Übersetzung: Simone Wiemken, Dressler Verlag, 2015, 336 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Dirk Reinhardt: Train Kids,  Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro, besprochen hier.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger Verlag, 2015, 528 Seiten, ab 14, 19,99 Euro, besprochen hier.

Matthew Quick: Goodbye Bellmont, Übersetzung: Knut Krüger, dtv, 2015, 256 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem Herzen, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2015, Seiten, ab 16, 14,99 Euro, besprochen hier.

Herzlichen Glückwunsch allen Nominierten!

Die Gewinner werden am 21. Oktober 2016 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt – in doppeltem Sinne …

 

[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro

[Jugendrezension] Pirateske Schatzsuche

61dHKVlRYXL._SX324_BO1,204,203,200_Was würde man machen, wenn auf dem Supermarktparkplatz plötzlich ein riesiges Piratenschiff auftaucht? Vor diese Frage wird das Mädchen Marill im Buch Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte von Carrie Ryan und John Parke Davis gestellt. Auf den insgesamt 476 Seiten wird die Frage gelöst, aber alles ist noch viel komplizierter, als es am Anfang erscheint.

Als Marill das Schiff entdeckt hat, fragt ein Mann sie viele Dinge, von denen sie nichts weiß. Als sie erfährt, dass es sich um Magier handelt, die Menschen heilen können, klettert sie an Bord, da ihre Mutter krank ist. Jedoch war das Schiff schon wieder im Aufbruch, und plötzlich befindet sie sich in einer anderen Welt, die ziemlich verwirrend ist. Um wieder nach Hause zu kommen, braucht Marill die Überallkarte.

Kurz zur Erläuterung, da diese Parallelwelt sehr kompliziert aufgebaut ist, und sehr vereinfacht gesagt: Es gibt den Großen Strom, an oder in dem alle Dinge dieser Welt liegen. Um als Mensch wieder zurück in die Menschenwelt zu kommen, benötigt man die Überallkarte. Diese besteht aus einer Windrose, einer Karte, einem Band usw.

Zum Glück hat Marill durch die Piraten Helfer, die mit ihr nach der Karte suchen. Und Fin, ein Meisterdieb aus Charrot Quay, einem sehr, sehr verrückten Ort, wo einige Menschen fliegen können, schließt sich auch noch an. Zuerst suchen Marill & Co. nach der Windrose und begeben sich damit auf eine Reise, die bis ins tiefste Eis führt. Doch sie sind nicht die Einzigen …

Ich fand das Buch sehr schön, obwohl ich eher selten derartige Geschichten aus dem Fantasybereich lese. Es gibt aber einen großen Kritikpunkt: Das Buch ist viel zu kompliziert. Man braucht sehr lange, bis man die Welt von Fin und den Piraten versteht. Trotzdem kann ich das Buch vor allem für schnell denkende Menschen durchaus weiterempfehlen.

Ich halte das Buch für Leser ab 10 oder 11 Jahren geeignet. Für Jüngere ist es einfach zu verworren und zu aufregend, vielleicht sogar zu gruselig.

Lector03 (12)

Carrie Ryan/John Parke Davis: Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte, Übersetzung: Wolfram Ströle, Fischer Sauerländer, 2015, ab 10, 480 Seiten, 14,99 Euro

[Jugendrezension] Die Beobachtungsexpertin

suniMenschen beobachten … Das macht Suni Stern, die Heldin aus Die geheime Welt der Suni Stern von Annette Mierswa, am liebsten. Es ist Sunis einziges Hobby.

Seit Suni Stern mit ihrer Familie nach Trutzingen gezogen ist, muss sie ihre Beobachtungen allerdings allein machen, denn ihre bisherige Freundin und Komplizin ist ja leider noch in Hamburg. Doch auch wenn Suni nun allein ist, in einer noch unbekannten Stadt wie Trutzingen, gibt es natürlich endlos viel zu entdecken.
Hat Stella wirklich ein zweites Gesicht? Was für ein Geheimnis steckt hinter den ausgebeulten Taschen von Tom? Fragen über Fragen. Bisher gibt es allerdings zu wenige Antworten. Und selbst, wenn Suni meint, die Lösung für eine Frage gefunden zu haben, muss diese nicht immer richtig sein …

Wenn euch nun weitere Fragen und auch die dazugehörenden Antworten interessieren, müsst ihr einmal selbst in die Geheime Welt der Suni Stern eintauchen und das Buch lesen. Das Buch ist nicht nur spannend, sondern es gibt auch Ereignisse, die mir wie ein schöner Traum vorkamen. Außerdem konnte ich mir die Orte der Handlung sehr gut vorstellen, da sie sehr anschaulich beschrieben sind.

