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Zum Heulen schön

Der Hund stammt vom Wolf ab. Mittlerweile läuft es beim gezähmten Haustier aber ganz anders als bei den wilden Verwandten, wortwörtlich. Sehr anschaulich erklärt Wolfsforscher Michał Figura die Unterschiede in wenigen Bildern: »Hunde schlagen Haken und wechseln öfter die Richtung.« Tatsächlich mäandern die Pfotenabdrücke mal in die eine, mal in die andere Richtung. »Wölfe hinterlassen schnurgerade Spuren, sie setzen Abdruck auf Abdruck. Sie schnüren«, erklärt der polnische Experte in dem furiosen Sachbuch Wölfe.

Der Untertitel Wahre Geschichten ist Programm. Die Comicautoren Alexandra Mizielińska und Daniel Mizieliński haben nichts erfunden, ihre naturalistischen Bilderstrecken beruhen auf Wildtierkamera- und anderen Aufnahmen. Wir begleiten Michal und seine Kolleginnen und Kollegen sowie Tierärztinnen, Naturschützer, Polizistinnen und Ehrenamtliche bei ihrer engagierten und oft sehr mühsamen Arbeit.

Rudel sind Familien

Erzählt werden die Geschichten von acht Wölfen, denen wir auf ihren hunderte, auch bis zu tausenden Kilometer langen Wanderungen folgen (aktuell wird gemeldet, dass ein Wolf von Niedersachsen 1200 Kilometer bis nach Katalonien gewandert ist ). Man erfährt alles über die faszinierenden und polarisierenden Tiere. Gleichzeitig wird faktenreich und klug mit falschen und gefährlichen Mythen aufgeräumt. So gibt es keinen einsamen Wolf. Und auch keine Alphatiere oder tödliche Machtkämpfe innerhalb eines Rudels. Rudel sind Familien, bestehend aus einem Elternpaar, das lebenslang zusammenbleibt, und bis zu zweijährigen Jungtieren. Die kümmern sich anfangs noch um jüngere Geschwister und Welpen, bevor sie ihre Familie verlassen, sich einen Partner oder eine Partnerin suchen und ein eigenes Revier, um ein Rudel zu gründen.

Der Mensch ist die größte Gefahr

Wölfe meiden Menschen, außer sie haben sich als Welpen an Menschen gewöhnt, dann können sie gefährlich werden. Anhand des Welpen Luna, der als vermeintlich ausgesetztes Hundebaby von Wanderern aufgelesen wurde, wird eindrücklich gezeigt, was passiert, wenn Wildtiere ihrer Umgebung und Familie entrissen werden.
Dass die Menschen nicht nur für Wölfe die größte Gefahr sind, zeigt sich am Schicksal Kampinos, der von einem Auto angefahren wurde. Oder von Jung, der nicht nur einmal in eine von Wilderern ausgelegte Schlinge geraten ist und elendig hätte krepieren können. Wie so viele andere, die nicht rechtzeitig gefunden werden.

Wildtierkameras und GPS Halsbänder

Umfassend und sehr gut verständlich werden auch die wichtigsten Werkzeuge der Wolfsforscherinnen und -forscher erklärt. Zum Beispiel wie eine Wildtierkamera funktioniert und dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts erste Aufnahmen von Wildtieren mit solchen Apparaten gemacht wurden. Oder wie man komplexe und aufschlussreiche Daten mithilfe von GPS Halsbändern gewinnt. Und wie diese den Wölfen schonend angelegt werden, so dass, wenn alles gut läuft, über zwei Jahre zuverlässig Bewegungsdaten gesendet werden, aus denen sich viel ablesen lässt.
Wolfsforschung ist mitunter echte Detektivarbeit. Es bedeutet auch Nachtschichten, immer auf dem Sprung sein, stundenlange Autofahrten und Fußmärsche durch unwegsames Gelände. Es ist auch der Versuch, Menschen und Wildtiere miteinander auskommen zu lassen. So gibt es praktikable Methoden, um zu verhindern, dass Wölfe Nutztiere reißen.

Wissen Panel für Panel einprägsam vermittelt

Dieses exzellente Sachbuch vermittelt im perfekten Tempo, Schritt für Schritt, Bild für Bild, Panel für Panel alles Wissenswerte über Wölfe und illustriert es einprägsam. Es ist nur ein Beispiel, dass Comics längst nicht mehr nur Bildergeschichten mit Sprechblasen und onomatopoetischen Wörtern sind. Nicht nur billige Heftchen, von denen nur ganz wenige erhalten bleiben und nach Jahrzehnten für absurd viel Geld gehandelt werden.
Comics sind Erzählungen und Romane, Biografien, Fantasygeschichten, Kinder- und Erstlesebücher, aufwändig und hochwertig gestaltet. Die Form eignet sich auch hervorragend als Sachbuch von bleibendem Wert. Erstmals wurde dieses Jahr eine Graphic Novel in der Kategorie Belletristik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, Genossin Kuckuck von Anke Feuchtenberger. Nicht nur für Wölfe ist diese Wertschätzung zum Heulen schön.

Michał Figura, Alexandra Mizielińska, Daniel Mizieliński: Wölfe – Wahre Geschichten, Übersetzung: Marlena Breuer, Thomas Weiler, Moritz, 268 Seiten, ab 8 32 Euro

[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro