Schlagwort-Archive: David Foster Wallace

Denken lernen

this is waterMeine Studienzeit ist lange vorbei. Sie endete ohne großen Höhepunkt. Einfach so. Das Zeugnis kam per Post. Anders wird so ein Ereignis in den USA zelebriert. Neulich in New York bin ich zufällig in  den Graduationday der Columbia University geraten. Sehr beeindruckend, sehr berührend. Die Absolventen werden gefeiert, gewürdigt – und es werden ihnen die Leviten gelesen, bevor sie in die (Arbeits)Welt entlassen werden.

So eine Rede hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace 2005 vor Studenten gehalten. Als Hörbuch kann man diese Lecture mit dem Titel This Is Water/Das hier ist Wasser jetzt nachhören und verinnerlichen. Wallace spricht darüber, das Denken zu lernen. Damit meint er nicht das akademische Analysieren, sondern die tägliche bewusste Entscheidung, sich gegen die allen Menschen eigene Selbstzentriertheit zu stellen. Im Alltag mit seiner Routine, Langeweile und banaler Frustration ist der gut angepasste Mensch zumeist ein Sklave seines eigenen Geistes.  Er ist der Mittelpunkt des eigenen Universums. Hier setzt Wallace an: Er fordert, sich zu entscheiden, vorüber man nachdenkt, sich gegen die unbewusste Haltung, die Standardeinstellung, zu stemmen und Umwelt und Menschen mit anderen Augen zu sehen. Anstatt sich den gut funktionierenden Mechanismen aus Macht, Angst, Selbstverherrlichung, Leistung und Blenden hinzugeben, sollte die Wahl lieber auf Offenheit, Empathie, Liebe, Disziplin und Mühe fallen. Darin liegt für ihn die wahre Freiheit. Der Gedankenlosigkeit setzt er schlichte Offenheit für das Wahre und Wesentliche entgegen. Es gilt, die Arroganz der blinden Gewissheit abzulegen und Bewusstheit für die anderen Menschen zu entwickeln.

Diese Aussagen gelten in ihrer Universalität nicht nur für Studienabgänger. Sie gelten für uns alle und können eigentlich nicht oft genug gehört werden. Wie Wallace sagt – das ist mühsam und muss jeden Tag aufs Neue angegangen werden. Darin sieht er jedoch einen Weg, das Leben vor dem Tod sinnvoll und erfüllend zu gestalten und „30 oder 50 zu werden, ohne sich eine Kugel in den Kopf zu schießen“.

Wallace selbst hat es nicht bis 50 geschafft. Dennoch sind seine Worte so eindringlich, glaubwürdig und wahrhaftig – nicht umsonst ist diese Rede mittlerweile Pflichtlektüre für Uni-Absolventen in den USA – dass sie auch hier Jung wie Alt empfohlen sei, vor allem all denjenigen, die meinen zu wissen,  was Wahrheit ist.

Wallace spricht mit einfachen Worten und hat die Rede von jeglichem rhetorischen Schnickschnack befreit. Der englischen Live-Aufnahme der Ansprache sollte man daher den Vorzug geben. Die deutsche Version, in der geschliffenen Übersetzung von Ulrich Blumenbach, kommt leider an das Original nicht heran, zu glatt und standardmäßig wird sie von David Nathan im Studio gelesen. Dort kann man natürlich die Lacher und Reaktionen der Studenten auf Wallace’ Rede nicht nachstellen, daher fehlen dem Deutschen einfach die live-Dimension und die unmittelbare Wirkung der Worte.

Wer den Text lieber schriftlich vor Augen haben will, findet auch eine gedruckte Version im Buchhandel.

Solche Worte hätte ich mir damals zu meinem Studienabschluss gewünscht. Heute würde ich sie allen Schul- und Studienabgängern zum Zeugnis mit in die Post legen …

David Foster Wallace: This Is Water/Das hier ist Wasser, Audio-CD, David Foster Wallace spricht zu Absolventen des Kenyon College, Ohio 2005. Anstiftung zum Denken. Englisch/Deutsch, Gelesen von David Nathan, Übersetzung: Ulrich Blumenbach, Roof Music, 2012, 70 Minuten, 14,95 Euro

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser/This is water. Anstiftung zum Denken. Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme, vorgebracht bei einem wichtigen Anlass. Deutsch-Englisch, Übersetzung: Ulrich Blumenbach, Kiepenheuer & Witsch, 2012, 61 Seiten, 4,99 Euro