Ich empfehle das Buch Mädchen und Jungen ab 8 Jahren, die sich gern den Kopf über geheimnisvolle und ungewöhnliche Dinge zerbrechen und die selbst viel Fantasie haben.

Lese-Lotta (8) 

Annette Mierswa: Die geheime Welt der Suni Stern, Tulipan, 2015, 160 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

[Gastrezension] Bildgewaltige Expedition

ShackletonAlti, Amundsen, Blackie, Bob, Bo’sun, Bristol, Brownie, Buller, Bummer, Caruso, Chips … so lauten die Namen von elf der insgesamt 69 Hunde, die Ernest Shackleton auf seine Expedition zum Südpol mitgenommen hat. Und die der junge Illustrator William Grill alle auf einer Seite mit Buntstift gezeichnet hat. Das ist nur eines der höchst interessanten und liebevoll aufgeführten Details mit denen Grill seine packende Abenteuergeschichte Shackletons Reise beginnt.

Große, imposante Figuren in Uniform oder Pelzjacke, mit Werkzeug, auf Skiern, mit Kamera und Arzttasche, der Polarforscher seitengroß in lässiger Pose und seine 27-köpfige Mannschaft, gemalt in Schwarz und Brauntönen, mit kleinen Köpfen, mit roten, spitzen Nasen und schwarzen Knopfaugen – Grill zeigt jeden einzelnen dieser außergewöhnlichen Männer, die Shackleton aus 5000 Bewerbern ausgewählt hat. Dabei achtet der kühne Seemann nicht nur auf handwerkliche Fähigkeiten oder Navigationstalent, sondern auch darauf, ob die Männer singen oder ein Musikinstrument spielen können. Das zeigt die kluge Vorausschau des Abenteurers Shackleton und wird im Verlauf der zweijährigen Reise sehr wichtig. Der 1874 als zweites von zehn Kindern in Irland geborene Shackleton wird weniger als Antarktisforscher in die Geschichte eingehen, dafür aber als außergewöhnlich mutiger und verantwortungsbewusster Expeditionsleiter.

Shackleton nimmt an Robert Scotts Discovery-Expedition Anfang des 20. Jahrhunderts in die Antarktis teil. Doch der Norweger Roald Amundsen gewinnt 1911 das Rennen und erreicht als erster den Südpol. Und Ernest Shackleton ist klar, dass „die erste Durchquerung des antarktischen Kontinents, von einer Meeresküste zur anderen über den Pol“ die letzte große Aufgabe ist. Tatsächlich wird diese Expedition eine der größten menschlichen Herausforderungen.

Am 8. August 1914 sticht die speziell für das Polarmeer umgebaute Endurance mit Shackleton und seinen Mannen von Plymouth aus in See, zunächst mit Kurs auf Buenos Aires. Am 5. Dezember ist laut Shackleton dann endlich „die lange Zeit der Vorbereitung zu Ende und das Abenteuer liegt vor uns“: Von South Georgia bricht das Schiff zu den südlichen Sandwichinseln auf. Und stößt auch gleich auf das erste Packeis.

Und man sieht ein erstes von William Grills grandiosen, doppelseitigen Panoramabildern: Eisschollen soweit das Auge reicht und ganz unten links am Bildrand, winzig klein die Endurance, die noch einige Zeit ihrem Namen „Ausdauer“ alle Ehre machen wird.

Schon bald bleibt das Schiff stecken, kompaktes Eis trennt es vom offenen Wasser. Die erste Planänderung: Die Endurance wird zum Winterlager, die Männer trainieren die Hunde auf dem Eis, jagen Pinguine, um ihre Vorräte aufzustocken, befreien das Schiff von Eisschichten, liefern sich rasante Schlittenrennen, überstehen Schneestürme, die mit 150 Stundenkilometern über Eis fegen und halten sich für alles bereit. Aber am 27. Oktober kommt es zur Katastrophe – und das tapfere Schiff (so empfindet man es mit den todunglücklichen Besatzungsmitgliedern) wird von den Eismassen zerdrückt und sinkt.

Jetzt beginnt das wirklich größte Abenteuer ihres Lebens und mit noch einigen mutigen Entscheidungen, erstaunlichem Motivationstalent und Gewaltmärschen gelingt es Shackleton schließlich, alle seine Männer zu retten und nach über zwei Jahren nach Hause zurückzubringen. William Grill erzählt nüchtern und klar und niemals heroisierend, von Harald Stadler ebenso unprätentiös übersetzt.

