Aus dem Tunnel ins Leben

Tunnel

Büchergutscheine, wie sie jetzt bestimmt wieder tausendfach unterm Weihnachtsbaum gelegen haben, sind ja eher Verlegenheitsgeschenke. Man kennt sich nicht genug, kennt auch nicht den Geschmack des zu Beschenkenden. Auch traut man sich nicht, beherzt etwas zu überreichen, was man selbst gern lesen würde. Und irgendwas muss man ja schenken …

Jetzt gegen das beste Buch des Jahres tauschen

Aber genug gelästert. Büchergutscheine sind klasse, denn die glücklich Beschenkten können sie jetzt (in ihrer Lieblingsbuchhandlung und nicht beim grausamen Amazon) in das beste Buch des Jahres tauschen (das sie hoffentlich noch nicht gelesen haben).
Und das wird hier jetzt einfach mal so gesagt, obwohl auch dieses Jahr einige außerordentlich gute Bücher veröffentlicht wurden, vor allem exzellente Graphic Novels und einige besonders schöne Bilderbücher. Also, gleich mal losgehen,  Büchergutschein gegen Nächte im Tunnel von Anna Woltz eintauschen!

»Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben«

Ein Buch, das im Krieg spielt? Das von schrecklicher Angst, lebensbedrohlicher Krankheit, Verkrüppelung und Beklemmung erzählt? Das von brutaler Armut, krassen Klassenunterschieden und gemeinen gesellschaftlichen Zwängen handelt? Und am Ende eine der Hauptpersonen stirbt?
»Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das. Jetzt schon, bevor ich anfange«, sagt Ella gleich zu Anfang. »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da.
Unser Leben fängt gerade erst jetzt an.«

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Ja, das ist das beste Buch! Weil die Figuren so absolut liebenswert sind! Allen voran die Erzählerin, die 14-jährige Ella. Sie ist gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, Kinderlähmung, für viele ein Todesurteil, bevor es eine Impfung dagegen gab. Weil auch die Atemmuskulatur gelähmt werden und man grausam ersticken kann. Ella hat Wochen in einer sogenannten eisernen Lunge eingesperrt gelegen. Ihr linkes Bein wird für immer teilweise gelähmt und verdreht bleiben. Dazu eine Panik vor engen Räumen und dem Gefühl eingesperrt zu sein.

Von zu Hause weggelaufen, um zu helfen

Sie begegnet Quinn, die vom Landsitz ihrer reichen Familie irgendwo in der friedlichen Countryside mit einem riesigen Koffer und einer Tasche voll mit Mutters Schmuck nach London weggelaufen ist. Sie will im Krankenhaus als Sanitäterin arbeiten, irgendetwas tun, um den Menschen in der bombardierten Stadt zu helfen. Dass sie fast noch ein Kind ist, hält sie nicht ab. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich sofort einziehen lassen.« Auf Ellas Einwand »Du bist doch erst fünfzehn?« antwortet Quinn wütend und für Ella schockierend unverblümt: »Das ist doch wohl egal? Ich habe keinen Pimmel, das finden sie das größte Problem.«
Außerdem sucht Quinn ihren älteren Bruder Sebastian in der Hauptstadt, dem einzigen in ihrer arroganten und gefühlskalten Very-stiff-upper-lip-Familie, dem sie sich in ihrem gemeinsamen Freiheitsdrang und Anderssein verbunden fühlt. Aber Sebastian scheint ein Faschist geworden zu sein. Sie muss ihren Bruder finden und zur Rede stellen.

London Blitz

Woltz wollte vom »London Blitz« erzählen, den massiven Luftangriffen, denen die Menschen in London im zweiten Weltkrieg durch Hitlers Bombardierungen ausgesetzt waren. Außerhalb Englands ist wenig über das Leid und die Entbehrungen der Menschen in der britischen Hauptstadt bekannt, die Nacht für Nacht vor den Bomben in den stickigen Bahnhöfen und Tunneln der Tube, der U-Bahn, Schutz suchen. Anfangs alles sehr provisorisch, Alte, Junge, Familien mit kleinen Kindern und Babys, die kreuz und quer auf dem blanken Bahnsteig und den nachts stillgelegten Gleisen in den Schächten liegen, mit einem stinkenden Eimer hinter einem Fetzen Stoff als Klo.

Eine Extremsituation, wie die Pandemie

Woltz fand es auch als eine Extremsituation interessant, die wie die Pandemie alle betrifft. Die für alle alles ändert, auf die alle reagieren und mit der man sich arrangieren muss, um zu überleben, ohne zuvor etwas Vergleichbares erfahren zu haben und sich darauf einstellen zu können. Eine weitreichende Veränderung, die vor allem junge Menschen mit eben erst wachsenden Träumen, Plänen und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, brutal ausgebremst hat.

