Gemeinsam eine Stimme finden

Girlhood

Ich bin nicht loud and proud, wie meine Freunde aus der Queer-AG. Ich bin still und extrem überfordert«, denkt Pree. Während ihre Schulfreunde sich auf den lang vorbereiteten und von Pree mitorganisierten Queer-Proud-March machen, ist sie auf der Hochzeit ihrer Cousine, einer richtig großen traditionellen indischen Feier. Und bis auf ihre sehr verständige Mutter weiß niemand, dass Pree auf Frauen steht.
Mit einem knallbunten, mitreißenden und sehr lustigen Zusammenprall der Kulturen beginnt die vielfältige Anthologie Girlhood. Sechs deutschsprachige Autorinnen mit unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation erzählen in sechs Kurzgeschichten von Mobbing in der Schule und den sozialen Medien, von Diskriminierung und Rassismus, Ausgrenzung, Bodyshaming und Queerness.

Null Punkte für ihren Körper

Alle Mädchen und junge Frauen in diesen Geschichten haben gemein, dass sie am liebsten unter dem Radar, unscheinbar und unauffällig bleiben wollen. Was unmöglich ist, wenn man die einzige Schülerin mit einer sichtbaren Behinderung ist. Wie Liv, die wegen ihrer Glasknochenkrankheit auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Oder Dessi, die nicht den schlanken Schönheitsidealen entspricht und deshalb auch nur eine Zehn im zynischen Kategorisierungssystem ihrer Klassenkameraden ist. Je fünf Punkte für ihr Gesicht und ihren Charakter. Null Punkte für ihren Körper.

Plötzlich ein Meme-Girl

Oder Nour: »Ich dachte, wenn ich nur nett bin, so richtig nett, biete ich niemandem eine Angriffsfläche. Jetzt stecke ist genau in der Situation, weil ich etwas Nettes getan habe?« Nour hat für ihre Freundin, die sich ihren Text für ein Theaterstück nicht merken kann, spontan eine Eselbrücke getanzt. Leider hat das ein profilneurotischer Mitschüler, eigentlich ein guter Freund seit Kindergartenzeiten, gefilmt und online gestellt. Und jetzt ist sie Meme-Girl. Basma Hallaks Story erzählt geschickt, wie man aus der selbstgesuchten Peripherie mitten reingeschleudert, von der stillen Außenseiterin ungewollt zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wird.

Menschen für einen Gag missbraucht

Zuvor hat Nour auch nur über Memes, die ihr über die sozialen Kanäle zugespielt wurden, kurz geschmunzelt, vielleicht mal geteilt. Aber sie hat sich keine Gedanken gemacht, dass dafür Bilder von Menschen missbraucht werden, für ein Lachen auf Kosten anderer. Für einen bald schalen Witz, der aber nicht mehr aus dem Netz verschwindet und im schlimmsten Fall die Betroffenen ein ganzes Leben lang begleitet. Es ist ein schmaler Grad zwischen unbeteiligt und volle Granate betroffen zu sein.

Mut der Verzweiflung

Alle Geschichten in Girlhood wissen um diese Ambivalenz. Ist man jemals unbeteiligt, wenn jemand anderes gemobbt wird? Weil man schweigt, nicht einschreitet? »Ihr seid erbärmlich, weil ihr dabei mitmacht. Nur weil ihr Angst habt, dass es sonst euch trifft«, schleudert die ungewollt schwangere und brutalst gemobbte Biona der eifernden, ihr auflauernden Meute entgegen. In allen der sehr gut und intensiv geschriebenen und dialogstarken Kurzgeschichten ist für die Protagonistinnen irgendwann der Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr weiterkönnen. Wenn sie sich nicht länger verstecken können oder gute Miene zum bösen Spiel machen wollen. Anfangs mit dem Mut der Verzweiflung beginnen sie, sich zu wehren.

Zusammenhalt

So wie Dalia, die mit ihrer Familie aus Syrien geflüchtet ist und trotz größter Anstrengung und Bestnoten weiterhin in der sogenannten Willkommensklasse für Geflüchtete bleiben soll, obwohl sie Abitur machen und Medizin studieren möchte. »Wenn es nichts bringt, haben wir es wenigstens versucht.« Tatsächlich gibt es in allen Geschichten eine Initialzündung. Und die Mädchen und jungen Frauen beweisen großen Mut, für sich einzustehen. Und gewinnen Mitstreiterinnen und auch Mitstreiter. Darum geht es auch in Girlhood. Um Erfahrungen und Erlebnisse junger Frauen. Und um Zusammenhalt.
Noch einmal Biona in Justine Pusts Geschichte Die Stimme, die wir fanden: »Immer wenn eine Frau aufhört, den Mund zu halten, findet vielleicht auch eine andere von uns ihre Stimme wieder.« Girlhood, das sind starke Geschichten, die Mut machen.

Anna Dimitrova/Amani Padda/Basma Hallak/Rabia Doğan/Justine Pust/Katharina Seck: Girlhood, Arctis, 2025, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14 Jahre

Universum – Kosmos – Weltall. Ein Special

Als Übersetzerin habe ich seit Jahren immer mal wieder Kindersachbücher zum Thema Weltall und Sterne auf dem Schreibtisch, so auch dieses Jahr. Gerade ist meine neueste Übersetzung herausgekommen: Mein großes Buch vom Weltall von Camilla De la Bedoyere.
Die Geschichten über das Universum, seine Entstehung, unser Sonnensystem und seine Planeten, ferne Galaxien und Schwarze Löcher sind jedes Mal überaus faszinierend, dass mich immer wieder die Lust überkommt, Astronomie zu studieren – aber Mathe und Physik waren und sind leider nicht meine Stärken. Umso schöner, dass ich durch diese gutgemachten und verständlichen Kindersachbücher meinen Horizont auch ohne Studium erweitern kann.

Das nehme ich nun zum Anlass mal den Blick auf die aktuellen Publikationen anderer Verlage zu diesem unendlichen Thema zu werfen. Sternen-Bücher gibt es wohl seit Anbeginn des Buchdrucks. Bei uns zu Hause lagen schon in den 1970er Jahren sowohl alte Ausgaben aus der Nachkriegszeit, als auch WAS IST WAS-Bücher über Sterne herum. Ein Gesamtüberblick über dieses Genres wäre also ein unmögliches Unterfangen, weshalb ich mich auf die wichtigsten Erscheinungen aus den vergangenen vier Jahren beschränke. Falls mir bei meiner Recherche dabei etwas entgangen ist, bitte ich um einen Hinweis. Dann erweitere ich diese Sammlung.

Ähnliche Inhalte – viele Besonderheiten

Da sich die Inhalte bei Kindersachbüchern über das Weltall natürlich alle ziemlich ähneln, habe ich versucht, die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Publikationen hervorzuheben. Da eine Kategorisierung per se nicht ganz einfach ist, habe ich mich am Alter der Zielgruppen orientiert, beginnend bei den Jüngsten bis hin zu den junggebliebenen Erwachsenen.

Ich hoffe, hier jede:r etwas Passendes aus den Weiten der Buchproduktionen über unser Universum findet. Und los geht’s: 3 – 2 – 1 – Lift off!

Lesealter 2-5

Für Geschichten über den Himmel, das Weltall, den Weltraum und die Sterne kann man nie zu jung sein. So gibt es die ersten Pappbilderbücher bereits für Zwei- bis Vierjährige.
In Sonne, Mond und Sterne fängt es ganz einfach mit der Erklärung für das Phänomen von Tag und Nacht an. Kurze Texte liefern erste Infos zum Weltall, zur Raumfahrt und den Sternbildern.
Auf jeder Doppelseite gibt es immer die eine oder andere Klappe zum Aufmachen, dahinter betreten Astronauten den Mond oder zündet die nächste Raketenstufe. Genaues und wiederholtes Hinsehen ist damit garantiert. Auf diesen wenigen Pappseiten ist die Faszination für die unendlichen Weiten liebevoll und kleinkindgerecht angelegt. Die alltäglichen Welten der ganz Kleinen werden so um den Blick ins Universum geweitet.

Patricia Mennen: Wieso? Weshalb? Warum? junior – Sonne, Mond und Sterne, Illus: Peter Niederländer, Ravensburger Verlag, 5. Aufl. 2022, 16 Seiten, ab 2, 11,99 Euro

Poetisch wird es auf den zwölf Papp-Doppelseiten von Guck mal tief ins Weltall. Regina Schwarz liefert zu Sonne, Mond und fünf Planeten jeweils einen gereimten Vierzeiler mit den wichtigsten Infos. Dazu kommen ein Raketenstart und die Raumstation ISS.
Die ausgestanzten Löcher in der Seitenmitte, werden mit jedem Umblättern kleiner und enden in einer Sternschnuppe, die natürlich einen Wunsch erfüllt. Auf jeder Doppelseite hat sich zudem ein kleines grünes Wesen versteckt, das gesucht werden muss. Ein liebevoller Einstieg in das Weltall-Thema!

Regina Schwarz: Guck mal tief ins Weltall, Illus: Lisa Apfelbacher, Kosmos, 2023, 24 Seiten, ab 2, 14 Euro

Weiter geht es mit dem nächsten gereimten Bilderbuch mit Loch. Auf jeder Doppelseite von Unsere 8 Planeten wird genau ein Planet in jeweils vier Zeilen vorgestellt. Und das ist echt gut gemacht, denn auf diesem wenigen Raum schafft es Chris Ferrie die wichtigsten Merkmal der Planeten unseres Sonnensystems unterzubringen. Uranus liegt auf der Seite und ist der kälteste, Saturn besitzt 80 Monde und daher so viele Ringe. Auf Venus ist es 500 Grad heiß und er strahlt am hellsten. Beim Reimen hat Übersetzerin Silke Pöppel super Arbeit geleistet. Denn das so auf den Punkt hinzubekommen ist überhaupt nicht einfach!
Kleine Betrachter:innen bekommen hier also spielerisch die ersten harten Fakten über unsere Planeten. Und die Löcher, die auf jeder Seite ein bisschen kleiner werden, lassen immer die Sonne sehen, um die bekanntlich unsere Planeten kreisen. Ein wirklich tolles erstes Sternen-Buch!

Chris Ferrie: Unsere 8 Planeten, Illus: Lizzy Doyle, Übersetzung: Silke Pöppel, Penguin Junior, 2022, 20 Seiten, ab 3, 10 Euro

Nur wenige Seiten hat das Pop-up-Buch Im Weltall, doch die beherbergen filigrane Papierkunst, die sich beim Aufklappen entfaltet. Ein echtes Spektakel und ein wahrer Hingucker: Es startet eine Rakete ins All, zwei Astronauten hüpfen über den Mond, die ISS macht sich breit, ein Rover erkundet den rote Mars und zum Schluss umkreisen die Planeten die Sonne.
Hier steht natürlich der Pop-up-Effekt im Mittelpunkt, aber erste Infos zum Weltall und zur Raumfahrt lassen sich auch hier finden. Ein dynamischer Einstieg ins Thema!

Laura Cowan: Mein erstes Pop-up-Buch: Im Weltall, Illus: Chaaya Prabhat, Übersetzung: Birgit Zimmerer, Usborne, 2023, 10 Seiten, ab 3, 13 Euro

Eine erdbezogene Annäherung an das Universum kommt von Vater und Tochter Hawking. Lucy, die Tochter des 2018 verstorbenen Astrophysikers Stephen Hawking, fasst hier das Erbe ihres Vaters in dem inklusiven Bilderbuch Schaut zu den Sternen! zusammen. Sie lässt Stephen Hawking sprechen, der davon erzählt, dass er die großen Fragen des Weltalls lösen wollte: Wie groß ist das Universum? Wie viele Sterne gibt es? Was ist ein Schwarzes Loch? Sind Zeitreisen möglich?
Aber für ihn sind auch andere Fragen wichtige, die unser Zusammenleben auf der Erde betreffen: Wie können wir auf unseren Planeten aufpassen? Wie für eine lebenswerte Zukunft sorgen?
Die Hawkings fordern hier bereits die kleinen Menschen auf, über diese Fragen nachzudenken und unseren Planeten und das gemeinsame Zusammenleben darauf zu schützen. Am Ende des Buchs beantworten sie noch einige Fragen zum Weltall, die den ersten Wissensdurst kleiner Astrophysiker:innen stillen, aber auch zum Weiterforschen anregen.

Stephen Hawking/Lucy Hawking: Schaut zu den Sternen! Gemeinsam unterwegs in Richtung Zukunft, Illus: Xin Li, Übersetzung: Knut Krüger, Penguin Junior, 2025, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro

Einen ersten Flug zur Raumstation ISS können mit Abenteuer im Weltraum Vorlesende und neugierige Kids gemeinsam unternehmen. In diesem Pappbuch fliegen die Kinder Marie und Luis ins All und erleben, wie mal als Astronaut:in auf der Raumstation den Alltag bewältigt. Die Schwerelosigkeit macht selbst das Schlafen zu etwas Besonderem – von den Toilettengängen und dem Haarewaschen mal ganz abgesehen. Dass die Kinder sogar Weltraumspaziergänge machen, ist zwar eigentlich Quatsch bzw. Fiktion, aber für die Identifikation mit dem Thema ganz schön. Auch hier gibt es wieder Klappen, hinter denen sich veränderte Illus und weitere Infos finden. Das Vorlesen wird so zum Gemeinschaftserlebnis. Dazu finden sich »Mach-mit!«-Aufforderungen, bei denen kleine Experimente durchgeführt werden können. Mit diesem Basis-Wissen über die Raumfahrt haben die Kinder nach der Lektüre schon eine ganze Menge Erstaunliches zu erzählen.

Volker Kratzenberg-Annies: WAS IST WAS Junior. Abenteuer im Weltraum, Illus: Niklas Böwer, Tessloff, 2024, 20 Seiten, ab 5, 14, 95 Euro

Lesealter 6-9

Leseanfänger können sich dann in Weißt du schon alles über das Weltall? in verschiedenen Formen ausprobieren. Hier gibt es kurze Text in einfacher Sprache, deren Silben farblich herausgehoben sind. So kann das Lesen ganz spielerisch geübt werden. Inhaltlich geht es um – na, klar – das Weltall, wie es entstanden ist, wie Sterne geboren werden und um Sonnen kreisen, wie aus kleinen Staubkörnchen Sternschnuppen werden, oder wie viele Menschen bereits auf der ISS waren. Am Ende jedes Kapitels gibt es ein Quiz, in dem das Gelesen wiederholt wird.
Dazu kommen Seiten mit »Profiwissen zum Vorlesen«. Damit wird die Lektüre dieses Buches zu einem Gemeinschaftserlebnis von Groß und Klein. Und vermutlich lernen dann beide Seiten etwas über Sterne, Planeten und Schwarze Löcher. Nur, dass man dann schon alles über das Weltall weiß, sollte man wirklich nicht glauben …

Helen Seeberg: Dein Lesestart. Weißt du schon alles über das Weltall?, Dudenverlag, 2025, 64 Seiten, ab 6, 10 Euro

In Geheimnisvolles Weltall wird auf jeder Doppelseite ein neues Thema behandelt. Es beginnt mit dem Überblick über das Universum und die wichtigste Maßeinheit, das Lichtjahr. Nach und nach geht es weiter ins Detail: Urknall, Sonnensystem, Planeten. Bei letzteren gibt es Einblicke in deren Aufbau und Materialien, so erfahren die angehenden Astrophysiker:innen was »Mondglas« ist und dass es Meteoriten aus Stein, Eisen oder einer Mischung daraus gibt.
Außerhalb unseres Sonnensystems faszinieren Helix-, Krebs- und Adlernebel ebenso wie die verschiedenen Formen der Galaxien. Exoplaneten könnten Lebensräume für Aliens sein. Und ein Rätsel gibt immer noch die Dunkle Materie auf, von der die Wissenschaft noch nicht weiß, woraus sie besteht.
Dieses Kompendium mit kurzen, gut verständlichen Texten, befasst sich zu dem mit Raumtechnik und Raumfahrt, thematisiert das Problem des Weltraumschrotts, die Schwierigkeit der Marsmissionen und spekuliert über Aliens. Den Abschluss bildet der eigene Blick in den Himmel, an dem sich Sternbilder entdecken lassen.

Shoshana Z. Weider: Geheimnisvolles Weltall. Entdecke die unendlichen Weiten des Universums, Illus: Claire McElfatrick, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 80 Seiten, ab 7, 16,95 Euro

In dem Klappenbuch Abenteuer Weltraum gibt es jede Menge Sachen zum Ausklappen. Gleich die erste Doppelseite verdoppelt sich noch mal und zeigt in comichaften Illustrationen das Weltall mit Sternen, Planeten, Galaxien. In einfachen Worten und kurzen Sätzen wird die Entstehung von Sternen erläutert und wie sie wieder sterben.
Auf einer mäandernden Zeitleiste gibt es Infos zur Geschichte der Astrophysik und den wichtigsten Protagonisten wie Galileo Galilei oder Albert Einstein. Auch das Sonnensystem wird wieder im Breitbandformat vorgestellt. Zu jedem Planeten sind Fakten und Zahlen zum Staunen eingestreut.
Als Goody gibt es am Ende ein Heftchen mit kleinen Sternkarten, auf denen man die Sternbilder entdecken und sie gleich abends am Himmel suchen kann.

Katie Daynes: Ich weiß mehr! Abenteuer Weltraum. Vom Urknall bis zur Raumfahrt, Illus: Peter Allen, Übersetzung: n.n., Usborne, 2025, 12 Seiten ab 7, 16 Euro

Unklare Besitzverhältnisse sind bekanntermaßen nie gut. Sie führen meist zu Streit. Auch beim Weltraum, den wir ja nach und nach immer weiter erforschen und erobern, stellt sich diese Frage: Wem gehört eigentlich der Weltraum? Nur ist es hier nicht ganz so einfach. Anne Scheller nähert sich in ihrem Buch dieser Frage, indem sie zunächst erklärt, wo der Weltraum überhaupt beginnt und wie er entstanden ist. In kurzen Texten geht es durch die Geschichte von Universum und Raumfahrt. Von der Forschung auf der ISS und möglichen Touristentouren ins All gelangt sie zu den Satelliten, die unsere Erde umkreisen. Diese mittlerweile unverzichtbaren Helfer in unserem Alltag sind dort oben heute so zahlreich vertreten, dass es langsam fast etwas eng wird. Und sie entwickeln sich zu einem Problem: Kaputte Satelliten bleiben einfach in der Erdumlaufbahn und werden zu Weltraumschrott. Doch wer macht den wieder weg? Normalerweise sind die Eigentümer zum Aufräumen verpflichtet, aber die unendlichen Weiten gehören niemandem. Der Blick auf diese ungeklärten Verhältnisse und die ersten Ansätze zur Lösung dieser Probleme ist eine interessante Facette in diesem liebevoll illustrierten Buch.

Anne Scheller: Wem gehört eigentlich der Weltraum?, Illus: Julia Christians, Beltz & Gelberg, 2025, 62 Seiten, ab 7, 16 Euro

Zu einem Tripp ins All startet Mein galaktischer Weltraum-Atlas von Jane Wilsher. Auf jeder Doppelseite gibt es ein neues Thema, angefangen bei der Betrachtung des Sternhimmels von der Erde aus, über den Raketenstart und den Alltag im Kosmos. Kleine Texthäppchen liefern Erstlesenden erstaunliche Infos – beispielsweise muss die Zahnpasta heruntergeschluckt werden. Dazu gibt es knallbunte Illus, in denen vor allem die Technik der Raumfahrt dargestellt wird, wie der Mond- und auch der Marsrover.
Zum Mitmachen und genauen Hinschauen animiert auf jeder Doppelseite ein bunter Kreis mit Fragen. So müssen die Sonneneruptionen gezählt oder der Planet mit dem Roten Fleck gesucht werden. Kleine Technik-Fans kommen hier voll auf ihre Kosten!

Jane Wilsher: Mein galaktischer Weltraum-Atlas. Eine Reise zu den Sternen und zurück, Illus: Paul Daviz, Übersetzung: Elena Bruns, moses. Verlag, 2024, 32 Seiten, ab 8, 14,95 Euro

Unter dem Sesamstraßen-Motto Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt bleibt dumm! werden in diesem Ringbuch 27 Fragen zum Weltraum gestellt und beantwortet. Zwei kleine Weltall-Alliens begleiten die Lesenden und liefern in Sprechblasen lustige Anmerkungen zu den vielen Infos, die sich um Sonne, Planeten, Kometen und die Milchstraße drehen. Auf zum Teil aufklappbaren Seiten entfaltet sich so ein grundlegender Überblick über das Universum. Es gibt zudem einen kurzen historischen Abriss über die wichtigsten Astronomen und Entdecker.
In der Abteilung »Spezial-Wissen« wird ein Faktum des jeweiligen Themas vertieft, beispielsweise wie sich in der Sonne Protonen in Neutronen verwandeln.
Aber es bleibt nicht bei der Theorie, denn hier finden sich auch Anregungen, wie man die Phänomene des Alls in Experimenten nachstellen kann. Da wird dann eine Luftballon-Rakete gebaut, die Wirkung der Schwerelosigkeit oder eines Schwarzen Lochs gezeigt.
Abgerundet wird alles durch aufschlussreiche Interviews mit noch lebenden Astronomen, Astrophysikern und Astronauten. Die Frauen der Astrophysik fehlen allerdings gänzlich.

Stefan Greschik: Wieso? Weshalb? Warum? Profiwissen – Weltraum, Illus: Jochen Windecker, Ravensburger Verlag, 10. Auflage 2014, 56 Seiten, ab 8, 14,99 Euro

Wahrscheinlich eine der wichtigsten Fragen in Sachen Weltraumfahrt ist natürlich: Wie geht man im Weltall aufs Klo?
Eine vereinfachte Antwort findet sich in diesem Klappenbuch. Dazu noch jede Menge andere Fragen, wie: Wer erfand Raketen? Wo gehen Astronauten zur Schule? Warum funkeln Sterne? Welche Tiere nutzen Mond und Sterne?
Wissensdurstige Leser:innen finden dann hinter den Klappen die kurzen, aber präzisen Antworten. Wissensvermittlung findet hier ganz spielerisch statt. Trotzdem wird auf wenigen Seiten mit mehr als 50 Fragen eine große Bandbreite an Weltraumwissen geboten.