Shackletons Reise ist ein fantastisches Leseabenteuer mit umwerfenden Bildern, an denen man sich kaum satt sehen kann, eine ebenso unglaubliche wie wahre Heldengeschichte.

Elke von Berkholz

William Grill: Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015, 75 Seiten, ab 7, 19,99 Euro

[Gastrezension] Wenn Wünsche Flügel kriegen − oder Schuppen?

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Odd – der Held von Taran Bjørnstads Roman Der Krokodildieb – ist neun und eher sonderbar, feige und dick, so seine Selbsteinschätzung.
Daheim wird er als Jüngster oft übersehen, in der Schule wählt ihn keiner in seine Mannschaft, und die coole Nova nutzt jede Gelegenheit, ihn zu mobben. Da kann auch Mette, die Odd heimlich verehrt, nicht helfen. So träumt er von Superkräften und wittert eines Tages seine Chance.
Bei einem Projekttag im Aquarium präsentiert Tierpfleger Rolf den jungen Kaiman Zack – und Odd ist der Einzige, der sich traut, das Tier zu streicheln. Bewunderung allenthalben, Odd wächst über sich hinaus. Und plötzlich kann er nur noch an eins denken: Zack verleiht ihm Kraft, deshalb muss er ihn stehlen. Das Unmögliche gelingt!
Daheim klebt Krokodildieb Odd zur Abschreckung der Familie ein großes Schild an seine Tür, dann lässt er Zack frei und bewegt sich nur noch „oberirdisch“: vom Schreibtisch auf den Stuhl und hoch aufs Etagenbett, denn Zack verschlingt, was sich ihm bietet. Ein Handy beendet schließlich das Abenteuer: Der Kaiman streckt alle Viere von sich, und Odd kriegt Angst. Stirbt das Tier? Ihm bleibt nur eins: Zack muss zurück ins Aquarium …

Gleichberechtigt neben dem überzeugenden Text, in der Übersetzung von Maike Dörries, stehen die Illustrationen, meist in Schwarzgraugrün mit gezielten Ausflügen in andere Farbwelten. Das großzügige Layout und das besondere Format des Buches lassen dem Zeichner Raum, fast wie in einer Graphic Novel. Ungewöhnlich sind die Perspektiven und Bildausschnitte. Anrührend porträtiert ist Odd mit übergroßer Brille und von gestauchter Statur, der so überzeugend schwach und stark ist. Freundin Mette im Afrolook verkörpert das pralle Leben, Nova die geballte Übermacht. Großartig Tierpfleger Rolf mit Tattoos, Glatze und feinem Gespür. Fast lebensecht Kaiman Zack, dessen runzlige Haut man zu berühren meint und dessen Anatomie (samt Mageninhalt!) auf einer Doppelseite ebenso fasziniert wie das Aquarium mit riesigen Mantarochen und zehn verschiedenen Haiarten. Ein wenig skandinavisch schräg – und so gut!

Heike Brillmann-Ede

Taran Bjørnstad/Christoffer Grav (Illu): Der Krokodildieb, Übersetzung: Maike Dörries, Beltz + Gelberg, 2016, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

 

 

[Jugendrezension] Die unsichtbare Freundin

lunaWillst du wirklich eine Prinzessin wie Luna-Lila als Freundin haben, so wie Wilma in dem Buch Luna-Lila – Das allergrößte Beste-Freundinnen-Geheimnis von Anu und Friedbert Stohner?
Überlege es dir gut, denn nicht alle Prinzessinnen sind lieb und immer gut gelaunt …

Eine von diesen launischen Prinzessinnen ist Luna-Lila, die im Übrigen für alle Menschen unsichtbar ist, allerdings nicht für Wilma, ihre Freundin. Wilma hat seit ein paar Wochen Probleme, die sich um ihre oberfiesen, neuen Mitschüler, die Zwillinge und „Klassenmacker“ Ulli und Olli drehen. Die Beiden machen sich dauernd wichtig, ärgern ihre Klassenkameraden und setzen sie unter Druck. Eines Morgens verschwindet dann auch noch der Darth-Vader-Anspitzer der Jungen, die Wilma und ihre Freundin Ellen beschuldigen, den Anspitzer – ein wichtiges Erinnerungsstück, weggenommen zu haben. Zum Glück hat Luna-Lila einen Plan, wie sie ihrer Freundin helfen kann.
Allerdings funktioniert der Plan nicht genau so, wie sie es sich vorgestellt hat … denn manchmal kommt es eben anders als man denkt!
Was genau das für ein Plan ist und ob Wilmas Probleme gelöst werden können, das müsst ihr selbst herausfinden.

Das Buch hat mir gut gefallen, da es interessant und witzig und an manchen Stellen auch spannend war. Durch die genauen Beschreibungen konnte ich mir die Orte, an denen die Kinder unterwegs waren, sehr gut vorstellen.
Ich empfehle dieses Buch vor allem Mädchen im Alter von 7 bis 10 Jahren, die sich für das Thema Freundschaft interessieren und die sich vielleicht „im Geheimen“ manchmal auch einen unsichtbaren Helfer wünschen …

Lese-Lotta (8)

Anu Stohner/Friedbert Stohner: LunaLila. Das allergrößte BesteFreundinnen-Geheimnis, Illustration: Pe Grigo, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 8, 10,99 Euro

[Gastrezension] Altersgerechte Aufklärung

aufgeklärtReden wir über Aufklärung, und damit meine ich nicht den klassischen philosophisch-politischen Begriff, sondern Sex und Kinderkriegen. Ab welchem Alter sollte man mit Kindern darüber reden? Und wie? Schwer zu sagen, wenn schon Kindergartenkids Sexpraktiken diskutieren oder gang-bang spielen. Dass Babys nicht aus einem Sechserkarton handelsüblicher Eier, vermischt mit einer Packung Samen entstehen und dann per Express vom Storch gebracht werden, das wissen schon die Kleinsten. Auch Bienchen und Blümchen dürften schon vor einiger Zeit ausgedient haben.

Bei der Gelegenheit habe ich überlegt, wann ich aufgeklärt wurde? Auf jeden Fall nicht von meinen Eltern. Jahre später, schon als Jugendliche, haben mein Bruder und ich zu unserer großen Erheiterung, gar nicht mal versteckt, im Buchregal bei den Bildbänden Will McBrides Aufklärungsklassiker Zeig mal! gefunden, ein Geschenk eines damals noch kinderlosen, pseudoprogressiven Onkels, der wohl vor allem unsere Eltern provozieren wollte. Das vielfach ausgezeichnete und von der evangelischen Kirche abgesegnete, sogar verlegte Buch mit den stilvollen schwarz-weiß-Aufnahmen in der Anfang der 70er-Jahre angesagten, fotorealistischen „Mein-Esel-Benjamin“-Ästhetik gilt heute als nicht mehr kindergerecht und ist auch nicht mehr erhältlich. Aber wann und wie klärt man heute auf?

Zum Beispiel mit diesem ebenso klugen wie charmantem und ganz und gar unpeinlichem Buch Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?, dem ersten Band der neuen Sachbuchreihe Carlotta, Henri und das Leben von Anette Beckmann und Marion Goedelt, konzipiert für junge Leser ab sieben Jahren.

Erzählerin ist, sehr realistisch, die redegewandte vier Minuten ältere Zwillingsschwester Carlotta. Sie schwärmt von der coolen Tante Uli, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Henri einmal in der Woche besucht, weil ihre Eltern beruflich viel unterwegs sind. Mit Uli toben sie herum und genießen viele Freiheiten. Seit neuestem ist Uli total verknallt, in Mario, den Chef der Trattoria Fussili unten im Haus. Erst benehmen sich die beiden ziemlich peinlich, was auszuhalten ist, weil Mario die besten Spaghetti der Welt macht und den Geschwistern Eis schenkt. Aber dann: „Uli ist komisch und wird immer merkwürdiger: Sie ist ständig müde, verpeilt, isst komische Dinge und schläft beim Spielen ein“. Diagnose: Tante Uli ist schwanger. Aber wie kommt das? Und wie geht es jetzt weiter mit Uli, ihrem wachsenden Bauch und dem Baby darin?

