Tierisch gut kochen

essenKochbücher sind nicht so mein Ding. Zum einen lasse ich mich lieber bekochen. Zum anderen ist in den meisten Rezepten Fleisch drin, wobei Speckwürfel oft nur als Gewürz gelten und Risotto scheinbar am besten in Geflügelbrühe gelingt. Auch für eine in vieler Hinsicht konsequente, aber nicht hundertprozentige Vegetarierin (Fisch mag ich gelegentlich zu gern) ist die gängige Auswahl schlecht. Sofern man nicht gleich zur vegetarisch/veganen Sektion greift, die immer mit diesem angestrengten „fleischloses Essen kann auch sehr lecker sein“-Gusto daherkommt, was heute kaum jemand mehr ernsthaft bezweifelt. Außerdem machen fast alle Rezepte, egal ob Pasta, Salat oder Suppe, jahrzehntelange fade deutsche Küche wett, indem gefühlt jede Zutatenliste mit mindestens drei Knoblauchzehen beginnt. Ich habe durch die Küche meiner Eltern aber genug Knoblauch für den Rest meines Lebens und ziehe Chilischärfe vor. Und wie als Kind will ich an manchen Tagen nur Nachtisch essen.

Genau deshalb mache ich für Tanja Kirschners Essen wie die Tiere eine Ausnahme von meiner Kochbuch-Ignoranz. Nicht, weil ich mit dem fehlenden Knoblauch auch gleich alle Tischmanieren fahren und mich schmatzend und grunzend über rohe Nahrung hermachen will. Nein, dies ist schon ein echtes Kochbuch in dem Sinn, dass eine der wenigen menschlichen Errungenschaften, nämlich die Nutzung des Feuers zur Zubereitung von Speisen, auch zur Geltung kommt. Diese Sammlung von 27, überwiegend fleischfreien, leicht zuzubereitenden und oft süßen Gerichten orientiert sich am überraschend ausgewogenen Speiseplan von 13 Tieren.

Über die erfährt man auf der jeweils linken Seite dieses praktischen Ringbuchs ganz Erstaunliches: Zum Beispiel, dass Kaninchen vorkosten und mit einem Probebiss testen, ob etwas essbar oder giftig ist. So erweitert man den Speiseplan, und der Rat „Probier doch erst mal“ bekommt eine ganz neue Bedeutung.
Ziegen sind wahre Gourmets, käuen am liebsten nur feine Kräuter wieder und klettern für besonders leckere Blätter sogar auf Bäume. Trennungsschmerz aber verdirbt ihnen tagelang den Appetit.
Elefanten dagegen sind Gourmands: 400 Kilogramm müssen die Vielfraße täglich in sich reinhauen, 17 Stunden brauchen sie dafür. Das spricht ein wenig gegen kalorienarme, rein vegetarische Ernährung, denn für Schlaf bleibt da kaum Zeit.
Löwen und andere große Raubkatzen ziehen die umgekehrte Variante vor: Maximal einmal am Tag eine richtige Fleischorgie und dann ganz viel pennen. Und meist lassen Löwenmännchen die Weibchen jagen, weil die besser und geschickter sind, also lassen sie sich quasi „bekochen“. Eigentlich super, wenn das mit dem Fleisch nicht wär …
Füchse können ihre Lebensmittel hören und baldige Mahlzeiten austricksen. Haie haben einen echten siebten Sinn für die Nahrungsbeschaffung. Und von wegen Schweinefraß: Schweine haben eine sehr guten Geschmack und einen noch besseren Geruchssinn, was ja zusammen gehört, wie man merkt, wenn mit Schnupfennase alles wie Pappe schmeckt. Mit ihren Rüsseln können Schweine auch fühlen, tasten, wühlen und saugen.

Tanja Kirschners Zeichnungen sind witzig und lustig und geben jedem Tier Charakter. Ihre Rezepte wie Erdnuss-Kartoffel-Topf (Erdnüsse mögen Elefanten am liebsten), schnelle Thunfisch-Spaghetti (für kleine Haie) oder Penne Allerlei (für Allesesser) sind einfach zuzubereiten. Froschquark, Krake im Dip und sogar Termiten am Stil (Grissini mit Schokoladensoße und Streuseln für schlaue Affen) sind explizit „ganz einfach“. Anspruchsvoller sind Blutige Rote-Bete-Gnocchi und Kräuterknödelchen. Es sollten sich aber sowieso alle ambitionierten Jungköche helfen lassen, nie unbeaufsichtigt den Kochlöffel schwingen und sich mit Erwachsenen absprechen. Doch schon die Kleinsten können zum Beispiel Gemüse abwaschen oder Teig kneten. Alle Zutaten sind leicht erhältlich, kein exotisches Zeug, das nach einmaligem Gebrauch vor sich hin gammelt – auch so ein typisches Problem von Kochbüchern für Erwachsene. Jetzt muss ich nur noch einen Juniorküchenchef im Grundschulalter finden, Teenager lassen sich leider auch lieber bekochen. Ein Buch zum Anbeißen!

Elke von Berkholz

Tanja Kirschner (Text und Illustrationen): Essen wie die Tiere, aracari, 2016, 34 Seiten, ab 6, 16,90 Euro

AusLese 2016

cneutNach fünf Jahren Abwesenheit hat es mich dieses Jahr mal wieder auf die Leipziger Buchmesse getrieben. Pressekollegen und Auftraggeber treffen, Hallenluft schnuppern, Cosplayer bewundern, Bücher bestaunen und auf Inspirationssuche gehen. Zusätzlich stand die Nominierungsveranstaltung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 auf dem Programm. Die Verleihung habe ich in Frankfurt bereits mal erlebt, aber noch nie die Nominierung.

Das Schöne an der Sache war dann, dass diese Nominierungen für mich zu einer ganz persönlichen Freude wurde. Denn in der Kategorie Bilderbuch ist „Der goldene Käfig“ von Anna Castagnoli und Carll Cneut der Bohem Press ausgewählt worden – in meiner Übersetzung. Ein absolutes Glücksgefühl! Dieses opulente Bilderbuch habe ich hier auch schon mal vorgestellt.

Die Nominierungen waren jedoch nicht nur deshalb für mich interessant, denn ich nehme sie, seit ich diesen Blog betreibe, als Anlass noch einmal zurückzudenken und zu vergleichen, welche Bücher ich gelesen und hier rezensiert habe. Bei etwas 8000 Neuerscheinungen im Jahr im Bereich von Kinder- und Jugendbuch kann ich natürlich neben meinem normalen Job nicht alles lesen, und auch mit Hilfe von meinen Gastrezensentinnen kommen wir lange nicht auf alle preiswürdigen Titel. Doch im vergangenen Jahr haben wir ein ganz gutes Näschen gehabt, wie ich finde. Dazu trägt aber auch die Wahl der Jugendjury bei, die erstaunlich harte und politische Bücher ausgewählt hat – für die ich ein Faible habe. So waren da die Überschneidungen am höchsten.

Ein paar der noch nicht gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Monaten bis zur Preisverleihung noch nachholen, und eventuell darüber berichten.

Hier kommen jetzt aber erst einmal alle Nominierten – samt der Links zu den Rezensionen auf letteraturen.