Furchtbar aktuell

Ella, Quinn, Jay, Ellas kleiner Bruder Robbie und auch Sebastian, jeder einzelne ist absolut lebendig, vielschichtig und liebenswert. Man möchte sie alle kennenlernen, mit ihnen im Dunkeln ausharren, durch die Straßen Londons ziehen, kämpfen, helfen. Das sind keine Figuren aus einem Historiendrama. Woltz lässt sie zeitlos jung, ehrlich und authentisch miteinander reden. Andrea Kluitmann hat es bewährt und ungeheuer frisch übersetzt. Der Carlsen Verlag hat dieses Mal Anna Woltz‘ Buch auch in einen sehr schönen Buchumschlag gehüllt.
In ihren schlimmsten Albträumen hätte Woltz es sich nicht träumen lassen, dass, wenn ihr Buch erscheint, tatsächlich wieder Krieg in Europa geführt wird und Menschen erneut vor Bombenangriffen in die U-Bahn flüchten müssen.

»Ich kann mich entscheiden«

Auch wegen der furchtbaren Aktualität ist Nächte im Tunnel das beste Buch des Jahres.
Vor allem aber ist es auf eine zauberhafte, herzzerreißende Art lebensbejahend. Es erzählt davon, wie es ist, jung zu sein, die Welt entdecken zu wollen, Menschen kennenzulernen, sich auszuprobieren. Wie man etwas finden möchte, das einen glücklich macht. Man möchte neugierig bleiben, etwas wagen, nicht aufgeben, nichts als in Stein gemeißelt und unausweichlich vorbestimmt hinnehmen, sich nicht lähmen lassen. Ich kann mich entscheiden, denkt Ella, als nachts erneut der Fliegeralarm losgeht, die Flakgeschütze sich in Stellung bringen und sie in der Ferne das Dröhnen von Motoren hört. In Nächten im Tunnel können auch Tage eines neuen Lebens beginnen. Auf jeden Fall sollten sie der Beginn eines neuen Lesejahres sein.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14

Der Krieg und die Kinder

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Dieser Tage vor 80 Jahren löste Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus und stürzte die Menschheit in eine Katastrophe, deren Auswirkungen zum Teil heute noch spürbar sind. Dass davon auch die Kinder betroffen waren, ist eine Binse. Wie genau jedoch das Leben der Kinder und Jugendlichen vom Krieg beeinflusst wurde, zeigen momentan zwei Bücher.
Ganz aktuell ist Darstellung der Erlebnisse des jungen Paul Haentjes, der 1943 in Köln Flakhelfer wird.
Was sich zunächst wie ein Abenteuer mit den Kameraden aus der Schule und der HJ anhört, wird bald zu einer bedrohlichen Angelegenheit.

Eine deutsche Jugend

Paul ist für die damalige Zeit »typisch deutsch« aufgewachsen. Das Regime stellt er nicht infrage, er wird mit zehn Jahren Mitglied in der Hitler-Jugend, interessiert sich für alles, was mit Militaria und der Verteidigung des Vaterlandes zu tun hat. Die Jugendlichen an den Flugabwehrkanonen konkurrieren mit anderen Flakstellungen um die meisten Abschüsse.
Doch selbst nach einem Jahr ist der ursprünglich auf ein halbes Jahr angedachte Einsatz immer noch nicht zu Ende. Die Stimmung bei Paul und den Kameraden kippt.
Paul erzählt in Briefen seinem Bruder Werner davon, und sein Ton wird im Laufe der Zeit immer sarkastischer.

Von der Front in die Kriegsgefangenschaft

So wird Paul im Krieg erwachsen, er meldet sich zum Militär, wird Soldat und noch im März 1945 an die Front nach Plauen geschickt – obwohl die Alliierten und die Russen bereits im Land sind. Schlussendlich stellt sich Paul den Amerikanern und erlebt das Ende des Krieges als Gefangener in den fürchterlichen Rheinwiesenlagern. Doch Paul übersteht auch das, vielleicht weil sein Glaube an Gott ihm Kraft gibt, vielleicht weil er einfach Glück hat. Erstaunlich ist, dass er wohl nie über seine verlorene Jugend verbitterte.

Pauls Geschichte, ein Tatsachenbericht, erzählt seine Tochter Dorothee auf eine sehr sachliche Art, die nicht bewertet. Sie druckt die erhaltenen Briefe von Paul ab, lässt ihn somit selbst zu Wort kommen, zeigt Fotos von ihm mit seinen Kameraden. Und in unzähligen Info-Kästen liefert sie Hintergrundwissen zum Leben in Nazi-Deutschland, den politischen Vorgängen, den Kriegsgeschehnissen, sodass sie jungen Leser_innen ein komplexes Bild jener Zeit vermittelt und möglicherweise deren Interesse an dem Thema weckt.
Gerade, dass Jugendliche als Helfer herangezogen wurden und noch kurz vor Kriegsende an die Front geschickt wurden, macht wieder einmal eindrücklich klar, wie verabscheuungswürdig Krieg ist – damals, heute, in Zukunft, in jeder Art, die es gibt.

Antikriegs-Kinderroman

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Die Verdammung von Krieg ist auch das Anliegen von Erika Mann gewesen, die heute vor 50 Jahren in Zürich starb. Im amerikanischen Exil schrieb sie bereits 1942 den Roman Zehn jagen Mr. X.
Darin treffen in der fiktiven kalifornischen Hafenstadt El Peso zehn Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern im Internat »Neue Welt« aufeinander. Als Erzählerin fungiert die Journalistin »Depesche«, die als mütterliche Freundin die Kinder bei ihren Aktionen gegen Hitler und den Krieg unterstützt.
Als ein geheimnisvoller Mann in El Peso auftaucht, beginnt eine wendungsreiche Spionage-Geschichte.