Die Texte der studierten Kommunikationsdesignerin Anette Beckmann gehen mit den witzigen Illustrationen Marion Goedelts eine kongeniale Mischung ein, die auch beim Vorlesen ein großer Spaß ist: „Damit das mit dem Ei und dem Samen klappt, muss man Sex haben. Dabei entsteht ein ganz schönes Gefühl. Das ist aufregend und kribbelig und dann wird der Penis …
NICHT lachen, habe ich gesagt!!!
… ganz groß und hart.“

Es wird mit Typographien und Schriftsetzung gespielt, freundliche Figuren, die Zwillinge, ihre Eltern und natürlich die immer runder werdende Uli, toben zwischen collageartig arrangierten Schautafeln, Ultraschallbildern und schrägen Witzbildchen über die Seiten. Spermien liefern sich Wettrennen, es gibt einen tierischen Vergleich über Schwangerschaftsdauer und ein Hund karikiert auch mal die Hochschwangere in typischer Pose: „Puh.“

In diesem Buch wird davon ausgegangen, dass beim Sex Liebe und Zuneigung im Spiel sind. Es geht hier nicht darum, das ganze Spektrum sexueller Spielarten darzustellen. Das ist für jedes Kind eine schöne Vorstellung und trifft wahrscheinlich zumindest beim Zeugungsakt meistens zu, was allerdings die spätere Trennung der Eltern leider nicht ausschließt.

Die Schreibweise mit „!?“ im Titel ist Programm, denn was erst klar wie Kloßbrühe erscheinen mag, kann einen bei näherer Betrachtung ins Grübeln bringen. Manche Frau, die wie es so schön heißt, „spontan entbunden“ hat, sprich, auf dem natürlichen Geburtsweg, fragt sich auch, wie das Neugeborene durch den engen Geburtskanal gepasst hat. Solche Fragen und Begriffe wie Befruchtung, Mutterkuchen (Henri fragt berechtigterweise: „Warum nicht Mutterpizza?“), intrauterines Wachstum, Kaiserschnitt, platzende Fruchtblasen und Wehen werden ebenso anschaulich wie sympathisch und witzig beantwortet. Und wie gesagt, absolut unpeinlich!

So schafft das Sachbuch aus dem manchmal sogar gefährlichen (Stichwort: Teenagerschwangerschaften, sexuell übertragbare Krankheiten) „oblatendünnen Eis des halben Zweidrittelwissens“ (wie TV-Moderatorin Sarah Kuttner mal sehr schön schrieb) eine solide, altersgerechte und ausbaufähige Grundlage.

Elke von Berkholz

Anette Beckmann, Marion Goedelt (Illustrationen): Carlotta, Henri und das Leben, Band 1 „Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?“, Tulipan, 2016, 60 Seiten, ab 7, 15 Euro

[Gastrezension] Vom Kampf gegen die Depression

depression„Alles super!“ – das klingt irgendwie verdächtig, wenn auch noch relativ sympathisch und harmlos in Zeiten von facebook-Euphemismen, wo alles mindestens „suuupiduupi“ (schlimm), „ultratollo“ oder „megageil“ (ganz schlimm) ist. Und natürlich ist nicht alles super zu Hause bei den Geschwistern Raymond und Gloria im Roman Alles super! von Roddy Doyle.
Denn Onkel Ben, Papas jüngerer Bruder, ist bei der Familie eingezogen und wohnt nun in Glorias Zimmer. Ihre rosa Bettdecke hingegen liegt auf einer Matratze in Raymonds Zimmer. Dass sie sich jetzt ein Zimmer teilen, findet Raymond allerdings insgeheim sogar ganz gut.
Doch der geliebte Onkel Ben ist anders als sonst: Er musste seinen Malerbetrieb mangels Aufträgen dichtmachen und kann die Hypothek für sein Haus nicht mehr bezahlen. Ben ist gar nicht mehr lustig und leichtlebig, lacht nie, unternimmt nichts mehr mit den Geschwistern, ist nur noch ein schwermütiger Schatten seiner selbst.
„Der schwarze Hund, die Depression, ist diesem armen Jungen auf den Rücken gekrochen“, sagt Omi, Mamas Mutter, die auch im Haus wohnt. „Und Dublin hat sein Narrenbein verloren. Keiner lacht mehr.“

Also schleichen Raymond und Gloria sich nachts raus, um den schwarzen Hund zu vertreiben und treffen dabei Eddie, der als Schulversager das sprichwörtlich schlechte Beispiel für alle Kinder des Viertels ist und sich neuerdings als Vampir versucht. Bei der Jagd nach dem schwer zu fassenden, ständig Größe und Form ändernden Biest, das außerdem eine unheimliche Kälte ausstrahlt, treffen die drei immer mehr Kinder. Jedes von ihnen kennt einen geliebten Menschen, der vom schwarzen Hund angefallen wurde, oder wohnt in einem Haus, wo dieses fast dementorenartige Wesen vor der Schlafzimmertür des Vaters lauert, der dahinter apathisch im Bett liegt.