Bilderbuch

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Marcelo Pimentel (Illustration): Eine Geschichte ohne Ende. Ein Bilderbuch aus Brasilien, Baobab Books, 2015, 20 Seiten,  ab 2, 14,90 Euro

Marianne Dubuc (Text, Illustration): Bus fahren, Übersetzung: Julia Süßbrich, Beltz & Gelberg, 2015, 40 Seiten, ab 3, 13,95

Anja Mikolajetz (Text, Illustration): Das Herz des Affen, Aladin, 2015, 32 Seiten, 16,95 Euro

Emmanuelle Polack (Text)/Barroux (Illustration): Kako, der Schreckliche, Übersetzung: Babette Blume, mixtvision, 32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Edward van de Vendel (Text)/Anton van Hertbruggen (Illustration): Der Hund, den Nino nicht hatte, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Press, 2015, 40 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Anna Castagnoli (Text)/Carll Cneut (Illustration): Der goldene Käfig oder Die wahre Geschichte der Blutprinzessin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten, ab 6, 28, 95 Euro

 

Kinderbuch 

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Uwe-Michael Gutzschhahn (Herausgeber)/Sabine Wilharm (Illustration): Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, cbj Verlag, 2015, ab 6, 19,99 Euro

Frida Nilsson (Text)/Anke Kuhl (Illustration): Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!  Übersetzung: Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt Verlag, 2015, 304 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Stefanie Höfler (Text)/Franziska Walther (Illustration): Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg, 2015, 140 Seiten,  ab 11, 12,95 Euro

Ann M. Martin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2015, 240 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

Ross Montgomery: Alex, Martha und die Reise ins Verbotene Land, Übersetzung: André Mumot, Carl Hanser Verlag, 2015, 336 Seiten,  ab 11, 14,90 Euro

 

Jugendbuch

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Erin Jade Lange: Halbe Helden, Übersetzung: Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, 2015,  ab 12, 16,95 Euro

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Königskinder, 2015, 368 Seiten, ab 12, 17,99 Euro, besprochen hier.

Mariko Tamaki (Text)/Jillian Tamaki (Illustration): Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 12, 29,00 Euro

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute, Rowohlt Rotfuchs, 2015, 464 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Rainbow Rowell: Eleanor & Park, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, 2015, 368 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

 

Sachbuch

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Iwona Chmielewska (Text, Illustration): abc.de, Gimpel Verlag / Verlag Warstwy 2015, 96 Seiten, ab 6, 19,90 Euro

William Grill (Text, Illustration): Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015,  80 Seiten, ab 8, 19,99 Euro, besprochen hier.

Britta Teckentrup (Text, Illustration): Alle Wetter, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 9, 24,95 Euro

Jean Paul Mongin (Text)/Julia Wauters (Illustration): Leibniz oder die beste der möglichen Welten, Übersetzung: Heinz Jatho, Diaphanes Verlag, 2015, 64 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Kristina Gehrmann (Text, Illustration): Im Eisland, Hinstorff Verlag, 2015, 224 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Reinhard Kleist (Text, Illustration): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen Verlag, 2015, 152 Seiten, ab 14, 17,90 Euro, besprochen hier.

 

Preis der Jugendjury

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tagebuch
khmer

 

 

Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt, Übersetzung: Simone Wiemken, Dressler Verlag, 2015, 336 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Dirk Reinhardt: Train Kids,  Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro, besprochen hier.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger Verlag, 2015, 528 Seiten, ab 14, 19,99 Euro, besprochen hier.

Matthew Quick: Goodbye Bellmont, Übersetzung: Knut Krüger, dtv, 2015, 256 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem Herzen, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2015, Seiten, ab 16, 14,99 Euro, besprochen hier.

Herzlichen Glückwunsch allen Nominierten!

Die Gewinner werden am 21. Oktober 2016 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt – in doppeltem Sinne …

 

[Gastrezension] Die ganze Welt des Whodunit

krimiKrimis sind aus unserem Alltag und unserer Kultur nicht mehr wegzudenken. Gemeinsam Tatort gucken ist Kult; und zu Beginn dieses Jahres waren, bevor die echten Verbrechen der Silvesternacht bekannt wurden, die gewaltgeladenen Til-Schweiger-Episoden und die anschließende wilde, verbale Ballerei in den sozialen Medien das Thema. Thriller, vorwiegend skandinavischen Ursprungs, verkaufen sich wie geschnitten Brot beziehungsweise smørebrød. Deren Auflagen potenzieren sich mit der Anzahl der Leichen, die von den im Genre höchstbeliebten, in Wirklichkeit total unrealistischen, Serienkillern produziert werden. Und selbst in Jugendbüchern gibt es echte Morde, nicht nur an unschuldigen Haustieren, die von den abgebrühten Nachfolgern Emils und den Detektiven aufgeklärt werden.

Dabei fing alles relativ harmlos an, mit zwei Opfern, einem tierischen Täter, aber keinesfalls bestialischem Verbrechen: 1841 veröffentlichte Edgar Allan Poe seine Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ – Ursprung aller Krimis und gleichzeitig Beginn der Spielart der „Locked Room Mystery“, einer rätselhaften Tat, die sich in einem verschlossenen Raum ereignet hat.

Genau damit beginnt auch das famose Kompendium Krimi! von Katharina Mahrenholtz und Dawn Parisi, der neueste Band ihrer außergewöhnlichen Sachbuchreihe.
Die Chronologie als Zeitstrahl ist seit dem 2012 erschienenen Auftaktband Literatur! der rote Faden, der unten über sämtliche Seiten läuft. Und daran reiht die Kulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin Mahrenholtz Meilensteine und Klassiker des Genres neben Kuriositäten und skurrilen Randbemerkungen auf. Und zeigt, wie historische Ereignisse und Entwicklungen sich in der Krimiliteratur niederschlagen. Dawn Parisi illustriert auch das neue Werk der gemeinsam konzipierten Edition geistreich und charmant. Mit nur wenigen Strichen und sparsam verwendeten Farben schafft sie unverwechselbare Charakterporträts von berühmten Ermittlern und ihren Schöpfern.

In diesem Krimi-Band sind sie nun alle vereint: Von Poe und Doyles Sherlock Holmes geht es über die englischen Krimiladies Agatha Christie und Dorothy L. Sayers zu den abgeklärt-desillusionierten hard boiled stories aus den Remington Schreibmaschinen eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Die englischen Ex-Spione und Bestsellerautoren Ian Fleming und John le Carré sind natürlich ebenso vertreten wie die mittlerweile mehr aus Fernsehfilmen bekannte Figuren wie Henning Mankells depressiver Eigenbrötler Wallander oder Donna Leons venezianischer Lebemann Commissario Brunetti. Krimis aus Schottland, Deutschland, der Schweiz, Niederlande, Israel, Südafrika, den USA und Dänemark, selbst den Färöer Inseln – überall blüht zumindest in der Literatur das Verbrechen. Längst ist aus den einst belächelten, trivialen Fortsetzungsgeschichten in Heftchenformat ein milliardenstarker Absatzmarkt geworden.