Katie Daynes: Wie geht man im Weltall aufs Klo?, Illus: Peter Donnelly, Übersetzung: Andrea Reinacher, Usborne, 2. Auflage 2024, 14 Seiten, ab 8, 14 Euro

Auslöser für dieses Weltall-Special war meine Übersetzung von Camilla De la Bedoyeres Mein großes Buch vom Weltall, das nun endlich im Handel ist. Es ist mit 64 Seiten eigentlich nicht so dick – der ursprüngliche Titel lautete auch ganz anders –, aber vom Format her mit fast 35 cm Länge eben ziemlich groß. Es zeigt liebevoll illustriert die wichtigsten Elemente des Weltalls: Unser Sonnensystem mit Planeten, Sonne, Erde und Mond; die Entstehung von Sternen und was aus ihnen wird; die verschiedenen Galaxien und die nördliche und südliche Hemisphäre.
Ein Überblick über die ersten Reisen ins All fehlt ebensowenig wie die Erkundung von Mars und die Suche nach außerirdischem Leben.
Als ein erster Einstieg in die Materie ist es zum Blättern, Schauen und Entdecken super geeignet.

Camilla De la Bedoyere: Mein großes Buch vom Weltall, Illus: Aaron Cushley, Übersetzung: Ulrike Schimming, carlsen, 2025, 64 Seiten, ab 8, 16 Euro

Noch ein paar Zentimeter größer ist der Atlas des Weltalls, in dem in fünf Überkapiteln Fragen zum All beantwortet werden: Was sehen wir mit bloßem Auge? Wo sind wir? Wie sind die anderen Planeten? Was sehen moderne Teleskope? Wie erforscht der Mensch das All?
Den Auftakt machen verschiedene Sternbilder und Himmelskarten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Die alten Griechen sahen etwas anderes in den Sternen als die Chinesen, Afrikaner oder Navajo. Dieser Blick über unseren Himmelshorizont hinaus ist spannend und anregend.
Weiter geht es dann mit der Position der Erde in der Galaxie Milchstraße und den Portraits unser Planeten.
Bei der Betrachtung durch die Teleskope kommt man später noch mal auf die Sternbilder zurück.
Die grafisch ansprechenden Illustrationen abstrahieren die Himmelsphänomene und wirken dabei sehr modern.

Lara Albanese: Atlas des Weltalls. Die Geheimnisse des Himmels und der Sterne, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Übersetzung: Claudia Koch, midas, 2021, 88 Seiten, ab 8, 25 Euro

Spielerisch geht es in dem Wissenwelten-Buch über das Weltall zu. Die wenigen, aber sehr aufwändig produzierten Seiten haben es in sich: Hier findet man überall kleine Klappen, hinter denen sich weitere Informationen z. B. über die Sonne, die Planeten, Atome oder Raumfahrttechnik verbergen. Fast kommt man sich wie bei einem Adventskalender vor – hinter jedem Türchen eine Überraschung.
Auf einer großen ausklappbaren Doppelseite sieht man dann sogar die Planten um die Sonne kreisen.
Die kurzen Texte sind durch die Übersetzung von Birgit Reit sehr gut verständlich und auch für junge Leser:innen geeignet. Die Cut-outs und Löcher in den Seiten werden zu einem zusätzlichen Hingucker, die immer wieder neue Perspektiven ermöglichen. Die teilweise dreidimensional angelegten Illustrationen in poppigen Farben vermitteln in ihrer Abstraktion einen ersten Eindruck des Universums um uns.
Langweilig wird es einem bei diesem Buch nicht.

Gail Armstrong (Illus): Wissenswelten Weltall. Schicht für Schicht die Weiten des Universums entdecken, Text: Ruth Symons, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 28 Seiten, ab 8, 19,95 Euro

Mit einem witzigen Anstrich geht es in dem Comic Auf der Raumstation zur ISS. Hier dreht sich alles um das Leben der international zusammengewürfelten Crew im Weltall. Jungastronautin Becky führt die Leser- und Betrachter:innen durch das Innere der Raumstation und zeigt, wie ein Tag 400 Kilometer über der Erde so abläuft.
Dabei geht es weniger um Sterne und Planeten, sondern um die ganz alltäglichen Dinge im All: Wieso schwebt alles? Und wieso ist das Schweben eigentlich ein Fallen? Stichwort: Mikrogravitation.
Auch die Nahrung im All hat ihre Besonderheiten. Nichts darf krümeln, damit die herumschwebenden Bröckchen nicht in die Bordelektronik geraten und eine Katastrophe auslösen. Daher gibt es eher Tortilla-Wraps anstatt Chips, alles ist in Dosen oder Plastik verpackt und Gurte, Magneten und Klettbänder helfen, dass die Dinge an Ort und Stelle bleiben.
Aber Becky berichtet auch von den Tieren und Pflanzen, die zu Forschungszwecken mitfliegen, den körperlichen Veränderungen, die die Astronaut:innen bei ihrem Aufenthalt im All durchmachen, und dem Training, damit sie fit bleiben.
Wer nach dieser Lektüre immer noch ins All will, dem erzählt Becky, wie lang und umfangreich die Ausbildung zum Astronauten ist. Danach kann eigentlich nichts mehr schief gehen.

Rob Lloyd Jones: 24-Stunden-Abenteuer. Auf der Raumstation, Illus: Laurent Kling, Übersetzung: Andrea Reinacher, Usborne, 2025, 64 Seiten, ab 8, 13 Euro

ESA-Astronaut Matthias Maurer verbrachte 175 Tage auf der ISS und hat nun zusammen mit Autorin Sarah Konrad und Illustratorin Noa Sauer den Comic Training für den Mond vorgelegt, in dem er von seinem größten Traum erzählt: nämlich einmal über den Mond zu hüpfen.
Was scheinbar eine leichte Übung in der Raumfahrt sein sollte – schließlich waren die Menschen schon vor mehr als 50 Jahren auf dem Mond – entpuppt sich jedoch als eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Und die muss sehr gut vorbereitet werden.
Mauerer nimmt die Leserschaft mit zu diesem intensiven Training, das die Astronaut:innen bewältigen müssen. So geht es in steinige Gebirge, dunkle Höhlen, trockene Wüsten, um dort das genaue Beobachten zu lernen und zu üben, in Raumanzügen und mit Greifern Gesteinsproben zu nehmen. Nur sind die natürlichen Bedingungen der Erde selbstverständlich nicht mit denen auf dem Mond zu vergleichen. Daher hat die ESA in der Nähe von Köln das Mondtrainingszentrum LUNA gebaut. Und auch dorthin nimmt Maurer uns mit und schenkt uns einen hochinteressanten Einblick in all das, was auf dem Mond alles zu beachten ist. Allein, dass das Licht wegen der mangelnden Atmosphäre anders ist und Schatten wirklich pechschwarz sind, stellt eine Herausforderung dar. Mauer erzählt lustig und manchmal selbstironisch, immer jedoch hochinformativ. Der Respekt für die Leistung der Astronaut:innen steigt nach dieser Lektüre umso mehr.

Matthias Maurer/Sarah Konrad: WAS IST WAS. Training für den Mond, Illus: Noa Sauer, Tessloff, 2025, 112 Seiten, ab 8, 16,95 Euro

Ebenfalls auf der ISS spielt die fiktive Geschichte, die die italienische Raumfahrerin Samantha Cristoforetti zusammen mit Emma Roberts geschrieben hat. Darin verbringt die junge Cassie Futura ein halbes Jahr auf der ISS – was natürlich reine Fiktion, aber dicht an der Zielgruppe ist.
Cassie beschreibt in ihrem Tagebuch, was sie dort oben alles erlebt. Eine Tutorin gibt dem Mädchen aus dem Missionkontrollzentrum auf der Erde bestimmte Aufgaben, die sie während ihres Aufenthalts auf der Raumstation lösen muss.
Hier wechseln sich Cassies Tagebucheinträge mit grau umrandeten Erklärseiten ab (Cassies Aufgaben), in denen beispielsweise der Aufbau der ISS, die Funktion des Webb-Weltallteleskops oder botanische Experimente erklärt werden. Natürlich haben auch Weltraumnahrung und Weltraumklogänge ihren Platz.
In der Mitte des Buches finden sich dann ein paar Seiten mit farbigen Fotos, die Samantha Cristoforetti auf ihrer Mission 2022 in der ISS zeigen. Samantha und ihre weibliche Protagonistin Cassie machen also neben der ganzen ISS-Vermittlung, die in Zusammenarbeit mit der ESA entstanden ist, deutlich, dass auch Frauen ins Weltall fliegen. Das ist bei der männlichen Dominanz in diesem Beruf immer noch nicht selbstverständlich, wird aber durch solche Vorbildbücher langsam aufgebrochen. Endlich.

Samantha Cristoforetti/Emma Roberts: Cassie Futura. Mit 11 1/2 Jahren im Weltall. Mein Tagebuch – streng geheim!, Übersetzung: Moritz Langer, Dorling Kindersley, 2025, 160 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Wer nicht nur lesen und Wissen aufsaugen möchte, hat bei Memo Wissen Weltall die Gelegenheit zu quizzen. Über die Lernplattform Kahoot! kann man testen, ob man auch all die vielen Zahlen und Infos über Planeten, Weltraummissionen, Sternengeburten und Galaxien behalten und abrufen kann. Personengebundene Daten werden dabei nicht erhoben, man spielt unter einem Nickname. Anmeldung und Benutzerkonto sind nicht erforderlich.
Zuvor sollte man jedoch das Buch genau lesen, denn manche Antworten sind nicht allgemein bekannt und es kommt auf das Detail an. Aber auch das macht bei den vielen Fotos und Illustrationen Spaß. Die kurzen Texte überfordern niemanden. Im Battle mit den Erwachsenen kann man dann spielerisch herausfinden, wer mehr über das Weltall und die Raumfahrt weiß.

Robin Kerrod: Memo Wissen Weltall, Übersetzung: Susanne Schmidt-Wussow, Dorling Kindersley, 2025, 72 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Fast wie ein Videospiel ist die Mission zum Mars aufgemacht. In neonknalligen science-fiction-artigen Illus wird eine Crew zum Mars geschickt. Als Crew-Mitglied muss man auf jeder Doppelseite eine Entscheidung treffen und wird so kreuz und quer durchs Buch geschickt. Man kann es natürlich auch ganz klassisch von vorn nach hinten lesen, aber dann geht die Spannung verloren.
So erfährt man spielerisch, was für ein langwieriges und schwieriges Unterfangen es ist, a.) überhaupt auf den Mars zu gelangen, b.) dort zu überleben und c.) beispielsweise sich dort fortzubewegen und Gesteinsproben zu nehmen.
Gerade träumen so einige Menschen von der Besiedlung dieses Planeten, aber noch ist das alles ziemliche Zukunftsmusik und vom Nutzen her auch eher fragwürdig. Aber in diesem interaktiven Abenteuer, das zusammen mit der ESA entwickelt wurde, bekommen die Kids eine Ahnung von den Herausforderungen der Astrophysik. Und manchmal muss man auch einfach groß träumen.

Sheila Kanani: Mission zum Mars. Aufbruch zum Roten Planeten, Illus: Adamstor, Übersetzung: Maria Zettner, Dorling Kindersley, 2025, 64 Seiten, ab 8, 14,95 Euro

Die WAS-IST-WAS-Bücher gab es ja schon zu meiner Kindheit, was auch schon ein halbes Jahrhundert her ist, und immer noch werden sie gepflegt und regelmäßig überarbeitet. Im aktuellen Universum-Band finden sich jetzt spektakuläre Illus und Bilder. Wobei hier endlich mal die Anmerkung auftaucht, dass viele Illustrationen nur eine Fantasie bzw. eine Vorstellung sind, wie es möglicherweise im All aussehen könnte. Das sensibilisiert ganz gut dafür, dass das Universum immer noch ein großes Unbekanntes ist. Neben den üblichen Infos über Sterne, Sonnen, Planeten, Sterngeburten und -tode beschreibt der Astrophysiker Kratzenber-Annies auch andere Theorien wie die vom Multiversum oder die Stringtheorie. Humoristisch wird es, wenn er sich das Weltall als Donut vorstellt oder ein (natürlich fiktives) Interview mit einem Alien führt. Das lockert die schwierige Materie auf, die ansonsten in bester WAS-IST-WAS-Manier in kurzen, gut verständlichen Texten umfangreiches Wissen vermittelt.

Volker Kratzenberg-Annies: WAS IST WAS Universum. Galaxien, Sterne, Schwarze Löcher, Tessloff, 2025, 48 Seiten, ab 8, 14,95 Euro

Wenn sich die Planeten-Begeisterung bei den Kindern halten sollte und sie mehr wissen wollen, bietet sich Sophie Allans Die Planeten an. Hier geht es rein in unser Sonnensystem bzw. zunächst einmal in unsere Galaxis, die Milchstraße. Übersetzerin Birgit Reit schafft es, die komplizierten Fakten mit ihren ganz speziellen Fachbegriffen so einfach zu schildern, dass Kinder mit ersten Lesekenntnissen hier bereits einsteigen können.
Die Planeten werden dann natürlich einzeln vorgestellt, ihre Besonderheiten herausgehoben und nützliche Vergleiche gezogen, um sowohl Größe, Entfernungen und Beschaffenheit genau einordnen zu können.
Beim Mond geht es dann selbstverständlich auch um die Mondmissionen der NASA und die ersten Menschen, die auf unserem Trabanten spazierten. Die Marsmissionen werden ebenso erläutert und machen klar, wie schwierig die Erforschung der anderen Planeten ist. Je weiter entfernt die Planeten von der Erde sind, umso schwieriger wird es natürlich.
Illustrativ wird hier sowohl mit Zeichnungen als auch mit Fotos von der NASA gearbeitet. Das liefert neben anschaulichen, gut verständlichen Illus auch einen ersten wissenschaftlichen Blick ins Universum.

Sophie Allan: Die Planeten. Entdecke unser faszinierendes Sonnensystem, Illus: Dawn Cooper, Übersetzung Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2024, 80 Seiten, ab 9, 14,95 Euro

Nach all den Fakten über das All, die uns mittlerweile bekannt sind, stellt man sich irgendwann unweigerlich die Frage: Was kommt hinter dem Universum? Philosoph Jörg Bernardy, der mit Kindern und der Maus über die wichtigen, grundlegenden Fragen des Lebens nachdenkt, versucht, darauf eine Antwort zu finden. Spoiler: Er weiß es auch nicht. Aber das ist vielleicht auch nicht entscheidend. Wichtiger ist, sich über den Begriff »Unendlichkeit«, der im Zusammenhang mit dem Universum immer wieder fällt, Gedanken zu machen.
Und so stellt Bernardy hier nach bester Philosophen-Manier unzählige Fragen – über Zahlen, Grenzen, Größen, Dauer, Langeweile, Wurst und Käse, Schneeflocken und das Leben. Das mag mit dem Weltall nicht so viel zu tun haben, eröffnet aber das Universum in uns und trägt zum Verständnis unseres Daseins in dieser Unendlichkeit bei. Denn nur, wenn wir unsere Endlichkeit begreifen, haben wir möglicherweise eine Chance, uns dem Phänomen der Unendlichkeit und dem nicht zu begreifenden Universum anzunähern, ohne dabei den Kopf zu verlieren.

Jörg Bernardy: Was kommt hinter dem Universum? (Fast) alles über die Unendlichkeit, Illus: Andrea Stegmaier, Beltz & Gelberg, 2024, 62 Seiten, ab 8, 18 Euro

Lesealter 10-12

Einen ganz besonderen und hochaktuellen Blick ins Universum bekommt man in Jenseits der Unendlichkeit. An Weihnachten 2021 startete das James-Webb-Weltraumteleskop ins All und schickt seitdem spektakuläre Fotos von uralten Galaxien, Sternnebeln und Saturnmonden.
Auf den ersten Seiten wird der Aufbau und die Funktion dieses neuesten Teleskops erläutert. Vergleiche mit den Fotos vom Vorgänger Hubble verdeutlichen, wie sehr sich die Weltraumfotografie verbessert hat. Forschende können nun noch genauer die Geheimnisse des Universums erkunden und Rückschlüsse auf seine Entstehung, die Geburt von Sternen und mögliche Planeten mit Leben machen.
Top-Forscherinnen wie Quyen Hart, Megan Reiter, Naomi Rowe-Gurney und Tiffany Kataria beantworten Fragen zu unterschiedlichsten Themen, wie dem Wetter auf anderen Planeten, die Geheimnisse des Sonnensystems und Aliens. Und diese Runde zeigt einmal mehr, dass Astrophysik keine Männerdomäne mehr ist, sondern sehr viele Frauen dort ganz selbstverständlich neue Erkenntnisse liefern.
Die Fotos sind tatsächlich spektakulär – so erscheint der sonst immer rot gezeigte Jupiter auf einmal in grün-blau-weißen Streifen mit roten Polarlichtern. Man hat kann hier also über die Fotos staunen und bekommt daneben in verständlichen Grafiken, die Technologie hinter dem Webb-Teleskop erklärt und wie man mit Licht die verschiedenen chemischen Elemente im All ermitteln kann. So scheint das All plötzlich ganz nah.

National Geographic Kids: Jenseits der Unendlichkeit, Übersetzung Katja Hald, Ravensburger Verlag, 2025, 80 Seiten, ab 10, 16,99 Euro

Haben die Sternengucker:innen schließlich Lust bekommen, selbst ins All zu fliegen, so finden sie in Dein Ticket ins Weltall Informationen zur Raumfahrt. Kate Peridot stellt anschaulich die verschiedenen Transportraketen vor, was sie können und wie das »Leben« darin abläuft. Sie erklärt nur am Rande die Sterne, wie beispielsweise den Mars, wenn sie die geplanten Marsmissionen der Zukunft schildert. Astrophysik kommt in gut dosierten Maßen und leicht verständlich daher. So erfahren die Lesenden, wie sie Nachrichten ins All übermitteln können.
Hier vermischen sich der aktuelle Technikstand der Raumfahrt mit der Fantasie und der Vorstellung des Lebens im All. Vieles ist tatsächlich Zukunftsmusik, die vermutlich sogar die heutige Zielgruppe dieses Buches nicht erleben wird. Aber wer – wie irgendwelche durchgeknallte Tech-Milliardäre aus Silicon Valley – groß denken und dabei mitmachen will, findet hier Infos, wie man auf der ISS duscht und warum man sich dort auch um Pflanzen kümmern muss.
Am Ende gibt es ganz praktische Vorschläge, wie zukünftige Raumfahrende ihre Fähigkeiten fürs All schon hier auf der Erde trainieren können. Wer das dann durchzieht und länger durchhält, hat vielleicht wirklich Chancen irgendwann um die Erde zu kreisen oder gar zum Mars zu fliegen.

Kate Peridot: Dein Ticket ins Weltall. Wie du von der Erde ins Universum durchstartest, Illus: Terri Po, Übersetzung: Silke Körber, Knesebeck Verlag, 2025, 64 Seiten, ab 10, 20 Euro

Schon ausführlicher und weiter ins Detail geht es in Erstaunliches Universum. Neben den klassischen Infos zu Urknall, Planeten und Sonnensystem erfährt man Interessantes zu Weltraumschrott und Treibstoffen, mit denen die Raketen angetrieben werden.
Auch Phänomene wie die Oorthsche Wolke, Supernovae, Schwarze Löcher und Neutronensterne werden leicht verständlich erklärt – auch wieder Dank der Übersetzung von Birgit Reit. Nach und nach fließt die Physik in die Texte mit ein.
Die Mischung aus Weltraumfotografien und wunderschönen aquarellierten Illustrationen bietet jede Menge Anschauungsmaterial. Und bei einem Umfang von 176 Seiten kann man sich auf ein langes Lese- und Erkundungsabenteuer freuen. Dieses Kompendium deckt damit so gut wie alle wichtigen und bekannten Bereiche des Universums ab.

Sophie Allan/Josh Barker: Erstaunliches Universum. Von spannenden Raumfahrt-Missionen und fernen Galaxien, Illus: Tim Smart, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 176 Seiten, ab 10, 19,95 Euro

Der niederländische Grafikdesigner Jan Van Der Veken konzentriert sich in seinem Werk ganz auf die Raumfahrt. In großartigen Illus, die sich jeweils über die oberen zwei Drittel einer Doppelseite ziehen und ganz offensichtlich von Hergé inspiriert sind, stellt er alle Bereiche der Raumfahrt vor. Das beginnt mit den Bestandteilen der Raketen und der Raketenkontrolle, umfasst aber auch die Geschichte der Raumfahrt wie den russischen Sputnik und Gagarin als ersten Menschen im All. Van Der Veken zeigt die Flugbahn zum Mond und wie das Landemodul auf dem Erdtrabanten aufsetzt. Natürlich fehlen weder die Raumstation MIR noch die wiederverwendbaren Spaceshuttles und die ISS.
Launige Texte, von Rolf Erdorf lässig übersetzt, erläutern dann, was es mit der Technik auf sich hat, wo der Weltraumschrott auf der Erde entsorgt wird und welche unerklärlichen Objekte so schnell durch unsere Galaxie sausten, dass sie nicht erforscht werden konnten.
Dieses Buchkunstwerk war 2024 als Wissenschaftsbuch nominiert und ist ein Augenschmaus.

Jan Van Der Veken: Das Raumfahrt-Buch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Gerstenberg Verlag, 2024, 104 Seiten, ab 10, 25 Euro

Im ungewöhnlichen Querformat von Alles dreht sich widmet sich die Katalanin Aina Bestard unserem Sonnensystem. Dabei geht sie ganz klassisch von den allgemeinen Infos aus, um sich dann, beginnend bei der Sonne durch die Planeten, den Asteroidengürtel, die Monde bis zu den Grenzen unseres Sonnensystems vorzuarbeiten. Die zumeist monochromen Illus erinnern an Radierungen und werden mittels durchscheinenden Pergamentseiten und einem ausklappbaren Planeten-Panorama zu beeindruckender Buchkunst. Aina Bestard hat sich dabei von den wissenschaftlichen Illustrationen des 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Diese Kunst geht über das rein Wissenschaftliche hinaus und verdeutlicht um so mehr die Faszination, die das Universum auf uns alle ausübt.
Die kurzen Texte, geschmeidig von Ursula Bachhausen übersetzt, liefern Zahlen, Infos und die aktuellen Fakten. 2023 war dieses Werk als Wissenschaftsbuch nominiert.

