Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Familienglück

Am Wochenende habe ich hier in Berlin die ersten grünen Triebe und Schneeglöckchen entdeckt. Ganz zart und leise machen sie sich breit. Es wird Frühling. Und genau dazu passt das total liebenswerte Bilderbuch Wunschkind von Lilli L’Arronge.

Denn im Frühling wird gebaut und gegründet. Zuerst die Nester dann die Familien. Eichhörnchen und Rotkehlchen finden das wunderbar und beschließen, ebenfalls eine Familie zu gründen. Sie bauen ein Nest – und warten auf das Ei. Denn das kommt ja von selbst, man braucht nur etwas Geduld.

Und Recht haben sie. Eines Tages liegt ein riesiges Ei im Nest. Es ist „ganz genau richtig“. Rotkehlchen und Eichhörnchen brüten und verteidigen, bis das Küken schlüpft. Es ist prächtig, mit einem Schnabel wie der von Rotkehlchen und einem Fell in der Farbe wie die von Eichhörnchen, also „einfach ganz genau richtig“. Allerdings ist eine Familie zu haben anstrengender als gedacht. Aber sie macht glücklich.

Und genau das kann man auch von diesem Buch sagen: Es macht glücklich!

Es ist eine Liebeserklärung an die Familie, und zwar auch an die Patchwork-Gemeinschaften aus eigentlich nicht ganz kompatiblen Familienmitgliedern. Auch sie finden ihr Glück – mit Fleiß, Geduld und der Offenheit, auch ein Kuckuckskind als „ganz genau richtig“ zu akzeptieren.

Die Bilder in den leuchtenden Farben mit dem leicht kantigen, kräftigen Strich sind auf das Wesentliche reduziert und erzählen von der ungewöhnlichen Liebe der kleinen, zusammengewürfelten Familie.

Die kurzen Texte in einer frech-unperfekten Stencil-Schriftart sehen wie gestempelt aus und geben dem Ganzen einen frischen Touch.

Perfekt zum Vorlesen, gemeinsamen Anschauen und einfach großartig!

Lilli L’Arronge: Wunschkind, Jacoby & Stuart, 2012, 32 Seiten, ab 3, 12,95 Euro

Nachkriegsleiden

unterlandAls Kind von Kriegsflüchtlingen üben Nachkriegsgeschichten auf mich eine sonderbare Anziehungskraft aus. Dabei sind das keine „schönen“ oder gar lustigen Geschichten, sondern bitterernste, traumatisierende Erlebnisse, die da geschildert werden. Vielleicht versuche ich, die Erfahrungen meiner Eltern dadurch wenigstens noch ein Stückchen besser nachvollziehen zu können.

Diese Woche war es der Roman Unterland von Anne C. Voorhoeve, der mich nicht mehr losgelassen hat. Er handelt von der 12-jährigen Alice, die mit Mutter, Großmutter und Bruder Henry von Helgoland nach Hamburg evakuiert wird. Der Vater ist in Kriegsgefangenschaft, der Onkel vermisst. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 werden die Helgoländer mit vier anderen Familien in einer Villa einquartiert. Die Eigentümer begegnen den Flüchtlingen alles andere als freundlich, und nur die strenge Reglung der Küchenbenutzungszeiten verhindert Schlimmeres. Zum Kochen ist allerdings nicht viel da, mal fehlen die Lebensmittel, mal der Strom. Der Junge Wim weiht Alice in die Geheimnisse des Tausch- und Schwarzmarkthandels ein und nimmt das Mädchen mit auf Hamsterfahrt und Kohlenklau. Alice muss bei all dem zusätzlich mit dem Handicap eines amputierten Unterschenkels kämpfen. Sie krückt durch das zerbombte Hamburg, hofft auf eine neue, bequemere Prothese und erzählt das Ganze dabei mit so einer trockenen Selbstironie, dass weder Voyeurismus noch falsches Mitleid beim Leser aufkommt.

Viel wichtiger wird die Sehnsucht Alices, auf ihre geliebte Insel zurückzukehren. Bis es soweit ist, will sie mit ihrem Bruder Henry den angeblichen Verräter ausfindig machen, der eine friedliche Übergabe der Insel an die Briten verhindert hat. Dass dies ein sinnloses Unterfangen ist, merkt Alice schneller als ihr großer Bruder.

Überhaupt kommt die Ich-Erzählerin so einigen Geheimnissen auf die Spur: das Schicksal des verschollenen Onkels, das der verschwundenen Juden, die Lager, die Verbrechen der Nazis. Nach und nach wird ihr klar, worin die unermessliche Schuld der Deutschen besteht und warum sich die Besatzer selbst von den Kindern abwenden.

Voorhoeve stellt die Leiden der Nachkriegszeit so eindringlich und plastisch dar, dass man als Leser die Enge, die Kälte und den Hunger förmlich am eigenen Leibe spürt. Wie nebenbei erfährt man zudem, was die Briten mit Helgoland vorhatten (sie wollten die Insel komplett wegsprengen) und wie Nazis und Mitläufer versuchen, ihre Spuren zu verwischen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch viel schlimmer als die körperliche Not sind all die unbeantworteten Fragen, auf die Alice immer wieder stößt, und die Last der unausgesprochenen Schuld.

Unterland ist ein zutiefst berührender und überaus vielschichtiger Roman, der die Erinnerung an das Leid der Kriegskinder und Flüchtlinge sowie an die Gründe, die dazu geführt haben, wach hält. Jungen Leser bietet er jede Menge Anregungen, die eigenen Großeltern nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen aus dieser bewegten Zeit zu befragen.