Die Darstellung der Depression als schwarzer Hund ist ein Klassiker der Visualisierung dieser Krankheit: Depression als ständige Begleiterin, man kann sie zähmen und in Schach halten, aber sie kann auch immer wieder gefährlich werden (sehr gut übrigens, dass im Buch konsequent der Singular verwendet wird und nicht von „Depressionen“ die Rede ist, als ob eine nicht schlimm genug sei). Roddy Doyle aber erzählt hier von mehr: Nicht nur von der psychischen Erkrankung, die einzelnen Betroffenen jede Freude und Empfindungsfähigkeit nimmt, sondern auch von der wirtschaftlichen Depression, die so viele Leute, ja eine ganze Stadt wie Dublin deprimiert. Die Finanzkrise von 2008, die alle westlichen Industrienationen erschüttert hat, hat Irland, in Anlehnung an prosperierende asiatische Staaten auch „keltischer Tiger“ genannt, besonders hart getroffen. Einst war Irland das ärmste Land Westeuropas, doch um die Jahrtausendwende waren die Iren sehr reich geworden – und fielen um so tiefer, verloren Arbeit und Häuser, kostspielige Pferde und andere Tiere wurden zu Tausenden ausgesetzt. Finanzielle Nöte deprimieren die Menschen, belasten und lähmen sie, sitzen ihnen im Nacken oder hängen wie ein Mühlstein um ihren Hals.

Kinder bekommen das sehr wohl mit und leiden ebenso unter den Auswirkungen der finanziellen Depression. Und Roddy Doyle, der sich in allen seinen Romanen mit gesellschaftlichen Problemen und Ungerechtigkeit beschäftigt, hat ein sehr eindringliches Bild für die Erschütterungen seiner Heimat gefunden und erzählt ebenso humorvoll wie eindringlich vom Kampf gegen die kollektive Depression.

Sehr gut sind Doyles Beschreibungen von typischem Erwachsenenverhalten aus Kindersicht, zum Beispiel unterscheiden die Geschwister zwischen „Reden“, „Plaudern“ und „Murmeln“ – bei letzterem geht es um sehr ernste Themen, die Kinder gar nicht wissen sollen, so wie den schwarzen Hund.
Als die Kinder das depressiv machende Wesen verfolgen, erweist sich das Wort „super“ als Geheimwaffe, als Laserschwert gegen die dunkle Macht und Beschwörungsformel gegen böse Beschimpfungen. Mit einem laut gerufenen„Super!“ zaubern sie Licht in die Nacht und machen sich Mut. Neben der Eiseskälte hat der Hund nämlich eine besonders perfide Waffe: Er beschimpft die Kinder als „unnütz“. Und da empfinden die Kinder, was Depression bedeutet: Sie fühlen sich niedergedrückt, so sehr, dass sie sich nur noch hinlegen möchten, nie wieder aufstehen und sterben, sich vom Meer wegspülen lassen. Es sind dann die Tiere, Katzen, Hunde, Möwen und Exoten im Zoo, die die Kinder daran erinnern, warum sie wichtig sind und was sie stark macht: „Ihr seid die Zukunft!“.

Das macht auch Roddy Doyles neuen Roman so charmant: Wie er von ernsten Themen mit liebenswerten Charakteren, viel Witz und intelligenten Humor erzählt und sogar noch ein überzeugendes happy ending beschert. Allein für die Nebenfiguren Ernie und die Omi lohnt es sich. Das ist leicht zu lesen (nicht zu schreiben!), aber nie seicht. Roddy Doyle ist sozusagen der irische Andreas Steinhöfel. Da passt es auch sehr gut, dass Steinhöfel mehrere Kinder- und Jugendbücher Doyles übersetzt hat. Leider nicht Alles super!, das hätte uns vielleicht das eine oder andere falsche „macht Sinn“, „von daher“ und affektiertes „oh, mein Gott“ erspart. Warum „Football“ nicht mit „Fußball“ übersetzt wurde, bleibt auch das Geheimnis von Bettina Obrecht. In Irland ist sicher nicht „American Football“ gemeint?!

Im Original heißt „super“ übrigens „brilliant“ – ein ungleich stärkeres, überzeugenderes, funkelnderes Schlagwort. Aber im Deutschen ist es schwierig, einen entsprechenden Begriff zu finden: krass, cool, voll fett? Wohl eher nicht …
Ansonsten ist alles super bei Roddy Doyles jüngstem Roman, schlicht: brillant!