Aina Bestard: Alles dreht sich. Die Wunder unseres Sonnensystems, Übersetzung: Ursula Bachhausen, Gerstenberg Verlag, 2023, 60 Seiten, ab 10, 26 Euro

523 bemerkenswerte Informationen und ziemlich viel Text finden sich in Jan Paul Schuttens Buch Das Weltall oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde. Hier muss man also wirklich Lust aufs Lesen haben. Doch zum Glück sind die Seiten immer wieder mit den grafischen Illus von Floor Rieder aufgelockert. Die Lesenden werden in der legeren Übersetzung von Verena Kiefer geduzt und direkt angesprochen – und so immer bei den riesigen Zahlen, die Schutten liefert, und den vielen Einzelheiten zur Entstehung des Universums, der Zeit, den chemischen Zusammensetzungen der Materie und des Menschen mitgenommen. Vom Kleinen bewegen wir uns hier immer weiter zum Größeren, hinaus ins All.
Dabei geht es weniger um die üblichen Erklärungen zu Sonne und Planeten, sondern mehr um die Art, wie wir das All erkunden, welche Fragen sich stellen, welche Rätsel und Geheimnisse noch ungelöst sind und vielleicht bleiben. Zwischendrin gibt es Hinweise zum Innehalten, um die Dinge hier auf Erden noch weiter zu hinterfragen oder sich von Einsteins Theorien zu erholen.
Ein Rezept für Blaubeerkuchen lädt zum Machen ein und erklärt dann noch ganz nebenbei die Ausdehnung des Universums.
Aus dieser Lektüre kommt man nicht als Raumfahrende:r, sondern viel mehr als Philosoph:in wieder heraus. Denn das Fragenstellen ist fast wichtiger, als die eindeutigen Antworten.
So war dieses Buch 2022 durchaus verdient für den Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch nominiert.

Jan Paul Schutten: Das Weltall oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde, Illus: Floor Rieder, Übersetzung: Verena Kiefer, Gerstenberg Verlag, 2. Auflage 2022, 160 Seiten, ab 12, 28 Euro

Lesealter ab 14

Einen wahren Prachtband hat ein Autorenteam aus vier Physiker:innen und Astronom:innen vorgelegt. In Kosmos blicken wir anhand von aktuellen Fotos, die u.a. das James-Webb-Weltraumteleskop gemacht hat, in die Tiefen des Alls.
Auftakt machen jedoch zunächst Erläuterungen über das Licht, wie es eingefangen wird, mit welchen Teleskopen die Menschen einst den Sternhimmel beobachteten. Über die Portraits unserer Sonne und unserer Planeten geht es dann immer weiter in das Weltall, zur Milchstraße, zu Supernovae, diffusen Nebeln und Schwarzen Löchern.
Zwischen diesen hochaktuellen Fakten finden sich dann regelmäßig Kapitel über die Geschichte der Sternkunde und Astronomie. Alte Zeichnungen, Grafiken, Gemälde und Objekte zeigen das damalige Wissen, das dem unseren manchmal verblüffend genau entspricht, manchmal jedoch auch die Fantasie der Menschen spiegelt.
Diese zeigt sich vor allem in den Sternkarten, denen am Endes dieses Kompendium viel Raum gegeben wird. Alte Sternkarten und Zeichnungen der 88 offiziellen Konstellationen werden mit aktuellen Weltraumfotos kombiniert. Hier ergeben Wissenschaft und Mythologie eine faszinierende Mischung.

Abigail Beall/Philip Eales/Carolyn Kennett/Giles Sparrow: Kosmos. Wunderwelt des Universums, Übersetzung: Stephan Matthiesen, Dorling Kindersley, 2025, 416 Seiten, 49,95 Euro

Wer sich intensiver mit der Astronomie befassen will, aber noch keine Lust auf reine Physik- und komplizierte Fachbücher hat, findet in Alles über Astronomie längere, tiefer gehende Text mit jeder Menge Informationen, Zahlen, Übersichten, Listen, beispielsweise über die »10 hellsten Sterne am Himmel« oder »Heiße und kühle Sterne«. Ergänzt werden die Text durch unzählige, spannende Weltraum- und Planetenfotografien, die ins Detail gehen. So bekommt man einen hervorragenden Eindruck, mit welchen Daten und welchem Bildmaterial die Profis auf der Erde arbeiten, um den Raum zu erforschen.
Im hinteren Teil des Buches liefert das Autoren-Duo (über die es im Buch leider keine biografischen Infos gibt) praktische Tipps zur Himmelsbeobachtung. Monat für Monat zeigen sie den Sternhimmel und die daran zu erkennenden Sternbilder. Eine kurze Übersicht über Fernrohre und Teleskope erklärt, welche Hardware wichtig ist, um als Hobbyastronom:in in der Nacht wirklich etwas erkennen und eigene Sternfotos machen zu können.

Mark Emmerich/Sven Melchert: Alles über Astronomie. Das Einsteigerbuch. Die Wunder des Weltalls entdecken, Stern und Planeten beobachten, Kosmos, 6. Ausgabe 2025, 208, Seiten, ab 14, 16 Euro

In Zusammenarbeit mit der ESA entstand der aufwendige Comic Aufbruch ins Weltall, der sich an bereits ältere Lesende und Erwachsene richtet. Auf gerade einmal 192 Seiten wird die verwickelte Geschichte der Raumfahrt geschildert.
Dabei beginnt es ganz klassisch mit dem Urknall und der Entstehung des Universums, reißt ziemlich kurz die Astronomie-Geschichte von Altertum bis zur Neuzeit ab, um sich dann ausführlich, dem Wettrennen zwischen der Sowjetunion und den USA in Sachen Weltraumeroberung zu widmen.
Die Wissensvermittlung findet hier natürlich in den Sprechblasen statt, was durchaus anspruchsvoll ist. Zumal es sehr viele Figuren bzw. Wissenschaftler gab, die in Sachen Raumfahrt mitgemischt haben. Aber so wird eindrücklich deutlich, wie lang es überhaupt gedauert hat, bis die erste bemannte Rakete den Orbit erreicht hat und die ersten Menschen überhaupt den Mond betreten konnten. Das Weltall lässt sich also nicht so einfach bereisen, geschweige denn besiedeln.
Natürlich fehlen auch popkulturelle Anspielungen nicht, wie auf die Filme 2001 – Odyssee im Weltraum, Armageddon und Dont’t Look Up.
Von der NASA geht es am Ende dann zur ESA und den aktuellen Raumfahrern wie Alexander Gerst, Matthias Maurer und Astronautinnen wie Amelie Schoenenwald und Nicola Winter.
Reines Science-Fiction ist das Abschlussszenario, bei dem eine Schulklasse auf einem Planeten landet und sich bereit macht für die Besiedlung. Aber wer weiß – eines fernen Tages wird es möglicherweise so kommen.

Arnaud Delalande: Aufbruch ins Weltall. Eine kurze Geschichte der Raumfahrt, Illustration: Éric Lambert, Übersetzung: Anja Kootz, Knesebeck Verlag, 2025, 192 Seiten, ab 14, 28 Euro

Der Kampf um die Demokratie

Vorneweg – ich war noch nie in einem Escape-Room und habe auch nicht vor, mich jemals in so eine Situation zu begeben. Dafür wird mir in abgeschlossenen Räumen zu schnell mulmig, auch ohne dass ich an Klaustrophobie leide.
Aber umso interessierter habe ich den neuen Roman von Manfred Theisen gelesen, Escape.

In diesem Pageturner werden sechs Jugendliche am Ende einer Schulprojektwoche in einen ebensolchen Raum geschickt, in dem sich zum Thema Demokratie ein wahres Labyrinth befindet. Durch dieses Wirrwarr müssen die sechs innerhalb von fünf Stunden hindurch. Die Räume sind thematisch ausgestattet, mal als Spiegelkabinett, mal als Barbie-World, als Studier- oder Arbeitszimmer oder als umgekrempelter Zauberwürfel.

Nur gemeinsam zu lösen

Wie es in Escape-Rooms üblich ist, kommt die Gruppe nur weiter, wenn sie jeweils ein Rätsel oder eine Aufgabe löst. Und da es sich thematisch um Demokratie dreht, werden die Teens, drei Jungs, drei Mädchen mit unterschiedlichen sozialen und geografischen Hintergründen, beispielsweise nach den den wichtigsten Grundsätzen für ein Zusammenleben in ihrem Traumland gefragt. Sie lernen die drei grundlegenden Pfeiler der Demokratie – Legislative, Judikative und Exekutive – kennen und müssen damit in einem virtuellen Computerspiel gegen einen drachenartigen Tyrannen kämpfen. Das alles geht nur gemeinsam – meistens jedenfalls.

Machtstreben und Machtspielchen

Die Gruppe wird aus einem Kontrollraum aus beobachtet, damit ihnen auch ja nichts passiert. Erzählerisch wechselt Theisen immer wieder zwischen den Spielenden und den Kontrollierenden und steigert so die Spannung. Nicht nur die wechselnden Räume führen zu beständigen Wendungen in den Plot, sondern Theisen bringt auch die Dynamiken in den Gruppen auf den Punkt und macht die Entwicklungen der verschiedenen Figuren deutlich. So wird aus dem nerdigen, aber superschlauen Josh, der im normalen Unterricht immer gemobbt wird, ein ziemlich unsympathischer Anführer mit diktatorischen Zügen. Der schöne Marc, der mit Ceylin zusammen ist, reagiert beleidigt. Die Mädchen versuchen auszugleichen, zwischen Ceylin und Sarah funkt jedoch die Eifersucht um Marc dazwischen.

Solidarität versus Egoismus versus Deepfake

Über eine App bekommen die Spielenden sowohl Anweisungen als auch monetäre Belohnungen, was die kapitalistischen Rahmenbedingungen spiegeln soll. Was draußen in der Welt also im Großen abläuft, findet sich so auch in diesem überschaubaren Kosmos wieder.
Dazu kommen die Intrigenspielchen der Überwachenden, die in einem Deepfake gipfeln, der die Stimmung auf einen dramatischen Höhepunkt treibt.

Rasante Geschichte, wichtiges Diskussionsmaterial

Auch wenn der auktoriale Stil Theisens mir nicht besonders gefällt – es gibt zu viel Headhopping und man muss sehr aufmerksam sein, um den Faden zwischen den Sprechenden und ihren Gedankengängen nicht zu verlieren –, bleibt Escape eine rasante Geschichte, die sich schnell liest und in keiner Sekunde langweilt. Mit den verschiedenen Räumen und ihren hochaktuellen Themen (bis hin zur Klimakatastrophe und KI-generierten Fake-News) bietet dieser Roman für Jugendliche viel Diskussionsmaterial. Die wichtigsten Punkte einer Demokratie werden erklärt, ohne dass es pädagogisch daherkommt. Dazu zeigen die Auseinandersetzungen und Verhaltensweisen der Figuren anschaulich, wo die Gefahren für dieses Herrschaftssystem liegen.

Potential als Schullektüre

Escape könnte ich mir als Schullektüre mit begleitenden Diskussionsrunden sehr gut vorstellen. Der Roman veranschaulicht, dass Demokratie keine einfachen Lösungen bereithält und dass für ihre Aufrechterhaltung sehr viel getan und hart darum gekämpft werden muss. Das mag abschrecken, das mag ermüden, das mögen viele Menschen vielleicht nicht gern hören, aber die Alternativen sind einfach nicht akzeptabel. Das den Jugendlichen so früh wie möglich zu vermitteln und ihnen die Gefahren von Manipulation durch die sozialen Medien und KI-Tools vor Augen zu führen, sollte mittlerweile eigentlich selbstverständlich sein. Scheint es aber leider immer noch nicht. Theisens neuer Roman könnte dabei helfen.

Manfred Theisen: Escape. Der Schlüssel sind wir, cbt, 2025, 240 Seiten, 10 Euro, ab 12

Plötzlich Familie

Es beginnt mit einem Brief. Auf dem Umschlag eine kopfüber aufgeklebte Marke, die neben dem Bild einer Kornelkirsche einen wenige Millimeter kleinen Totenschädel erahnen lässt, zumindest kommt es Edin Melitzky so vor.
Dieser Brief entlockt Edins Mutter Ann einen deutlich dramatischeren Flurschrei als angesichts der üblichen Rechnungen, Mahnungen und Anwaltsschreiben, die sonst ankommen. »Ganz unten, in der rechten Ecke des Papierbogens, stand in zittriger und trotzdem vornehmer Altherrenschrift:  

Zu spät.«

Kurze Zeit später findet Edin sich im Haus seines Großvaters in einem Kaff namens Kamp-Cornell wieder, mit einem Cousin und drei Cousinen sowie drei Tanten, von deren Existenz er vierzehn Jahre nichts geahnt hat. Plötzlich aus dem bisherigen Leben herausgerissen und in eine neue Familienkonstellation in ödester Provinz geworfen, das haben auch die Geschwister in Susan Kreller vorherigem emotionsgeladenem Roman Elektrische Fische erlebt.

Haus mit Eigenleben

Hier nun dämmert der Großvater, Vater von Edins Mutter und deren Schwestern, alt und krank im leergeräumten, ehemaligen Wohnzimmer vor sich hin. In der Küche gehen Leute aus der Nachbarschaft ein und aus, immer mit etwas zu Essen dabei, meist einem riesigen Auflauf. Der Garten ist ein undurchdringliches Gestrüpp aus Kornelkirschsträuchern, kein Obst, sondern ein Hartholzgewächs mit eher ungenießbaren Früchten, das im Frühjahr ginstergelb blüht.
Die Situation ist äußerst angespannt. Es gibt ein ungenutztes Zimmer, das die Mütter prinzipiell nicht betreten. Das Haus führt ein unheimliches Eigenleben. Es klopft und hämmert und sägt und seufzt in der Nacht. Für die Geräusche findet sich ebenso wenig eine Erklärung wie für die regelmäßigen Stromausfälle. Oder die überwiegend undurchsichtigen, aufdringlichen und schroffen Einwohner des Ortes.

Groteskes Verbrechen

Mit den fünf Cousins und Cousinen finden wir uns in bester Thrillerszenerie voll subtilem Grauen wieder. So unterschiedlich, wie die Jungen und Mädchen zwischen dreizehn und vierzehn sind, so unterschiedlich erleben sie das erzwungene Großfamilienleben, das sie aus wechselnden Perspektiven beschreiben. Nicht, dass ihr Leben vorher ein Zuckerschlecken war. Soll aber keiner glauben, dass sie angesichts des plötzlichen Familienzuwachsen in fröhlichem Kelly-Family-Feeling (wie Bernd Begemann es mit wohligem Schauer besingt) versinken, im Gegenteil.
Allmählich kommen die Jugendlichen einem grotesken Verbrechen auf die Spur. Ein Verbrechen, von dessen Ausmaß ihre Mütter nichts geahnt haben. Das aber deren Kindheit und Jugend überschattet hat, ihnen die Mutter nahm und zur Entfremdung der Schwestern führte.

Gefährliche Glücksversprechen

Das Herz von Kamp-Cornell ist eine einzigartige Mischung aus gruseliger Familiengeschichte, Thriller und Haus Horror – wenn es heutzutage sogenannten Body Horror gibt, dann gibt’s Haus Horror schon lange, als großen, alles umgebenden Körper. Susan Kreller hat das Genre auf den Spuren von Charlotte Brontës Jane Eyre oder Daphne du Mauriers Rebecca, legendär in Hitchcocks Verfilmung, neu belebt.

Gleich mehrere Coming-of-Age-Geschichten schwingen ebenfalls mit, treffend zusammengefasst aus der Sicht von Lu Winnefeld, einer der Cousinen: »Lu Winnefeld dachte nach, dachte daran, in den Ferien von hier wegzugehen, und weg hieß: nach Hause, auch wenn ihre Mutter das verboten hatte. Doch was kümmerten Lu Verbote von jemandem, der sowieso nie da war. Lu Winnefeld war immerhin vierzehn Jahre alt! Sie trug einen Hut und eine Lederjacke, trotz der Hitze. Aber Lu schwitzte nicht. Schwitzen war unter ihrer Würde. Wie vierzehn zu sein. Vierzehn zu sein war weit unter Lu Winnefelds Würde.« Kraftvoll, wütend und auf den Punkt beschreibt Susan Kreller hier das Innenleben einer autarken Teenagerin.
Nicht zuletzt geht es auch um gefährliche Glücksversprechen und verlogene Heilsbringer.

Achselzuckende Stille

Die Sprache wiederum spielt eine besondere Rolle in diesem Roman, eine Sprache, die versucht, Unbegreifliches begreifbar zu machen, Unsagbares benennt und diffuse Gefühle in all ihrer Vagheit nachempfinden lässt. Kreller beschreibt zum Beispiel verschiedene Sorten von Dunkelheit, die »der Nacht und die des ausbleibenden Gewitters« (das, so viel sei verraten, später doch noch ganz gewaltig niedergehen wird). Und »die dritte Sorte Dunkelheit, ein wollweißes, liniertes Blatt, das heftig zerknüllt und dann wieder, ebenfalls heftig, glatt gestrichen worden war.«
Oder der Stille: »Von allen Zurückgelassenen konnte einzig Gabriella das quälende Geräusch hören das mit dem Krankenwagen davongefahren war: jene achselzuckende Stille, die von einer Sirene ausging, wenn man sie gar nicht erst angestellt hat.«

Man merkt angesichts ihrer fantasievollen Bilder, vielsagender Wortkreationen und auch mal verwunderlichen Vergleichen, dass Kreller über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promoviert hat. Wenn man sich auf Krellers kreativen Umgang mit Sprache einlässt, auch das manchmal zu viel davon zulässt, ist Das Herz von Kamp-Cornell ein packendes und unvergleichliches Leseabenteuer.

Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell, Carlsen, 2025, 288 Seiten, 15 Euro, ab 14

Die Vielfalt der italienischen Kinder- und Jugendliteratur

Nachdem 2024 Italien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, habe ich mir mal wieder die Kinder- und Jugendliteratur angesehen, die seit 2021, als ich zuletzt hier darüber berichtet habe, im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Es hat sich wider erwarten doch so Einiges getan, und ich bin erstaunt, was sich wieder alles finden ließ. Und vor allem, wie vielfältig die Publikationen sind, die aus Italien zu uns kommen.
Dieses Mal sind mir sogar Bücher für die ganz Kleinen untergekommen – inklusive einem Badebuch, das die Farben wechselt.
Erstaunlich ist die Vielzahl an Bilderbüchern, im Gegensatz zu recht wenigen erzählenden Kinder- und Jugendbüchern. Die Universalität von Bilderbuch-Geschichten spielt dabei sicherlich eine entscheidende Rolle, sind sie doch nicht an Italien und italienische Lebensverhältnisse gebunden, wie es in Kinderbüchern oftmals der Fall ist.
Erstaunlich finde ich zudem, dass so einige Bücher, deren Autor:innen oder Illustrator:innen zwar aus Italien kommen, nicht aus dem Italienischen, sondern aus dem Englischen oder Französischen übersetzt worden sind. In einem Fall dürfte es sich definitiv um Stille-Post handeln, was in Übersetzendenkreisen nicht gern gesehen ist. Manchmal sind die Titel jedoch tatsächlich ursprünglich in den anderen Ländern erschienen.

Die Reihenfolge, in der ich die Bücher hier vorstelle, ist rein zufällig und hat nichts mit Wertung oder meinen persönlichen Vorlieben zu tun. Auch ist dieser Beitrag sicherlich nicht vollständig.
Falls hier Verlage mitlesen: Ich freue mich über Hinweise und/oder Rezensionsexemplare von fehlenden Büchern aus Italien.
Im Laufe des nächsten Jahres werde ich die Neuerscheinungen aus Italien kontinuierlich sammeln und nehme Hinweise zu Erscheinungen sehr gern entgegen.

Und nun viel Spaß beim Entdecken!

Bilderbücher

Den Auftakt bei den Bilderbücher macht natürlich der Klassiker Pinocchio von Carlo Collodi. Eigentlich müsste ich diese beiden Versionen in meinen Pinocchio-Post einbauen, aber auch hier sollte die Langnase einfach nicht fehlen.

Dieses annähernd quadratische Pappbilderbuch bringt selbst den Allerkleinsten schon den italienischen Klassiker schlechthin näher. Der minimalistisch gezeichnete Pinocchio mit den dicken schwarzen Umrandungslinien und den knalligen Farben ist total knuffig. Trotz der extrem verkürzten Texte sind die wichtigsten Eckpunkt der Geschichte drin: Gepetto, die sprechende Grille, Fuchs & Wolf, Kerzendocht, der Wal. Designtechnisch ist das eine der tollsten Pinocchio-Ausgaben und erinnert mich an den Stil von Dick Bruna, z. B. Das Fischlein.

Attilio Cassinelli: Pinocchio, Ü: Vivien Danne, Insel Verlag Anton Kippenberg, 2022, 44 Seiten, 9,95, ab 1

Diese weitere Pinocchio-Pappe kommt hingegen extrem reduziert daher: Pinocchio läuft aus der Schule weg ins Spielzeugland, wird in einen Esel verwandelt und vom Wal verschluckt. Clou ist hier, dass bei diesem Mach-mit-Märchen auf jeder Seite kleine Finger einen Schieber betätigen können, die die Illus von Pinocchio verändern und ihm beispielsweise die lange Nase oder Eselsohren wachsen lassen. Als erste Annäherung an diesen Literaturklassiker durchaus akzeptabel.

Pinocchio, Illus: Tiago Americo, Ü: Susanne Schmidt-Wussow, Auzou, 2022, 12 Seiten, 12 Euro, ab 1

Eine der wohl produktivsten Illustratorinnen ist Agnese Baruzzi. Sie hat in diversen Verlagen veröffentlicht und tauchten unten bei den Sachbüchern auch noch mal auf. Nur ist ihr Name nicht so richtig bekannt – wie ich finde. Das mag vielleicht an diesen Gebrauchsbilderbüchern für die ganz Kleinen liegen.

Ein Badebuch hatte ich hier auf diesem Blog auch noch nie. Aber Agnese Baruzzi hat auch dafür etwas entworfen. Auf sechs gepolsterten Plastikseiten tummeln sich kleine Tier auf schwarzem Untergrund. Jeweils zwei gereimte Verse gibt es dazu: »Die Krabbe winkt, schickt einen Kuss/ und verwandelt sich in einen Oktokpus!« Ganz stimmt der Rhythmus zwar nicht, aber das ist wohl etwas pingelig von mir. Jedenfalls war ich zuerst etwas verwirrt, bis ich begriff, dass die schwarzen Seiten sich im warmen Wasser in weiße verwandeln und die größeren Tiere zum Vorschein kommen. Den Badespaß kann ich mir lebhaft vorstellen.
In der Produktbeschreibung heißt es zwar: » Hinweise zum Material: Das Produkt enthält keine Phthalate und Schadstoffe …« – aber ehrlich: das Plastik stinkt erbärmlich und nicht besonders gesund. Vielleicht dünstet das irgendwann aus, aber so lange würde ich das keinem Kind ins Bad tun. Sorry.

Agnese Baruzzi: Kleine Fische, ohne Übersetzernennung, minedition, o.J., 6 Seiten, 14 Euro, ab 1

Die Kleine Raupe Nimmersatt mal umgekehrt. Hier begleiten wir keine Raupe, sondern bekommen lauter angeknabbertes Gemüse und Obst präsentiert. Da sind Löcher im Mais und im Salat, der Käse ist angebissen und auch den Karotten fehlen Stücke. Hinter den entsprechend ausgeschnitten Seiten, finden sich die hungrigen Geschöpfe, Huhn, Hase, Maus und auch eine Raupe. Sie alle machen dem Kind auf der letzten Seite Lust, ebenfalls Karotten, Äpfel und gesunde Sachen zu essen. Schön, wenn das im echten Leben wirklich so einfach und spielerisch klappen würde …
Auch hier bleibt die Übersetzerin leider ungenannt.