Anne C. Voorhoeve: Unterland, Ravensburger Buchverlag, 2012,  434 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Superheld des Mittelmaßes

Eigentlich hat mir Spiegel Online dieser Tage mit der Meldung „Neugier schlägt IQ“ die Überschrift verdorben  – aber gleichzeitig auch die schönste Bestätigung zu einem ganz hinreißenden Buch geliefert, nämlich Supermittelmäßig von Susie Morgenstern.

Darin erzählt die französische Autorin, in der charmant-leichten Übersetzung von Tobias Scheffel, die Geschichte von Alexander. Der Junge ist acht und in nichts richtig gut oder richtig schlecht. Er interessiert sich nicht für Fußball, er strengt sich in der Schule nicht an, und selbst Katastrophen gelingen ihm nur halb. Er ist eben einfach supermittelmäßig.

Erst das Klavier, das ihm sein Onkel eines Tages schenkt, weckt seine Neugierde. Und langsam merkt Alexander, dass man auch als Supermittelmäßiger in manchen Dingen besser werden und eine Leidenschaft für etwas entwickeln kann – wenn man nur neugierig genug ist.

Und genau darüber berichtete der Spiegel im Netz: Mittelmäßige Studenten, die jedoch neugierig und gewissenhaft sind, bewältigen ihr Studium genauso erfolgreich wie überdurchschnittlich Intelligente. Irgendwie sehr beruhigend.

Dass wir nicht alle Genies, Nobelpreisträger und Überflieger sein können, ist klar, nur wird die Masse der Mittelmäßigen meistens mit Missachtung gestraft. Denn wir wollen Helden, Erfolgsgeschichten und die Orientierung nach Höherem. Oder aber den absoluten Antihelden, dem einfach gar nichts gelingt. Dann fühlen wir uns besser. Beide Richtungen sind vollkommen in Ordnung und werden gebraucht.

Umso hinreißender ist allerdings dieses Buch, das genau all denen Mut macht, die es nie an irgendeine Spitze schaffen – im positiven wie im negativen Sinne. Denn Alexander weiß ganz genau: „Was würde aus uns ohne die Mittelmäßigen? Die Mittelmäßigen werden gebraucht. Sie sind lebenswichtig. Die Mittelmäßigen sorgen dafür, dass die Welt sich dreht. Sie sind das Salz der Erde. Es lebe das Mittelmaß!“

Dafür und für seine Bemühungen auf der „Leiter der Mittelmäßigen“ wenigstens ein bisschen nach oben zu krabbeln, möchte man den Lütten einfach nur in den Arm nehmen und knuddeln. Seine Offenheit und Neugierde machen ihn zu einem leuchtenden Vorbild, dass man auch ohne Hochbegabung, Spitzenleistung und Frühförderung etwas leisten kann, das Respekt verdient. Alexander ist mein Superheld der Mittelmäßigen!

Die überaus liebenswerten Illustrationen von Claude Dubois machen es zusätzlich leicht, Alexander und seine Freunde von der ersten Seite an ins Herz zu schließen.

Susie Morgenstern: Supermittelmäßig, Übersetzung: Tobias Scheffel, Illustrationen: Claude K. Dubois, Boje Verlag, 61 Seiten, ab 8, 10 Euro

Die Welteinrichter

allerleirauhGibt man bei Amazon den Begriff „Kinderreime“ ein, erhält man momentan über 1700 Treffer. Meist ist dieser Begriff im Titel der Bücher mit einem Adjektiv kombiniert: die ersten, schönsten, liebsten Kinderreime. Poesie für Kinder muss scheinbar immer noch mit Superlativen an die vorlesenden Eltern gebracht werden.

Dabei gibt es seit über fünfzig Jahren eine umfassende Sammlung von Abzählreimen, Ringelreihen und Schabernack, die ohne Übertreibung auskommt und schlicht Allerleirauh heißt.

Wie der Pelzmantel aus dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm „tausenderlei Rauhwerk“ vereint, hat Hans Magnus Enzensberger hier 777 Kinderreime versammelt und sich dabei aus 77 Quelltexten bedient. Die Reime kommen dabei nicht nur weich und kuschelig daher, sondern sind durchaus auch rau, widerborstig und gehen gegen den Strich der häuslichen Harmonie.

In den Reimen wird gehungert, gestorben, gelogen und Schabernack getrieben. Kinder und Tiere suhlen sich im Dreck, Väter drohen Schläge an, Nonnen betrinken sich, man spricht Kauderwelsch oder in Rätseln. Manchmal ist das harter Tobak und gleichzeitig poetisches Manna. Als erwachsener Leser begibt man sich unwillkürlich auf die Suche nach alten Bekannten und findet meist Varianten.

Doch genau das ist ganz in Enzensbergers Sinne – die Freiheit des Gebrauchs der ursprünglich zu meist mündlich übermittelten Reime. Jeder kann sie umdichten, weiterentwickeln, anpassen, denn „ein guter Reim ist immer zu brauchen“. Und gut ist nach Enzensberger, „was dem Kind Welt als Sprache zuträgt und kenntlich macht: jede Silbe eine Überraschung, ein winziges Wunder“ (S. 359). Verzichtet hat er dabei auf so genanntes Schmuggelgut, also auf die moralinsauren Kinderlieder, „das Falschgeld der Gefühle“ (S. 358), die die Kinder zu braven angepassten Marionetten erziehen wollen.

Und so ist diese Versammlung, die nun in gebundener Form als Neuauflage zu haben ist, immer noch eine Wundertüte voll anarchischem Humor, (Wieder)Entdeckungen, Reisen in Vergangenheit und Phantasie. Man staunt, lacht, singt und freut sich an den Welten, die sich auf wenigen Zeilen eröffnen.