Wirklich exzellent sind in Krimi! die übergreifenden Doppelseiten: Da werden, von Dawn Parisi witzig bebildert, ungewöhnliche Mordwaffen und berühmte Krimiheldinnen und Ermittlerinnen unter die Lupe genommen.
Auch die ursprünglichen Berufe der Autoren sind höchst interessant: Jo Nesbø war vor Harry Hole erfolgreicher Börsenmakler und Popsänger. Léo Malet, Autor wunderbarer Paris-Krimis, versuchte sich als Chansonnier, und Raymond Chandler hat seinen gut bezahlten Job als Direktor einer Ölgesellschaft versoffen.

Krimi! ist eine prickelnde Perle dieser Sachbuchreihe, aus der aktuell auch die Monographie Shakespeare! zum 400. Todesjahr des Theatermeisters zu empfehlen ist.

Elke von Berkholz

Kathatrina Mahrenholtz, Dawn Parisi (Illustrationen): Krimi! Mord und Totschlag in der Literatur, Hoffmann und Campe, 77 Seiten, ab 14, 15 Euro

[Gastrezension] Altersgerechte Aufklärung

aufgeklärtReden wir über Aufklärung, und damit meine ich nicht den klassischen philosophisch-politischen Begriff, sondern Sex und Kinderkriegen. Ab welchem Alter sollte man mit Kindern darüber reden? Und wie? Schwer zu sagen, wenn schon Kindergartenkids Sexpraktiken diskutieren oder gang-bang spielen. Dass Babys nicht aus einem Sechserkarton handelsüblicher Eier, vermischt mit einer Packung Samen entstehen und dann per Express vom Storch gebracht werden, das wissen schon die Kleinsten. Auch Bienchen und Blümchen dürften schon vor einiger Zeit ausgedient haben.

Bei der Gelegenheit habe ich überlegt, wann ich aufgeklärt wurde? Auf jeden Fall nicht von meinen Eltern. Jahre später, schon als Jugendliche, haben mein Bruder und ich zu unserer großen Erheiterung, gar nicht mal versteckt, im Buchregal bei den Bildbänden Will McBrides Aufklärungsklassiker Zeig mal! gefunden, ein Geschenk eines damals noch kinderlosen, pseudoprogressiven Onkels, der wohl vor allem unsere Eltern provozieren wollte. Das vielfach ausgezeichnete und von der evangelischen Kirche abgesegnete, sogar verlegte Buch mit den stilvollen schwarz-weiß-Aufnahmen in der Anfang der 70er-Jahre angesagten, fotorealistischen „Mein-Esel-Benjamin“-Ästhetik gilt heute als nicht mehr kindergerecht und ist auch nicht mehr erhältlich. Aber wann und wie klärt man heute auf?

Zum Beispiel mit diesem ebenso klugen wie charmantem und ganz und gar unpeinlichem Buch Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?, dem ersten Band der neuen Sachbuchreihe Carlotta, Henri und das Leben von Anette Beckmann und Marion Goedelt, konzipiert für junge Leser ab sieben Jahren.

Erzählerin ist, sehr realistisch, die redegewandte vier Minuten ältere Zwillingsschwester Carlotta. Sie schwärmt von der coolen Tante Uli, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Henri einmal in der Woche besucht, weil ihre Eltern beruflich viel unterwegs sind. Mit Uli toben sie herum und genießen viele Freiheiten. Seit neuestem ist Uli total verknallt, in Mario, den Chef der Trattoria Fussili unten im Haus. Erst benehmen sich die beiden ziemlich peinlich, was auszuhalten ist, weil Mario die besten Spaghetti der Welt macht und den Geschwistern Eis schenkt. Aber dann: „Uli ist komisch und wird immer merkwürdiger: Sie ist ständig müde, verpeilt, isst komische Dinge und schläft beim Spielen ein“. Diagnose: Tante Uli ist schwanger. Aber wie kommt das? Und wie geht es jetzt weiter mit Uli, ihrem wachsenden Bauch und dem Baby darin?

Die Texte der studierten Kommunikationsdesignerin Anette Beckmann gehen mit den witzigen Illustrationen Marion Goedelts eine kongeniale Mischung ein, die auch beim Vorlesen ein großer Spaß ist: „Damit das mit dem Ei und dem Samen klappt, muss man Sex haben. Dabei entsteht ein ganz schönes Gefühl. Das ist aufregend und kribbelig und dann wird der Penis …
NICHT lachen, habe ich gesagt!!!
… ganz groß und hart.“

Es wird mit Typographien und Schriftsetzung gespielt, freundliche Figuren, die Zwillinge, ihre Eltern und natürlich die immer runder werdende Uli, toben zwischen collageartig arrangierten Schautafeln, Ultraschallbildern und schrägen Witzbildchen über die Seiten. Spermien liefern sich Wettrennen, es gibt einen tierischen Vergleich über Schwangerschaftsdauer und ein Hund karikiert auch mal die Hochschwangere in typischer Pose: „Puh.“

In diesem Buch wird davon ausgegangen, dass beim Sex Liebe und Zuneigung im Spiel sind. Es geht hier nicht darum, das ganze Spektrum sexueller Spielarten darzustellen. Das ist für jedes Kind eine schöne Vorstellung und trifft wahrscheinlich zumindest beim Zeugungsakt meistens zu, was allerdings die spätere Trennung der Eltern leider nicht ausschließt.

Die Schreibweise mit „!?“ im Titel ist Programm, denn was erst klar wie Kloßbrühe erscheinen mag, kann einen bei näherer Betrachtung ins Grübeln bringen. Manche Frau, die wie es so schön heißt, „spontan entbunden“ hat, sprich, auf dem natürlichen Geburtsweg, fragt sich auch, wie das Neugeborene durch den engen Geburtskanal gepasst hat. Solche Fragen und Begriffe wie Befruchtung, Mutterkuchen (Henri fragt berechtigterweise: „Warum nicht Mutterpizza?“), intrauterines Wachstum, Kaiserschnitt, platzende Fruchtblasen und Wehen werden ebenso anschaulich wie sympathisch und witzig beantwortet. Und wie gesagt, absolut unpeinlich!

So schafft das Sachbuch aus dem manchmal sogar gefährlichen (Stichwort: Teenagerschwangerschaften, sexuell übertragbare Krankheiten) „oblatendünnen Eis des halben Zweidrittelwissens“ (wie TV-Moderatorin Sarah Kuttner mal sehr schön schrieb) eine solide, altersgerechte und ausbaufähige Grundlage.

Elke von Berkholz

Anette Beckmann, Marion Goedelt (Illustrationen): Carlotta, Henri und das Leben, Band 1 „Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?“, Tulipan, 2016, 60 Seiten, ab 7, 15 Euro

Das Leben in Bildern

babySo unterschiedlich Bilderbücher auch sind, manchmal kann man sie in einen Zusammenhang stellen. Bei diesen vier tut sich beispielsweise die ganze Bandbreite unseres Lebens auf.