Agnese Baruzzi: … und was isst du?, minedition, 2024, 26 Seiten, 14 Euro, ab 3

Die Pappbücher Mein Zahlenbuch und Mein Farbenbuch sind vom Prinzip identisch aufgemacht. Auf jeder Doppelseite werden zwei Zahlen (von 1-10) oder zwei Farben vorgestellt. Durch einen Schieberegler verändert sich in einem Kasten das Bild, gibt entweder die nächst höhere Zahl frei oder zeigt eine andere Farbe. Für die kleinsten Leser:innen ein Spaß, der die Motorik fördert und Lerneffekte garantiert.
Ich frage mich nur, warum überall im Netz Gabriele Clima als Autor angegeben ist, nur auf den Büchern findet sich kein Hinweis auf ihn. Dort wird nur die Illustratorin Agnese Baruzzi genannt.

Gabriele Clima: Mein Zahlenbuch, Illus: Angese Baruzzi, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 12 Seiten, 14 Euro, ab 3
Gabriele Clima: Mein Farbenbuch, Illus: Angese Baruzzi, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 12 Seiten, 14 Euro, ab 3

Eine weitere sehr produktive Illustratorin und Autorin ist Marianna Coppo, von der mindestens drei Bücher erschienen sind.

Eine Glühbirne als Hauptfigur gibt es vermutlich in keinem anderen Buch. Aber der großartigen Marianna Coppo gelingt es auch mit so einer Protagonistin, eine entzückende Geschichte zu erzählen. Ray, die Glühbirne, hängt eigentlich in einer Abstellkammer. Zuvor war sier schon mal im Wohnzimmer oder auch im Badezimmer, was nicht so toll war. In der Rumpelkammer kennt Ray alles, hat alles gezählt – auf 41 Dinge ist sier gekommen. Doch eines Tages geht es mit Vater und Kind hinaus in die Natur und auf den Campingplatz. Dort lernt Ray die größte Glühbirne der Welt kennen … und sieht, zurück in der Abstellkammer, siere Welt mit ganz anderen Augen. Ein absolutes Pladoyer, die Welt vor unserer Haustür zu erkunden und sich überraschen und bereichern zu lassen.
Das einzig Verwunderliche für mich als Übersetzerin ist jedoch, dass diese Geschichte aus dem Englischen übersetzt wurde und nicht aus dem Italienischen …

Auch einen Kieselstein zum knallharten Protagonisten zu machen ist ungewöhnlich. Titelfigur Steinchen jedenfalls ist unerschütterlich. Nichts bringt es von seinem angestammten Platz weg, weder Wind noch Zeit. Steinchen hält sich für ein furchtloses Riesengebirge. Doch das ändert sich, als eines Tages ein Hund auftaucht und Steinchen in die Welt hinausbefördert. Jetzt beginnt Steinchen zu überlegen, was es alles so sein könnte: ein feuerspuckender Drache, ein Smoking tragender Pinguin, auf jeden Fall etwas ganz Besonderes … und das findet die Leserschaft dann am Ende selbst heraus und wird mit Sicherheit anfangen Steinchen zu sammeln und sie in etwas ganz Eigenes verwandeln.

In …aber wo ist die Geschichte? bevölkern fünf Figuren eine weiße Doppelseite. Und warteten. Nur auf was? Irgendwann sagte eine, sie müssten auf die Geschichte warten. Doch das wird dann dem Häschen zu langweilig. Und während vier weiter warteten und sich über die Unpünktlichkeit und das Wetter aufregen, fängt Häschen an, auf den linken Seiten etwas zu zeichnen. Erst nur ganz klein, von Seite zu Seite dann immer größer und bunter. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf und erinnert die Betrachtenden daran, dass Jammern nichts nützt und man die Sache vielleicht besser selbst in die Hand nimmt.

Marianna Coppo: Ray. Die Abenteuer einer wissbegierigen Glühbirne, Ü aus dem Englischen: Katharina Naumann, Atrium, 2021, 48 Seiten, 13 Euro, ab 4
Marianna Coppo: Steinchen, Ü: Ulrike Schimming, Bohem, 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4
Marianna Coppo: … aber wo ist die Geschichte?, Ü: Ulrike Schimming, Bohem, 2022, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4

In Zusammen können wir fliegen treffen die Erzfeinde Schaf und Wolf aufeinander. Doch von Feindschaft keine Spur. Das Schafmädchen beobachtet die Vögel am Himmel und träumt davon, die Welt von oben zu betrachten. Schon läuft sie zu ihrem Freund Wolf und überredet ihn, ein Fluggerät zu bauen. Gemeinsam planen, entwerfen und bauen sie. Doch sie benötigen drei Anläufe, bevor sie wirklich in den Himmel aufsteigen können.
Dieses kleine Buch von großen Träumen und großer Freundschaft kommt in einer Mischung aus Zeichnungen und Kollagen aus wunderschönen alten Buchseiten, geografischen Karten, Mustern, Handschriften daher. Das ist ein wirklicher Hinkucker. Und die Botschaft – gemeinsam ist alles zu schaffen, gerade auch, wenn angebliche Feinde dicke Freunde werden – ist universell.

Giulia Belloni: Zusammen können wir fliegen, Ü: Romy Bouché, Illus Marco Trevisan, Jumbo, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

In diesem quadratischen Pappbilderbuch stellt die Künstlerin Arianna Papini zehn Farben vor. Auf der linken Seite gibt es jedes Mal einen Sechszeiler darüber, was eine Farbe kann (»Grün kann sich schlingen. Grün kann springen.«) Die erste und sechste Zeile sind immer identisch: »Farbe XY ist nicht nur XY« und »XY kann noch so vieles mehr …« Reime geben den Versen einen dynamischen Rhythmus.
Die gegenüberliegende rechte Seite ist in der jeweiligen Farbe gestaltet und lässt sich nach außen aufklappen. Zum Vorschein kommen dort die unterschiedlichsten Tiere und Pflanzen in der jeweiligen Farbe (ein Flamingo für Rosa, ein Orang-Utan für Orange). Den Abschluss bildet ein Regenbogen und die Aufforderung an die Kids, mit all diesen Farben zu spielen. Die Mischung aus Spannung (was sich hinter den farbigen Seiten verbirgt), Poesie und Mitmach-Aufforderung ist eine super Anregung für Kinder, Kunst zu schaffen.
Nur schade, dass die Übersetzerin nirgendwo genannt wird.

Arianna Papini:  Spiel mit uns FARBEN, ohne Übersetzernennung, minedition, 22 Seiten, 16 Euro, ab 4

Wenn es um die Größe von Tieren geht, ist es im Alltag manchmal schwierig, diese richtig einzuschätzen. Eine erstaunliche Handreichung liefert Rossana Bossù mit Wie groß ist ein Elefant?
Da heißt es in einem wiederkehrenden Schema »1 Eisbär ist kleiner als ein Elefant. Du brauchst 7 Eisbären für die Größe eines Elefanten.« Danach wird der Eisbär mit Löwen verglichen, der Löwe mit dem Alligator. Und so geht es weiter bis zum Floh.
Und zurück zu einem Tier, das noch größer ist als ein Elefant.
Als Betrachter:in staunt man und die Lütten können ganz nebenbei noch das Zählen lernen und üben.

Rossana Bossù: Wie groß ist ein Elefant?, Ü: TextDoc Kiesel, 360 Grad Verlag, 2021, 18 Seiten, 12 Euro (vergriffen), ab 4

Ein kleines Mädchen in Kommst du mit? erzählt dem Nachbarjungen, dass es einen ganz tollen Ort kennt, und fragt, ob er mitkommt. Die zwei wandern los und immer mehr Kinder schließen sich an, gespannt auf den Ort, an dem es gut duftet, man trainieren kann, es sehr bunt zugeht, wo viele Leute sind. Aber dieser Ort ist weder die Bäckerei, noch die Schule, noch das Schwimmbad und auch nicht die Eisdiele. Dieser charmante Reigen führt durch eine italienische Kleinstadt und Italienkenner:innen werden die Straßen und Plätze mit bekannten Orten vergleichen können. Die Auflösung gibt es hier natürlich nicht.
Wunderbar ist es, dass der Achse Verlag die Übersetzerin Anne Brauner auf dem Cover nennt und sie am Ende des Buches selbst zu Wort kommen lässt. Dort erzählt Brauner ganz kurz, was es mit dem Übersetzen auf sich hat. An diesem Vorbild sollten sich die anderen Verlage ein Beispiel nehmen. Das Cover ist weder verunstaltet oder überladen durch die Übersetzerin-Nennung. Und der Text am Ende des Buches macht den Kindern deutlich, wie viel Teamarbeit in einem Bilderbuch steckt.

Cristina Petit: Kommst du mit?, Illus: Chiara Ficarelli, Ü: Anne Brauner, Achse, 2024, 48 Seiten, 22,50 Euro, ab 6

Eine entzückende Freundschaftsgeschichte erzählt Giorgio Volpe: Fux und Hörnchen sind beste Freunde, aber Hörnchen macht immer Winterschlaf. Fux freut sich jedes Mal bannig, wenn Hörnchen im Frühling wieder aufwacht. Bis er eines Tages Dax kennenlernt und auch mit ihm gern Zeit verbringt.
Aber wie soll er Hörnchen nur beibringen, dass er jetzt auch mit Dax befreundet ist? Fux sagt erst mal nix, aber Hörnchen merkt ganz schnell, dass etwas nicht mit ihm stimmt …
Das ist die perfekte Geschichte für kleine Leute, die ihre Freunde immer ganz für sich haben wollen. Über poetische Bilder und einfache Sätze lernen sie hier, dass es für einen selbst und auch für andere eine Bereicherung ist mehr Freunde im eigenen Leben zu haben.

Giorgio Volpe: Freundschaft zu dritt, Illus: Paolo Proietti, Ü: Maxime Pasker, Carl-Auer, 2023, 32 Seiten, 19,95, ab 3

Davide Calì, den ich 2024 auf der Frankfurter Buchmesse bei einer Veranstaltung erlebt habe, ist hierzulande für seine tiefgründigen und psychologischen Bilderbücher bekannt. Hier hatte ich bereits einige von ihm vorgestellt. Nun sind zwei neue bei mir gelandet: In Rhododendron erzählt er von Jakob, der eines Tages schrumpft. Zuerst kann er nicht mehr in den Spiegel schauen, im Auto braucht er Sitzkissen, um was zu sehen, und bei der Arbeit fliegt er raus, weil Kunden nur große Männer mögen. Irgendwann ist er so klein, dass er sich in einer Wiese verläuft und den Weg nach Hause nicht mehr findet. Auf einem Rhododendron jedoch trifft er auf Flora, die genauso klein ist wie er. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg …
In grün-gelben Illustrationen von Marco Paschetta finden Jakob und Flora schließlich eine Lösung für ihr Problem. Und die Leserschaft jede Menge Anregungen zum Nachdenken, über absonderliche Vorgänge im Leben, Ansprüche von anderen und den Umgang mit ungewohnten, neuen Situationen. Die Interpretationsebenen hier sind vielfältig, die kreativen Möglichkeiten, mit dieser Geschichte umzugehen, ebenso.

Und auch im Bilderbuch Ein köstliches Problem, das aus dem Französischen übersetzt wurde, finden sich jede Menge Momente zum Nachdenken und Reflektieren: Eines Tages fällt in einem Dorf etwas Gigantisches vom Himmel. Niemand weiß, was es ist, aber schnell machen sich die Dorfbewohner daran zu überlegen, wie man dieses offensichtlich große Problem wegbekommt. Man erwägt Maschinen zu bauen oder Bomben zu werfen, der Philosoph will den Grund wissen, warum das Problem überhaupt da ist, der Neugierige, woher es kommt, und der Pessimist sieht es als Zeichen für das Ende der Welt. Es wird demonstriert, aber nichts ändert sich. Bis ein Mädchen sich alles mal genauer ansieht…
Wer jetzt schon die Parallelen zu unserer Gegenwart sieht, ja, sie sind offensichtlich. Die Auflösung verrate ich hier aber nicht. Die Illustrationen zeigen die Figuren als Schmetterlinge in rostrot-brauen Naturszenarien, die etwas Fabel-haftes an sich haben. Wunderbar zum Anschauen und voller Details, die entdeckt werden wollen. Bis sich das Problem irgendwann gelöst hat.

Davide Calì: Rhododendron, Illus: Marco Paschetta, Ü: Paola Sfilio und Celine Eßlinger, Carl-Auer, 2023, 30 Seiten, 21,95, ab 4
Davide Calì: Ein köstliches Problem, Illus: Marco Somà, Ü aus dem Französischen: Maxime Pasker, Carl-Auer, 32 Seiten, 19,95, ab 4

Ameise Emilia will etwas Besonderes unter all den Ameisen aus ihrem Bau sein. Eines Tages zieht sie sich ein gelbes T-Shirt an. Das finden auch die anderen Ameisen schick und machen es ihr nach. Emilia wechselt zu rot, die anderen machen es ihr nach. So geht es ein paar Seiten weiter. Bis Emilia sich eine Krone aufsetzt. Das macht ihr keine andere Ameise nach, denn es gibt nur eine Königin im Bau. Und die ruft Emilia zu sich, schimpft und wirft mit der falschen Krone nach Emilia. Als Emilia sich ein Pflaster auf die Wunde klebt, machen die anderen Ameisen ihr auch das wieder nach.
Nach dieser Lektüre kann man trefflich über Gemeinschaft und Individualität diskutieren, warum wir alle so gern das haben, was die anderen auch haben, und warum manche Individuen wirklich einzigartig sind.

Tullio Corda: Emilia, eine Ameise wie keine andere, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Eines Tages steht eine Kiste mit zwei Löchern im Wald. Die Tiere sind erstaunt und neugierig. Wer da wohl drinsteckt? Sie versuchen alles, damit sich der neue Gast zeigt. Doch vergeblich. Selbst die reingesteckten Leckereien nützen nichts. Als ein Unwetter über dem Wald niedergeht, nehmen die Tiere die Kiste mit in ihren Unterschlupf und da zeigt sich endlich der neue Waldbewohner …
Bär, Fuchs, Kaninchen, Eichhörnchen und alle möglichen Vögel tun sich in dieser Geschichte, die die Freundschaft feiert, zusammen. Sie beweisen, dass man manchmal Ausdauer und Geduld haben muss und dass manche Geschöpfe sich nicht sofort zeigen, sondern erst einmal Vertrauen aufbauen müssen.

Isabella Paglia: Die Kiste, Illus: Paolo Proietti, Ü: Igna Gantschev und Annika Siems, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Rufus ist ein Weihnachtsmannkater. Er entstammt einer langen Dynastie aus Katern, die beim Weihnachtsmann lebten. Dort geht es das Jahr über meist sehr geruhsam zu. Kater und Weihnachtsmann essen Süßigkeiten, machen ein Nickerchen und setzen Speck an. Rufus wird das jedoch zu langweilig und so schleicht er sich eines Weihnachtsabends auf den Schlitten und reist mit dem Weihnachtsmann zu den Häusern der Kinder, die an den Weihnachtsmann geschrieben haben. In einem der Häuser findet der Weihnachtsmann einen Brief eines Jungen, der seine ursprünglichen Wünsche nicht mehr will. Er wünscht sich statt Technikspielzeug viel lieber einen Freund zum Spielen, eine Katze. Und nun hat Rufus seinen Auftritt …
Eine ganz entzückende Weihnachtsgeschichte, die die Leserschaft ganz unaufgeregt an das wirklich Wichtige im Leben erinnert: die Freundschaft.

Fulvia Degl’Innocenti: Rufus, der Weihnachtskater, Illus: Daniela Costa, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Der kleine Bär Bruno streift mittlerweile in zwei Bilderbüchern durch den Lesewald. 2021 tauchte er zum ersten mal in Deutschland auf, kurz vor dem Winter. Mama Bär holt ihn da vom Spielen aus dem Wald zurück, denn Bruno soll endlich Winterschlaf halten. Aber das Einschlafen fällt ihm gar nicht so leicht. Daher greift Mama Bär auf einen altbewährten Trick zurück: Sie erzählt ihm kurze Geschichten von anderen Tieren, wie Antonello, dem popelnde Tapir, oder Fifo, dem kleinen Angsthasen.
Im zweiten Band nun, aus dem Jahr 2024, erwacht Bruno aus dem Winterschlaf und Mama Bär hat für ihn und seine Waldfreunde, die ihn schon sehnlichst erwarten eine Überraschung parat.
Sie hat viele Eier besorgt, die die Tierkinder anmalen sollen. Mama Bär versteckt diese kleine Kunstwerke anschließend und schickt die Lütten dann zum Eiersuchen.
Bei der Rückkehr mit den Eiern erzählt sie dann zu Belohnung wieder verschiedene Tiergeschichten. Dieses Mal tritt ein eitler Pfau auf, eine etwas unreinliche Rattenfamilie und ein kleiner Biber mit schlechten Zähnen.
Diese süßen kurzen Geschichten sind durchweg gereimt und halten alle möglichen Überraschungen für Bruno und die anderen kleinen Zuhörenden bereit. Für die Übersetzerin Daniela Papenberg dürfte das Reimen und Nachdichten sicherlich eine ganz schöne Mühe gewesen sein. Das Vorlesen macht dadurch aber noch mal mehr Spaß.

Serena Romanelli: Bruno. Kurze Geschichten für lange Nächte, Illus: Hans de Beer, Ü: Daniela Papenberg, Nordsüd, 2021, 32 Seiten, 15 Euro, ab 3
Serena Romanelli: Bruno. Bärige Ostern, Illus: Hans de Beer, Ü: Daniela Papenberg, Nordsüd, 2024, 32 Seiten, 17 Euro, ab 3

Gianni Rodari, der Meister der Kurzgeschichten, Gedichte und Reime und ein Klassiker in Italien, hat ein Gedicht über die Hoffnung verfasst, das diesem Bilderbuch zugrunde liegt. Dieses Gedicht, indem ein Ich-Erzähler in einem winzigen Laden Hoffnung an all die für ganz wenig Geld verkaufen würden, die sie dringend brauchen, wurde 2020 im EU-Parlament öffentlich verlesen. So sollte Italien, das damals als eines der ersten Länder schwer vom der Corona-Pandemie getroffen wurde, Hoffnung geschenkt werden. Francesca Ballarini hat quietschbunte, fröhliche Bilder für die wenigen Verse gefunden, in denen ein Kind ein Plakat mit der Aufschrift »Hoffnung« malt und es über einem Kiosk aufhängt. Die supergünstige Hoffnung macht Schlagzeilen und versteckt sich im Verkaufsregal. Armen Menschen würde der Erzähler die Hoffnung allerdings auch schenken. Einfach nur schön, dieses Buch!

Gianni Rodari: Hoffnung, Illus: Francesca Ballarini, Ü: Susanna und Johannes Rieder, Rieder Bilderbücher, 2021, 32 Seiten, 15 Euro, ab 4

Sachbilderbücher über Tiere sind immer wieder faszinierend. Eine ganz besondere Zusammenstellung hat Daniela Pareschi vorgelegt. 19 Tierarten präsentiert sie und zwar nicht sortiert nach den üblichen biologischen Kriterien, sondern nach überraschenden Merkmalen, die uns so vielleicht noch nie aufgefallen sind. Da lernen wir beispielsweise Tiere mit Kopfschmuck kennen. Wer jetzt an den Hirschen denkt, liegt völlig richtig, aber wer kennt schon den Kagu? Dieser Vogel besitzt am Schnabel kleine Klappen, mit denen er die Nasenlöcher verschließen kann und die wie kleine Hörner aussehen. Ähnliches entdeckt man bei Tieren mit Stacheln (Dornteufel und Dornenkronenseestern) oder mit langen Zähnen (Vampirfisch und Goliath-Vogelspinne). Dazu kommen leuchtende und unsichtbare Tiere; welche, die fliegen können, aber keine Vögel sind; welche, die sich aufblasen oder viel schlafen. Und natürlich Tiere, die es gar nicht gibt. Jeweils auf einer Doppelseite trifft man auf das entsprechende Sammelsurium, flankiert von jeweils einer ganzseitigen Illu in stimmungsvoll-atmosphärischen Farben. Das ist nicht nur ein Buch für naturbegeisterte Kids, die ihr Tierwissen erweitern wollen, sondern für alle.

Daniela Pareschi: Tierisch schön, Ü: Cornelia Panzacchi, Gerstenberg, 2024, 44 Seiten, 18 Euro, ab 4-99

Dieses Bilderbuch zu Dantes Göttliche Komödie habe ich schon eine Weile hier liegen und habe mich bis jetzt immer gefragt, welches Kind wohl dieses Buch anschaut oder liest. Eine Antwort habe ich noch nicht darauf gefunden.
Autor Daniele Aristarco erzählt in diesem Buch eigentlich seine eigene Geschichte, wie er mit neun Jahren zum ersten Mal von Dantes Komödie gehört und sie heimlich gelesen hat. Das passt in Italien natürlich ganz hervorragend, da dort niemand an Dante vorbeikommt, Zusammenfassungen und Umschreibungen von Klassikern gang und gäbe sind und die Lektüre in der Schule selbstverständlich Pflicht ist. Nur bei uns ist das nicht ganz so einfach. Dementsprechend unverständlich dürften die Erzähltexte Aristarcos für deutsche Lesende bleiben, die nicht italienische Literaturwissenschaft studiert haben. Die Anspielungen und einzelnen Erklärungen zum »Plot« der Göttlichen Komödie dürften nur die Experten wirklich erkennen. Die Originalzitate aus der deutschen Übersetzung der Komödie sind so kurz, dass kaum ein Zusammenhang erkennbar ist.
Die Illus von Marco Somà mögen in ihrer rostroten und petrolblauen Farbgebung durchaus faszinieren, zumal die Figuren mit Tierköpfen versehen sind und so eine Mischung aus Hieronymus Bosch und Michelangelos »Jüngstem Gericht« ergeben.
Der ganze Anspruch mittels der Göttlichen Komödie über das Leben und seine Irrungen und Wirrungen, über Hölle und Erkenntnis nachzudenken, mag ein hehrer sein, aber Kinder dürfte es ziemlich überfordern bzw. langweilen.