Elke von Berkholz

Roddy Doyle: Alles super!, Übersetzung: Bettina Obrecht, cbj Verlag, 2015, 192 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Es begab sich aber zu der Zeit …

adventNeulich durfte ich im Hamburger Literaturhaus eine ganz besondere Lesung erleben. In der Reihe „Spaß mit Büchern“ las Autorin Ilona Einwohlt aus ihrem neuen Kinderbuch Advent, Advent, die Bude brennt vor etwa 60 Erst- und Zweitklässlern.
Wer jetzt denkt, dass das eine ohrenbetäubende Veranstaltung gewesen sein muss, kennt Hamburger Schulkinder nicht. Aufmerksam, gespannt schauend, mitfiebernd lauschten sie Ilona Einwohlt, die von Lucas nervenaufreibenden Erlebnissen in der Vorweihnachtszeit berichtete.

Beim 10-jährigen Erzähler geht es nämlich alles andere als besinnlich zu. Lucas chaotische Mutter, die nach der Trennung vom Mann, endlich mal alles richtig machen möchte, fackelt aus reiner Schusseligkeit die Wohnung ab. Hochschwanger muss sie sich nun mit Luca und seiner großen Schwester sowie dem fast federlosen Papagei Bruder Jakob, der sämtliche Weihnachtslieder trällern kann, auf die Suche nach einer Unterkunft machen. Im Nobelhotel fühlen die drei sich allerdings nicht besonders wohl, bei Mamas Freundin Maria ist es zu eng, bei der Oma zu laut, bei der Tante zu aufgeräumt. Ein rundlicher Taxifahrer, der – hohoho – ganz erstaunlich an den Weihnachtsmann erinnert, fährt die Familie von einer Unterkunft in die nächste. Doch schließlich finden Lucas muslimische Freunde Mayla und Ibi eine Lösung, wo die Wohnungslosen unterkommen können …

Ilona Einwohlts Adventsgeschichte ist ein großer Spaß, inhaltlich wie sprachlich. Sie vereint alle Ingredienzien, die christlich geprägte Menschen aus der biblischen Weihnachtsgeschichte kennen: eine Hochschwangere, die Suche nach einer Unterkunft, wenig christliche Mitmenschen. Dass die Rettung von muslimischer Seite kommt, ist in unseren schwierigen Zeiten mit unzähligen Flüchtlingen und immer noch andauernden und anwachsenden Ressentiments und Vorurteilen ein wichtiges Zeichen.
Für die Kinder im Roman ist es  – ganz im Sinne Lessings  – völlig unerheblich, welcher Religion man angehört. Ibi formuliert es so: „Mayla denkt, sie muss sich zwischen Allah und Gott entscheiden […]. Erklär du ihr mal, dass der ein und derselbe ist und dass es völlig egal ist, zu wem sie betet. Hauptsache, sie glaubt an irgendwen.“ Klarer kann man die Verbindung von Christentum und Islam wohl kaum auf den Punkt bringen.

Die Kinder im Literaturhaus waren eine multikulturell-globalisierte Truppe, die diese Sätze mit aller Selbstverständlichkeit und Lässigkeit akzeptierten. Von Aufregung oder Unverständnis keine Spur. Die Freundschaft zwischen Luca, Mayla und Ibi im Roman ist wichtiger als jede kleinkrämerische Unterscheidung, wer Weihnachten feiern kann, darf oder nicht. Sie feiern. Alle. Und zwar zusammen. Und genau das sollten auch die Erwachsenen. Die Kinder machen vor, wie einfach das ist.

Ilona Einwohlts Advent, Advent, die Bude brennt hat für mich das Zeug zum weihnachtlichen Dauerbre … äh … Longseller.

Ilona Einwohlt: Advent, Advent, die Bude brennt. Die Weihnachtsgeschichte nach Luca, Illustration: Tine Schulz, Klett Kinderbuch Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Eine Frage der Ehre

olgaSpätestens seit Erich Kästners Emil und die Detektive haben Detektivgeschichten einen festen Platz in deutschen Kinderzimmerregalen. Eine aktuelle Ermittlerin habe ich jetzt in Barbara van den Speulhofs Buch Olga & Co kennen- und lieben gelernt.