Auftakt liefert das Buch von Anna Herzog, Ein Baby in Mamas Bauch, das klassisch-knuffig von Joelle Tourlonias illustriert ist. Die Zwillinge Mia und Oskar bekommen ein Geschwister. Diese umwerfende Neuigkeit nutzen die beiden Kindergartenkinder, um jede Menge Fragen zu stellen, wie das mit Babys und ihrer Herstellung eigentlich so ist. Auch so „eklige“(O-Ton Mia) Sachen wie knutschen und „sexen“ kommen ganz offen zur Sprache, dazu die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, was es mit den Hormonen auf sich hat, ob eine Gebärmutter platzen kann und wie das Baby schließlich auf die Welt kommt.
Die fiktive Geschichte wird durch Kästen mit Sach-Information bereichert, in denen anatomische Details, Entwicklung des Babys oder die Entstehung von Zwillingen erklärt werden. Die Erläuterungen sind so dicht an der Lebenswelt von Kindern, dass diese wie selbstverständlich an so geheimnisvolle Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt herangeführt werden. Mit so einem liebevollen und schön anzusehenden Aufklärungsbuch wird die Ankunft des neues Familienmitglieds für alle ein Fest.

bus

Dass das Leben dann später nicht immer rund läuft, davon berichten Stefanie Harjes und Marjaleena Lembcke in Der Bus mit den eckigen Rädern.

Ein Konstruktionsfehler in der Fabrik führt dazu, dass der neue Bus eckige Räder hat. Damit kann er natürlich nicht im Linienverkehr eingesetzt werden. Traurig macht sich der Bus auf den Weg – und sammelt mit der Zeit doch Menschen ein, die sich auf seinen bequemen Sitzen niederlassen: eine alte Dame, die wehmütig auf ihr Leben zurückblickt, ein alter Mann, der überprüfen möchte, ob das Rote Meer wirklich rot ist, ein Junge, der in Alaska Lachse angeln will, ein Mädchen auf dem Weg zum Tanz, ein streitendes Ehepaar, ein Priester, der keine Gemeinde mehr hat. Im Bus werden sie für eine kurze Zeit zu Schicksalsgenossen, die ihrem Ziel immer näher kommen.

Stefanie Harjes illustriert die Lebensreise im holprigen Bus mit Collagen, in denen Bleistiftzeichnungen auf Fotos, Kartenmaterial, Wortschnipsel, Stempelabdrücke und bunte Farben zusammentreffen. Ziegen haben Kinderköpfe, Schnecken schlafen auf Baumstümpfen, die Tasche der alten Frau ist größer als sie selbst. Vieles ist rätselhaft, wie das Leben eben so ist, und dadurch sehr faszinierend. Jeder Betrachter wird eigene Assoziationen und Verbindungen haben, in die Bilder eigene Geschichten hineindenken.

unfall

Einen traurigen Teil im Leben schildert das psychologische Bilderbuch Papas Unfall vom Atelier artig. Zunächst lernt man eine ganz normale vierköpfige Familie kennen, die immer etwas Neues unternimmt, schwimmen geht, Rad oder Schlitten fährt. Alles ändert sich, als Papa eines Tages mit dem Motorrad verunglückt und danach nicht mehr laufen kann. Er liegt lange im Krankenhaus, ist traurig und kann nicht richtig sprechen. Mama organisiert das Leben neu, sucht sich einen neuen Job, kümmert sich um Papa, schafft ein Krankenbett ins Wohnzimmer. Die Schwestern sind jetzt zwar mehr mit Oma zusammen, doch sie merken genau, wie traurig alles ist.

Wut und Trauer herrschen in dieser Geschichte zwar vor, aber die Kinder begreifen, dass es Gründe dafür gibt. Für Familien, die Ähnliches erlebt haben, bietet dieses Bilderbuch Identifikation und Hoffnung, denn mit der Zeit gewöhnen sich alle an dieses neue Leben, das zwar anders ist, aber dennoch Alternativen und schließlich auch schöne Momente bieten kann.

bär

Von solchen Momenten, schönen wie schlimmen, könnte man dann Geschichten erzählen. So wie der Bär. Doch der hat sich leider den falschen Zeitpunkt zum Erzählen ausgesucht, denn so kurz vor dem Winter haben Maus, Ente, Frosch und Maulwurf Wichtigeres zu tun, als Bär zuzuhören. Und so fallen die ersten Schneeflocken und Bär legt sich schlafen.
Im Frühling versammeln sich dann die Freunde alle wieder um Bär und haben endlich Zeit, die Geschichte zu hören …

Erin Stead hat die Geschichte Als Bär erzählen wollte von Philip Stead mit duftigen Aquarellen und zarten Bleistiftstrichen illustriert und dabei ganz viel Weißraum gelassen, so dass eine poetische Leichtigkeit die Szenerie bestimmt. Der Zusammenhalt der Freunde und ihre Aufmunterung von Bär am Ende zeigen, dass Freundschaft auch dann hält, wenn man einmal keine Zeit für den anderen hat oder sich lange nicht sieht. Die entzückende Abschlusspointe kann ich hier natürlich nicht verraten …

Ein abschließende Bitte hätte ich an die Illustratoren da draußen: Hier kommen in drei von vier Büchern alte Damen und Großmütter vor. Die Darstellung mit Kopftuch, Dutt und Puschen mag ja ganz heimelig und liebenswert sein, aber ich kenne heute keine Großmütter mehr, die so antiquiert herumlaufen. Es ist an der Zeit mal ein neues Großmutterbild zu entwickeln, würde ich sagen …

Anna Herzog: Ein Baby im Mamas Bauch, Illustration: Joelle Tourlonias, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Marjaleena Lembcke: Der Bus mit den eckigen Rädern, Illustration: Stefanie Harjes,
Ravensburger, 2015, 32 S.  ab 6, 15,99 Euro

Achim Kirsch: Papas Unfall, Balance Buch + medien, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Philip Stead: Als Bär erzählen wollte, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn,   Illustration: Erin A. Stead, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

 

 

Die wahren Helden

vinkeNach diesem Wochenende und den Ereignissen von Paris einfach so weiterzubloggen fällt mir irgendwie nicht ganz leicht. Zu unwichtig erscheint mir das Unterfangen, über Bücher zu schreiben. Und doch können es auch Bücher sein, die den Geist der Menschen erhellen und ihnen vielleicht unsinnige Überzeugungen austreiben oder zumindest einen Zweifel daran wecken. Terror ist das Letzte, was wir in dieser Welt, egal wo, noch brauchen, bringt er doch nur Leid, schürt den Hass, stachelt Politiker zu abstrusen Gedankengängen an und macht die Rüstungsindustrie noch reicher. Lauter Dinge, die keiner will.
Dabei ist unsere Welt auch ohne Terror schon eine einzige Problemzone. Die Suche nach Schuldigen, Hintermännern und Drahtziehern ist wichtig, genauso wichtig ist aber auch, an die vielen Menschen zu denken, die versuchen, diesen Ort zu einem besseren zu machen.
Ein Gefühl dafür, dass etwas – irgendetwas – getan werden muss, entwickeln Kinder und Jugendliche meines Erachtens schon relativ früh. Dass man als Erwachsener oft gegen die Ohnmacht kämpft, steht auf einem anderen Blatt. Was also tun, um Jugendlichen einen Weg durch diesen widersprüchlichen Dschungel aufzuzeigen und ihnen Mut zu machen, sich zu engagieren und die Ursachen von dem Leid zu bekämpfen, das letztendlich auch zum Terror führen kann?