Daniele Aristarco: Die Göttliche Komödie, Die ersten Schritte in den dunklen Wald, Ü: Christel Rech-Simon und Hartmut Köhler (ex Reclam, 2014), Illus: Marco Somà, Carl-Auer, 2022, 46 Seiten, 19,95 Euro, ab 10

In diesem 42 cm großen Bilderbuch befasst sich die Iranerin Elham Asadi auf eine ganz berührende Weise mit der Geschichte vom persischen Neujahrsfest Newroz. Auslöser ist der erste Schnee, den ein Mädchen erlebt. Die Großmutter erzählt ihr daraufhin, dass einst im alten Persien eine Frau namens Naneh Sarma hoch über den Wolken lebte. Sie wartete auf einen Mann, der gefrorene Gewässer wieder zum Fließen bringen konnte. Sie wartete auf Nouruz. Und während sie wartete, putzte sie das Haus, fegte, wirbelte den Staub aus dem Haus, der als Schnee auf die Erde fiel. Nach dem Hausputz war sie so müde, dass sie einschlief …
Diese Frühlings- und Neujahrsgeschichte hat Sylvie Bello mit zarten poetischen Bildern illustriert, in denen man sich wahrlich verlieren kann. Das gesamte Buch ist ein poetischer Schatz und zeugt von der Universalität gewisser Geschichten.

Elham Asadi: Der erste Schnee, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Sylvie Bello, Bohem, 2022, 32 Seiten, 29,95, ab 6

Kinderbücher

Bei den Kinderbüchern sind erstaunlich wenige neue Geschichten zu finden. Die, die es geschafft haben, sind im Reich der Fantasie angesiedelt – bis auf das Buch eines TikTokers…

Eine Neuauflage, die mich persönlich besonders freut, sind die Gutenachtgeschichten am Telefon von Gianni Rodari, einem DER Klassiker der italienischen Kinderbuchliteratur. Hier konnte ich nämlich meine Übersetzung von 2012 noch einmal neu unterbringen. Zwar sind im Vergleich zur Ausgabe von damals nur 60 der ursprünglich 70 Geschichten vertreten, aber das ist in Ordnung. Denn es gab durchaus ein paar, die heute nicht mehr gut vermittelbar sind, wie beispielsweise die vom Eisbären, der sich freut, dass der Nordpol abschmilzt und dort nun Veilchen wachsen. Das würde selbst ein Gianni Rodari verstehen und heute vermutlich ganz andere Geschichten in Sachen Klimakrise schreiben.
Aber es gibt immer noch genug kurze Geschichten, die Signor Bianchi seiner Tochter abends am Telefon erzählt: vom Kaputtmachhaus, der Straße aus Schokolade, dem Fahrstuhl zu den Sternen. Immer ist es etwas schräg und anarchisch. Die Kinder in den Geschichten dürfen sich ausleben und werden nie gemaßregelt. Das macht einfach Freude und Lust auf eigene wilde Ideen.

Der kleine Susanna Rieder Verlag hat die verbleibenden Geschichten von Anna Ring ganz wunderbar neu illustrieren lassen. Die knallbunten frisch-frechen Bilder sind toll anzuschauen und heizen die Fantasie noch mal zusätzlich an.

Gianni Rodari: Gutenachtgeschichten am Telefon, Illus: Anna Ring, Ü: Ulrike Schimming, Susanna Rieder Verlag, 2024, 208 Seiten, 24 Euro, ab 4

Kennt ihr Khaby Lame? Also ich kannte ihn nicht und habe sein aktuelles Buch, Das Leben kann so einfach sein, als ich es in der Hand hielt, zunächst einmal mit Verwunderung gelesen. Ein Comic-Roman à la Gregs Tagebuch. Darin steht Khaby dem 11-jährigen Marco bei, der auf eine höhere Schule wechselt und nun mit dem Leben hadert: Er hat die falschen Klamotten, das falsche Handy, keine Freunde, das verkehrte Hobby, gilt plötzlich als Streber, nur weil er einen englischen Satz korrekt formuliert hat. Die üblichen Dramen im Schulalltag.
Khaby steht Marco bei und hilft ihm aus diversen Patschen.

Soweit so mäßig spannend. Dann habe ich mal gegoogelt und musst feststellen, dass es sich bei Khaby Lame um einen der erfolgreichsten TikToker mit 162 Millionen Follower handelt, der in bester Manier Stummfilm-Comedy betreibt. Dabei nimmt er vor allem unnütze Life Hacks auf die Schippe und präsentiert die viel offensichtlicheren Alltagslösungen. Das ist schon ziemlich witzig.
Leider bekommt er diesen Witz nicht in seinen Büchern rüber. Aber vielleicht werden seine jüngsten TikTok-Fans so zum Lesen animiert, wer weiß.

Khaby Lame/Simmone Laudiero: Das Leben kann so einfach sein, Illus: Gabriele Bagnoli, Ü: Christina Neiske, dtv junior, 2023, 160 Seiten, 14 Euro, ab 10

Seit ein paar Jahren treibt das Vampirmädchen Mortina sich nun schon in der Buchwelt herum. In kurzen kindgerechten Gruselgeschichten kann man sie und ihre schräge Verwandtschaft – die Adam’s Family lässt grüßen – in ihrem Spukschloss begleiten. Auf meinem Schreibtisch sind jetzt Wer klopft da an die Tür und Das große Verschwinden gelandet.

Im ersten hilft Mortina einem Geisterjungen, sich an seinen Namen und seine Geschichte zu erinnern, um nicht völlig in der Vergessenheit zu geraten. Im zweiten verschwindet plötzlich Tante Dipartita. Und als Mortinas Menschenfreunde ihr bei der Suche nach der Tante helfen, ist plötzlich auch das Mädchen Teresa nicht mehr aufzufinden.
Der langweilige Dilbert mit dem Sprachfehler trägt schließlich zu Lösung dieser Gruselsuche bei …

Die Mortina-Reihe, die mittlerweile fünf Bände umfasst, lebt vor allem durch die Illustrationen der Autorin Barbara Cantini. Darin gibt es immer viel zu schauen und kleine comicartige Hinweise auf ungewöhnliches Inventar (Kekse von 1895) erweitern die Geschichten um atmosphärische Details. Zu Halloween sind diese Bücher die absolut passende Lektüre und für alle Grusel- und Spukfans.

Barbara Cantini: Mortina. Wer klopft da an die Tür?, Ü: Knut Krüger, dtv junior, 2020, 48 Seiten, 10,95, ab 8
Barbara Cantini: Mortina. Das große Verschwinden, Ü: Knut Krüger, dtv junior, 2020, 48 Seiten, 10,95, ab 8

Eine weitere Geschichte von Barbara Cantini erzählt von der Hexenschülerin Ophelia und dem kleinen schwarzen Kater Oskar. Dieser verfügt über eine besondere Begabung, denn er kann sich verwandeln – in eine Balletttänzerin, einen Bäcker, eine Fledermaus. Doch nichts scheint für ihn das Richtige zu sein. Das ändert sich, als Ophelia sich auf die Suche nach einem Hexenkater macht, den sie für ihren ersten Mitternachtsflug auf dem Hexenbesen braucht. Das Mädchen mit den roten Locken und der Kater legen zwar zunächst eine Bruchlandung hin, dennoch fühlen sie sich für den großen Tag gewappnet …
Auch hier hat Cantini wieder sowohl den Text als auch die Bilder geliefert und wieder finden sich lustige Details und Hinweise in den Illus. Für Katzenliebhaberinnen und Hexenfans ist das entzückend schräges Lesefutter, das Erstleser nicht überfordert, weil es neben den kurzen Texten sehr viel zu gucken gibt.
In Italien ist bereits ein zweiter Teil erschienen – dort heißen die Hauptfiguren lustigerweise Puffy und Brunhilde … wobei mir Brunhilde eigentlich viel besser gefällt als Ophelia, die für mich ja irgendwann bleich und ertrunken im Teich liegen müsste, während Brunhilde viel eher zum Walkürenritt durch die Wolken antreten kann. Aber das nur am Rande. Aus Erwachsenensicht.

Barbara Cantini: Oskar & Ophelia. Flugstunde mit Kater, Ü: Knut Krüger, dtv, 2022, 64 Seiten, 13 Euro, ab 8

Fast schon kein Kinderbuch mehr ist das sehr poetisch-philosophische Buch Osso von Michele Serra. Darin taucht eines Tages bei einem namenlosen alten Mann ein abgemagerter Hund im Garten auf. Der Mann erholt sich gerade von einer Krankheit und ist verunsichert, weil er noch nie einen Hund oder ein anderes Haustier hatte. Doch er stellte dem Tier einen Napf mit Futter hin. Und so entspinnt sich einen vorsichtige Annäherung zwischen Mensch und Tier, das die kleine Enkelin des Mannes »Osso« tauft, abgeleitet von italienischen Begriff für »Knochen«. Osso steht für die Natur, die vor dem Haus des Großvaters beginnt und in der er lange nicht mehr war. Doch langsam traut sich der alte Mann wieder hinaus, fängt an, sich um Osso zu kümmern und die Schönheit der Natur zu entdecken.
In diese anrührende Freundschaftsgeschichte hat der Journalist Serra seine Version der Domestizierung der Wölfe vor vielen Tausend Jahren eingebaut. Diese Geschichte für große und kleine Hundliebhaber:innen wird von zarten Aquarellen von Alessandro Sanna flankiert.

Michele Serra: Osso, Illus: Alessandro Sanna, Ü: Peter Klöss, Diogenes, 2024, 136 Seiten, 25 Euro, ab 10

Jugendromane

Auch die Ausbeute bei den Jugendbüchern ist dieses Mal nicht besonders umfangreich – bitte schreibt mir die Bücher, die ich übersehen habe!

Spannend fand ich die Lektüre von Der Geruch der Wut von Gabriele Clima: Alex ist von einem fixen Gedanken besessen: Er will den Mann finden, der den Unfall verursacht hat, bei dem sein Vater um Leben gekommen ist. Dafür wendet er sich an einen rechten Schlägertrupp und wird in eine Spirale aus Hass und Gewalt hineingezogen. Denn die Black Boys – das Schwarz steht hier für die Schwarzhemden aus dem faschistischen Italien der 1920er Jahre – machen Jagd auf Menschen mit dunkler Hautfarbe. Als Alex merkt, in was er da verwickelt wird, will er aussteigen, doch das ist schwieriger als gedacht.
Gabriele Clima liefert mit dieser Geschichte einen hochaktuellen Jugendroman. Es gibt einige überraschende Wendungen, die die Leserschaft aufrütteln und die eigenen Einstellungen und Vorurteile auf den Prüfstand stellen. Ich könnte mir hier lebhafte Diskussionen in den Schulen vorstellen, sollte dieses Buch mal Schullektüre werden.

Gabriele Clima: Der Geruch von Wut, Ü: Barbara Neeb, Katharina Schmidt, Hanser, 2022, 192 Seiten, 17 Euro, ab 15

Auch Antonella Sbuelz versucht sich an aktuellen Themen: Die beiden Teenager Mattia und Aziz leben an verschiedenen Orten. Mattia in Italien, Aziz in Afghanistan. Und doch erleben sie, wie ihre gewohnten Welten zusammenbrechen. Aziz wird durch den Krieg zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen. Seine Mutter wird getötet, von seinem Vater und Onkel wird er getrennt.
Als Mattias Eltern sich trennen, verlässt der Junge sein Zuhause und versteckt sich in verschiedenen Kellern, streunt umher. Irgendwann trifft er Aziz und rettet ihn vor der Polizei. Später entdeckt er, dass Aziz gar nicht Aziz ist.
Antonella Sbuelz erzählt in Heute geh ich nicht nach Hause sehr poetisch von den zwei verschiedenen Lebenswegen, die sich schließlich überschneiden. Sie lässt ihre Figuren in Erinnerungen ihre Gefühlslagen erkunden und schürt die Hoffnung auf ein besseres Leben, trotz schwieriger Lebenslagen.
In wieweit die Gegenüberstellung von westlichem Scheidungskind-Drama mit echtem Kriegselend und der Verfolgung von Mädchen allerdings sinnvoll ist, wage ich etwas zu bezweifeln.

Antonella Sbuelz: Heute gehe ich nicht nach Hause, Ü: Michaela Heissenberger, Arctis, 2023, 288 Seiten, 18 Euro, ab 12

Fantastisch geht es in Marta Palazzesis Feder und Kralle zu. Im spanischen Valencia im Jahr 1914 treffen auf einem Jahrmarkt das Mädchen Amparo und der Junge Tomás aufeinander. Beide sind Gestaltwandler: Amparo verwandelt sich beim ersten Sonnenstrahl des Tages in einen Falken, Tomás wird bei Sonnenuntergang zu einem Panther. Zusammen mit Pepe, dem »König« des Hafenviertels, machen sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und den Gründen, warum sie so sind, wie sie sind.
Ergänzt wird die Geschichte von atmosphärischen Schwarzweißbildern von Ambra Garlaschelli. Hier wird die Geschichte auf visueller Ebene ergänzt und anschaulich gemacht. Manche Figuren wirken dabei wunderbar gruselig. Für Fantasy-Fans auf jeden Fall eine unterhaltsame Lektüre.

Marta Palazzesi: Feder und Kralle, Illus: Ambra Garlaschelli, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2024, 272 Seiten, 15 Euro, ab 10

Vom Dauerschreiber und Abenteuer-Autor Davide Morosinotto, siehe auch hier, sind in den vergangenen Jahren zwei weitere Bücher ins Deutsche übersetzt worden: In Time Shifters spielt er dieses Mal ein Sciencefiction-Szenario durch, das dem faszinierenden Gedanken »Was wäre wenn … wir durch die Zeit reisen könnten?« Rechnung träg. Micaela ist eine Agentin, die mithilfe einer neuen Technik in der Zeit zurück- und an andere Orte reisen kann. Sie überwindet dabei keine langen Zeiträume, sondern immer nur ein paar Stunden. So soll sie dieses Mal einen Bombenanschlag auf eine Schule in Bologna verhindern. Normalerweise muss sie nicht viel machen, um den Lauf der Geschichte zu verändern – es reicht, sich die Schuhe zu binden oder einen Zettel von einem Tisch zu nehmen. Sie ist wie ein kleiner Anstupser, der die Abläufe in eine andere Richtung lenkt. Doch dieses Mal funktioniert es nicht und Micaela muss die anstrengende Tour durch die Zeit ein paar Mal hinter sich bringen, denn sie wird von einem Kollegen sabotiert.
Morosinotto liefert hier wie gewohnt eine spannende Geschichte, die bis zum Schluss Überraschungen bereit hält.

In Sohn des Meeres versetzt Morosinotto die Leserschaft 1600 Jahre zurück in der Geschichte, ins zerfallende Römische Reich. Der 14-jährige Pietro erlebt, wie die Hunnen unter Attila im Land einfallen. Der Junge, der für sein Alter sehr groß und kräftig ist, wird als Soldat rekrutiert. Natürlich kann er nicht kämpfen und gerät stattdessen mit seinen Freunden Tito und Justina auf eine Wanderschaft durch Norditalien. Insgeheim hofft er, unter den Hunnen vielleicht seinen richtigen Vater zu finden. Dieser hatte seiner Mutter einst eine halbe Goldmünze dagelassen, als Erkennungszeichen.
Gewohnt spannend und voller Wendungen erzählt Morosinotto vom Leben in der damaligen Zeit, von der wir uns so gut wie keine Begriffe mehr machen. Er zeigt die Lebensumstände, die damalige Kleidung, das Essen, das zu jener Zeit noch ohne Pizza und Pommes auskam und eher aus Spanferkel und Hirsebrei bestand. Super Lesefutter für Abenteuer-Fans.

Davide Morosinotto: Time Shifters. Ohne uns gibt es kein Morgen, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2022, 416 Seiten, 17 Euro, ab 14
Davide Morosinotto: Sohn des Meeres, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2024, 368 Seiten, 18 Euro, ab 14

Sachbücher


Actionreich geht es in den Verrückt-nach-Sammelbänden zu. Hier wird nicht nur gelesen, sondern gemalt, ausgeschnitten, gebastelt, gerätselt und zwar zu so wichtigen Themen wie Geografie oder Wissenschaften. Im Geografie-Band bekommen die Kids einen Einblick, was für Karten es gibt, die wir heute auf unseren Smartphones und Tablets so selbstverständlich nutzen. Sie erfahren, wie man solche Karten liest, welche Informationen die Farben liefern, wie die Himmelsrichtungen zu erkennen sind und wie man solche Karten auch selbst anlegen kann. Ähnliches passiert in den Bänden über Flaggen, Städte und Naturlandschaften, die sich anschließen.
Im Sammelband über die Wissenschaften taucht man in die Welt der Insekten, der Geologie und des Wassers ein. Auch hier gibt es wieder Spiel- und Bastelspaß – mein inneres Kind ist ganz begeistert und würde am liebsten sofort losmalen und ausschneiden. Die Illus stammen wieder einmal von Agnese Baruzzi und kommen sehr klar und modern daher. Und neben dem ganzen Spielspaß bleiben unglaublich viele Infos und viel Wissen über unsere Umwelt hängen.

Paola Misesti (Hg.): Verrückt nach Geografie, Illus: Agnese Baruzzi, Ü aus dem Englischen: Ulrich Magin, impian, 2024, 288 Seiten, 16,95 Euro, ab 7
Tecnoscienza (Hg.): Verrückt nach Wissenschaften, Illus: Agnese Baruzzi, ohne Übersetzer-Angabe, impian, 2024, 216 Seiten, 14,95, ab 6

Braucht man eigentlich ein Buch über Bücher? Ja, wenn es so schön und sinnvoll gemacht ist, wie Das Buch der Bücher von Pierdomenico Baccalario. Darin stellt er 37 Klassiker der Weltliteratur vor – und darunter verstehe ich jetzt wirklich die gesamte Literatur von Kinderliteratur bis Belletristik. Denn Baccalario begrenzt sich nicht auf eine Altersgruppe, sondern liefert jungen Lesenden eine Orientierung in der Literatur. Beginnend bei Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen bis hin zu Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer lassen sich hier grundlegende Geschichten entdecken. Jedem Buch sind vier Seiten gewidmet. Darauf werden kurz und knapp die Hauptfiguren der Geschichte vorgestellt, der Inhalt umrissen, die Besonderheiten angedeutet, ein prägnanter Satz zitiert und eine Begründung geliefert, warum man dieses Buch lesen soll. Also im Grunde der Elevator-Pitch fürs Lesen.
Daneben gibt es aber zudem weitere Buchtipps, die zu der jeweilige Lektüre passen würden.
Wer also Orientierung sucht im Dschungel der Bücher, Bibliotheken und Bestseller, hat mit Baccalarios Buch einen ersten Leitfaden in der Hand, von dem aus man in die Weiten der Literatur aufbrechen kann und ein perfektes Fundament an Kulturwissen anlegen kann.

Pierdomenico Baccalario: Das Buch der Bücher. Von Grüffelo bis Sofies Welt. Alle Bücher, die du zum Großwerden brauchst, Ü: Anna Becchi, Illus: Andrea Ucini, Hanser, 2022, 160 Seiten, 22 Euro, ab 12

Leider vergriffen ist das Buch über das Weltall, das ich übersetzt habe und das ich sehr schätze, weil es von sechs Astrophysikerinnen geschrieben wurden. In einer unvergleichlichen Mischung liefern die sechs Erzähl- und Erklärtexte, Anleitungen zum Nachmachen, um das Weltall besser zu verstehen, und diverse Biografien von Frauen, die die Astrophysik geprägt haben. Daneben gibt es freie Gedichte von Silvia Vecchini, die den ganzen Zauber des Alls einfangen. In den Erzählpassagen erklärt eine große Schwester, die Astrophysik studiert, ihrem jüngeren Geschwisterkind – dessen Geschlecht nicht offenbart wird, was wohl sämtlichen Rezensenten entgangen ist – das All. So werden nicht nur die Mysterien der Sterne poetisch und gleichzeitig leicht verständlich gemacht, sondern auch die Mädchen darin empowert, sich für dieses Fach und den Kosmos um uns zu interessieren. Hätte ich so ein Buch von 30 Jahren in die Finger bekommen, würde ich heute vielleicht die Stern erforschen…

Simona Gallerani/Maria C. Orofino/Edwige Pezzulli/Raffaella Schneider/Rosa Valiante/Tullia Sbarrato: Das Weltall. Ein Spaziergang durch die Geheimnisse des Universums, Gedichte von Silvia Vecchini, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Alice Beniero, Carlsen, 2021, 216 Seiten, 22 Euro, ab 10

Beim Autor Gianumberto Accinelli wurde ich hellhörig, habe ich doch 2017 von ihm Der Dominoeffekt übersetzt. Das Buch wurde 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Doch was muss ich bei Hinab ins tiefe Blau und Hinauf ins Himmelblau feststellen? Übersetzt aus dem Englischen. Meines Wissens schreibt Accinelli jedoch nicht auf Englisch, die bibliografische Angabe verweist auf ein italienisches Original. Es wäre eigentlich für arsedition ein leichtes gewesen, eine:n Übersetzer:in aus dem Italienischen zu finden – mich oder eine:n Kolleg:in. Ich weiß, dass Accinelli und diese naturwissenschaftlichen Themen nicht leicht zu übersetzen sind, aber so über Bande bzw. stille Post zu spielen, sollte eigentlich nicht nötig sein. Das mal vorweg.
Accinelli erzählt hier kurze Geschichten über die Lebewesen der Meere. Dabei hält man das Buch senkrecht und blättert quasi nach oben um und bekommt so den Eindruck immer tiefer ins Meer abzutauchen. Aus dem hellen Türkisblau wird so mit jedem Blättern ein tieferes Meeresblau. Links läuft eine Meterangabe mit und je nach Lebensraum »schwimmen« die Fische und Wasserbewohner vorbei. Bis schließlich am tiefsten, schwärzestens Punkt im Mariannengraben nur noch der Meeresboden und darüber das U-Boot Trieste zu finden ist. Clever gemacht und für Kids mit Wissensdurst eine Fundgrube.

Bei Hinauf ins Himmelblau geht es nun hoch in Lüfte. Es beginnt zunächst einmal mit den Ameisen am und im Boden sowie den erdnahen Insekten und Vögeln. Känguru und Hochspringer Javier Sotomayer hopsen durchs Bild und beweisen, wie sie die Schwerkraft überwinden. Eine kleine Hummel schafft es bis in 5600 Meter Höhe (nur schade, dass sie auf der Skala bei 6400 eingezeichnet ist – das verwirrt doch etwas). Kraniche schaffen es als einzige Lebewesen wohl über die 10.000 Meter. Darüber, im All, sind dann nur noch Meteoriten und menschengeschaffene Raumsonden zu finden … Auch dies wieder eine interessante Idee und für wissensdurstige Jungleser:innen spannend. Nur hat mich hier das Hochblättern irritiert. Vielleicht hätte man dieses Buch von hinten aufziehen müssen, wie einen Manga, um die Bewegung nach oben zu simulieren. So muss man immer genau hinschauen, auf welcher Höhe man sich gerade befindet.

