Viel mehr als Hummus

Jerusalem

Israel als ein kompliziertes Land zu bezeichnen, wie der Titel eines aktuellen Spiegel-Bestsellers lautet, ist zu einfach und fast schon euphemistisch. Hoffnungslos verfahren beschreibt die Situation treffender. Warum das so ist, hat Anja Reumschüssel packend und anschaulich in ihrem ersten Jugendroman Über den Dächern von Jerusalem dargestellt.

Es geht vor allem um Menschen,
junge Menschen

Dabei ist es fast unmöglich, alle Perspektiven der unversöhnlich wirkenden Gegner und die damit verbundene Ansprüche auf den schmalen Streifen karges Land am östlichen Rand des Mittelmeeres wiederzugeben. Reumschüssel gelingt dies jedoch wunderbarerweise, indem sie jeweils zwei junge Menschen in der Gegenwart und zur Zeit der Gründung des Staates Israel nach dem zweiten Weltkrieg aufeinandertreffen lässt und aus ihrer Sicht erzählt. So rückt sie in den Fokus, dass es bei diesem Konflikt vor allem um Menschen geht, junge Menschen, die ein Leben ohne Angst, Krieg und Verfolgung ersehnen, ein Leben in Freiheit, frei von Repressalien, Armut und der permanenten Sorge vor Anschlägen, erschossen oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es ist ein Jahrtausende zurückreichender Streit, bei dem alle in doppelter Hinsicht beteiligt sind, als Betroffene und als Treffende.

Yerushalayim und Al-Quds

Schon der Titel Über den Dächern von Jerusalem ist klug gewählt, klingt doch bereits hier so vieles an: Der geradezu mythische, religiös aufgeladene Ort Jerusalem, der im Hebräischen Yerushalayim heißt und von den Palästinensern Al-Quds genannt wird. Dieser Ort hat für Juden, Moslems und Christen eine enorme Bedeutung, historisch und identitätsstiftend. Über den Dächern ist die Andeutung einer größeren und damit auch objektiveren, umfassenderen Perspektive, nicht nur auf die Stadt. Hier begegnen sich im Dezember 1947 die 15-Jährige Tessa und der gleichaltrige Mo. Die junge Jüdin hat das KZ überlebt, dort ihren kleinen Bruder und ihre Mutter sterben sehen. Jetzt ist sie auf abenteuerlichen und gefährlichen, weil illegalen Wegen aus einem Lager für Displaced Persons, für entwurzelte Menschen, nach Palästina gekommen, wohin ihr Vater kurz vor der Deportation geflohen ist und die Familie nicht mehr nachholen konnte. Der junge Moslem Mo hat seinen Vater ein Jahr zuvor bei einem Attentat verloren. Seitdem ist er als Ältester für seine Mutter und die drei kleineren Geschwister verantwortlich, musste die Schule abbrechen und schuftet in einer Metzgerei.

Eigentlich waren zwei Staaten geplant

Abends klettert er auf das Dach seines Elternhauses und trifft dort die im Nachbarhaus mit ihrem Vater und vielen weiteren Juden wohnende Therese, genannt Tessa. »Wenn er an Tessa dachte, dachte er an sein Zuhause … an seinen Lieblingsplatz auf dem Dach, wo er sich fühlte, als würde er über den Dingen schweben«, als Mo bereits mit seiner Familie das Haus verlassen hatte und zu Verwandten nach Bethlehem gezogen war. Wenige Monate zuvor, am 29. November 1947 war durch eine UN-Resolution der Weg zum Staat Israel geebnet worden. Die Briten, die das Land nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches regierten und von Arabern wie Juden gehasst wurden, zogen sich zurück, die innere Sicherheit war endgültig zerstört. Eigentlich waren damals zwei Staaten geplant: Israel und Palästina. Eigentlich …

Flüchtlingslager, in denen keine Flüchtlinge wohnen

Und damit begegnen die Lesenden in der Gegenwart der jungen Anat, die ihren Wehrdienst in der israelischen Armee leistet. Und dem jungen Palästinenser Karim aus einem Flüchtlingslager im Westjordanland. Dieser Satz enthält bereits zwei Reizwörter, die stellvertretend für die konträren, unvereinbaren Sichtweisen stehen: viele Israelis erkennen die Existenz Palästinas, auch nur die Möglichkeit eines gleichnamigen Nachbarstaates nicht an. Und auch nicht die von Palästinensern. Für die Fundamentalisten sind sie alles Araber und damit gefährliche Gewalttäter und Todfeinde. »Sie sah, wie der Junge um eine Mauerecke verschwand. Der Weg dahinter führte ins Aida-Flüchtlingscamp, das wusste sie. Auch, dass es schon lange kein richtiges Flüchtlingslager mehr war. Die meisten Bewohner waren dort geboren. Höchstens ihre Großeltern waren von irgendwo geflohen, aber das war nun wirklich lange her. Trotzdem wurden sogar die Babys hinter den hohen Betonmauern als Flüchtlinge bezeichnet. Irgendwann musste es aber auch mal gut sein, dachte Anat. Das sagte jedenfalls ihre Mutter immer.«

Religion stiftet Identität und treibt in die Radikalität

Die jungen Menschen, Leute wie Anat und Karim, Tessa und Mo, erleben und müssen sie tagtäglich ertragen – die Folgen dieses uralten Kampfes um ein kleines, geschichtsträchtiges  Stück Land. Religion spielt in allen Erzählungen eine fatale Rolle, sie stiftet Identität, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, des gemeinsamen WIR gegen DIE. Das Erlebte treibt auf beiden Seiten ursprünglich säkulare Menschen in den Fundamentalismus, in die Radikalität und den Extremismus.

Wegen Steinewerfens nach Militärrecht verurteilt

Die politische Journalistin Anja Reumschüssel hat sowohl einige Zeit in Israel, in Tel Aviv, als auch auf der anderen Seite der meterhohen, trennenden Mauer im Westjordanland gelebt. »Für eine Reportage habe ich palästinensische Jugendliche interviewt, die erst kürzlich aus Gefängnissen entlassen worden waren. Palästinensische Kinder und Jugendliche, denen zum Beispiel Steinewerfen vorgeworfen wird, werden nach Militärrecht behandelt«, schreibt Reumschüssel im Nachwort. »Sie erleben häufig Gewalt bei der Verhaftung und während der Haft, sie dürfen ihre Familien nicht sehen, erhalten keinen Schulunterricht und werden zu deutlich längeren Haftstrafen verurteilt als israelische Jugendliche, die für das gleich Vergehen vor ein Zivilgericht kommen.«

Die meisten wollen ein Ende der Gewalt

So wird die nächste Generation geprägt und die Spirale aus Hass und Gewalt immer weiter gedreht. Dass das nicht so sein muss, deutet Reumschüssel in ihrem sehr einfühlsamen und berührenden Roman an. Die meisten jungen Menschen wollen ein Ende der Gewalt. »Ich will kein Land, das auf Toten aufgebaut ist«, lässt sie Tessa ihrem Vater entgegnen, der für Israel terroristische Anschläge auf Moslems verübt. Komprimiert stellt die Autorin noch einmal die Positionen in einem Schlagabtausch zwischen Karim und Anats Mutter dar. Das Ende ist offen, doch versöhnlich und mit einer leisen Hoffnung. Die Israelis und Palästinenser, Juden und Moslems eint doch mehr als eine gemeinsame Vorliebe für Hummus.

Anja Reumschüssel: Über den Dächern von Jerusalem, Carlsen, 2023, 336 Seiten, ab 14, 16 Euro

Trümmerkinder

heul doch

Hamburg im Juni 1945. Der Krieg ist seit gut sechs Wochen zu Ende, als sich im neuen Roman von Kirsten Boie – Heul doch nicht, du lebst ja noch – die Wege von Jakob, Hermann und Traute kreuzen. Die drei Jugendlichen haben auf unterschiedliche Art unter den Folgen des Weltkrieges und der langjährigen Nazi-Diktatur zu leiden.

Hermann, der ehemalige HJ-Junge, muss zu Hause seinen kriegsversehrten Vater auf die Toilette im Treppenhaus schleppen. Im Krieg hat dieser beide Beine verloren und ist zutiefst verbittert. Hermann, der immer noch im braunen Hemd der Jugendorganisation herumläuft (ohne die Armbinde allerdings), fühlt sich samt seiner nationalsozialistischen Glaubenssätze verraten. Er verachtet die britischen Soldaten, die nun in der Stadt das Sagen haben.