Man könnte ihnen die Lektüre des Buches Zivilcourage 2.0 von Hermann und Kira Vinke empfehlen. Denn die beiden Autoren stellen hier die wahren Helden des 21. Jahrhunderts vor. In sieben großen Kapiteln zu den drängendsten Problemen, den Plagen unserer Zeit – Krieg, Armut, Hunger, Kampf um Menschenwürde, Umweltzerstörung, Finanzbetrug und Überwachung – portraitieren sie 19 mehr oder minder berühmte, vor allem aber sehr engagierte Persönlichkeiten. Edward Snowden, der sein gesamtes Leben über den Haufen geworfen hat, um den wohl umfassendsten Überwachungsskandal aufzudecken, den wir bisher je erlebt haben (hier gibt es scheinbar keine klischeefreien Ausdrücke mehr, um dieses irrsinnige Drama in Worte zu fassen) macht den Auftakt. Malala, die sich allein durch ihren Bildungshunger mit den Taliban anlegte, schließt die Reihe.

Dazwischen lernt man die Künstlerin Parastou Forouhar, die für die Freiheit im Iran kämpft, Sheela Patel, die sich in indischen Slums für den Bau von Toiletten einsetzt, oder Sylvia Earle kennen, die ihrerseits gegen die Verschmutzung der Meere kämpft. Mir waren die drei nicht bekannt, so bin dich dankbar für diese Aufklärung.
Die Vinkes erinnern aber auch an die wichtige Arbeit von Rupert Neudeck, der mit der Cap Anamur schon Ende der 70er Jahren Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hat, und an den Kampf von Aung San Suu Kyi für Freiheit in Myanmar, der mit den Wahlen vergangene Woche eventuell endlich gewonnen wird.

Biografisches verflechten Vater und Tochter Vinke in verständlichen Texten mit den großen Problemen und schaffen so grundlegendes Wissen, das einen Überblick über die weltweiten Zusammenhänge schafft. Einige der Personen lassen sie in Interviews zu Wort kommen und zeigen auch die Helfer der Helden, da diese natürlich nie im luftleeren Raum agieren.
In ihren Darstellungen machen sie aber auch klar, dass für diesen vorbildliche Einsatz und diesen Mut oft ein hoher Preis gezahlt werden muss. Haft, Verlust von Heimat, körperliche Schmerzen – wir Erwachsenen wissen um diese Schicksale dieser Vorkämpfer. Die Unbeugsamkeit dieser Menschen, die sich davon nicht unterkriegen lassen, fordert Respekt ein.
Für junge Leser gibt es hier die ganze Bandbreite von Überzeugungen, für die man sich einsetzen kann, damit unserer Welt wirklich geholfen wird. Sie bekommen Anregungen, in welchen Organisationen sie tätig werden könnten – beispielsweise Attac, Amnesty International oder Greenpeace – oder worauf sie bei ihrem täglichen Leben achten könnten (Verzicht auf Plastiktüten).

Selbst als Erwachsener wird man durch diese geballte Ladung an Zivilcourage inspiriert, noch einmal nachzudenken, welchen Teil zum Ganzen man selbst betragen kann. Denn auch das macht dieses Buch klar: Würde jeder von uns den Mut aufbringen, sich für eine der Facette von Gerechtigkeit einzusetzen, könnte diese Welt eigentlich ein Paradies sein. Nach Paris, Ankara, Beirut, Irak, Syrien, Nigeria hört sich dieser Gedanke zwar ziemlich weit hergeholt an, aber ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben. Und hoffe auch, dass die Mächtigen endlich mal die Luft aus ihrem Ego rauslassen und die Probleme an den Wurzeln anpacken, anstatt gleich nach Verschärfung von allem Möglichen schreien. Denn jeder klar denkende Mensch, dessen Hirn nicht von Lobbyisten vernebelt wurde, kann den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen. Wenn dazu noch Respekt und weniger Gier kämen, könnte man diese ganze verfahrene Lage eventuell wieder auf einen Kurs bringen, der allen Menschen ein würdiges, angenehmeres und friedlicheres Leben ermöglicht. Aber vielleicht bin ich auch nur naiv …

Hermann Vinke/Kira Vinke: Zivilcourage 2.0. Vorkämpfer für eine gerechte Zukunft, Ravensburger, 2015, 248 Seiten, ab 13, 16,99 Euro

Der hellsichtige Meister

terzaniVor Jahren, als ich noch ziemlich neu im Übersetzer-Geschäft war, schlug mir meine italienische Freundin M. vor, doch die Bücher von Tiziano Terzani zu übersetzen. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war, stellte aber ganz schnell fest, dass seine Bücher bereits alle übersetzt waren. Terzani verschwand wieder aus meinem Bewusstsein, hatte ich doch anderes zu tun – und diese Journalistengröße Terzani war damals eh eine Nummer zu groß für mich.
Aber wie es im Leben so ist, man begegnet sich irgendwie doch immer zweimal, und so bekam ich in diesem Sommer die Anfrage, ob ich die Tagebücher von Tiziano Terzani lektorieren könnte.

Trotz der sportlichen Vorgabe mehr als 700 Manuskriptseiten in zwei Monaten zu bearbeiten, habe ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen. Und einen so intensiven Sommer der gedanklichen Reise in Raum und Zeit erlebt, wie noch nie zuvor.

Terzanis Aufzeichnungen setzen 1981 ein, als er gerade für den SPIEGEL ein Büro in Peking eröffnet hat. Auf diesen Seiten offenbart er seine Betrachtungen, die nicht in seine bereits veröffentlichten Büchern eingeflossen sind. Kürzere und längere Einträge wechseln sich ab, nicht jeden Tag schreibt TT – wie er später die Briefe an seine Frau Angela signiert –, doch als Leser taucht man fast augenblicklich in seinen Kosmos und seine Zeit ein. Man erlebt seine Ausweisung aus China, sein Unbehagen in Japan, seine Kritik an Konsum und Anpassung, sein unermüdliches Streben im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Mehr und mehr hadert Terzani jedoch mit der Welt, dem raschen Wandel, der Globalisierung, der Gleichgültigkeit. Er möchte sich zurückziehen, als Namenloser irgendwo unerkannt leben. Immer wieder jedoch schimmert der eitle Journalist durch, der sein Business genau kennt, nach Aufmerksamkeit heischt und gleichzeitig abgestoßen ist von der Oberflächlichkeit dieser Medienwelt.

Terzani ist ständig unterwegs. Hongkong, Bangkok, Ban Phe in Thailand, dazwischen immer wieder nach Hause, nach Florenz und Orsigna zur Familie, dann schnell wieder zurück nach Asien, nach Islamabad, Neu Dehli oder Dharamsala. Er schreibt, er hadert und zieht sich in den Himalaja zurück, meditiert, versucht, dem weltlichen Leben zu entsagen, nicht immer mit Erfolg. Die Ereignisse vom September 2001 holen ihn vom Berg zurück. Obwohl er da schon an Krebs erkrankt ist, wirft er sich noch mal mitten ins Weltgeschehen, beobachtet die Vorgänge in Pakistan. Unzählige Geschichten erzählt er, sehr persönlich, sehr offen. Jede Zeile zeugt von seiner unbändigen Lebenslust und Lebenssucht. Terzanis Aufzeichnungen enden im April 2003, im Juli 2004 erliegt er seinem Leiden. Für alle Kenner von Terzanis Werken sind diese Tagebücher quasi der Blick hinter die Kulissen, der Blick auf den Journalisten Terzani, den Ehemann, den Vater, den Reisenden, den Krebspatienten, den Weisen, den Namenlosen.

Ich hatte vor diesem Auftrag noch nie viel mit Tagebüchern zu tun gehabt oder viele gelesen. Doch hier hat sich mir die ganze Faszination dieses Genres erschlossen. Das ist mehreren Faktoren zu verdanken: der schillernden Persönlichkeit von Terzani, seinem extrem umtriebigem Leben, seiner klaren Sprache, seiner kurzweilige Erzählart, seiner Widersprüchlichkeit, aber auch seiner Hellsichtigkeit, mit der er gesellschaftliche Zustände vorausgesehen und beurteilt hat, mit denen wir heutzutage kämpfen. Seine Sicht auf unseren heutigen Irrsinn hätte mich brennend interessiert. Ein wenig ahnt man, was er davon gehalten hätte. Ich habe es während des Lektorierens bedauert, seine Reportagen nicht schon zu seinen Lebzeiten gelesen zu haben, und habe mir vorgenommen, die Lektüre seiner anderen Bücher, so schnell es geht, nachzuholen.

Auch die Arbeit an diesem Text an sich war auf den unterschiedlichsten Ebenen ein Vergnügen. Zur inhaltlichen Bereicherung kam die vorzügliche Übersetzung von Barbara Kleiner, die mir das Lektorieren sehr erleichtert hat. Eine wertvolle Erfahrung war für mich darüber hinaus, dass ich auch den Auftrag hatte, den Anmerkungsapparat für die deutschen Leser anzupassen. Da ich dabei  quasi freie Hand hatte, konnte ich für die Anmerkungen etliche Punkte neu recherchieren und erweitern und so noch ein Quentchen mehr zu dem Buch beitragen.

Wenn mich TT jetzt also vom Buchcover mit diesem irgendwie verschmitzt-weisen und selbstbewussten Blick anschaut, freue ich mich noch einmal extra, dass ich diesen Sommer auf eine ganz eigene Weise mit dem Mann verbracht habe, den mir vor so vielen Jahren M. aus Florenz ans Herz gelegt hat.

Tiziano Terzani: Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens, Übersetzung: Barbara Kleiner, DVA, 2015, 576 Seiten, 22,99 Euro

Memento mori

nostalgiaManchmal erreichen mich Bücher, die eigentlich für meine Buch- und Medienseite in der Zeitschrift stern Gesund Leben gedacht sein sollen. Doch obwohl ich dort mittlerweile relative Freiheiten genieße, achte ich schon darauf, dass die Bücher auf der Seite immer etwas mit Gesundheit, Sport und Ernährung zu tun haben. Im weitesten Sinne. Bei dem opulenten Fotoband Nostalgia von Sven Fennema gelingt es mir leider nicht so gut, einen Bogen zum gesunden Leben zu schlagen.

Dennoch geht mir bei diesem Konvolut das Herz auf, so dass ich hier nach langer Zeit mal wieder eine thematische Exkursion unternehmen muss. Ich bitte um Verständnis …
Architekturfotograf Fennema, aus dessen „Dunkelkammer“ diese Lichtbilder stammen, hat einen Faible für verlassene, vergessene Ort. Für diesen Band hat er im Norden Italiens Ruinen abgelichtet. Allerdings nicht die klassischen Ruinen der Antike, sondern Villen, Palazzi, Klöster, Kirchen, Krankenhäuser, Psychiatrien, Industriegebäude, aus denen das Leben gewichen ist und die in einen Dornröschenschlaf gefallen sind.

Vor allem das Innenleben der düsteren Gebäude, in denen der Putz von den Wänden bröselt, die Dächer bereits eingestürzt sind, altes Mobiliar verstaubt, macht Fennema durch sehr lange Belichtungszeiten und raffinierte Montage von unterschiedlichen Aufnahmen in hyperrealistischen Bildern wieder sichtbar. Farben erstrahlen wie frisch aufgetragen, Fresken und Stuckaturen tauchen aus dem Dunkel auf. Treppen führen ins Nichts, Pflanzen erobern sich die leeren Räume zurück.

Man staunt über die Pracht, die dort dem Verfall anheim gegeben ist. Man ahnt das Leben, das einst in diesen Wänden pulsierte. Man möchte es wiedererwecken, möchte sofort Hand anlegen, Pinsel schwingen, restauratorisch tätig werden, die Villen wieder hübsch machen, den Kirchen ihren Glanz zurückzugeben. Man wird nostalgisch, sehnsüchtig. Mir tut es in der Seele weh, dass vieles davon nicht zu retten ist.
Bei Psychiatrie und Krankenhaus gruselt es einen, ob der Zustände in denen früher „geheilt“ wurde. Die Industrieanlagen zeigen mit voller Wucht die unmenschlichen Arbeitsbedingungen von einst. Dann ist es wieder gut zu sehen und zu ertragen, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist, und Vergänglichkeit zu unserem Leben dazu gehört.

So beeindruckend und fesselnd die Fotografien sind, so gibt es für mich einen Wermutstropfen: die Bildunterschriften. Fennema hat zwar ganz bewusst auf die genaue Lokalisierung der Örtlichkeiten verzichtet, um keinen „Ruinen“-Tourismus zu provozieren. Da seit ein paar Jahren auch in unseren Landen Fotosafaris zu verlassenen Orten sehr beliebt sind – ich denke da an die Beelitzer Heilstätten – kann ich diese Entscheidung sehr gut verstehen. Aber ein paar mehr Infos und nicht nur im Bild offensichtliche Angaben hätte ich mir schon gewünscht. Dafür sind die abgebildeten Gebäude einfach viel zu interessant, um auf Plattitüden wie „In dem faszinierenden Palast schreitet der Verfall voran“ reduziert zu werden.
Zwischen den verschiedenen Gebäudearten gibt es zwar Texte von der Autorin Petra Reski, die normalerweise sehr schätze, doch tragen auch die nicht besonders viel Erhellendes zu den abgebildeten Objekten bei. Mir sind die Texte teilweise zu assoziativ und zu wenig mit den Fotografien verbunden. Fennemas Motive verleiten mit Sicherheit zum Assoziieren, zum Sich-Geschichten-Ausdenken und Träumen, aber das kann jeder Betrachter selbst.

Ich werde jetzt einfach in den Bildern schwelgen, meiner Fantasie freien Lauf lassen und eventuell bei meiner nächsten Italien-Reise nach solchen Perlen Ausschau halten und den vergangenen Zeiten nachhängen.

Sven Fennema: NostalgiaOrte einer verlorenen Zeit, mit Texten von Petra Reski, Frederking & Thaler, 2015, 320 Seiten, 98 Euro

[Jugendrezension] Auf dem Rücken der Pferde …

pferdeIch finde das Buch Pferde von Florian Wagner gut, weil der Autor das, was in diesem Buch steht, auch selbst erlebt hat. Das merkt man beim Lesen.

Außerdem steckt viel Wissen darin, zum Beispiel Antworten auf die Fragen: Wie erholt sich ein Pferd? Wie viel Liter Wasser trinkt ein Pferd pro Tag? Welcher Sattel macht das stundenlange Reiten zum Vergnügen?
Das Buch könnte auch Kinder und Jugendliche interessieren, die nicht selbst reiten.
So wird auch erklärt, wie man Pferde in anderen Regionen hält und wofür man sie nutzt.