Nichtsdestotrotz wurde Hinauf ins Himmelblau von bild der Wissenschaft in der Sparte »Perspektive: Sachkundigste Kinderbuch« als Wissensbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet.

Gianumberto Accinelli: Hinab ins tiefe Blau. Eine erstaunliche Reise von der Erde bis zum Meeresgrund, Illus: Giulia Zaffaroni, Ü aus dem Englischen: Andreas Jäger, arsedition, 2022, 80 Seiten, 18 Euro, ab 10
Gianumberto Accinelli: Hinauf ins Himmelblau. Eine erstaunliche Reise von der Erde bis ins Weltall, Illus: Giulia Zaffaroni, Ü aus dem Englischen: Andreas Jäger, arsedition, 2024, 96 Seiten, 18 Euro, ab 10



Vom Philosophen Umberto Galimberti sind mittlerweile drei Bücher für Jugendliche erschienen, zwei davon in meiner Übersetzung. ZIn Das große Buch der Gefühle befasst sich Galimberti mit 50 menschlichen Emotionen, angefangen beim Altruismus bis hin zur Zuversicht. Zusammen mit seiner Co-Autorin Anna Vivarelli erklärt er, um was für ein Gefühl es sich eigentlich handelt, wenn wir Liebe, Hass, Freude oder Wut empfinden, wie wir uns verhalten, wenn uns so eine Emotion überkommt, was wir dafür oder dagegen unternehmen können. Jedem Kapitel ist ein längeres Zitat aus der Weltliteratur vorangestellt (was beim Übersetzen enorm viel Arbeit gemacht hat, denn es galt die bereits übersetzten Stellen aus den deutschen Ausgaben herauszusuchen).

Das große Buch der Philosophie liefert dann 100 Kurzbiografien von philosophischen Denker:innen. Den Anfang macht Thales von Milet, den Abschluss bildet Judith Butler. Hier finden alle Philosophie-Interessierten einen ersten kurzen Abriss über die Denkmodelle der vergangenen 2000 Jahre. Anregende Fragen oder Hinweise zum Hinterfragen der großen Denker:innen fordern dann die Leserschaft auf, das eigene Hirn zu benutzen. Das war für mich als Übersetzerin eine wunderbare Arbeit, da ich an mein Studium der Philosophie anknüpfen konnte und neue Anregungen für philosophische Lektüren bekommen habe. Auch das ist eine Nebenwirkung des Übersetzerin-Lebens: Man könnte so unendlich viel lesen – wenn man denn die Zeit dafür finden würde …

Den dritten Band konnte ich leider aus Zeit- und andern Gründen nicht übersetzen, obwohl ich das Thema überaus interessant fand. Im großen Buch der Fragen stellt Galimberti 50 essenzielle Fragen des Lebens und lädt erneut zum Selberdenken ein. Das sind dann Fragen wie: »Gibt es Gott?«, »Was ist die Zeit?«, »Kennst du dich selbst?«, »Gibt es die Seele?« oder »Warum empfinden wir Mitleid?« Auf gerade mal zwei Seiten gibt es dann eher Anregungen als Antworten, aber gerade das macht den Reiz aus. Man kommt ins Grübeln und ist schon fast auf dem Weg, selbst Philosoph:in zu werden. Auf jeden Fall sieht man nach der Lektüre manches mit anderen Augen und kann sich im Nachrichten- und Meinungsdschungel souveräner bewegen.

Umberto Galimberti/Anna Vivarelli: Das große Buch der Gefühle. 50 Emotionen von Angst bis Zuversicht, Ü: Ulrike Schimming, midas, 2022, 232 Seiten, 22 Euro
Umberto Galimberti/ Irene, Merlini/Maria Luisa Petruccelli: Das große Buch der Philosophie. 100 Porträts für Neugierige, Ü: Ulrike Schimming, midas, 2022, 224 Seiten, 22 Euro
Umberto Galimberti: Das Buch der großen Fragen. Was wirklich zählt im Leben, Ü: Arianna Volpi, midas, 2024, 224 Seiten, 22 Euro

Ein sehr spezielles Buch ist das des Stararchitekten Renzo Piano. Geschrieben hat es sein Sohn Carlo. Darin gehen Carlos Tochter Elsa und ihr Großvater Renzo auf eine Seereise um die Welt – zu den Gebäuden, die der Großvater im Laufe seiner Karriere gebaut hat, wie das Centre Pompidou oder die Hochhäuser am Potsdamer Platz in Berlin. Immer wieder erzählt Renzo Piano wie in einem Interview darin von seiner Arbeit als Architekt, von den Dingen, die für den Bau von großen Gebäuden wichtig sind. So erfährt man etwas über die Herausforderungen, erdbebensicher zu bauen, oder wie man den Gesang des Windes durch die Nutzung von Holz einfangen kann.
Das sind per se interessante Infos, aber man muss schon einen Faible für Architektur haben, um diese Lektüre wirklich genießen zu können und nicht gelangweilt zu sein. Aber es gibt ja sicher Architekt:innen, deren Kinder sich von der Leidenschaft der Eltern anstecken lassen. Dies wäre dann die passende Lektüre …

Carlo & Renzo Piano: Auf der Suche nach Atlantis. Eine Reise durch die Architektur, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch/Friederike Römhild, midas, 2021, 160 Seiten, 22 Euro

Atlanten

Der Schweizer midas Verlag hat nicht nur die Bücher von Galimberti und Renzo Piano im Programm, sondern ist auf für die großformatigen Atlanten bekannt, die allesamt wunderbar illustriert und aufgemacht sind. Die kleinteiligen Texte verlocken zum lesenden Herumspringen. Man kann einfach irgendwo aufschlagen und wird von den Details und den Bilder gefangen.

So auch im Atlas über eines faszinierendsten Themen im Kinder-Sachbuch-Bereich: das Weltall. Irgendwann mache ich vielleicht mal einen Post nur mit Weltallbüchern – zumal ich selbst bereits drei KJBs darüber übersetzt habe.
In diesem Altas des Weltalls finden sich die üblichen Kapitel über Sternbilder, Galaxien, die unterschiedlichen Planeten und alles rund um die Technik in Sachen Sternbeobachtung und Raumfahrt.
Besonders ist jedoch, dass bei den Sternbildern auf die kulturellen Unterschiede eingegangen wird. Neben den klassischen griechischen Sternbildern, die uns hier am bekanntesten sind, erfahren kleine Sternkundler:innen etwas über die Himmel der Chinesen, der Südafrikaner und der Navajos. Die Konstellationen haben bei diesen Menschen natürlich andere Namen und zeugen somit von den anderen Lebenswelten und Kulturen. So ehrt man in Südafrika Großmutter Canopus, während die Navajo den ersten Mann und die erste Frau am Himmel erkennen.

Lara Albanese: Atlas des Weltalls, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch, midas, 2021, 88 Seiten, 25 Euro

Der Atlas der Wissenschaften beginnt mit einem Knall, dem Urknall, und führt von dort durch Physik und Chemie, die unser gesamtes Universum beherrschen. Hier sind die Texte länger und man wird mit ebenso vielen Fachbegriffen konfrontiert wie im Weltall-Atlas, wenn nicht sogar noch mehr. Das erfordert schon so einiges Vorwissen. Über die Astrophysik geht es weiter zur Geologie und dem Aufbau der Erde mit ihrer Atmosphäre, den tektonischen Platten, dem Wasser, aus dem das Leben stammt. Am Ende sind wir bei der Biologie mit ihren Zellen, Viren und Bakterien und der Entstehung der Arten.
Eingewoben in diesen naturwissenschaftlichen Rundumschlag sind die Namen von Wissenschaftler:innen und Entdecker:innen samt ihrer Ideen und Theorien. Das ist viel Stoff, zeigt aber sehr anschaulich, wie all dies miteinander in Verbindung steht und zusammenhängt. Vielleicht ist dieser Altas eine ganz gute Ergänzung zu monothematischen Schulbüchern.

Loris Stella: Atlas der Wissenschaften, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch, midas, 2023, 88 Seiten, 25 Euro

Kleinformatiger und daher leider mit sehr viel kleiner Schrift kommt der Altas der Rohstoffe daher. Dennoch finden sich hier eine Vielzahl von Informationen über 24 verschiedene Rohstoffe wie Gold, Kaffee, Baumwolle, Lithium, Öl oder Soja. Diese werden auf Doppelseiten anhand einer Weltkarte vorstellt. Man erfährt so, wo die Rohstoffe ab- oder angebaut werden, wer sie verbraucht und wie sie die (Handels-)geschichte geprägt haben. Dazu gibt es Anekdoten, Historisches und seltsame Geschichten, Hintergrundinfos zu Welthandel und zu Verkehrswegen.
Allein die Auftakt-Illu eines Bleistiftes macht deutlich, wie viele verschiedene Rohstoffe in so einem kleinen, kaum beachteten Alltagsgegenstand stecken und wie sehr wir mit der Welt vernetzt sind, ohne es immer zu wissen. So wird dieser Atlas zu einem Lehrstück über die alltägliche Globalsierung, die zum einen schon seit Jahrhunderten praktiziert wird und die zum anderen auch nicht mehr aufzuheben ist. Wir sollten nur sehr viel bewusster mit all diesen wertvollen Rohstoffen umgehen.

Alessandro Giraudo: Atlas der Rohstoffe, Illus: Irene Rinaldi, Ü: Claudia Koch, midas, 2023, 88 Seiten, 25 Euro

Nicht ganz anfreunden konnte ich mich mit dem City Atlas von National Geographic. Hier geht es durch 32 Großstädte, zumeist auf einer Doppelseite, hin und wieder auf vier Seiten. Die Geschwister Erik und Iris erzählen in einer Bubble jeweils kurz etwas über ihren Aufenthalt in der jeweiligen Stadt. Danach gibt es im Schnitt zehn Tipps, was man in den Städten besichtigen und machen sollte. Diese Tipps sind auf der Illu mit Nummern verortet – und da liegt das Problem (für mich): Die Illus der Städte sind im Grunde ganz hübsch, aber so abstrahiert, dass für mich am Ende fast alles gleich aussah. Man muss schon sehr genau hinsehen und evt. ein paar Sehenswürdigkeiten bereits kennen, um sie in den Bildern zu entdecken. Ich wage ein bisschen zu bezweifeln, ob man damit Kids Lust auf eine Städtetour macht …

Federica Magrin: City Atlas, Illus: Giulia Lombardo, Ü: Anke Wellner-Kämpf, National Geographic/White Star, 2022, 96 Seiten, 16,95 Euro

Religiöse Kinderbücher

In Italien, dem ur-katholischen Land, sehr viel verbreiteter als hier, sind die Bücher zu religiösen Themen. Nur wenige werden ins Deutsche übersetzt.

Im Bilderbuch Der rote Faden stellt ein kleiner Junge fest, dass es einen roten Faden gibt, der alles mit allem verbindet. Ihn mit Mama und Papa, ihr Haus mit den anderen Häusern der Stadt, die Stadt und die Menschen mit der Natur. Der Junge fragt alle möglichen Menschen, was dieser rote Faden wohl ist. Mama meint, es ist die Liebe, Papa sagt, die Vernunft, die Lehrerin erklärt, die Wahrheit. Der beste Freund des Jungen sagt, für ihn ist Gott der rote Faden.
Und so feiert dieses Buch aus der christlichen Abteilung des österreichischen Tyrolia Verlags den Glauben an Gott und die Freundschaft. Denn jede:r sollte eine:n beste:n Freund:in haben.

Manuela Monari: Der rote Faden, Illus: Brunella Baldi, Ü:  Gottfried Kompatscher, Tyrolia, 4. Auflage 2024 (2012), 32 Seiten, 18 Euro, ab 4

Geschichten von Heiligen können manchmal ziemlich faszinierend sein, ganz gleich, ob mal gläubige:r Christ:in ist oder nicht. Alberto Benevelli hat in diesem kleinen Buch sechs Viten kindgerecht erzählt: Georg tötet den Drachen, Martin teilt seinen Mantel, Romedius – den ich bis jetzt noch nicht kannte – zähmt einen Bären, Franziskus wählt den Weg der Armut, Johanna kämpft für Gott im Krieg und Maximilian Kolbe opfert sich im KZ Auschwitz im Tausch gegen einen Familienvater. Der christliche Anspruch und die Intention sind offensichtlich. Es ist eines dieser typischen Bücher, die zur Erstkommunion verschenkt werden können. Nur schade, dass das Geschlechterverhältnis bei den Heiligen etwas unausgewogen ist.

Alberto Benevelli: Heilige Ritter. Große Heilige und ihre Geschichten, Illus: Loretta Serofilli, Ü: Gabriele Stein, Tyrolia, 2017, 60 Seiten, 14,95 Euro, ab 8

Ein etwas anderes Weihnachtsbuch liefert Beatrice Masini. Sie lässt die Heiligen Drei Könige eines Tages einem falschen Kometen folgen. Die drei verirren sich und verbringen den 24. Dezember in einer weit entfernten Oase. Dort erinnern sie sich an ihre bisher erlebten Abenteuer und erzählen. Insgesamt 24 ungewöhnliche Geschichten rund um die Könige und das Christkind lassen sich hier entdecken. Da geht es um Schnee in der Wüste, Parfum aus dem Suk oder warum einmal exotische Tiere vor der Krippe standen. Aber auch sehr italienische Themen und Bräuche fließen hier ein. So tritt Pulcinella auf und serviert neapolitanische Pizza. Die Befana, die Hexe, die in Italien den Kinder am 6. Januar Geschenke bringt, flirtet mit Balthasar.
Für die Adventszeit also ein charmantes Buch zum täglichen Vorlesen und Freuen auf Weihnachten.

Beatrice Masini: Die unglaublichen Abenteuer der Heiligen Drei Könige, Illus: Angela Marchetti, Ü: Gabriele Stein, Tyrolia, 2014, 112 Seiten, 14,95 Euro, ab 8

Ich muss tatsächlich zugeben, dass ich bis dato noch nie etwas von Khalil Gibran gehört, geschweige denn gelesen habe. Und jetzt bin ich auch nur auf ihn gekommen, weil es bei Patmos eine Version von Der Prophet gibt, die aus dem Italienischen übersetzt und für Kinder erzählt wird. Dass literarische Klassiker für Kinder in kondensierter Form herausgebracht werden, ist in Italien gang und gäbe. Alle großen Werke beispielsweise von Dante oder Manzoni gibt es immer auch in kindgerechter Form. Nun also Khalil Gibran. In diesem Buch sind zwölf seiner Reden in verkürzter Form versammelt. So erzählt der Prophet kurz vor seiner Abreise den Stadtmenschen von der Liebe, den Kindern, der Arbeit, der Freiheit, von Selbsterkenntnis und Freundschaft. Diese philosophischen Texte lesen sich wie biblische Gleichnisse. Natürlich kann sich jede*r ihren Teil dazu denken. Ob es Kindern wirklich gefällt, ist die Frage.
Die Illus von Alessandro Sanna schrammen zwischen Kitsch, Poesie und Esoterik. Für Fans von Gibran ist das hier sicherlich eine Publikation, um Kindern seine Weisheiten näher zu bringen.

Khalil Gibran: Der Prophet. Kindern erzählt, Hg: Anna Peiretti, Illus: Alessandro Sanna, Ü: Gabriele Stein, Patmos Verlag, 2023, 64 Seiten, 18 Euro, ab 8

Comics

Italien kann auf eine lange Comic-Tradition zurückblicken, selbst wenn das in Deutschland nicht so präsent ist wie die Bildergeschichten aus den USA, Belgien und Frankreich. Zu den neuesten Publikationen bei uns gehören die folgenden:

Timothy hat gerade eine nicht so gute Zeit: Seine Eltern streiten ständig, in der Schule läuft es mies, seine kleine Schwester plärrt nur rum und ein Fiesling will den Park mit dem schönen alten Baum in eine Zementhölle verwandeln. Halt findet Timothy nur bei seinen beiden Lieblingshelden aus dem TV. Doch eines Nachts bemerkt er, dass sein rechter Daumen grün leuchtet – wie das kommt, weiß niemand. Mit diesem Wunderdaumen kann Timothy Pflanzen heilen und findet den Mut, sich gegen den Fiesling zu stellen und den Park zu retten.

Dieser Heldencomic der anderen Art ist entzückend unlieblich von Gud gezeichnet, feiert den Mut der Jüngsten und appelliert an den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die etwas gegen fiese Investoren und Umweltzerstörer unternehmen kann. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Bände von Timothy Top ebenfalls übersetzt werden.

Gud: Timothy Top. Der magische grüne Daumen, Band 1, Ü: Henrieke Markert, Edition Helden, 2022, 144 Seiten, 18,90 Euro, ab 8

Der Römer Zerocalcare ist seit Kobane Calling in der Graphic-Novel-Szene ein bekanntes Gesicht. Zero verarbeitet in seinen Büchern immer seine eigene – mehr oder minder wahre – Geschichte und seine eigenen Erfahrungen. So auch in Die Krake im Nacken. Dieses Mal nimmt er uns mit in seine Kindheit in den 1990er Jahren an seine Schule und erzählt von den Beziehungen zu seinen Mitschüler:innen und Lehrer:innen. Es geht um den Druck dazuzugehören, die richtigen Serien gesehen zu haben, Mut zu beweisen und bei den Mädchen auf dicke Hose zu machen. Als er eines Tages, nach einem verbotenen Ausflug in den Wald, inklusive Auffindung eines menschlichen Schädels, eine Mitschülerin zu Unrecht der Lehrerin ausliefert, legt sich von nun an die Krake der Reue um seinen Hals. Und so entspinnt sich ein kurzweiliger Tripp durch pubertäre Schuljahre, samt rätselhaften Gestalten, einem Spukhaus und Minderwertigkeitskomplexen.
Zerocalcare liefert eine so dermaßen italienische Coming-of-Age-Geschichte, dass die Übersetzerin Myriam Alfano, die mal wieder hervorragend den Ton von Zeros Slang getroffen hat, ein Glossar zur italienischen Popkultur aus den 1980er und 1990er Jahren verfasst hat. Denn nicht alles, was damals in Italien bei der Jugend angesagt war, war auch in Deutschland populär. So gibt es neben Darth Vader, Curt Kobain und Che Guevara so einige Figuren aus japanischen Animes wie Jeegrobbó oder Yatterman, die nur echten Experten was sagen dürften. Im Lesefluss haben mich diese Unbekannten nicht gestört, denn ich hatte ja bei den italienischen Namen wie Alberto Sordi oder Gianni Rodari meine Wiedererkennungsmomente.
Für Fans von Zerocalcare ist das hier ein großer Spaß – und die Geschichte um den Schädel wird auch geklärt …

Zerocalcare: Die Krake im Nacken, Ü: Myriam Alfano, avant, 2024, 192 Seiten, 25 Euro

Manchmal gibt es merkwürdige Zufälle. Jetzt liegt hier der 1. Sammelband der W.i.t.c.h. vor mir, eine Comic-Reihe über fünf Mädchen mit Zauberkräften. Und ich stelle fest, dass ich im Jahr 2000 die erste Geschichte daraus übersetzt habe. Auf meinem Rechner findet sich noch die alte Datei. Die Texte im Band sind ordentlich überarbeitet worden, denn damals hatte ich noch längst nicht so viel Erfahrung im Übersetzen wie heute. Aber der Kern ist identisch. Mein Name taucht in dem Band nirgendwo auf. Damals wurde das Projekt auf Eis gelegt, zwei Jahre später waren auf einmal Hefte von W.i.t.c.h. im Handel – ohne dass ich weiter mit der Übersetzung beauftragt worden war. Ehapa ist damals von Leinfelden-Echterdingen nach Berlin umgezogen und mein Kontaktmensch ist nicht mitgegangen. So riss meine Verbindung zu Ehapa. Später habe ich dann andere Comics für Egmont-Ehapa übersetzt. Aber W.i.t.ch. habe ich immer ein bisschen hinterher getrauert. Denn es sind wirklich ganz liebenswerte Figuren, die dort agieren.

Die fünf Hauptfiguren sind Schulmädchen, die über magische Fähigkeiten entsprechend der Naturelemente Feuer, Wasser, Erde, Luft und Energie verfügen. Sie werden als Wächterinnen ausgewählt, um das Parallelreich Kandrakar zu schützen. Soweit so spannend, wie auch typisch Fantasy.
Diese Geschichten, die vom italienischen Walt-Disney-Team erfunden wurden, liefern eine Mischung aus Manga und Disney mit liebenswerten Figuren, natürlich bösen Gegenspieler:innen und heißen Jungs. Allerdings merkt man auch, dass diese Comics schon ein gewisses Alter haben, wenn man die Technik – Strippentelefone, Röhrenbildschirme, Speicher-Floppydisks – betrachtet, die bei uns Erwachsenen vielleicht nostalgische Gefühle aufkommen lassen, Jugendliche aber wohl eher verwundern dürften. Aber Fans dürften sich über die hochwertigen Sammelbände als Hardcoverausgaben freuen.
Wenn ich das richtig überblicke, sind bisher elf Sammelbände und zwei zusätzliche Bücher erschienen. Man kann sehr tief in den W.i.t.c.h.-Kosmos eintauchen.

Elisabetta Gnone/Francesco Artibani/Bruno Enna: W.i.t.c.h., Band 1, Ü: Sabine Schirmer, Egmont Comic Collection, 4. Auflage 2024, 384 Seiten, 29,99 Euro, ab 10

Und auch die Winx erleben gerade eine Neuauflage als dicke Sammelbände. Auch hier habe ich lange Jahre die Geschichten übersetzt. Winx Club 02, das im Frühjahr herauskommt, habe ich ebenfalls wieder übersetzt.
Hier sind es sechs Feen mit unterschiedlichen magischen Fähigkeiten aus Natur, Musik, Mode, Kunst, Technik, die Abenteuer aller Art auf dem Planeten Magix erleben. Sie kämpfen gegen die Hexen Trix und andere böse Wesen.
Viele Kids kennen möglicherweise die Zeichentrickserie. Die Realverfilmung ist meines Wissens eher gefloppt. Aktuell gibt es wohl Bestrebungen, die Winx dahingehend zu überarbeiten, dass das Körperbild und das Auftreten nicht mehr so sehr einem Männertraum entspricht, sondern kindgerechter wird. Hoffen wir mal, dass das klappt. Die Winx jedenfalls feiern in jeder ihrer Geschichten nämlich die Freundschaft und den Teamgeist.

Iginio Straffi: Winx Club 01, Das Geheimnis von Alfea, Ü: Matthias Wieland, Ehapa Comic Collection, 2024, 25 Euro

Worauf ich bisher noch nie eingegangen bin, und was vielen vielleicht gar nicht so klar ist: Die Geschichten in den Lustigen Taschenbüchern von Walt Disney werden seit vielen Jahren zum Teil in Italien produziert und daher aus dem Italienischen übersetzt.
Ich werde hier jetzt keine Zusammenfassung irgendeines neues Bandes liefern – das Cover ist daher eher als Symbolbild zu verstehen – vielmehr möchte ich auf das Video von Übersetzungskollegin Petra Müller verweisen und es hier einbinden, die für die Weltlesebühne e.V. von ihrer Arbeit an den Lustigen Taschenbüchern berichtet. Das ist überaus interessant und sagt alles …


Zum Schluss noch ein Pinocchio – diesmal einer für Erwachsene. Hierbei handelt es sich um eine SEHR freie Adaption der Lügenjungen-Geschichte, die nicht jugendfrei ist.
Geppetto ist in dieser Variante Diplom-Erfinder und mit einer ehemaligen Sexarbeiterin verheiratet. In seiner Werkstatt dengelt er einen metallenen Pinocchio zusammen, den er als Wunderwaffe ans Militär verkaufen will. In Pinocchios hohlen Kopf zieht die Wanze Jiminy ein und dieses Wesen ist quasi das einzige, das spricht, erzählt, schreibt. Die Story von Pinocchio selbst kommt ohne Worte auf. Braucht es auch nicht. Die krassen Bilder sprechen für sich. Sie sind nichts für schwache Nerven, denn es geht sehr blutrünstig und splattermäßig zu.
Dieser Pinocchio, der bereits 2009 zum ersten Mal auf Deutsch vorlag und jetzt neu aufgelegt wurde, ist also auch schon fast ein Klassiker und kommt eher als düstere, testosterongesteuerte Männerfantasie daher. Hinter Winshluss steckt der französische Comicautor und Regisseur Vincent Paronnaud, der 2007 zusammen mit der iranischen Comiczeichnerin Marjane Satrapi deren Graphic Novel Persepolis als Animationsfilm veröffentlichte.
Aber dieser Pinocchio ist auch mit unzähligen kulturellen Anspielungen gespickt, wie Disneys Schneewittchen, das allerdings von fiesen Zwergen missbraucht wird. Dazu kommt jede Menge Gesellschaftskritik, weshalb es mit einer schnellen Lektüre nicht getan ist. In jeder Runde entdeckt man neue Aspekte und Details. Für Literaturwissenschaftler:innen ist dieses Werk eine Fundgrube für Analysen, Interpretationen und Deutungsdiskussionen.
In meiner Pinocchio-Sammlung erweitert diese Graphic Novel nun die klassischen Textausgaben um den ganz freien Umgang mit dieser Geschichte und zeigt, was man aus alten Texten alles machen kann.

Winshluss: Pinocchio, Ü: Kai Wilksen, avant, 2024, 208 Seiten, 30 Euro

Soweit. Dank an alle, die bis hierher gelesen haben.
Im nächsten Jahr gibt es wieder ein Up-Date zur italienischen KJL in Deutschland. Ich freu mich drauf!

Gegen das Schweigen und die Scham

Missbrauch

Eigentlich sollten Sportvereine ein sicherer Ort sein. Es sollte um den Sport gehen, um den Spaß und die Gemeinschaft. Und zwar nur darum. Doch wir alle wissen, dass das manches Mal nicht so ist. Allerdings wird immer noch viel zu selten über sexuellen Missbrauch im Sport gesprochen. Martin Schäuble setzt mit seinem neuen Buch, Warum du schweigst nun dagegen ein Zeichen.

Er erzählt die Geschichte von Lena, die Fußball über alles liebt und mit ihrer Mädchenmannschaft vom Aufstieg in die Landesliga träumt. Mit dem alten Trainer hat das allerdings nicht geklappt. Doch nun trainiert Charly die Mädchen und alle Zeichen stehen auf Erfolg und Aufstieg. Allerdings hat Charly andere Trainingsmethoden, er lobt die Mädchen überschwänglich, verschickt nach dem Training an die Besten aufmunternde Textnachrichten, gibt schon mal Pizza nach einem gewonnenen Spiel aus. Vermutlich wünscht man sich so etwas.

Übermäßiger Körperkontakt

Doch Charly ist übergriffig. Er nennt die Mädchen »Prinzessin«, »Göre« oder »Meine Hübsche«. Er platzt in die Umkleide und fasst die Mädchen an, obwohl das überhaupt nicht angebracht ist. Er nötigt die Mädchen zum Alkoholkonsum, unter dem Vorwand nur so ordentlich feiern zu können. Lena wird das zusehends zu viel, aber sie wagt es nicht, sich dagegen zu wehren, schließlich ist Charly der Trainer. Als dieser eines Tages bei Lena zu Hause auftaucht und Lenas Mutter nicht da ist, kommt es zum Äußersten.

Belastete junge Liebe

Parallel zu diesem Erzählstrang, der aus Lenas Perspektive geschildert wird, gibt es die Sichtweise von Tim. Der Junge ist in Lena verknallt und im Laufe der Geschichte finden die beiden zusammen. Allerdings verhält sich Lena ihm gegenüber zurückhaltend, sobald es zu Zärtlichkeiten kommen könnte. Tim versteht das nicht. Kann es auch nicht verstehen, weil Lena aus Scham niemandem etwas von der häuslichen Vergewaltigung erzählt hat.

Gründliche Recherche

Wie bei seinen vorherigen Büchern hat Martin Schäuble auch hier wieder gründlichst recherchiert. Er hat mit Betroffenen und Psycholog:innen gesprochen, er hat den Dialog mit Sportvereinen gesucht und ist dabei nicht immer auf offene Ohren gestoßen. Manche Vereine haben seine Gesprächsanfragen abgelehnt – was zu deutlich zeigt, wie wichtig es ist, viel mehr über Missbrauch im Sport zu reden.
Doch die, die mit Schäuble gesprochen haben, tragen in großem Maße zu dieser authentischen Geschichte bei. Sie waren die ersten Lesenden, haben bei den Formulierungen der übergriffigen Sprache geholfen. Und das ist so perfekt gelungen, dass mir beim Lesen von Lenas Erlebnissen schon ganz anders wurde. Als Außenstehende erkennt man die Spielchen des Trainers, sieht, wo er sich falsch verhält, und möchte Lena anstupsen, damit sie sich sofort wehrt. Aber das schreibe ich als Erwachsene. Für junge Mädchen ist es immer noch schwierig, sich solchen Übergriffen selbstbewusst zu entziehen und die Täter umgehend in ihre Schranken zu verweisen oder anzuzeigen.

Mutmachende Geschichte

Umso mehr macht diese Geschichte allen Betroffenen Mut, die Stimme zu erheben, nicht zu schweigen und sich Verbündete zu suchen. Auch Lena sucht sich am Ende Hilfe und kommt in Kontakt mit anderen Mädchen, an denen sich Charly vergangen hat. Lena schafft es, und dieser Spoiler sei bei so einem schwierigen Thema bitte erlaubt, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Genau dies wünscht man allen …

Martin Schäuble: Warum du schweigst, Fischer Sauerländer, 2024, 240 Seiten, 14,90 Euro, ab 14

Zombieapokalypse leicht gemacht

Ende der Welt

It’s the End of the World as We Know It sang die College-Indie-Band R.E.M. in den 1980er Jahren. Tja, man denkt, man wüsste wie das Ende der Welt wird: Feuerregen, Lavaströme, Sintflut, nukleare Explosionen, Zombieapokalypse. R.E.M. konterkarierten es mit einem schlaksigen, verschmitzt lächelnden Jungen, der durch ein sehr chaotisches Zimmer tobt, kaputtes Spielzeug in die Kamera hält und Skateboardtricks macht. Auch für Atlas und Elena sieht das Ende der Welt ganz anders als man es sich vorstellt.

Im Zentrum des Shitstorms

Elena muss zu Beginn der Sommerferien abtauchen: Nach einem lustigen Video mit Lebenshilfetipps steht die Dreizehnjährige im Zentrum eines massiven Shitstorms. Der gesamte Hass des Internets scheint ihr entgegenzuschlagen, Verwünschungen und Morddrohungen inklusive. Keine Freundin will mit ihr verreisen. Selbst ihre Mutter fliegt lieber nach Indien in ein Schweige-Retreat.
So landet Elena ausgerechnet bei ihrer Tante irgendwo auf dem Land und deren creepy neuer Familie. Dort trifft sie auf Atlas und seine jüngere Schwester Kennedy. In diesem überhaupt nicht idyllischem Setting erzählt Anna Woltz von Cybermobbing, Verlust, Tod, Krankheit, traumatisierter Familie. Aber auch von Vertrauen, Liebe, Stärke und Solidarität – furios und ganz anders, als man es kennt.

Viel zu schwerer Rucksack

Wie bereitet man sich auf das Ende der Welt vor, wenn die eigene Welt bereits untergegangen ist. Atlas trainiert hart für alle Eventualitäten. Seinen Rucksack mit allem Überlebensnotwendigen hat er immer gepackt und griffbereit. Der Rucksack ist viel zu schwer für einen vierzehnjährigen Jungen. Und doch schleppt Atlas das Teil  kilometerweit. Er hortet Lebensmittelkonserven. Wenn alle Netze zusammenbrechen, wenn es keinen Strom, kein Wasser, kein Internet, kein Geld und keine Supermärkte mehr gibt, will Atlas die Last schultern und vorbereitet sein, um seine Familie zu retten. Das, was von ihr übrig ist. Und da darf Elena ihm nicht in die Quere kommen.

Vielleicht selber mal nachdenken

Neun Romane hat die niederländische Autorin Anna Woltz in den vergangenen Jahren allein auf Deutsch im Carlsen Verlag veröffentlicht. Es sind berührende und spannende, gegenwärtige oder historische Geschichten mit vielschichtigen, verletzlichen, wütenden, manchmal ein bisschen verrückten, doch durchweg liebenswerten Charakteren, auch mal einem Hund. Kinder und Jugendliche, die konfrontiert sind mit Trauma, Trennung, Krieg, Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. So unterschiedlich sie sind, trotzig und empathisch sind sie alle. Sie raufen sich zusammen und lösen gemeinsam ihre Probleme, um ihre Welt lebenswerter und ihre Leben schöner zu machen. Und Anna Woltz schafft es jedes Mal zu überraschen.
Denn natürlich kommt auch in Atlas, Elena und das Ende der Welt alles anders, als man denkt. Weil eben die Welt und die Menschen anders sind, als man denkt. Anna Woltz lässt Atlas und Elena im Wechsel erzählen. In ihrem eigenen, emotionalen Chaos denken sie sehr kluge Gedanken. »Tja, vielleicht hätten diese Follower selbst mal nachdenken sollen?«, überlegt Atlas angesichts von Elenas folgenreichem Video. Wenn mehr Menschen öfter mal nachdenken, dann wäre die Welt tatsächlich freundlicher und besser. Und Cybermobbing kein Thema.

Die Probleme anderer Leute

»Man stellt es sich immer schlimmer vor, als es ist«, lautete Elenas Ermutigungsmantra früher. Jetzt weiß sie, »manchmal sind die Sachen ganz genau so schlimm, wie man sie sich vorgestellt hat. Und manchmal sind sie noch viel schlimmer.« Auf dem harten Lehmboden eines unheimlichen Schuppens ist Elena auf dem noch viel härteren Boden der Realität angekommen. Dabei war sie doch die lustige und wagemutige Troubleshooterin.
»Die Probleme anderer Leute sind total witzig«, erklärt Kennedy Elena. »Aber unsere Probleme sind einfach … Probleme.« Damit hat Atlas‘ jüngere Schwester eine zeitlose Erkenntnis Ally McBeals grandios neu interpretiert. Ally McBeal war eine Serie um die gleichnamige Anwältin in einer großen Kanzlei in Boston. In der Unisex Toilette (sehr fortschrittlich, 90er Jahre!) fragt eine der biestigen Kolleginnen Ally: »Warum sind deine Probleme eigentlich immer so wichtig?« »Weil es MEINE Probleme sind«, bringt es Ally schlagfertig auf den Punkt. Deshalb ist es auch so schwierig, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Ob lähmende Sprachlosigkeit, absolute Leere, herzzerreißender Kummer – es fehlt der Abstand. Man braucht jemanden, der die Sache aus anderer Perspektive betrachten kann. Und umgekehrt. Davon erzählt Anna Woltz immer wieder neu.

Märchenhafte Kulisse

»Und dann hört der Wald auf und ein Märchen fängt an. Der Pfad führt durch riesige, langgezogene Weiden. Das hohe Gras glitzert silbern im Mondlicht, der tiefblaue Himmel ist mit Sternen übersät und in der Ferne funkelt ein Fluss. Wenn ich Netflix wäre, würde ich für so eine Kulisse Millionen bezahlen«, durchfährt es Elena nachts. »Aber dann fällt mir ein, dass ich kein Streamingdienst bin, sondern jemanden verfolge. Und wenn man jemanden verfolgt, sind ausgedehnte Weiden höchst ungünstig.« Sätze voller Witz und Selbstironie, viel besser als die meisten nach bewährtem Schema geschriebenen Serien. Andrea Kluitmann hat sie mitreißend übersetzt.

»Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Tatsächlich kommt der Ritter auf einem weißen Pferd zur gestrauchelten Heldin. Und es ist überhaupt nicht kitschig. Nein, das ist definitiv nicht das Ende der Welt, wie wir es kennen. Es ist der Beginn einer neuen, wunderbaren Geschichte.

Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt, Übersetzung; Andrea Kluitmann, Carlsen, 2024, 192 Seiten, 12 Euro, ab 11

Entfesselte Energie

Löwenmäulchen sind hübsche Blumen. Als Mädchenname taugt das von Hummeln sehr geschätzte Wegerichgewächs nicht so gut – im Deutschen. Snapdragon klingt dagegen super. Und passend für die mutige, eigenwillige Heldin in Kat Leyhs gleichnamigen Comic.

Hexen gibt’s nicht, oder?

Auf der Suche nach ihrem Hund fährt Snapdragon zum Haus der Hexe. Zumindest halten ihre Mitschüler sie für eine und erzählen gruselige Geschichten über die Einsiedlerin im langen schwarzen Mantel, mit großem Hut und dunkler Augenklappe. Aber Hexen gibt es doch nicht, oder?
Tatsächlich findet Snapdragon ihre kleine Bulldogge wohlbehalten bei der knurrigen, unheimlichen Frau. Und freundet sich nach und nach mit ihr an. Dabei spielen viele Tiere eine wichtige Rolle. Die meisten tot, überfahren auf der Straße. Jacks, so heißt die Alte, kümmert sich um sie, um ihre achtlos liegengelassenen Kadaver – und ihre Seelen. Den toten Tieren haucht sie wieder neues Leben ein, indem sie ihre Skelette minutiös rekonstruiert und an Sammler oder Museen im Internet verkauft. »Wow«, sagt Snapdragon beeindruckt. Jacks lächelt geschmeichelt. Bis das Mädchen gleich hinterherschiebt: »Jemand Altes, der das Internet benutzt.«

Respekt gegenüber allen

Das ist ein ganz kleiner Moment, drei Bilder kurz, in dem Kat Leyh, die bislang vor allem Superheldengeschichten illustriert hat, sehr geschickt und ganz beiläufig auch das Thema Altersdiskriminierung einflicht. Denn darum geht es in ihrem ersten Kindercomic: um Vielfalt und Respekt gegenüber allen. Allen Menschen und allen Lebewesen. Egal, ob Mädchen wild und draufgängerisch sind. Jungs lieber Mädchenkleider tragen und ein Faible für Lila haben. Frauen Motorradrennen fahren und Frauen lieben.
»Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang schon Carsten Friedrichs von der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (dessen brillante Songtexte auch als Buch zu haben sind, Später kommen, früher gehen, Ventil Verlag, 216 Seiten, 17 Euro). Das zu erkennen, zu akzeptieren und auszuleben kostet viel Energie. Es kann aber auch fantastische und inspirierende Kräfte entfesseln.

Seiten mit dramaturgischem Kniff

Von Außenseitern mit starkem Willen und großen Herzen erzählt Kat Leyh in klaren Panels mit kräftigen Farben. Ihre Figuren sind höchst lebendig, mit hochemotionaler Mimik und dynamischen Bewegungen. Auf manchen Seiten verwendet Leyh mit dem letzten Bild unten rechts einen dramaturgischen Kniff: In Serien würde man vielleicht von Cliffhängern sprechen. Hier sind es eher Appetithäppchen oder Teaser, die einen sofort neugierig umblättern lassen und gleich in die nächste Szene hineinziehen.

… und ein Schuss Magie

Eine starke Nebenfigur ist auch Snapdragons alleinerziehende, hart arbeitende Mutter. Respekteinflößend und ebenso respektvoll und anerkennend. Als sie zum Beispiel von der Arbeit weg in die Schule zitiert wird, ist sie nicht wütend auf ihre Tochter. Sie lobt Snapdragon, weil diese ihren Freund Lu gegen gehässige, sexistische Mitschüler verteidigt hat. Was ihr blumiger Vorname für eine Bedeutung hat, das ergibt sich in der in der wunderbar verwoben Geschichte und wird hier natürlich nicht verraten.
Kat Leyhs Snapdragon ist ein mitreißender, ausdrucksstarker und famos gezeichneter Comic, ebenso bunt wie seine Heldenfiguren. Mit einer spannenden Geschichte, beeindruckenden Charakteren – und einem klugen Schuss Magie.

Kat Leyh: Snapdragon, Übersetzung: Matthias Wieland, Lettering: Kathrin Liehr, Reprodukt, 240 Seiten, 20 Euro, ab 10

Wie Leben geht

Magali ist 13 Jahre alt und wünscht sich, möglichst bald geküsst zu werden. Herr Krekeler ist 98 Jahre alt und möchte sterben. Was das junge Mädchen und den alten Mann verbindet und wie das mit dem großen Ganzen zusammenhängt, das man Leben nennt, erzählt Nikola Huppertz sehr geistreich und berührend und umwerfend lustig im Roman Fürs Leben zu lang.

Ein Tagebuch von allen anderen

Magali ist sehr groß für ihr Alter, mit 1,82 Meter überragt sie alle Gleichaltrigen. Auf 1,89 bis 1,92 Meter wird sie mindestens noch wachsen, so die Prognosen. Ihr eigenes Leben findet die Teenagerin langweilig. Alle anderen scheinen ihr interessanter. Und deshalb beginnt sie in »das überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen« zu schreiben, das ihre Eltern ihr etwas einfallslos zum Geburtstag geschenkt haben: »Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.«
Niedliche Mädchen und hübsche Jungs, die chaotische Familie ein Stockwerk tiefer, eine exzentrische Nachbarin, ihre ältere Schwester Malve, mit Hang zum Melodram, ihre Seneca zitierende Mutter und ihr schweigsamer Vater, beide Anhänger der »bewussten Elternschaft« … Magali ist eine hervorragende Beobachterin und äußerst witzige Tagebuchautorin.

Rumpelstilzchen springt von Treppenabsatz

»Guten Tag, Magali«, begrüßt Alfred R. Krekeler sie, wenn sie sich im Treppenhaus begegnen. »Ich habe schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam.«  Doch dann beschließt Herr Krekeler, 98 Jahre sind genug.
Und damit springt KK in Magalis Leben, wortwörtlich vom Treppenabsatz. Der Gleichaltrige begrüßt sie mit: »Wir kennen uns!« »Ich war zu Tode erschrocken. Er erinnerte mich irgendwie an das Rumpelstilzchen (1,53 Meter maximal und überaus wuselig), aber sonst an niemanden.« Kieran Krekeler ist Herrn Krekelers Enkel. Er erzählt Magali, dass sein Großvater sterben will.

Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit

Magali akzeptiert das zunächst nüchtern als die Entscheidung ihres freundlichen Nachbarn, von dem sie sonst fast gar nicht weiß. Immerhin ist der Mann 98.
Doch je länger sie drüber nachdenkt, desto klarer wird ihr: »Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit«. Besser kann man es nicht Punkt bringen.
Das macht Nikola Huppertz‘ Roman so brillant: Ihre Sprache und wie sie durch Magali die Menschen und die Welt beschreibt. Auch ihre Dialoge und Textnachrichten sprühen vor Witz, Screwballcomedy at it’s best.

Keine Anleitung, keinen Plan

In ernsten, ja todernsten Passagen schafft die Autorin eine intensive, fühlbare  Atmosphäre, als wäre man selbst dabei: »Mühle ist ein langweiliges Spiel. Wenn man es kann, gewinnt immer, der der beginnt. Trotzdem spielten KK und ich dreizehn Partien, sechs gewann er, sieben ich. Irgendwann sagte KK: ›Hättest du gedacht, dass Sterben so geht?‹ Er fragte es nur so, als handele es sich um den Wetterbericht oder darum, was es morgen zum Osterfrühstück geben sollte, fragte es mitten in die Langeweile hinein. Und auch mir rutschte die Antwort einfach über die Lippen, sie stand schon im Raum, ehe ich darüber nachdenken konnte, sagte sich selbst: ›Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wie Leben geht.‹«
Magali und Kieran erfahren, dass niemand es weiß. Nicht die Eltern, nicht die ganz Alten, auch nicht der Philosoph, den die Kinder per Mail fragen (übrigens ein realer Philosoph, den Huppertz angeschrieben hat). Es gibt keine Anleitung, keinen Plan. Jedes Leben ist einzigartig.

Einfach grandiose Literatur

Wie Huppertz diese ebenso simple wie wertvolle Erkenntnis mit lebendiger Sprache, mit einem Sumoringer oder der Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamar, mit Worten wie Würde, Walddrama, Schuk, Struwen, Nagelfetisch, Nazimutter, Beinkind und Zusammenstoßkind erzählt, oder von der wunderbaren Magali ins Tagebuch schreiben lässt, das ist ganz große Literatur. Keine weitere Comig-of-age Geschichte, keine Sick Lit (was für eine kranke Genrebezeichnung!) und erst recht kein Kinderbuch. Einfach grandiose Literatur.

Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang, Tulipan, 200 Seiten, ab 12, 16 Euro

Unendliche Welten

Telegraph

Pulp Fiction als Erweckungserlebnis: »Auf dem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blondine und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: ›Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen‹.
Aufregung fuhr wie ein Stromstoß durch Lily.« Als die Siebzehnjährige den Schundroman bei den billigen Taschenbüchern hinten im Drugstore entdeckt, erkennt sie, dass sie für ihre Mitschülerin Kathleen mehr empfindet als nur Sympathie. Und ihr ist klar, dass das verboten, gegen die Regeln und undenkbar ist.

Faible für Frauen ist unmöglich

Von ihr als ordentlichem Mädchen aus Chinatown in San Francisco Anfang der 1950er Jahre wird erwartet, dass sie amerikanischer ist als junge weiße Mädchen: ausgezeichnete Schülerin, was Anständiges studieren, heiraten, Hausfrau und Mutter von ebenso folgsamen Kindern werden. Mag ihr Interesse für Raumfahrt und der Wunsch, zum Mond zu fliegen, noch als vorübergehende jugendliche Spinnerei durchgehen. Ein Faible für Frauen ist absolut unmöglich.

Anpassung an das weiße Amerika

Als aus China stammende Amerikanerin haben es sie und ihre Familie, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Krankenschwester, schwer. Antikommunistische Hetze stellt alle Asiaten unter Generalverdacht. Und so genau wird auch nicht unterschieden, der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, damals war China zwar mit den USA verbündet, aber Japaner waren Feinde. Und innerhalb der chinesischen Community gelten strenge Konventionen, Anpassung an den Mainstream ist das oberste Gebot.
Lily und Kathleen, genannt Kath genannt, freunden sich an. Und mehr als das, Kath nimmt Lily mit in einen Club namens Telegraph Club. Dort tritt auch die Herrenimitatorin Tommy Andrews auf. Lily ist fasziniert, für sie tun sich nicht nur im Weltraum unendliche Welten auf.

Leben zwischen zwei Welten

Malinda Lo erzählt in Last Night at the Telegraph Club spannernd und vielschichtig von San Francisco in den 1950er Jahren. Von den Menschen in der chinesischen Community, schillernd und exotisch, angepasst und ambitioniert, Leben zwischen zwei Gesellschaften.
Lo taucht ein in Bars und Treffpunkte der lesbischen Szene, man begegnet sich männlich gebenden Butches und femininen Femmes. Beklemmend wird die aufgeheizte politische Paranoia beschrieben. Und natürlich erzählt der Roman auch vom Coming out eines jungen Mädchens, das gegen viele Vorurteile kämpfen muss. Sogar in der lesbischen Szene, wo eine Asiatin doch sehr exotisch ist.

Privates und historisches verknüpft

Der Roman ist sehr gut recherchiert und absolut stimmig. Zwischendurch wechselt er auch die Perspektive und Zeit, erzählt aus der Sicht ihrer Eltern, kurz nachdem sie China verlassen und sich in den USA kennenlernen. Oder aus der Sicht ihrer Tante, einer Mathematikerin, die in einem Raumfahrtprojekt arbeitet. Private und historische Ereignisse werden auf einem Zeitstrahl angeordnet und miteinander verknüpft.

Zeitgeschichtliches Tableau

Last Night at the Telegraph Club ist mittlerweile unter jungen Menschen ein Bestseller. Zurecht, ist der Roman doch über die queere Thematik hinweg ein brillantes zeitgeschichtliches Tableau. Nur die wenigen erotisch angehauchten Petting Passagen fallen dagegen ab. Die monotone und einfallslose Wiederholung von »pochendem Herz«, »schmerzhaftes Ziehen im Unterleib« oder »weiblichen Kurven« rührt wahrscheinlich weniger daher, dass Lily die Worte für ihre neuen Empfindungen fehlen. Es ist eher ein Zeichen der Sprachlosigkeit angesichts von Sex und Körperlichkeit in der amerikanischen Literatur. Da kann auch die sensible Übersetzerin Beate Schäfer nichts dran ändern.

Last Night at the Telegraph Club feiert die kulturelle, sexuelle und geistige Vielfalt, ein mitreißender und funkelnder Roman.

Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club, Übersetzung: Beate Schäfer, DTV, 445 Seiten, ab 14, 19 Euro

Gegen das Tabu

Suizid

Nach langer Zeit habe ich – der Buchmesse und den anregenden Kontakten dort sei Dank – mal wieder ein richtig gutes und vor allem wichtiges Jugendbuch gelesen. Im Roman Alle Farben Grau erzählt Martin Schäuble von Paul.

Der 16-Jährige ist ein ganz besonderer Typ: Er hält Vorträge über Bowie, liebt Mangas und Japan, lernt dementsprechend Japanisch und Aikido, er zockt wie seine Altersgenossen Computerspiele und wächst in einem behüteten Heim mit zwei Schwestern auf. Alles perfekt, könnte man meinen.

Die Leserschaft lernt Paul über die Ich-Erzählungen verschiedener Figuren kennen: Da sind Alina, das Mädchen aus der Akutstation der Jugendpsychiatrie, Lien, seine chinesische Mitbewohnerin im Internat, sein bester Freund Noah oder Riku, der Japanisch-Lehrer. Auch seine Familie erzählt von Paul – nachdem er sich das Leben genommen hat.

Nach einer wahren Geschichte

Dieses Buch, das nach einer wahren Geschichte entstanden ist, dreht sich um den Suizid eines psychisch erkrankten Jugendlichen und ist somit kein leichter Stoff. Reflexartig denkt man zunächst: »Muss das sein? Ist das nicht etwas zu viel? Regt es womöglich zur Nachahmung an?«
Nein, tut es nicht. Aber ja, es ist viel. Ja, es ist traurig. Und ja, es muss sein.

Denn gerade in Zeiten, in denen Jugendliche immer noch mit den Nachwirkungen der Pandemie zu tun haben und die Weltlage eh nicht zum Besten steht, müssen wir auch in Bezug auf psychische Gesundheit genau hinsehen, wie es um die Menschen um uns herum steht. Denn nicht immer ist es ihnen – jungen wie alten – anzumerken, ob es ihnen schlecht geht. Das Sprechen über psychische Erkrankungen wird dabei zu einem Schlüssel, der in unserer Gesellschaft viel zu wenig genutzt wird. Denn noch immer kommt es einer Stigmatisierung gleich, wenn man öffentlich zugibt, psychisch krank zu sein.

Unerkannte psychische Erkrankung

Pauls depressive Erkrankung wird lange nicht erkannt, auch weil bei ihm zu spät festgestellt wird, dass er das Asperger-Syndrom hat. Er nimmt die Welt also generell anders wahr, leidet dadurch aber noch stärker an seiner Umwelt und unter der Depression. So verkriecht er sich im Internat schon mal im Schrank, um zumindest dem nervigen Mitbewohner zu entgehen. Seiner eigenen inneren Stimme, die ihn ständig fertig macht, entkommt er leider nicht.

Die verschiedenen, nicht zeitlich geordneten Perspektiven – zu denen auch Pauls eigene Ich-Erzählung gehört – bilden die unterschiedlichsten Puzzleteile zu einem Menschen, der sich nach und nach den Lesenden offenbart. Dabei wird deutlich, wie wenig Außenstehende vom anderen, also von Paul wissen, ja, wissen können, und wie er im Gegenzug seine Umgebung und sich selbst wahrnimmt. Dass dabei enorme Lücken klaffen, ist so normal wie erschreckend.

Feinfühlig und offen

Martin Schäuble gelingt das große Kunststück, offen und feinfühlig über das heikle und tabuisierte Thema Suizid zu schreiben (wie Paul sich das Leben nimmt, wird nicht geschildert, denn das ist überhaupt nicht notwendig). Der Autor moralisiert nicht, er macht auch keine Hoffnungen was Paul angeht, er klagt nicht an. Die Eltern, die quasi wie in einem Interview von Paul berichten, machen sich selbst schon genug Vorwürfe. Es gib in diesem Fall keine Lösung, kein Happy End, nur ein Weiterleben für die, die zurückbleiben. Und das Sprechen mit all denen, die ebenso einen Verlust erlitten haben – das haben sich Pauls Eltern seit dem auf die Fahnen geschrieben.

Und dennoch gibt es bei allem Traurigen, das in diesen Seiten steckt, diesen Funken Hoffnung, dass sich möglicherweise für Lesende, die mit diesem Gedanken spielen, etwas ändern könnte, wenn sie nur die Kraft aufbringen, über ihre Seelenqualen und ihre selbstzerstörerischen Absichten zu sprechen. Die wichtigen Hinweise, wo Betroffene Hilfen und Gesprächsangebote finden, sind vor und nach der Geschichte aufgeführt, doch es ist im besten Fall Paul selbst, dieser eindrückliche Junge, der andere animieren könnte, sich solche Hilfe auch zu suchen.

Martin Schäuble: Alle Farben grau, Fischer Verlag, 2023, ab 14, 15 Euro

Aus dem Tunnel ins Leben

Tunnel

Büchergutscheine, wie sie jetzt bestimmt wieder tausendfach unterm Weihnachtsbaum gelegen haben, sind ja eher Verlegenheitsgeschenke. Man kennt sich nicht genug, kennt auch nicht den Geschmack des zu Beschenkenden. Auch traut man sich nicht, beherzt etwas zu überreichen, was man selbst gern lesen würde. Und irgendwas muss man ja schenken …

Jetzt gegen das beste Buch des Jahres tauschen

Aber genug gelästert. Büchergutscheine sind klasse, denn die glücklich Beschenkten können sie jetzt (in ihrer Lieblingsbuchhandlung und nicht beim grausamen Amazon) in das beste Buch des Jahres tauschen (das sie hoffentlich noch nicht gelesen haben).
Und das wird hier jetzt einfach mal so gesagt, obwohl auch dieses Jahr einige außerordentlich gute Bücher veröffentlicht wurden, vor allem exzellente Graphic Novels und einige besonders schöne Bilderbücher. Also, gleich mal losgehen,  Büchergutschein gegen Nächte im Tunnel von Anna Woltz eintauschen!

»Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben«

Ein Buch, das im Krieg spielt? Das von schrecklicher Angst, lebensbedrohlicher Krankheit, Verkrüppelung und Beklemmung erzählt? Das von brutaler Armut, krassen Klassenunterschieden und gemeinen gesellschaftlichen Zwängen handelt? Und am Ende eine der Hauptpersonen stirbt?
»Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das. Jetzt schon, bevor ich anfange«, sagt Ella gleich zu Anfang. »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da.
Unser Leben fängt gerade erst jetzt an.«

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Ja, das ist das beste Buch! Weil die Figuren so absolut liebenswert sind! Allen voran die Erzählerin, die 14-jährige Ella. Sie ist gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, Kinderlähmung, für viele ein Todesurteil, bevor es eine Impfung dagegen gab. Weil auch die Atemmuskulatur gelähmt werden und man grausam ersticken kann. Ella hat Wochen in einer sogenannten eisernen Lunge eingesperrt gelegen. Ihr linkes Bein wird für immer teilweise gelähmt und verdreht bleiben. Dazu eine Panik vor engen Räumen und dem Gefühl eingesperrt zu sein.

Von zu Hause weggelaufen, um zu helfen

Sie begegnet Quinn, die vom Landsitz ihrer reichen Familie irgendwo in der friedlichen Countryside mit einem riesigen Koffer und einer Tasche voll mit Mutters Schmuck nach London weggelaufen ist. Sie will im Krankenhaus als Sanitäterin arbeiten, irgendetwas tun, um den Menschen in der bombardierten Stadt zu helfen. Dass sie fast noch ein Kind ist, hält sie nicht ab. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich sofort einziehen lassen.« Auf Ellas Einwand »Du bist doch erst fünfzehn?« antwortet Quinn wütend und für Ella schockierend unverblümt: »Das ist doch wohl egal? Ich habe keinen Pimmel, das finden sie das größte Problem.«
Außerdem sucht Quinn ihren älteren Bruder Sebastian in der Hauptstadt, dem einzigen in ihrer arroganten und gefühlskalten Very-stiff-upper-lip-Familie, dem sie sich in ihrem gemeinsamen Freiheitsdrang und Anderssein verbunden fühlt. Aber Sebastian scheint ein Faschist geworden zu sein. Sie muss ihren Bruder finden und zur Rede stellen.

London Blitz

Woltz wollte vom »London Blitz« erzählen, den massiven Luftangriffen, denen die Menschen in London im zweiten Weltkrieg durch Hitlers Bombardierungen ausgesetzt waren. Außerhalb Englands ist wenig über das Leid und die Entbehrungen der Menschen in der britischen Hauptstadt bekannt, die Nacht für Nacht vor den Bomben in den stickigen Bahnhöfen und Tunneln der Tube, der U-Bahn, Schutz suchen. Anfangs alles sehr provisorisch, Alte, Junge, Familien mit kleinen Kindern und Babys, die kreuz und quer auf dem blanken Bahnsteig und den nachts stillgelegten Gleisen in den Schächten liegen, mit einem stinkenden Eimer hinter einem Fetzen Stoff als Klo.

Eine Extremsituation, wie die Pandemie

Woltz fand es auch als eine Extremsituation interessant, die wie die Pandemie alle betrifft. Die für alle alles ändert, auf die alle reagieren und mit der man sich arrangieren muss, um zu überleben, ohne zuvor etwas Vergleichbares erfahren zu haben und sich darauf einstellen zu können. Eine weitreichende Veränderung, die vor allem junge Menschen mit eben erst wachsenden Träumen, Plänen und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, brutal ausgebremst hat.

Furchtbar aktuell

Ella, Quinn, Jay, Ellas kleiner Bruder Robbie und auch Sebastian, jeder einzelne ist absolut lebendig, vielschichtig und liebenswert. Man möchte sie alle kennenlernen, mit ihnen im Dunkeln ausharren, durch die Straßen Londons ziehen, kämpfen, helfen. Das sind keine Figuren aus einem Historiendrama. Woltz lässt sie zeitlos jung, ehrlich und authentisch miteinander reden. Andrea Kluitmann hat es bewährt und ungeheuer frisch übersetzt. Der Carlsen Verlag hat dieses Mal Anna Woltz‘ Buch auch in einen sehr schönen Buchumschlag gehüllt.
In ihren schlimmsten Albträumen hätte Woltz es sich nicht träumen lassen, dass, wenn ihr Buch erscheint, tatsächlich wieder Krieg in Europa geführt wird und Menschen erneut vor Bombenangriffen in die U-Bahn flüchten müssen.

»Ich kann mich entscheiden«

Auch wegen der furchtbaren Aktualität ist Nächte im Tunnel das beste Buch des Jahres.
Vor allem aber ist es auf eine zauberhafte, herzzerreißende Art lebensbejahend. Es erzählt davon, wie es ist, jung zu sein, die Welt entdecken zu wollen, Menschen kennenzulernen, sich auszuprobieren. Wie man etwas finden möchte, das einen glücklich macht. Man möchte neugierig bleiben, etwas wagen, nicht aufgeben, nichts als in Stein gemeißelt und unausweichlich vorbestimmt hinnehmen, sich nicht lähmen lassen. Ich kann mich entscheiden, denkt Ella, als nachts erneut der Fliegeralarm losgeht, die Flakgeschütze sich in Stellung bringen und sie in der Ferne das Dröhnen von Motoren hört. In Nächten im Tunnel können auch Tage eines neuen Lebens beginnen. Auf jeden Fall sollten sie der Beginn eines neuen Lesejahres sein.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14

Extrem gefährlich

Ponger

Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.«
So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?

Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen

Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«

Was die Menschen so umtreibt

Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten.
Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist.
Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.

Bilder, die zu Orten entstehen

Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort.
Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten

Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick

Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt:
»Erinnern sie sich an ihre Kindheit?«
»Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?«
»Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?«
»Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.«
»Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«

Erwachsene sind kein bisschen schlauer

Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert.
Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.

Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14

Mutig leben in einer neuen Heimat

Manchmal erscheinen Bücher zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt auf erschreckende Weise zu dem aktuellen Tagesgeschehen passt. Dazwischen: Wir von Julya Rabinowich ist so ein Beispiel.
In der Fortsetzung von Dazwischen: Ich von 2016 erzählt die Wiener Autorin die Geschichte von Madina weiter, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und in einer Kleinstadt Zuflucht gefunden hat.

Mittlerweile wohnt Madina mit Mutter, Tante und Bruder Rami bei ihrer besten Freundin Laura, im ehemaligen Büro deren Vaters. Madinas Vater ist wieder in seine Heimat zurückgegangen, um zu kämpfen. Wieder belässt Rabinowich es im Unklaren, woher die Familie geflüchtet ist, es ist weiterhin unerheblich. Nun wartet die 15-Jährige täglich auf Nachricht von ihm.

Ein fast normales Teenager-Leben

Doch Madina, die wieder Tagebuch schreibt, berichtet auch von ihrem neuen Alltag, in dem sie in der Schule immer besser wird – auch durch die gnadenlose Förderung und Forderung der Klassenlehrerin King. Mit Laura und ihrem Bruder Markus erlebt sie so manches emotionale Hoch und Tief, träumt von einer Jeans und Reisen, möchte einfach nur dazugehören und hat eigentlich ein neues Zuhause gefunden. Im Grunde liefert sie das Bild eines ganz normalen Teenagermädchens.
Wären da nicht die fremdenfeindlichen Typen im Ort, die sich irgendwann immer Donnerstags vor dem Café treffen und gegen Migranten pöbeln. Zunächst duckt Madina sich noch weg, macht einen Bogen um diese Ansammlung. Als Hassparolen an den Hauswänden auftauchen, gründen Madina und Laura eine Gang, die diese Schmierereien einfach selbst übersprayen. Nach und nach entwickelt Madina immer mehr Mut, macht sich grade, wie sie sagt, bis sie schließlich den Pöblern entgegentritt …

Beunruhigende Aktualität

Vieles in dieser Geschichte ist von einer beunruhigenden Aktualität, die mich durch die Seiten getrieben hat. Man kommt als Leser:in nicht umhin, eine Parallele zu den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine zu ziehen, deren Männer und Väter in der Heimat kämpfen. Konnte man Dazwischen: Ich als Spiegel auf die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten 2015 lesen, so gleicht Teil 2, der sich inhaltlich nahtlos an den ersten Band anschließt (aber auch ohne ihn gut verständlich ist), wie ein Kommentar zu den jetzigen Ereignissen. Viele Geflüchtete kommen momentan glücklicherweise privat unter, und wir können nur hoffen, dass sie hier weiterhin viele positive Erfahrungen machen.

Doch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, die aus unserer Gesellschaft ja nicht verschwunden sind, lauern da draußen quasi schon. So hat mich (als alte Leserin) der fremdenfeindliche Aufmarsch vor Madinas Haus unwillkürlich an die Anschläge von Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erinnert. Ich verbiete mir jetzt aber, diesen Gedanken weiterzudenken, und setze darauf, dass sich doch etwas bei uns geändert hat.

Hoffnungsfigur Madina

Die Figur Madina jedenfalls zeigt mit ihrer liebenswerten und lebensfrohen Art, mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Wut die universellen menschlichen Eigenschaften, die es so völlig unerheblich machen, woher ein Mensch stammt. Ihr Mut macht deutlich, dass Geflüchtete sich nicht alles gefallen lassen müssen, sondern ein Recht haben, sich zu wehren – im Großen wie im Kleinen. Die Solidarität, die Madina erlebt, schürt die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist.
Bücher wie Dazwischen: Wir bringen die Saat dafür aus, die in den jugendlichen Leser:innen hoffentlich aufgeht.

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir, Hanser, 2022, 256 Seiten, ab 14, 17 Euro

Gegen Schubladendenken und Vorurteile

Es gibt Fragen, die nerven Lucia Zamolo gewaltig. »Woher kommst du eigentlich?« ist so eine. Und mittlerweile hat Zamolo eine Reihe von Antworten auf Lager: »Von dahinten«, »Vom Klo« oder »Aus dem Kiosk«. Doch erst, wenn sie ergänzt: »Aber mein Vater kommt aus Italien«, geben die Fragenden meist Ruhe. Zufrieden ist Lucia Zamolo damit allerdings nicht. Und so geht die Autorin und Illustratorin
in ihrer Comic-Erzählung Jeden Tag Spaghetti sowohl ihrem Antwortverhalten, aber vor allem der Haltung der Fragenden auf den Grund.

Unterschwelliger Vorwurf

Für Zamolo hört sich die Frage, die meist von Unbekannten kommt, eher wie ein Vorwurf an – im Sinne: Du kommst doch nicht von hier! – und ist damit eine rassistische Grenzüberschreitung. Im Gespräch kann sie sich eventuell noch wegdrehen und Erklärungen vermeiden, in diesem Buch geht das natürlich nicht. Dann wäre es keine Buch. Und so erklärt sie hier ihre Familiengeschichte, die mit Italien nur verhältnismäßig wenig zu tun hat. Es gibt keine Großfamilie, keinen mafiösen Verstrickungen, der Vater kann nicht kochen und die Tomatensoße stammt von einem großen Fertig-Spaghetti-Hersteller … Der Vater ging aus Liebe nach Deutschland und nicht zum Arbeiten. Und Lucia Zamolo ist in Deutschland geboren und hat auch kein Sprachproblem, wie eine Lehrerin ihr unterstellte.

Vorurteile in den Köpfen

Zamolo thematisiert neben den gängigen Vorurteilen in den Köpfen der Leute die vertrackte Situation, wenn die fragende Person wirklich nur interessiert oder auch neugierig ist, die befragte sich jedoch angegriffen und verletzt fühlt. Sagt diese, dass sie die Frage für unangebracht hält, kann es gut sein, dass die fragende Person beleidigt ist. Eine absurde Umkehrung.
Die Autorin schildert zudem Erlebnisse und übergriffige Erfahrungen von Freunden, deren Migrationshintergrund auf einmal komplett in den Vordergrund rückte. Menschen neigen vermutlich generell dazu, andere in Schubladen einzusortieren, nur liegen diesen Einordnungen oftmals negative, rassistische Denkmuster zugrunde. Das anscheinend »Fremde« macht also selbst in globalisierten Zeiten immer noch Angst und muss wohl gebannt werden. Auch im Alltag, auch von Menschen, die nicht rechts wählen.

Ertappt!

Beim Lesen von Lucias Zamolos kurzweiligem Buch habe ich mich durchaus ertappt gefühlt, habe ich der Autorin doch allein aufgrund ihres Namens das Label »italienische Literatur« aufgedrückt. Was also auch nicht besser ist als die Frage vom Anfang. Das Erleichternde an Zamolos Buch ist, dass sie am Ende den versöhnlichen Ton des Aus-Fehlern-lernen anschlägt.

In diesem Land gibt es offensichtlichen Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, die wir jeden Tag bekämpfen müssen. Doch diesen Kampf können wir schon im Kleinen und im Alltag von jedem von uns beginnen, indem wir sensibler werden, genauer hinschauen und hinhören – und uns selbst ein Stück zurücknehmen, wenn es um Neugierde oder die damit verbunden Bestätigung von wie auch immer gearteten Annahmen geht. Zamolo fasst das als »Read + Watch + Listen = Grow« zusammen. Das stände uns allen gut zu Gesicht. Die Lektüre dieses Buches ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.

Lucia Zamolo: Jeden Tag Spaghetti, Bohem Press, 2022, 128 Seiten, ab 12, 16 Euro