Fehlten meinem kleinen, manchmal noch literaturwissenschaftlich tickenden Herzen anfangs die genauen bibliografischen Angaben zu den einzelnen Texten, so unwichtiger wurde das Wissen um Herkunft und Entstehungszeit, je weiter ich in die Verse eintauchte. Die Reime entfalten einen Zauber, der einem im Hier und Jetzt das Herz aufgehen lässt. Alles andere ist unwichtig.

Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime versammelt von Hans Magnus Enzensberger, 380 Seiten mit 391 alten Holzschnitten, Insel Verlag, 2012, 24,95 Euro

Purzelchen und Appetitis

gutenachtgeschichten am telefonHeute erreichte mich das erste Exemplar eines ganz entzückendes Buchs: Gutenachtgeschichten am Telefon. Dass ich mich bannig über dieses Buch freue, liegt an daran, dass ich im vergangenen Jahr die Favole al telefono von Gianni Rodari neu übersetzt habe. Und die Frucht dieser Arbeit liegt nun endlich vor mir.

Ausnahmsweise muss ich hier in eigener Sache schreiben und die Gelegenheit nutzen, mich zu bedanken. Die Arbeit an der Übersetzung hat richtig viel Spaß gemacht und war zugleich eine anspruchsvolle Herausforderung. Die Leichtigkeit von Rodaris Sprache, der charmante Humor, der Wortwitz, die italienischen Besonderheiten waren nicht immer leicht zu übertragen. Anfangs war ich sogar felsenfest davon überzeugt, dass zwei Geschichten nicht zu übersetzen sind. Zu speziell erschienen mir die Geschichten „Il paese con l’esse davanti“ und „Processo al nipote“. Vor allem letztere zeichnet sich durch ein Wortspiel aus, in dem ein vergessenes Apostroph die Bedeutung eines Wortes (l’ozio/der Müßiggang) in eine völlig andere verschiebt (lo zio/der Onkel). Was also tun, wenn das betreffende Sprichwort auf Deutsch lautet „Müßiggang ist aller Laster Anfang“? Wie soll man da einen Onkel unterbringen?

Wochenlang war ich ziemlich ratlos. Und habe schön um diese Geschichte herumübersetzt. Doch zum Glück war ich als Übersetzerin nicht allein und hatte zwei aufschlussreiche Begegnungen mit Kollegen, die ebenfalls aus dem Italienischen übersetzen.

Im Sommer 2011 durfte ich an der Übersetzer-Werkstatt ViceVersa in Settignano bei Florenz teilnehmen. Dort stellten zwölf italienisch-deutsch Übersetzer ihre aktuellen Texte vor. Stundenlang diskutierten wir über Wortbedeutungen, Intentionen von Autoren, Syntaxmonster, Reime und Poesie. Es war manchmal anstrengend, aber hauptsächlich anregend. Unglaublich anregend.

Fortgesetzt habe ich die Diskussion ein paar Wochen später in Berlin beim italienischen Übersetzertreffen. Und auch hier wurde wieder kein Blatt vor den Mund genommen, alles wurde auseinandergenommen, angeschaut, gewendet, gedreht, gelobt, geknickt, geklärt … und so hielten Alte Sprichwörter, Purzelchen und Appetits Einzug in die Texte.

Angeregt durch diese intensiven Arbeitsrunden konnten meine Hirnwindungen dann das Denken und Rumprobieren nicht mehr lassen, bis auch die Lösungen für die beiden scheinbar unübersetzbaren Geschichten plötzlich da waren. Und so finden sich jetzt in diesem Buch auch „Im Lande Frei“ und „Der Neffe vor Gericht“ …

Den Organisatoren von ViceVersa, den Kollegen, die in der Villa Morghen mitdiskutiert haben, und den Berliner Italienischübersetzern gilt mein allerherzlichster Dank!!

In dieser Ausgabe liegen nun also alle 70 Geschichten von Rodaris Favole al telefono in einer einheitlichen Übersetzung vor. Geadelt werden die fünfzig Jahre alte Geschichten durch die luftig-leichten, märchenhaft-schönen Illustrationen von Anke Kuhl. Sie machen dieses Buch zu einem Gesamtkunstwerk – wie ich finde.

Gianni Rodari: Gutenachtgeschichten am Telefon, Übersetzung: Ulrike Schimming, Illustration: Anke Kuhl, S. Fischer Verlag, 2012, 207 Seiten,  14,99 Euro

Schätze und Vampire

Roald DahlManchmal bescheren einem die Verlagsankündi-gungen unerwartete Reisen in die eigene Kindheit. Ein solch vergnüglicher Rückblick wurde mir jetzt mit dem Hinweis auf das 40-jährige Jubiläum der roro-Rotfuchs-Reihe aus dem Rowohlt Verlag zuteil.

Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, die weißen Taschenbücher mit den Fotos auf der Vorderseite und dem dreiteiligen Comic-Strip mit dem Rotfuchs auf der Rückseite. Diese Bücher mit ihren packend realistischen Geschichten waren feste Begleiter meiner frühen Jugendzeit. Sie stillten meinen Lesehunger, und in der rückblickenden Mystifizierung könnte ich jetzt behaupten, die Comic-Strips haben meine Liebe für Graphic Novels geweckt …

Rowohlt hat jetzt im Rahmen ihres Jubiläums zwei meiner Kindheits- und Jugendbegleiter in neuem Kleid herausgebracht. In Die große Roald Dahl Schatzkiste findet man die Perlen des Walisers mit dem fiesen schwarzen Humor. Ich kannte von Ronald Dahl vor allem seine skurrilen Küsschen-Küsschen-Geschichten und habe jetzt mit Wonne die Storys von der leseverrückten Matilda, Willy Wonka, Mr. Fox oder vom schüchternen Herrn Hüpfenstich verschlungen.