Die Fotos zeigen spannende Welten – der Abenteuerfotograf Florian Wagner hat die Bilder alle selbst gemacht! Er war in der Mongolei mit Adlerjägern unterwegs, unternahm eine Reitersafari in der afrikanischen Savanne, ist an spanischen Stränden und und in vielen anderen Gegenden der Welt gewesen. Er war in Städten wie Washington oder Abu Dhabi, in Ländern wie den USA, Kenia, Andalusien und in der Mongolei. Damit man weiß, wo die Orte liegen, die er besucht hat, ist auch eine Weltkarte dabei!

Außerdem berichtet der Autor über spannende Rekorde. Hättest Du gewusst, dass es in der Wüste Abu Dhabis ein ganz besonderes Gestüt gibt? Es ist unter anderem so besonders, weil dort die Koppeln mit Wasser aus dem weit entfernten Meer befeuchtet werden, das durch eine lange Pipeline geleitet wird. Um die Koppeln herum ist überall Wüstensand! Dieses Gestüt heiflt Al-Asayl und gehört einem sehr reichen Scheich.

Insgesamt ist das Buch Pferde sehr lehrreich. Kinder, die nicht große Pferdefans sind, finden bestimmt spannend, was über die fernen Länder darin steht, in denen Florian Wagner war. Oder was er über andere Tiere schreibt – wie zum Beispiel über Adler. Besonders schön finde ich die großen Bilder, aber auch, dass der Autor etwas über sich und seine Erfahrungen geschrieben hat.

Es könnten auch schöne Gute-Nacht-Geschichten sein. Kindern, die noch nicht lesen können, kann man es ja auch vorlesen. Ich finde das Buch geeignet ab 6 Jahren.

Emilia (10)

Florian Wagner: 100% Abenteuer: Pferde, Ravensburger Buchverlag, 2015, 
60 Seiten, ab 8, 9,99 Euro

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Iiiiiiehhh … ähhh … wie cool!

ekligOkay, reden wir Tacheles: Das Leben steckt voll richtig ekliger Dinge wie Körperausscheidungen aller Art, Kriech- und Krabbeltieren, Nagern, Abfall und Abgasen … und gleichzeitig sind diese auch überaus faszinierend, so dass man sich mit einem wohligen Schauer immer wieder mit ihnen befasst.
In dem Sachbuch Voll eklig! von Bärbel Oftring kann man nach Lust und Laune den ekligsten Substanzen und Getieren auf den Grund gehen. Wie entstehen Pickel? Warum mögen wir weder Zecken noch Kakerlaken? Warum ekeln wir uns vor Kot, Kotze, Blut, Urin, Ohrenschmalz und Popeln? Wie wurde in früheren Zeiten gekackt, als es noch keine Wasserklosetts gab? Antworten liefert Oftring in kurzen, aber sehr aufschlussreichen Texten, so dass der Ekelfaktor nicht überstrapaziert wird. Quizfragen und Forscheraufgaben reizen dann das eigene Wissen heraus oder machen dem Leser bewusst, wie er mit einem dieser Ekelthemen umgeht.

Ekel ist kein angeborener Instinkt, sondern von Eltern, Familie und der Gesellschaft, in der wir leben, anerzogen. Dabei hat die Gefühlsmischung aus Abneigung und Widerwillen durchaus einen Sinn, schützt sie uns doch vor Gefahren und Krankheiten. Allerdings können wir bei gewissen ekligen Dingen den Ekel auch wieder verlernen, zum Beispiel mit Hilfe von Oftrings „Nicht-mehr-ekeln-Tipps“.

Das Schöne an Bärbel Oftrings Buch ist, dass es ohne Tabus daherkommt, die Dinge klar beim Namen nennt, um die im normalen Leben meist verschämt herumgeredet wird. Die Fotos und Illus entsprechen dieser Offenheit, so dass man sich zwar manchmal überwinden muss, gleichzeitig aber auch seinem Voyeurismus ungehemmt freien Lauf lassen kann. Durch die vielen Mitmachelemente – man kann ankreuzen, ausfüllen, rätseln, am Ende eine persönliche Ekel-Hitparade aufstellen – führt sie fast nebenbei das wissenschaftliche Prinzip des Hinterfragens und genau Ansehens ein. Den Kindern macht sie so klar, dass das Ekeln durchaus okay ist, aber dass man auch unangenehme Dinge hinterfragen kann und sollte. Dass die Kids – und die erwachsenen Leser ebenso – ganz nebenbei dazu noch eine Menge über Hygiene, andere Kulturen, Geschichte, Biologie und das menschliche Leben lernen, ist da fast nebensächlich. Und nach der Lektüre kann es durchaus passieren, dass manches auf einmal gar nicht mehr so eklig ist …

Bärbel Oftring: Voll eklig! 55 eklige Dinge und was dahinter steckt, Haupt, 2014, 129 Seiten, ab 8, 19,90 Euro

Wetterkunst

wetterÜbers Wetter reden geht ja immer. Nicht nur bei so einem Sturm wie dieser Tage. Ach, diese Kälte. Der Regen macht mich fertig. Es soll endlich Sommer werden. Herrlich, diese Sonne. Jetzt haben mir die Wolken die Sonnenfinsternis verdorben. Wetter geht immer.

Ab jetzt kann man sogar noch sagen:
Ich hab gerade ein irre tolles Buch über das Wetter gelesen.
Ach wirklich?
Ja, echt. Heißt Alle Wetter und ist von Britta Teckentrup.
Kenn ich nicht.
Musst du dir ansehen. So schöne Bilder, übers Wetter.
Ach, echt?

Ja, echt! In vier Kapiteln erzählt Teckentrup in kurzen, fast poetischen Texten von den unterschiedlichsten Wetterphänomenen – Sonnenschein, Regen, Eis und Schnee, Unwetter. Dazu gibt es phänomenale Bilder, die den Betrachter gefühlsmäßig komplett einfangen. Man spürt förmlich die sommerliche Hitze auf dem gelben Getreideacker, atmet die frische Luft im zartgrünen Frühlingswald, fröstelt bei Nebel, Regen, Schnee und ist doch gleichzeitig fasziniert von den dünnen, dichten Strichen, der Dynamik von Wind und Wolken, träumt sich bei den fallenden Schneeflocken in eine stille Winterlandschaft und möchte dem Fuchs durch den unberührten Schnee folgen.
Die oftmals dunklen Bilder wirken in ihren monochromen Farbgebungen zudem beruhigend, fast meditativ. Man möchte sich darin versenken .
In den Texten erfährt man dann  Dinge über Graupelkörner, Sprühregen, Inversionslage, Kristallisationskerne und Mittelgebirgsstau. Aber all diese Infos treten hinter den eindrucksvollen Bildern ganz schnell zurück. Man schaut und staunt.

Einen Vorgeschmack gibt es hier:

Nach diesem Buch wird man sich wahrscheinlich nie mehr so über das Wetter beschweren, wir wir es sonst in unserer Gleichgültigkeit gerne tun. Man wird viel mehr den Himmel, die Landschaft, die Stadt, die Wolken, den Regen, die unzähligen Schattierungen von Grau-Weiß-Blau-Rosa-Violett, einfach alles genauer beobachten und sich womöglich überlegen, was für ein Kunstwerk man da gerade vor sich hat.

Britta Teckentrup: Alle Wetter! Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 6, 24,95 Euro

Endlich mal neu sortiert

tiereMal ehrlich, der Mensch braucht Ordnung. Wir räumen vielleicht nicht gern auf, aber wenn es dann mal getan ist, alles an seinem Platz steht, freuen wir uns und atmen durch. Ordnung brauchen wir auch außerhalb der vier Wände, um diese doch sehr komplexe Welt um uns herum wenigstens ansatzweise zu verstehen.

So haben die Zoologen beispielsweise die Tierwelt ordentlich kategorisiert und in so wunderbare -ologien, wie Entomologie (Insektenkunde), Ichthyologie (Fischkunde) oder Malakologie (Weichtierkunde) unterteilt. Und natürlich haben sie nicht an Untergruppen gespart: Allein bei den Säugetieren unterscheiden sie Chordatiere, Wirbeltiere, Kiefermäuler, Landwirbeltiere, Beutelsäuger und was nicht noch alles. Ich komm da immer ganz durcheinander. Aber Ordnung muss sein.

Das Ordnung auch anders gehen kann, davon hat mich Adrienne Barman schon auf den ersten Seiten ihres GROSS-AR-TI-GEN Sammelsurium-Buch Walsross, Spatz und Beutelteufel überzeugt. Darin hat die Schweizerin, die in Genf lebt, alle möglichen und unmöglichen Tiere in satten Farben und mit lustig verdrehten Augen gezeichnet. Und sortiert. Und hier liegt das Faszinosum, denn sie hat weder alphabetisch gearbeitet, noch nach irgendwelchen zoologischen Klassen, Stämmen oder Reihen, sondern Barman hat ganz eigene Kriterien für die Zusammenstellung entworfen.

So sortiert sie beispielsweise nach Farben: Da treffen bei den „Schneeweißen“ Eisbär auf Weißhaubenkakadu und Weißgesicht-Scheidenschnabel, bei den „Himmelblauen“ gesellt sich Fächertaube zu Plattbauch, Siedleragame zu Blaumeise. Ich gebe zu, ich kenne mit Nichten alle diese Tiere. Und das zieht sich durch das ganze Buch, wenn ich mir die Kategorie „Stubenhocker“ anschaue oder die „Tauchkünstler“. Überall entdecke ich neue Tiere, neue Informationen (so ein Pottwal kann 90 Minuten unter Wasser bleiben …), die „Verschwundenen“ erinnern an die ausgestorbenen Dinos, die „Gezähmten“ zeigen den Einfluss des Menschen auf die Tiere, die „Bedrohten“ rühren mit den Tränen in den Augen den Betrachtern. Erklärenden Text gibt es in diesem Buch nicht – und  der ist auch gar nicht nötig. Denn entweder erfindet man durch die ungewohnten Zusammenstellung der Tiere sofort eine eigene Geschichte oder ist so angeregt, dass man selbst anderen Orts nachliest.
Und immer weiter geht es mit Kategorien, die die wichtigsten Eigenschaften von bestimmten Tieren in den Mittelpunkt stellen: die „Stachligen“, die „Gestreiften“, die „Schnellen“, die „Lauten“, die „spektakulären Verführer“. Es ist eine Wonne, weil jede Kategorie überrascht und scheinbar Selbstverständliches in andere Beziehungen setzt. Man kann stundenlang blättern und schauen. Dieses Buch verführt zum hin und her springen, die Farbkonzepte der einzelnen Seiten ziehen einen magisch an, der subtile Witz in den Bildern fordert die ganze Aufmerksamkeit.

Bei all der Schauerei und dem Vor- und Zurückblättern geht einem dann irgendwann auf, dass man sich viel öfter von althergebrachten Ordnungen trennen könnte und seine eigenen Kriterien aufstellen sollte. Der Blick weitet sich, das Kreativ-Gen fängt an zu rumoren und es kribbelt im Bauch. So etwas können Leser und Betrachter jeden Alters gebrauchen, weshalb dieses Werk für mich in die Kategorie All-age gehört und ein Highlight meines Buchjahres ist.

Adrienne Barman: Walross, Spatz und Beutelteufel. Das große Sammelsurium der Tiere, Übersetzung: Susanne Schmidt-Wussow,  Aladin, 2015,  216 Seiten, ab 4, 24,90 Euro

[Jugendrezension] Die Geschichte der Berliner Mauer

mauerViele Menschen besuchen jedes Jahr die Überreste der Berliner Mauer, vor allem die Eastside Gallery und den Checkpoint Charlie, wo als Grenzsoldaten verkleidete Menschen den Touristen Bescheinigungen ausstellen und sich fotografieren lassen. Doch was steckt eigentlich wirklich hinter der Berliner Mauer?

Das Buch Wie war das mit der Mauer? von Verena Glanos gibt Antwort auf diese Frage. Es beschreibt chronologisch die Ereignisse von der Teilung Deutschlands bis zur Wiedervereinigung. Zwei fiktive Personen, Peter und Paul, sind die Beispielfiguren des Buches. Einer der beiden lebt in Ost-Berlin, der andere in West-Berlin. Das, was sie erleben, steht am Anfang jedes Kapitels. Diese Geschehnisse werden dann ausführlich erklärt. Die Texte sind sachlich, ohne große Ausschmückungen geschrieben und sehr informativ. Sie gehen ziemlich stark ins Detail, sind aber trotzdem kompakt. Durch Zwischenüberschriften ist der Fließtext gut gegliedert und sie erleichtern sehr das Überfliegen, wenn man etwas Bestimmtes sucht. Außerdem gibt es neben dem Text noch Infokästen, Steckbriefe und Fragen von Kindern, die in einem Kasten beantwortet werden. Auf jeder Seite finden sich es Bilder, teilweise Fotos, teilweise Zeichnungen. Die Zeichnungen beziehen sich auf das Kapitel, sie fassen sehr kurz noch einmal zusammen, was dort steht. Das Layout der Seite ist also sehr gut: Es ist aufgelockert und erscheint nicht so textlastig. Trotzdem ist das Buch nicht besonders gut zum Hintereinanderweglesen geeignet, denn im Text sind Querverweise auf andere Seiten enthalten. Wenn man ihnen folgt, muss man viel blättern, wenn nicht, dann irritieren sie einen noch.

Wie war das mit der Mauer? ist sehr informativ. Es erklärt die Geschichte so, dass man sie verstehen muss, und man lernt beim Lesen viel. Besonders spannend fand ich die Zeitzeugenberichte, die immer wieder auftauchen.

Ich kann das Buch für jeden interessierten Menschen empfehlen, aber unter neun Jahren ist es wahrscheinlich noch sehr kompliziert.

Lector03 (11)

Verena Glanos: Wie war das mit der Mauer? logo! erklärt, wie Deutschland geteilt und wieder vereint wurde. logo! ZDF tivi, Boje Verlag, 2. Aufl. 2014, 143 Seiten, ab 9, 9,99 Euro