Vereinte Kinder gegen das Böse

Erika Mann erzählt im Stil von Erich Kästner, stellt sich auf die Seite der Kinder und lässt einen Teil von ihnen, ihre Erlebnisse in Europa während des Krieges erzählen.
Ihre Idee, dass sich die Kinder als »Vereinte Kinder« zusammentun und ihre unterschiedlichen Wurzeln feiern und dennoch gemeinsam gegen das Böse kämpfen, ist ein Verweis auf die Bildung der Vereinten Nationen, die Anfang der 1940er-Jahre gerade im Entstehen waren.
Den Gedanken, dass man über nationale Grenzen hinweg gemeinsam gegen das Böse kämpfen sollte und so viel mehr erreichen kann, den jungen Leser_innen auf diesem Wege näherzubringen ist das große Verdienst dieses Buches.
Der Geschichte, die Erika Mann auf Englisch geschrieben hat, ist das Alter durchaus und der politische Anspruch auf jeden Fall anzumerken, weshalb die Lektüre für junge Leser_innen eventuell nicht immer ganz einfach ist. Doch ein Glossar erläutert so wichtige Begriffe wie »Fünfte Kolonne«, »Minzjulep« oder historische Persönlichkeiten wie Hirohito oder Abraham Lincoln.

Eine authentische Stimme aus der Vergangenheit gegen den Krieg

Dass Erika Mann bereits 1942, als das Ende des Krieges noch lange nicht abzusehen und die schlimmsten Gräuel noch nicht geschehen waren, so ein vehementes Dokument gegen Hitler und den Krieg verfasste, berührt mich. Sie gehört für mich so auf eine gewissen Art zu den Widerstandskämpfern – zwar aus einer anderen Position und vom anderen Ende der Welt –, die seit Jahren immer wieder gegen das Regime schrieb und agierte. Sich dabei nicht so sehr an Erwachsene, sondern an die Kinder zu richten und von deren Schicksalen zu erzählen, zeigt, dass sie die Kinder als Zielgruppe für die wesentlich verständigeren hielt. Kinder können sich anscheinend leichter über persönliche Befindlichkeiten und Ansprüche hinwegsetzen. Sie sehen die Gefahr und finden im Kampf gegen das Böse gemeinsam. Erika Mann weckt so die Hoffnung, dass die nachkommenden Generationen nicht wieder so einen Krieg anfangen.
Wer weiß, was sie heute über die herrschenden Populisten geschrieben hätte … Vermutlich nicht viel anderes.

Dorothee Haentjes-Holländer: Paul und der Krieg. Als 15-Jähriger im Zweiten Weltkrieg, arsEdition, 2019, 144 Seiten, ab 12, 15 Euro

Erika Mann: Zehn jagen Mr. X, Übersetzung: Elga Abramowitz, Rowohlt rotfuchs, 2019, 270 Seiten, ab 12, 15 Euro

Deutsche Fluchttraumata

fluchtGeschichten aus Büchern triggern mich aus den unteschiedlichsten Gründen an, das können spannende Figuren sein, fremde Welten, ferne historische Ereignisse oder politische Aufarbeitung. Bei dem Buch Salz für die See von Ruta Septeys nun wird ein Teil meiner Familiengeschichte thematisiert, nämlich die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen am Ende des zweiten Weltkrieges. Die literarische Umsetzung dieser traumatischen Erlebnisse ist somit für mich quasi ein Muss, da meine Mutter genau das durchgemacht hat. Anfang der 2000er-Jahre war es die Lektüre von Günter Grass‘ Im Krebsgang. Dieses Mal jedoch ist es ein Jugendbuch, das sich mit diesem düsteren Kapitel beschäftigt. Zunächst einmal habe ich recherchiert, ob es das erste ist, das über die Ereignisse im Januar 1945 für junge Leser berichtet. Ist es nicht. Bereits 1962 veröffentlichte Willi Fuhrmann seinen Roman Das Jahr der Wölfe, in dem er genau davon berichtet. So habe ich also beide Bücher gelesen.

Die Lektüre solch trauriger Bücher mag auf den ersten Blick nicht besonders anregend  sein, und doch ist es hier und jetzt quasi ein Muss, sich mit diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Denn der Blick zurück erinnert uns dran, was unsere Eltern und Großeltern erfahren haben und was uns in den Genen steckt. Gleichzeitig mahnen diese Geschichten, dass wir gegenüber den Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren und Monaten zu uns gekommen sind und weiterhin kommen, noch mitfühlender sein sollten. Damit meine ich nicht die vielen tollen Helfer und Unterstützer, sondern diejenigen, die Obergrenzen diskutieren, den Familiennachzug begrenzen wollen und nur eingeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen für Menschen aus Kriegsgebieten erteilen wollen.