Ergänzt werden die fantastischen Geschichten durch Ausschnitte von Dahls autobiografischem Text Boy sowie mit rotzfrechen Rezepten des Autors, die aus der Lektüre ein umfassend sinnliches Erlebnis machen, wenn man sofort in die Küche eilt und Karamellmilch und Theo-Torfkopp-Schokotorte zubereitet.

Diese wunderbare Melange ist so überaus liebevoll wie schräg von dem großartigen Quentin Blake illustriert, dass kleine Zuhörer beim Vorlesen jede Menge zu schauen und zu  entdecken haben. Dieses Buch ist ein wahrer Schatz, nicht nur eine Schatzkiste.

der kleine VampirDas zweite Rotfuchs-Déjà-vu ist Der kleine Vampir von Angela Sommer-Bodenburg. In einer erweiterten Neuausgabe sucht Rüdiger von Schlotterstein neu ummantelt mit blutigen Illustrationen von Amelie Glienke den Jungen Anton heim.

Bei allem Vampir-Hype der vergangenen Jahre ist es richtig erholsam, mal wieder einen klassischen Blutsauger im schwarzen Umhang und mit einer Familiengruft als Zuhause zu erleben. Böse Tanten, Vampir-ärgere-dich-nicht, Blutvergiftung beim Vampir und ewig pubertierende Jung-Vampire ergeben noch immer eine charmante Mischung aus Grusel und Grinsen. Fast wünscht man sich, Anton möge sich gegen die Avancen von Anna, Rüdigers Vampir-Schwester, nicht so sträuben. Doch selbst wenn Rüdiger jetzt schon 33 Jahre durch die Buchregale und Kinderzimmer flattert, hat er nichts an Frische und Biss verloren. Und wer dann doch noch eine „richtige“ Vampirliebesgeschichte braucht, der findet mittlerweile ja schön bissige Romane dieser Art im Buchhandel …

Roald Dahl: Die große Roald Dahl Schatzkiste, Übersetzung: Inge M. Artl/Dorothee Asendorf/Roswitha Fröhlich u.a., Illustrationen: Quentin Blake, Rowohlt, 2011, 349 Seiten, ab 6, 19,99 Euro

Angela Sommer-Bodenburg: Der kleine Vampir, Illustrationen: Amelie Glienke, Rowohlt, 2011, 159 Seiten, ab 6, 10,00 Euro

Das Rotzgör

ur-pippiVor zehn Jahren starb Astrid Lindgren. Mit ihren Büchern bin ich erst ziemlich spät in Berührung gekommen. Meine Mutter drückte mir als Kind lieber der Reihe nach die Bände von Else Urys Nesthäkchen in die Hand. Damals habe ich die Geschichten aus Berlin geliebt – heute ertrage ich sie leider nicht mehr, zu konservativ ist die gutbürgerliche Welt der Ury.

Umso mehr habe ich sehr viel später die Geschichten von Michel, Bullerbü und natürlich Pippi verschlungen. Der Respekt für die Kinder und der offene Antikonformismus lagen mir näher. Pippi war dabei natürlich unübertroffen: stark, schlagfertig, unabhängig und so unglaublich lebensklug. Tommy und Annika, die „lieben kleinen karierten Kinder“ (Ur-Pippi), konnten dagegen einpacken.

Als dann der Oetinger Verlag 2007 die Ur-Pippi herausbrachte, las ich die Geschichte noch einmal, mit erwachsenen Augen und dem Blick der Literaturstudierten. Und hier präsentierte sich auf einmal eine Pippi, die noch frecher und vorwitziger war, als im Standardtext. Die Ur-Pippi ist sprachlich ungeschliffener und nicht so glatt. Die Heldin wiederum ist noch unabhängiger, hat sie doch keine „Mama im Himmel“ und keinen Vater als „Negerkönig“. Sie verschafft sich mit einem Fingerstupser Respekt vor mobbenden Jungs (wie man das Verhalten heute nennen würde) und führt die Erwachsenen noch rigoroser vor. Herrlich.

Der Kommentar, der dem Urtext folgt, klärt über die Entstehungsgeschichte und die Widerstände gegen diesen anarchischen Roman auf. Hier wird die ursprüngliche Kompromisslosigkeit Lindgrens bei der Verteidigung der Kinderrechte deutlich. Sie entlarvt die Unverschämtheiten und Beleidigungen der Erwachsenen – und deutet die Grandezza von Pippi an, die sie in ihrer späteren mythischen Form erlangt.

Die  Ur-Pippi liefert einen literaturwissenschaftlich aufschlussreichen Blick in die Entstehung des Pippi-Langstrumpf-Kosmos‘ – für eingeschworene Pippi-Fans im Erwachsenenalter ein Muss.

Astrid Lindgren: Ur-Pippi, Übersetzung: Angelika Kutsch und Cäcilie Heinig, Oetinger Verlag, 2007, 176 Seiten, 14,90 Euro 

Voll verzerrt

steamnoirDie Literatur ist voller fremder Welten. Menschen brauchen fiktive Orte, denn hier können sie ihrer Fantasie alle Freiheiten lassen, Autoren können Gott spielen, Leser sich eskapistisch aus der Realität wegträumen. Nicht jede der fiktiven Welten reizt mich oder zieht mich so in ihren Bann, dass ich tatsächlich darin eintauche. Neulich hat diese aber nach langer Zeit mal wieder ein Comic geschafft. Zuerst mit Unverständnis, dann mit steigender Faszination habe ich Steam Noir – Das Kupferherz verschlungen, Auftakt zu einer vierbändigen Steampunk-Saga.