Olga, eine clevere 11-Jährige, ist in diesem Band ihrem zweiten Fall auf der Spur. In ihrer Klasse geschehen nämlich ein paar ganz blöde Dinge: ein Freundschaftsbuch wird geklaut, eine Jacke wird mit Farbe besprüht, ein Kaninchen verschwindet. Die Erwachsenen haben allerdings nichts besseres zu tun, als gleich von einem Kind (dem oder der Täter_in) auf alle zu schließen und die ganze Klasse, ja die ganze Schule schlecht zu machen. Und so etwas kann Olga überhaupt nicht ab, denn das geht gegen die Ehre der Kinder.
Also ermittelt sie, spricht mit ihren Mitschülern, trägt Beweise zusammen, geht aus Berufsgründen auf eine Geburtstagsparty und telefoniert in immer kürzeren Abständen mit ihrer Freundin Co, die in Schweden wohnt, Olga aber zu Weihnachten besuchen kommt. Gemeinsam ziehen sie den Kreis um die Verdächtigen immer enger …

Van den Speulhofs Olga-Reihe ist wunderbare Spannungsliteratur für Mädchen, die allem und jedem auf den Grund gehen. Dabei kann man auch sehr gut mit Band 2 in Olgas Welt einsteigen. Olga und ihr kleiner Bruder Juri, der sich immer augenblicklich in jede neue Frau in seinem Leben verknallt, sind liebevoll gezeichnet und überzeugen als Geschwisterpaar. Die Freundschaft zwischen Olga und Co besticht dadurch, dass sie auch über die Distanz funktioniert. Sie zeigt kleinen Leserinnen, dass gute Freunde nicht immer gleich um die Ecke wohnen müssen.
Über Juri steuert die Autorin lustige Wortverdreher und Wortneuschöpfungen bei, so dass die Lektüre auch auf sprachlicher Ebene immer wieder etwas unterhaltsam Neues zu bieten hat.

Auflösung und Hintergründe der inkriminierenden Taten passen übrigens perfekt in die Weihnachtszeit. Und das Buch macht sich im Nikolausstiefel ziemlich gut.

Barbara van den Speulhof: Olga & Co. Die Sache mit dem Glücksräuber, Fischer KJB, 2015, 224 Seiten, ab 8, 10,99 Euro

Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro

Männersachen

paulDie Stiftung Lesen hat neulich die aktuelle Vorlesestudie 2015 veröffentlicht. Herunterzuladen ist sie hier. Nach dieser Lektüre sollte es eigentlich niemanden mehr geben, der seinen Kindern nicht täglich vorliest. Denn Vorlesen ist scheinbar ein Wundermittel für Glück, Kompetenz – soziale wie inhaltliche – und Fröhlichkeit. Also eine traumhafte Aussicht, was die Bildung und das spätere Zusammenleben der nächsten Generationen angeht. Heute ist Vorlesetag. Also ran an die Bücher!
Oft wird allerdings von Erwachsenen gejammert, dass Jungs so wenig lesen. Was ein Wunder, möchte man sagen, wenn den Jungs die Vorbilder fehlen, weil Väter anscheinend nicht so häufig vorlesen wie die Mütter.

Nun denn, liebe Väter, hier kommt ein Vorlesebuch, das Euch zu Helden Eurer Söhne macht: Paul & Papa. Autorin Susanne Weber vereint darin 20 Kurzgeschichten, die den Alltag von Vater und Sohn hochleben lassen. Die beiden machen beispielsweise einen Männertag, backen Geburtstagskuchen für Mama, räumen auf, wenn auch widerwillig, gehen Eisessen oder haben auch mal schlechte Laune. Ganz normale Sachen eben, einer ganz normalen Familie, denn die Mama gibt es auch, doch hält sie sich im Hintergrund. Denn hier stehen eben mal die Männer im Mittelpunkt. Das ist bei der Masse an Büchern, die es vor allem für Mädchen gibt, durchaus okay und wichtig.

Die unaufgeregten Geschichten sind rasch gelesen und verzaubern doch. Denn sie lenken den Blick auf die alltäglichen Dinge, die uns ständig umgeben und denen wir Erwachsene vielleicht gar keine Beachtung mehr schenken, oder von denen wir nur genervt sind.
Beim gemeinsamen Vorlesen jedoch werden Vater und Sohn vielleicht Gemeinsamkeiten herausfinden oder den jeweils anderen mit ihrer Sichtweise überraschen. Das Band, das sich so zwischen Sohn und Vater knüpft, kann in späteren Jahren vielleicht die ein oder andere Machtprobe aushalten.

Susanne Weber: Paul & Papa, Illustration: Susanne Göhlich, mixtvision, 2015, 72 Seiten, ab 4, 11,90 Euro