fluchtSowohl Sepetys als auch Fährmann thematisieren nun also die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen im bitterkalten Januar 1945, als die Rote Armee vorrückt. Viel zu spät ehaben die Menschen die Erlaubnis erhalten, die Heimat verlassen und sich in Sicherheit bringen zu dürfen.
Fährmann schildert die Erlebnisse der Familie Bienmann, detailliert und mit allem Vor und Zurück, das es im Laufe der Wochen und Monate gab: Ein Dorf nach dem anderen wird von den Russen eingenommen, rasch werden Fuhrwagen gepackt, das Nötigste mitgenommen, dann schließt sich die Familie dem Treck an, der sich durch Schnee und Matsch schließlich über das Haff auf die Frische Nehrung zubewegt. Die Kälte setzt den Menschen zu, ein Dach für die Nacht zu finden wird von Tag zu Tag schwieriger. Hinzu kommt, dass Mutter Bienmann schwanger ist und schließlich eine Tochter zur Welt bringt. In Gotenhafen weigert sich die Mutter, das Schiff „Wilhelm Gustolff“ zu besteigen, das die Flüchtenden nach Westdeutschland bringen soll. Ein Glück, wie sich für die Familie später herausstellen soll.
Die Begegnungen mit den Russen verlaufen für die Bienmanns relativ glimpflich, sie verlieren ihre Wertsachen und Pferde, aber nicht ihr Leben. Sie schlagen sich weiter nach Westen durch, erleben das Ende des Krieges, brauchen aber auch dann noch ein weiteres halbes Jahr, um endgültig in einer neuen Heimat anzukommen.

Im aktuellen Roman Salz für die See, souverän übersetzt von Henning Ahrens, treffen auf der Flucht aus Ostpreußen drei Jugendliche im Treck aufeinander: der Deutsche Florian, die Polin Emilia und die Litauerin Joana. Wider Willen werden sie zu einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammen mit drei weiteren Menschen über das Haff zieht und es in Gotenhafen auf die „Gustloff“ schafft. Dort bringt Emilia, die von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde, eine Tochter zur Welt. Das Baby überlebt in den Armen von Florian den Untergang des Schiffes. Zusammen mit Joana, in die sich Florian im Laufe der Flucht verliebt, gründen die drei später eine Familie.

Ebenso wie Fährmann, der als Vertreter des engagierten Realismus gilt, hat die US-Amerikanerin Sepetys, die litauische Vorfahren hat, für ihren Roman ziemlich akkurat recherchiert und eine aktuelle Variante dieses Flucht- und Vertreibungsthemas geliefert. Die Komponenten wie Kälte, russische Tiefflieger und Panzer, ins Eis einbrechende Fuhrwerke, die Verzweiflung der Menschen finden sich in beiden Romanen. Ohne sie wäre ein Flucht-aus-Ostpreußen-Roman auch nicht denkbar. Interessant bei Sepetys ist, dass auch Litauer und Polen im Treck nach Westen flüchteten. Den jungen Lesern wird somit gleich klar gemacht, dass die Vertreibung also mehr war, als ein rein deutsches Schicksal.
Bleibt Fährmann, der seinen Roman vor über 50 Jahren verfasst hat, bei einer klassisch auktorialen Erzählweise, so hat sich Sepetys für wechselnde Ich-Perspektiven entschieden. Neben den drei Flüchtenden Figuren erzählt zudem noch der junge Nazi Alfred von seinen Erlebnissen als Matrose auf der „Gustloff“. Alle vier Erzähler tragen zusätzlich zu den entsetzlichen Kriegserlebnissen ihr ganz persönliches Päckchen, von denen sie dem Leser zwar erzählen, ihren Gefährten jedoch erst nach und nach. Die Figur des verbohrten Alfred ist von allen vieren dabei am schwersten zu ertragen, da hier ein uneinsichtiger Jungnazi gezeigt wird, der wegen seiner Überheblichkeit gepaart mit Trotteligkeit nicht ganz überzeugend wirkt.
Joana, Florian und Emilia jedoch wachsen einem ans Herz. Man wünscht ihnen, dass die Geschichte gut für sie ausgeht – was bei diesem tragischen Thema natürlich nur bedingt der Fall sein kann. Sepetys Romankonstruktion aus Perspektivwechseln und Cliffhangern hat mich dann doch ziemlich in den Bann gezogen. Der einzige Wermutstropfen an der Erzählart ist, dass durch den Perspektivwechsel manches redundant wird.
Doch obwohl man als Erwachsener das Ende der „Gustloff“ kennt – deren Untergang hier etwas zu sehr der Titanic-Verfilmung von James Cameron erinnert (hier scheint die Recherche versagt zu haben…) –, will man wissen, wie es mit den Figuren weitergeht. Für junge Lesende ist Salz für die See somit auf jeden Fall eine spannende Aufbereitung dieses wichtigen Themas.

Die Beschäftigung mit Willi Fährmann in diesem Zusammenhang war für mich zudem noch eine echte Entdeckung. Irgendwie ist dieser stille Autor, der seit über 50 Jahren Kinder- und Jugendbücher schreibt, völlig an mir vorbeigegangen. Eine unverzeihliche Lücke, die ich schleunigst schließen muss. Mag Das Jahr der Wölfe mittlerweile durch Erzählart und Sprache etwas altmodisch und betulich wirken, so ist es für mich doch eine vertraute Stimme, die dort spricht. Denn Ähnliches höre ich von meiner nun über 80-jährigen Mutter immer wieder, die als Neunjährige aus Königsberg fliehen musste und sich selbst heute noch als „Flüchtling“ bezeichnet. So schrecklich das alles damals war, und so glücklich ich mich schätzen kann, es nicht erlebt zu haben, umso mehr begreife ich nun, dass ich ein Kind von Geflüchteten bin. Hätte meine Oma mit ihren vier Kindern es nicht bis nach Schleswig-Holstein geschafft und hier keine Aufnahme gefunden, es wäre alles anders gekommen.

Womit wir zurück in die Gegenwart gelangen, in der immer noch viele Menschen in diesem Land Geflüchteten mit Abneigung und Hass begegnen. Zur Erinnerung: Fast zwölf Millionen Menschen flüchteten nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat in ein zerstörtes Deutschland (über die komplexen Ursachen und Gründe von Flucht und Vertreibung kann ich hier nicht ausführlich diskutieren), wo die Menschen noch weniger hatten als wir jetzt. Und heute regen sich manche über nicht mal eine Millionen Menschen auf, die aus Not ihre Heimat verlassen und zu uns kommen, um zu überleben. Hier sind Mitgefühl und Herz gefragt, nicht Missgunst und Hass.

Sepetys und Fährmann jedenfalls halten die Erinnerung an unsere eigene Geschichte wach und mahnen uns damit auch, ganz nach dem Kategorischen Imperativ Kants, uns anderen gegenüber so zu verhalten, wie wir selbst behandelt werden wollen: Niemand von uns will je flüchten müssen, und niemand von uns möchte mit solcher Missachtung behandelt werden, wie es momentan noch viel zu oft vorkommt.
Wer kann, befrage zu den Fluchterfahrungen der Deutschen seine Großeltern.
Ansonsten lest diese Bücher.

Ruta Sepetys: Salz für die See, Übersetzung: Henning Ahrens, Königskinder, 2016, 406 Seiten, 19,99 Euro

Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe, Arena, 1962 (31. Auflage 2015), 219 Seiten, 5,99 Euro

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[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro

[Jugendrezension] Was für ein Mensch willst du sein?

safierWenn ich an David Safier denke, kommen mir zuerst Komödien wie Mieses Karma oder Jesus liebt mich in den Sinn. Doch sein neues Buch 28 Tage lang ist anders: eine Geschichte über junge Leute im Widerstand gegen die Nazis. Safier hat es geschrieben in Gedenken an seine Großeltern, die in Buchenwald und Lodz umgekommen sind.

Polen, 1943: Das Leben im Warschauer Ghetto ist geprägt von Armut, Hunger und Furcht. Um ihre kleine Schwester Hannah durchzubringen, schmuggelt die 16-jährige Mira unter Lebensgefahr Nahrungsmittel. Die Mutter ist am Selbstmord des Vaters zerbrochen, der Bruder Simon lässt sich nicht blicken. Kraft gibt Mira ihr Freund Daniel, der in einem Waisenhaus lebt und sich um kleine Kinder kümmert.
Dann trifft Mira Amos. Er gehört einer jüdischen Untergrundorganisation an, die Widerstand bis in den Tod gegen die Deutschen leisten will. Amos ist überzeugt davon, dass diese sie alle töten werden.
Die Ereignisse überschlagen sich. Die Bewohner des Ghettos sollen „umgesiedelt“ werden. Mira gelingt es, rechtzeitig unterzutauchen. Sie beschließt, sich Amos und den anderen anzuschließen.
Die jüdische Untergrundorganisation kann eine Weile Widerstand leisten: 28 Tage lang. 28 Tage hat Mira Zeit, ihr Leben zu leben, ihre Liebe zu finden und herauszubekommen, was für ein Mensch sie sein will.

Den Aufstand im Warschauer Ghetto hat es wirklich gegeben. Die Hauptperson des Romans, Mira Weiss, ist ausgedacht. Sie erlebt, was die Aufständischen damals erlebt haben. Junge Leute lehnen sich gegen eine Übermacht auf, obwohl sie keine Chance haben. Sie machen Schlimmes durch, müssen Kameraden zurücklassen, sehen Menschen sterben und töten selbst. Dadurch verändern sie sich. Inmitten dieses Wahnsinns erleben sie das Gefühl der Freiheit.

David Safier schreibt in einer modernen Sprache, was aber passt. Dadurch versetzt man sich gut in die Personen hinein und bekommt das Geschehen hautnah mit. Gebannt habe ich es in einem Rutsch verschlungen.

Beim Lesen stellt sich die universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein? Jemand, der sich wehrt? Jemand, der sein Leben für andere opfert oder der andere für sein Leben preisgibt? Wie würde man an Miras Stelle handeln?

Auch wenn das Buch vom Zweiten Weltkrieg handelt, sind seine Themen aktuell und deshalb wirklich lesenswert.

28 Tage lang ist ein Buch über Mut und Feigheit. Über Fürchten und Wünschen. Über Liebe und Hass. Über Leben und Tod. Die Geschichte ist oft traurig und schockierend. Ich las sie trotzdem gern. Sie ist spannend, und ich habe darin viel über Menschen gelernt. Es gibt in ihr großartige Stellen von Zusammenhalt und Barmherzigkeit. „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung“, sagt ein italienisches Sprichwort.

Juliane (15)

David Safier: 28 Tage lang, Rowohlt, 2014, 416 Seiten, ab 13, 16,95 Euro

Entronnen

kindertransportDie Zeitzeugen, die den zweiten Weltkrieg und vor allem die Judenverfolgung überlebt haben, werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, die wenigen, die noch erzählen können, anzuhören. So kann man jetzt die Geschichte der Jüdin Marion Charles nachlesen und zwar in ihrem autobiografischen Roman Ich war ein Glückskind, den Anne Braun souverän ins Deutsche übersetzt hat.

Mit Hilfe von alten Briefen und ihrem Tagebuch erzählt Marion Charles der Schülerin Anna von ihrem Schicksal. Marion wächst in Berlin-Dahlem in einer wohlhabenden Fabrikanten-Familie auf. Die Familie empfindet sich nicht als jüdisch, sondern als durch und durch deutsch. Marions Vater hat im ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und ist schwer verletzt zurückgekehrt. Das Gebaren der Nazis scheint die Familie zunächst nicht zu betreffen.
Doch mit der Progromnacht vom 9. November 1938 ändert sich alles. Die Familie muss ihre Villa verlassen und in eine kleine Wohnung ziehen. Marion muss sich von Möbeln und Spielzeug trennen. Auch in ihrer alten Schule kann sie nicht mehr bleiben, sie wechselt auf eine rein jüdische Schule. Da die Situation immer bedrohlicher wird, beschließen Marions Eltern, ihre Tochter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen.

Marion entkommt den Nazihäschern, bricht aber dennoch in eine ungewisse Zukunft auf. Denn in England wird sie nur scheinbar mit offenen Armen empfangen. Die 12-jährige muss feststellen, dass es den Menschen, die ihr helfen, nicht unbedingt nur um sie geht. So will die erste Frau ihr Image als Wohltäterin in der Gemeinde aufpolieren, die zweite Familie ist auf das Kostgeld angewiesen, das sie für Marions Unterbringung erhält, und in der dritten Station trifft Marion auf eine Antisemitin. Trotz all dieser Widrigkeiten verliert das Mädchen jedoch nie die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, auch wenn es Jahre dauern soll …

Der Ton in dem Marion Charles ihre Geschichte erzählt ist überaus persönlich und dadurch zutiefst authentisch. Dabei ist sie nicht von Ressentiments oder Hass geprägt, sondern vom Wunsch durchdrungen, gegen das Vergessen zu erzählen. Gebannt verschlingt man dieses Schicksal und sieht so über ein paar strukturelle Schwächen hinweg. So zitiert Charles nämlich anfangs die Briefe der Eltern nicht, und der Leser erfährt nichts von dem bedrohten Leben in Deutschland. Dies ändert sich jedoch im hinteren Teil, so dass eine Ahnung von den Schrecken in Berlin entsteht, aber auch von dem Mut und der Gewitztheit von Marions Mutter, die den Nazis ebenfalls entkommt.

Marion Charles‘ Ich war ein Glückskind ist ein eindrucksvolles Zeugnis einer Facette der Judenverfolgung. Ihre Sehnsucht nach den Eltern berührt. Dafür, dass Marion der Vernichtung entgangen ist, hat sie also durchaus einen Preis gezahlt. Dennoch hält sie sich selbst für ein Glückskind und kehrt später sogar nach Deutschland zurück. An Judith Kerr und Anne Frank kommt Marion Charles zwar nicht heran, doch sie liefert jungen Lesern eine weitere Stimme, die die Geschichte einer jungen Jüdin erzählt, die glücklicherweise überlebt hat. Dass Marion Charles bei all dem nicht verbittert ist, ist wahrscheinlich das Beeindruckendste.

Marion Charles: Ich war ein Glückskind. Mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport, Übersetzung: Anne Braun, cbj, 2013, 224 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Bis ans Ende der Welt

FluchtIn diesen Wochen häufen sich in den seriösen Medien wieder einmal die Berichte über Flüchtlinge aus Afrika, die vor der italienischen Insel Lampedusa Schiffbruch erleiden. Die Glücklicheren unter ihnen schaffen es ans Ufer, viele, zu viele, sind dieser Tage im Mittelmeer ertrunken. Sie ermahnen uns, die wir wohlig, warm und behütet zu Hause sitzen, dass Flucht kein Spaß ist. Niemand flüchtet aus seiner Heimat aus Jux und Dollerei, sondern aus überlebenswichtiger Notwendigkeit.

Auch Deutschland kann auf eine – vielschichtige und komplizierte – Geschichte der Flucht zurückblicken. Erst zwei Generationen liegt es her, dass Juden von hier flüchteten, vertrieben von ihren eigenen Landsleuten. Ein Teil von ihnen nahm ebenfalls den Weg über das Mittelmeer, nur in umgekehrte Richtung, weiter nach Shanghai. Von diesen Menschen erzählt Anne Voorhoeve in ihrem neuen, eindrucksvollen Roman Nanking Road.
Wie schon in ihrem Buch Liverpool Street geht es um die Familie Mangold, die nun in einer anderen Variante des Lebens, die Möglichkeit bekommt auszuwandern.

Mit wenigen Dingen machen sich Ziska und ihre Eltern im Winter 1938 auf den Weg nach Genua, wo sie einen Dampfer besteigen wollen. Onkel Ernst mit Familie bleibt zurück, ebenso Ziskas beste Freundin Bekka. Obwohl die Mangolds gültige Ausreisepapiere haben müssen sie immer wieder mit den Schikanen der Nazis kämpfen, bis sie auf dem Schiff sind. Hatte die 11-jährige Zizka bis dahin geglaubt, dass das Klassendenken ein Ende hat, sobald Deutschland hinter ihnen liegt und sie sich auf dem Schiff befinden, so sieht sie sich auch an Bord mit dauerhaften Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Trost bietet da zumindest der zwei Jahre ältere Mischa Konitzer, ebenfalls Jude, der allerdings aus einer reichen Zahnarztfamilie stammt. Gemeinsam durchstehen die Jugendlichen die dreiwöchige Seereise, schmieden Pläne, wo sie sich im Notfall verstecken, und erleben die Ankunft in Shanghai.
In der von den Japanern besetzten Stadt fanden europäische Juden ohne Visum Aufnahme. In Sicherheit waren sie deshalb jedoch noch nicht. Zunächst kommen sie in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft unter, in der Privatsphäre nicht existiert. Ziska erlebt Hunger und Armut, sowohl bei den jüdischen Flüchtlingen, als auch  bei den chinesischen Einheimischen. Mühsam schlagen sich ihre Eltern mit körperlich anstrengenden Jobs durch. Der Vater, der eigentlich Anwalt ist, besserte Kleidungsstücke aus, die Mutter arbeitet als Abwäscherin. Die kleine Familie lebt in zwei winzigen Zimmern ohne Toilette und Küche.
Konitzers hingegen beziehen eine großzügige Altbauwohnung im französischen Sektor und scheinen ihr altes Leben fortführen zu können. Sie helfen den Mangolds, wo sie nur können.
Während all der Zeit versucht Ziska, brieflichen Kontakt zu ihrer besten Freundin Bekka und ihrem Onkel Ernst zu halten. Mit Hilfe eines Engländers, den sie auf dem Schiff kennengelernt hat, schafft sie es, Bekka auf die Liste für die Kinderverschickung nach England zu setzten. Ernst hingegen schlägt sich mit der Transsibirischen Eisenbahn und dem Schiff nach Shanghai durch. Monate später er will seine Frau Ruth, Ziskas Tante, und seine Tochter aus Berlin herausholen. Doch mittlerweile ist der Krieg ausgebrochen.

Anne Voorhoeve, die mich bereits mit Unterland begeisterte, erzählt in Nanking Road eine hochkomplexe Fluchtgeschichte, die enorm viele Aspekte des zweiten Weltkriegs und des Schicksals der Juden thematisiert. Sie verwebt die Plotstränge so geschickt, dass sich alles wie selbstverständlich ergibt und nachvollziehbar bleibt. Ziskas Sicht auf die Geschehnisse und Zustände macht die Absurdität von Judenhass, Klassengesellschaft, Arm und Reich deutlich. Ziska, die aus einer zum evangelischen Glauben konvertierten und eigentlich nicht sehr religiösen Familie stammt, erlebt, wie unterschiedlich jüdische Flüchtlinge auf der Suche nach ihrer Identität und Heimat sind. Für manche ist Shanghai nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, andere wollen unbedingt nach Palästina. Ziska hingegen fühlt sich auch am Ende der Welt immer noch deutsch.

Neben dem Flüchtlingsschicksal und der Coming-of-Age-Geschichte von Ziska, in der es auch um Freundschaft über Jahre und Entfernungen hinweg geht, schafft Anne Voorhoeve es, die weltweite Dimension des Krieges differenziert zu illustrieren. Sind die Mangolds auch dem Krieg in Europa und dem Holocaust entkommen, so müssen sie in Shanghai den Ausbruch des Pazifischen Krieges miterleben. Die Japaner greifen die USA an, in der Folge wird auch das japanisch besetzte Shanghai bombardiert. In Ziskas Bekanntenkreis gibt es Tote und Verletzte. Flucht wird hier also nicht gleichgesetzt mit Rettung.
In vielen Dingen hat mich Voorhoeves Roman an Judith Kerrs Flucht-Trilogie-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erinnert. Voorhoeve führt das Flucht-Genre weiter, und dies auf eine moderne und packend zu lesende Art – und mit sehr viel Respekt und historischem Wissen. Emotional fiebert man mit Ziska und ihrer Familie mit, gleichzeitig lernt man unglaublich viel über eine Facette des zweiten Weltkriegs, die meines Wissens im Jugendbuchbereich noch nicht thematisiert wurde. Diese Erinnerung an die Shanghailänder ist ein wichtiger Beitrag, um jungen Lesern die globale Dimension dieser Katastrophe begreifbar zu machen.

In Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge könnte sich die deutsche Gesellschaft von diesem Roman eine gehörige Scheibe abschneiden, wenn es um die Aufnahme von Menschen in Not geht. Denn im Gegensatz zum China der 30er und 40er Jahre ist Deutschland ein reiches Land, das durchaus mehr Flüchtlingen Schutz gewähren und ihnen eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte.

Anne Voorhoeve: Nanking Road, Ravensburger Buchverlag,  2013, 480 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Kunst gegen Krieg

mondrianManche Bücher kommen mit Titeln daher, die erstmal verwundern, doch dann öffnet sich beim Lesen eine ganz wunderbare Welt. Apfelsinen für Mister Orange von der Niederländerin Truus Matti ist so ein Buch.

Hinter dem aprikot-orangenen Cover verbirgt sich eine Geschichte aus dem New York Mitte der 1940er Jahre. Der Protagonist Linus übernimmt den Job seines älteren Bruders und liefert für seinen Vater die Obst- und Gemüsebestellungen aus. Linus‘ ältester Bruder Albert hat sich nämlich freiwillig zur Armee gemeldet und wird in den Krieg in Europa ziehen. Die jüngeren Brüder in der Familie rücken also alle eine Position auf. Linus bekommt daher ein neues Bett, neue Schuhe und eben auch eine neue Aufgabe im Familienbetrieb. Bei seiner Tour nördlich der 53. Straße zwischen Central Park und East River lernt der Junge einen Maler kennen, dessen merkwürdigen Namen er sich nicht merken kann. Kurzerhand nennt er den Mann Mister Orange, weil dieser alle zwei Wochen eine Kiste Orangen bestellt.

Mit der Zeit lernen sich der Maler und der Botenjunge näher kennen. Linus entdeckt ein weißgestrichenes Atelier, in dem sonderbar abstrakte Bilder stehen, auf denen nur rote, blaue und gelbe Vierecke zu sehen sind. Er ist fasziniert von der hellen, klaren Atmosphäre, die ganz anders ist als die dunklen Blümchentapeten und die vollgestellten Zimmer zu Hause. Nach und nach eröffnet der Maler, den der erwachsene Leser ganz schnell als Piet Mondrian erkennt, dem Jungen die Welt der Kunst. Er erzählt ihm, dass er vor den Nazis fliehen musste, weil denen seine Kunst nicht passte. Linus ist hin und hergerissen, zwischen dem Stolz auf seinen großen Bruder Albert, der einem Superhelden gleich für das Gute kämpft, und den neuen Gedanken, die ihm Mondrian näherbringt. Er begreift, dass man auch mit Kunst gegen den Krieg wirken kann. Denn die Kunst kämpft dafür, dass es eine Zukunft gibt, in der die Vorstellungskraft frei bleibt.
Linus ist fasziniert, zumal sein Alltag in dieser Zeit von der Angst um den kämpfenden Bruder geprägt ist. Die ganze Familie fiebert jedem Brief von ihm entgegen. Albert versucht, hoffnungsvoll zu klingen. Aber nicht immer gibt es gut Nachrichten und auch der Tod drängt sich in Linus‘ Leben.

Truus Mattis Roman Apfelsinen für Mister Orange ist ein stilles Buch. New York ist hier die Stadt der Freiheit, in der verfolgte Künstler ihre Visionen umsetzen können. Linus findet unter seinem Bett die Comic-Hefte von Albert und dessen eigene Supermann-Zeichnungen. „Mister Super“ wird zu Linus‘ mutmachenden Begleiter im Geiste, der ihn in der merkwürdigen Zeit begleitet, in der auf einem anderen Kontinent Krieg geführt wird, dessen Auswirkungen jedoch auch in den Straßen von New York hautnah zu spüren sind.
Während Linus Obst- und Gemüse ausfährt, wird er erwachsen. Nicht nur, dass er mit der Angst um den großen Bruder leben muss, er lernt zudem, dass vorhandene Zustände nicht immer so bleiben müssen und das die Kunst einen enormen Einfluss auf die Zukunft und die Freiheit der Gedanken hat. Manchmal muss man nur eine Wand dafür weiß anmalen.

Mondrian arbeitet während dieser Geschichte an seinem letzten, unvollendeten Bild „Victory Boogie Woogie“. Es wird im Buch nirgendwo gezeigt, doch wenn man es nach der Lektüre im Internet recherchiert, ist es, als ob man in Mondrians Atelier steht und die vielen kleinen Klebestreifen auf der Leinwand erkennt, die Straßen von New York vor sich sieht und am liebsten mit Linus Boogie Woogie tanzen möchte – so wie er es schließlich macht, als er das Bild nach Mondrians Tod im Museum sieht.

Apfelsinen für Mister Orange, einfühlsam übersetzt von Verena Kiefer, fällt als Mischung aus Kunst- und Antikriegsroman aus dem Rahmen und ist daher ein kleines Schmuckstück. Der Roman zeigt eindringlich, dass selbst wenn der Krieg auf einem anderen Kontinent stattfindet, die Auseinandersetzung auch vor Ort gewichtige Auswirkungen hat. Und dass man nicht nur als Soldat gegen den Krieg kämpfen kann, sondern auch die Kunst eine nicht zu unterschätzende Kraft für Frieden und Freiheit ist.

Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange, Übersetzung: Verena Kiefer, Gerstenberg Verlag, 2013, 176 Seiten, ab 10, 12,95 Euro