Autor Benjamin Schreuder und Zeichner Felix Mertikat erschaffen eine düstere Ätherwelt, in der ein zerbrochener Planet schwebt. Sie beschränken sich jedoch nicht nur eine eindimensionale Steampunk-Geschichte zu erzählen, sondern flechten in die Dampf- und Ätherwelt einen Krimiplot mit den unterschiedlichsten zwielichtigen Figuren sowie eine mythische Toteninsel Vineta mit ewigwandelnden Seelen ein.

In eine Villa wurde eingebrochen und nun ermittelt ein sehr schräges Kriminalisten-Team: Heinrich Lerchenwald, ein sogenannter Bizzaromanten, der für übernatürliche Phänomene zuständig ist, der empfindsame, 2,25 Meter große Maschinenmensch Richard Hirschmann und die kühle Forensikerin Frau D. In der Villa finden sie zweierlei: Spuren einer Mädchenleiche und die einer verlorenen Seele. Scheinbar hat die Seele die Leiche, die in einem Hauskamin eingemauert war, gestohlen. Das tote Mädchen trug ein künstliches Kupferherz in der Brust. Bei einer Begegnung mit einer Seele verliert Lerchenwald eine Hand, ein unbekannter Wohltäter spendiert ihm jedoch eine hochwertige Technohand. Nach und nach kommen die drei Protagonisten einem skrupellosen Prothesenhersteller auf die Schliche, der den unsterblichen kybernetischen Organismus schaffen will. Die Auflösung des Falls wird sich in den kommenden drei Bänden entwickeln.

Vieles, nicht alles, in dieser Dampfmaschinen-Welt versteht man eigentlich erst, wenn man das Bonusmaterial studiert und dort beispielsweise die Erklärung für Aufbau der Atmosphäre (dichter Äther) und die Fortbewegungsmittel (Ätherschiffe) findet. Doch die oliv-braun-grau-gedämpften Panels mit ihren schwarzen, dynamischen Rahmen bieten in ihrer Detailfülle so viel zu entdecken, dass man diese Wissenslücken geradezu als reizvoll empfindet. So entdeckt man sonderbarste Maschinen und Waffen, Menschen und Tiere mit künstlichen Gliedmaßen, absurde Kreaturen. Sobald man nach dem Comic die Hintergründe dieser tristen, aber überaus faszinierenden Welt erfährt, blättert man mit einem „wissenden“ Blick noch mal zurück und begreift die Feinheiten dieses Universums. Die beiden Macher haben mit Steam Noir die Steampunk-Kultur um eine extrem coole grafische Umsetzung bereichert.

Einziger Wermutstropfen ist für mich jetzt nur, dass ich auf die Fortsetzung der Geschichte bis zum Sommer 2012 warten muss. Das wird hart …

Felix Mertikat/Benjamin Schreuder: Steam Noir. Das Kupferherz (Band 1), Cross Cult, 2011, 61 Seiten, 16,80 Euro

Unerziehbar

Penelope Lumley ist zwar erst 15 Jahre alt, doch sie ist von ganzem Herzen Gouvernante. Schließlich wurde sie im renommierten Swanburne-Institut für kluge Mädchen aus armen Verhältnissen dazu ausgebildet und hat als Klassenbeste abgeschnitten. In ihrer ersten Stellung im noblen Herrenhaus Asthon Place werden ihr drei ganz besondere Kinder anvertraut. Sie heulen wie die Wölfe und jagen mit Vorliebe Eichhörnchen. Penelope brennt darauf, den Kindern ihre Lieblingsgedichte vortragen zu können, sie in Französisch und Latein zu unterrichten, ihnen die Unterschiede zwischen barocker und romantischer Musik zu erklären und Aquarelle mit ihnen zu malen.

Aber all dies muss erst einmal warten, denn ihre drei Schützlinge mit den Namen Alexander, Beowulf und Cassiopeia sind Wolfskinder. Der Hausherr Lord Frederick fand sie während einer Jagd auf seinen riesigen Ländereien. Und nun müssen die Geschwister zunächst die Grundregeln des menschlichen Daseins und Lebens erlernen, als da wären: sprechen, zivilisiert essen, sich anziehen und eben nicht jedem Eichhörnchen hinterherjagen.

Penelope legt eine unglaubliche Liebe und Geduld  bei ihrer Aufgabe an den Tag. Denn sie weiß, dass die Kinder nichts dafür können, in welchen Verhältnissen sie bis dahin gelebt haben. Die junge Gouvernante akzeptiert die drei vorbehaltlos und versucht mit ihrer Erfahrung aus der Hundeschulung und einem Eichhörnchen-Desensibilisierungsprogramm, sie nach und nach zu gesitteten Engländern zu machen. Doch auf dem Weihnachtsball von Lady Constance nimmt das Chaos seinen Lauf …

Der Amerikanerin Maryrose Wood, deren Gothic-Trilogie Poison Diaries seit vergangenem Jahr bei Fischer FJB erscheint, legt mit Das Geheimnis von Ashton Place eine wunderbar turbulente Geschichte vor. Sie bildet den Auftakt zu einer ganzen Reihe über die „unerziehbaren Kinder von Ashton Place“ (wie der Titel im Original lautet). Hier trifft versnobtes Getue aus dem Hochadel auf die Liebenswürdigkeit einer jungen Heldin, für die Kinder überaus ernstzunehmende Individuen sind, die es zu respektieren gilt. Dieses Buch geht ans Herz, zaubert ein Dauerlächeln auf die Lippen und ist einfach eine Wonne – die Lust auf die Fortsetzung macht.

Maryrose Wood: Das Geheimnis von Ashton Place. Aller Anfang ist wild, Übersetzung: Eva Plorin, Thienemann Verlag, 2012, 304 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Der Bund der Stiefmüttergeschädigten

Der Eiserne KönigAn Jahresanfängen lassen sich sehr gut neue Pläne schmieden und Vorsätze fassen: Meiner für dieses Jahr lautet, die Märchensammlung der Brüder Grimm neu zu lesen. Denn am 20. Dezember jährt sich das Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen zum 200. Mal, und die gehört seit 2005 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Eine sehr passende Gelegenheit den Gründungsvätern der Germanistik meine Reverenz zu erweisen.

In den vergangenen Wochen hat mir bereits ein aktuelles Buch unglaubliche Lust auf die Grimm’schen Märchen gemacht. Der Eiserne König von John Henry Eagle ist nämlich so etwas wie die Fortsetzung der klassischen Märchensammlung. Hans und Sneewitt sind erwachsen geworden und müssen sich neuen Aufgaben stellen, jenseits von gefräßigen Hexen und bösen Stiefmüttern. Das Reich Pinafor ist in Gefahr. Der Eiserne König droht, wieder aufzuerstehen und die Macht an sich zu reißen. Die Protagonisten brauchen die Hilfe eines kleinen Mädchens, auf dessen Rücken ein Labyrinth tätowiert ist. Dieses führt sie zur lebensspendenden Esche. Unterstützt von Reineke Fuchs, Rumpenstünz und weiteren Gefährten ziehen die Helden durch ein verwunschenes Reich, um den drohenden Weltuntergang und die Schreckensherrschaft des Eisernen Königs abzuwenden.

Zwar habe ich mich manchmal in den vielen Kämpfen und Winkelzügen im Märchenwald etwas verlaufen, doch die herrliche Respektlosigkeit, die Sprachgewalt und der Witz, mit denen Eagle das große Abenteuer erzählt, zogen mich immer wieder neu in den Bann. Der Autor spielt geschickt mit den Hausmärchen, weckt Kindheitserinnerungen und kitzelt den Ehrgeiz, die Figuren richtig einzuordnen. Mir ist das – ich gebe es zu – nicht in allen Momenten gelungen. Umso mehr also jetzt das Verlangen, die Original-Märchen noch einmal genau nachzulesen.

Ganz wunderbar kann man das schon mal mit der bebilderten Fassung von Schneewittchen. Der französische Illustrator und Comic-Autor Benjamin Lacombe hat die Königstochter und die sieben Zwerge in surreal-poetischen Bildern neu erschaffen. Unschuldige Schönheit trifft dabei auf eine gruselig düstere Atmosphäre, in der Raben, Geier und Pelztiere interpretatorische Fragen aufwerfen … So mag das dünne Buch schnell wieder weggelegt sein, in Gedanken bleibt man jedoch lange bei den rätselhaften Bildern.

Eagles Märchen hingegen ist einfach eine fantastische Verneigung vor dem Werk von Wilhelm und Jacob Grimm.

John Henry Eagle: Der eiserne König, Fischer FJB, 2011, 650 Seiten, 19,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Schneewittchen, Illustration: Benjamin Lacombe, Jacoby & Stuart, 2011, 48 Seiten, 16,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Es war einmal … Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte. Hrsg. v. Heinz Rölleke und Albert Schindehütte, Die Andere Bibliothek, 2011, 435 Seiten, 79 Euro

Satt an Tagen

goodbye uromaUroma ist 92 und hat einen Entschluss gefasst: Am 14. September um 17 Uhr will sie sterben. Dann hat sie 33770 Tage gelebt, das reicht ihr, sie ist satt an Tagen. Und das möchte sie an dem Tag mit einem großen Fest im Kreis ihrer Familie und Freunde gebührend feiern. Das ist dem 11-jährigen Mikael nicht genug. Er lässt sich von der Schule befreien, um die restlichen zwölf Tage mit der geliebten Uroma zu verbringen.

Gemeinsam bereiten Urenkel und Uroma nun alles für den großen Tag vor: Sie kaufen orangefarbenen Stoff für das Leichenhemd, suchen einen schlichten weißen Sarg aus, unterrichten den Pfarrer über Uromas Musikwünsche für die Trauerfeier (die alte Dame steht auf Elvis und besteht auf „Return to Sender“), sie veranstalten einen Nachlass-Flohmarkt mit Uromas Habseligkeiten und machen einen letzten Ausflug.

Zwischendrin erzählt Uroma Mikael von den schönen und weniger schönen Dingen aus ihrem Leben, trainiert im Sarg das Sterben – und bringt dem Jungen quasi nebenher bei, dass der Tod zum Leben gehört.

Jetzt könnte man meinen, dieser amüsante Umgang mit dem Sterben sei pietätlos und gehöre sich nicht, doch der Norwegerin Eli Rygg gelingt es auf sehr charmante Art, sich diesem schweren Thema leicht und liebevoll zu nähern. Sein Leben auf natürliche Art und Weise selbstbestimmt zu beenden wird bei ihr zu einer erstrebenswerten Selbstverständlichkeit und hat etwas ungemein Tröstliches. Denn Uroma nutzt die Zeit davor, „den inneren Komposthaufen“ zu wenden, Versäumtes nachzuholen und ihrem Urenkel die Dinge zu gestehen, die sie bereut.

Erstaunlicherweise baut sich selbst bei der eher traurigen Aussicht auf Uromas Ende eine Spannung auf, ob ihr Vorhaben wirklich gelingt …

Man sollte sich von dem etwas sonderbaren Buchcover nicht abschrecken lassen – dahinter erwartet den Leser eine außergewöhnliche Geschichte, die eines der letzten Tabus unserer Zeit ankratzt und gleichzeitig das Leben feiert.

Eli Rygg: Goodbye, Uroma!, Übersetzung: Nina Hoyer, Gerstenberg Verlag, 2012, 221 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

Das Hauptstadtlehrbuch

spazieren in BerlinMein Lieblingswanderbuch in diesem Jahr ist eindeutig Franz Hessels Spazieren in Berlin. Wobei der Untertitel der Originalausgabe von 1929 das eigentliche Anliegen dieses Buches verheißt: Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehn ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiss. Das ist ein Versprechen, ein wunderschönes. Und das Buch löst es ein.

In Abständen greife ich immer wieder dazu und suche mir das Kapitel heraus, das gerade zu meinen eigenen Berlin-Erlebnissen passt. Und dann entdecke ich Schätze, die mir die vergangene Fülle dieser Stadt vor Augen führt. Heute zum Beispiel war es der folgende Satz: „Die ganze Seydelstraße entlang stehen gespensterhaft in den Schaufestern die Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und ‚Stilfiguren’ der ‚Schaufensterkunst’, die in Tausenden von Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen.“ (S. 35) Von Schaufenstern ist in der heutigen Seydelstraße nichts mehr zu sehen. Gespensterhaft sind vielmehr die Neubauten, die dort gerade auf den Brachen des ehemaligen Mauerstreifens aus dem Boden gestampft werden. Es kommt mir nicht so vor, als ob hier an die Geschäftigkeit von damals wieder angeknüpft werden soll. Die „Neue Mitte“ ist viel mehr das Schlachtfeld der Immobiliengeschäfte.

Zurück zu Hessel: Er läuft und fährt durch das „Gemisch von Großstadt und Gartenstadt“, erkundet den Kreuzberg, das Zeitungsviertel, flaniert von Neukölln nach Britz, durchkämmt die Hasenheide und die Friedrichstadt. Und stellt lakonisch fest, dass im Vergleich zu 100 Jahren vorher die Gegend um den Hackischen Markt „jetzt alles andre als märchenhaft“ ist (S. 190). Man wünschte sich sein Urteil zu dem heutigen Trubel dort …

Mit aller Selbstverständlichkeit eines Chronisten beschreibt Hessel das, was heute natürlich oft fehlt. Doch dann gibt es Passagen, in denen scheinbar das Berlin von heute durchschimmert, und man ist beruhigt, dass der Geist der Stadt und die Berliner Lebensart das Auf und Ab der Geschichte überstanden hat.

Franz Hessels Stimme aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stößt die Bewohner und Besucher der Hauptstadt auf ihre Schönheit, ihre Räudigkeit, ihr Können und ihr Versagen in der Gegenwart: „… wir wollen ein weinig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“ (S. 221)

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, Geleitwort: Stéphane Hessel, Nachwort: Bernd Witte, neu herausgegeben von Moritz Reininghaus, Berlin Verlag Taschenbuch, 2012, 240 Seiten, 9,99 Euro

… und fernsehen hilft doch

wir werden nicht von Yaks gefressenMomentan mache ich eine Beobachtung, bei der ich ab und an mal schmunzeln muss – oder mich extrem wundere: Es erscheinen gerade ein paar Bücher, zu denen ich für den einen oder anderen Verlag in den vergangenen Monaten Gutachten geschrieben habe. Bei vielen ist mein Daumen nach unten gegangen. Doch jetzt stelle ich fest, dass einige dieser Trash-Romane dennoch auf Deutsch erscheinen (allerdings nicht in den Verlagen, denen ich davon abgeraten habe). Nun ja, es scheint ein immenses Bedürfnis nach neuen Storys zu geben, egal wie deren Qualität ist … Umgekehrt freue ich mich dann immer, wenn eine Empfehlung von mir auch wirklich eingekauft und übersetzt worden ist. So ein Fall ist das folgende Buch von C. Alexander London mit dem skurril langen Titel Wir werden nicht von Yaks gefressen* *hoffentlich.

Die 11-jährigen Zwillinge Celia und Oliver Navel lieben Fernsehen. Sie sitzen am liebsten den ganzen Tag vor dem Kasten und sind echte Experten für Film, Soaps, Reality-TV, Koch-Shows, Reisesendungen und Sportevents. Doch sie wohnen mit ihrem Vater, dem Forscher Dr. Ogden Navel, im Haus des exklusiven Forscher-Clubs und müssen sich ständig die Abenteuergeschichten aller möglichen Forschungsreisender anhören. In den Ferien schleppt der Vater sie in die exotischsten Länder, wo sie angeblich aufregende Dinge erleben. Doch die Kinder finden das entsetzlich, sie wollen keine Käfer essen oder von Eidechsen gebissen werden. Sie möchten einfach nur ihre Ruhe haben und wünschen sich nichts sehnlicher als ordentliches Kabelfernsehen. Ihre Mutter Claire ist seit drei Jahren verschollen, auf der Suche nach der verlorenen Bibliothek von Alexandria. Ein bisschen vermissen die Kinder sie und fragen sich, ob die Mutter vielleicht weggegangen ist, weil die Zwillinge solche Langweiler sind. Doch dann verschlägt eine Intrige gegen ihren Vater die Zwillinge nach Tibet. Dort begegnen sie üblen Gifthexen, machthungrigen Forschern und Lamas, die keine Lamas sind. Und sie finden eine Spur zu ihrer verschollenen Mutter …

An Rasanz und schrägem Humor ist diese Geschichte kaum zu übertreffen. In Indianer-Jones-Manier retten sich die beiden TV-Abhängigen aus allergefährlichsten Lebenslagen, immer mit Hilfe ihres Wissens aus dem Fernsehen. Schließlich winkt ihnen als Belohnung für ihr Abenteuer endlich Kabelfernsehen. Das Couch-Potato-Image der Kinder kontrastiert wunderbar mit der Aufgeregtheit und Angeberei der Erwachsenen, denen die jungen Helden beweisen, wie clever sie durch ihren Fernsehkonsum geworden sind. Falls also jemand noch einmal behauptet, Fernsehen mache dumm, dem sei dieses Buch empfohlen …

C. Alexander London: Wir werden nicht von Yaks gefressen* *hoffentlich, Übersetzung: Petra Koob-Pawis, Arena Verlag, 2011, 278 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Korrekter Bigtalk

Marcelo in the Real WorldWas ist die wahre Welt? Und ist die Wahrheit immer ein Geschenk? Marcelo macht sich da so seine ganz eigenen Gedanken. Das liegt zum Teil daran, dass er eine Art des Asperger-Syndroms hat. Sätze nimmt er wörtlich, übertragende Bedeutungen hat er im Kommunikationstraining gelernt. Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen fällt ihm schwer. Lieber diskutiert er mit Rabbinerin Heschel über sein Spezialgebiet, Gott. Er hört eine wohlige innere Musik. Außerdem liebt er die Haflinger-Ponys seiner Schule, an der er so sein darf, wie er eben ist. Ein bisschen langsam, sehr korrekt und einfach liebenswert.

Sein Vater, Staranwalt in einer großen Gemeinschaftskanzlei in Boston, sieht das jedoch anders und verpflichtet Marcelo, die Sommerferien über in der Poststelle der Kanzlei zu arbeiten. Damit der Sohn das wahre Leben kennenlernt und sich weiterentwickelt.

Und das tut er – nur nicht auf die Art, wie der Vater es sich gedacht hat. Denn mit den Regeln der wahren Welt und vor allem mit denen des amerikanischen Justizsystem konfrontiert, beschließt Marcelo nach gründlichen Überlegungen, nicht mehr mitzuspielen, sondern der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen…

Was sich als Plot vielleicht nicht besonders spektakulär anhört, wird jedoch durch die Darstellung der Arbeitswelt, die wir wahrscheinlich als „normal“ bezeichnen würden, überaus beeindruckend: Der grobe, menschenverachtende und fast schon gewalttätige Umgang der Kanzlei-Mitarbeiter untereinander zog mir die Eingeweide zusammen. Gefühlskälte, Berechnung, Manipulation herrschen hier – und werden durch Marcelos Blick darauf in ihrer ganzen Grausamkeit entlarvt. Fassungslos liest man vor den Umgangsformen und Gepflogenheiten, die in der „wahren Welt“ gang und gäbe sind.

Doch zum Glück gibt es Jasmine. Sie zeigt dem Jungen die Hügel von Vermont, den Sternenhimmel und eine Welt, in der Klarheit, Ehrlichkeit und Liebe möglich sind. Das tröstet und beruhigt ganz ungemein. So möchte man sofort mit Marcelo dorthin ziehen und der inneren Musik lauschen.

Marcelo In The Real World ist eine Perle – sowohl sprachlich, dank der pointierten Übersetzung von Britta Waldhof, als auch inhaltlich, dank der genauen Beobachtung durch Autor Francisco Stork, der uns allen einen Spiegel vorhält, wie nachlässig wir im täglichen Leben mit Worten und Gefühlen umgehen. Einfach großartig.

Francisco X. Stork: Marcelo in the Real World, Übersetzung: Britta Waldhof, Fischer FJB, 2011, 363 Seiten, 17,95 Euro

Burn-out im Vatikan

Eigentlich soll es hier ja um Bücher gehen, doch jetzt muss ich kurz einen Exkurs in die Filmkritik machen. Ich bin nämlich noch ganz beseelt von Nanni Morettis neuestem Werk: Habemus Papam. Den dämlichen deutschen Untertitel lasse ich hier weg, denn der trifft das Ganze so gar nicht.

Moretti schildert die Nöte eines frisch gewählten Papstes (Michel Piccoli). Kurz vor dessen Auftritt auf dem Vatikanischen Balkon erleidet der Pontifex Maximus einen Nervenzusammenbruch und macht sich aus dem Staub. Auch der herbeigerufene Psychoanalytiker (Nanni Moretti) kann, obwohl er mit dem Fluch, der Beste zu sein, geschlagen ist, nichts ausrichten.  Schließlich irrt das Kirchenoberhaupt durch Rom, auf der Suche nach seiner Bestimmung.

Nanni Moretti, feinsinniger Komiker und genauer Beobachter, bringt Menschlichkeit und Volleyball in den Vatikan und die Psychoanalyse an ihre klerikalen Grenzen. Der zarte Humor freut die Zuschauer, und doch bleibt einem das Lachen oftmals im Halse stecken, zu überwältigend sind die Seelenqualen des Hauptdarstellers. Irgendwann musste ich dann doch das Taschentuch zücken …

Michel Piccoli als Papst wider Willen ist einfach großartig. Ständig möchte man ihn trösten, ihm seine Freiheit und Ruhe verschaffen. Gleichzeitig stößt er den Zuschauer auf seine eigenen Zwänge und die Vereinnahmung durch die Umwelt. Man leidet mit – und ist ergriffen von der Auflösung.

Nanni Moretti hingegen, der den Kardinälen zwischendrin die Symptome einer Depression aus der Bibel vorliest, macht mir immer wieder Hoffnung, dass Italien doch noch nicht ganz verloren ist.

Habemus Papam, Regie: Nanni Moretti, Italien/Frankreich 2011, 102 Minuten.