Traute hingegen vermisst ihre Freundinnen, die beim Feuersturm 1943 ums Leben gekommen sind. Sie möchte so gern wieder mit anderen Kindern spielen. Dafür klaut sie ein wertvolles Brot aus der Backstube des Vaters. Das bleibt natürlich nicht unbemerkt, aber zunächst wird die ostpreußische Flüchtlingsfamilie beschuldigt, die in der Wohnung von Trautes Familie einquartiert ist. Das Zusammenleben mit sieben Personen auf engstem Raum gestaltet sich schwierig.

Jakob wiederum ist ein halbjüdischer Junge, dessen Mutter kurz vor Ende des Krieges doch noch nach Theresienstadt deportiert wurde. Der Vater, der als „jüdischversippt“ galt, musste in der Organisation Todt Zwangsarbeit leisten und kam dabei ums Leben. Jakob versteckt sich in den Ruinen und wird von einem ehemaligen Nachbarn mit Lebensmittel versorgt. Als der jedoch eines Tages nicht mehr kommt, muss der Junge sein Versteck verlassen. Er denkt, dass immer noch Krieg herrscht …

Drei Erzählperspektiven, drei Lebenseinstellungen

Im zeitlichen Rahmen von einer Woche schildert Boie das Leben in der zerbombten Hansestadt. Dies konsequent aus der Sicht der drei Jugendlichen, deren personale Erzählstränge sich beständig abwechseln. So kann Boie in die unterschiedlichen, ja konträren Gedankenwelten der Protagonisten quasi hineinkriechen. Hermann ist immer noch überzeugter Anhänger der Nazis, denkt in in deren Vokabular, hegt weiter die Vorurteile gegenüber Juden, verachtet die Besatzer, glaubt an Feindpropaganda und dass das deutsche Volk betrogen wurde.
Traute zeigt zunächst wenig Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Ostpreußen, mag deren Dialekt nicht. Sie kann und will vielleicht nicht nachvollziehen, was diese Menschen durchgemacht haben.
Jakob vermittelt den Lesenden die Ängste der Verfolgten. In seinem Versteck denkt er immer wieder an seine jüdische Mutter und was sie im Laufe der vergangenen Jahre alles nicht mehr durfte (z. B. Straßenbahn fahren, auf einer Bank sitzen). Ihre Kennkarte (der damalige Personalausweis) wurde mit einem J und dem Namen „Sara“ versehen, so dass sie für alle als Jüdin erkennbar war. Dass Jakob in seinem Versteck lange nicht weiß, dass der Krieg vorbei ist, wird über weite Strecken des Lesens zu einem spannend-irritierenden Rätsel – das natürlich am Ende aufgelöst wird.

Zertrümmerte Seelen, zertrümmerte Sprache

Kirsten Boie schafft es mit diesen drei Protagonist:innen, zu denen sich noch die Kinder Max und Adolf gesellen, ein kondensiertes Bild der deutschen Gesellschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zeichnen. Die Stadt liegt in Trümmern, und genauso sind die Seelen der Jugendlichen zertrümmert, was sich dann in elliptischen Sätzen sogar in einer zertrümmerten Sprache offenbart. Gleichzeitig sind die Überzeugungen, die zwölf Jahre das Land beherrscht haben noch da.
Das Zusammentreffen von Hermann und Jakob offenbart dann die verschobenen Sichtweisen der Nazis, die sich als Opfer der Alliierten generierten, obwohl sie den Krieg angezettelt haben. Jakobs stille Verwunderung über Hermanns seltsame Wut verdeutlicht eine Dramatik, mit der nicht nur die Jugendlichen im Roman zu kämpfen haben, sondern die deutsche Gesellschaft insgesamt, und das jahrelang: »In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.«

Es gab keine Stunde Null

Wenn im Geschichtsunterricht gelehrt wird, dass der Krieg mit der Kapitulation im Mai 1945 zu Ende war, so könnte man meinen, dass damit alles davor ausgelöscht war und die Menschen sofort bekehrt waren. Dass es aber diese Stunde Null, von der in Bezug auf die ersten Jahre nach dem Krieg immer gesprochen wird, nicht gab, sagte bereits Richard von Weizsäcker 1985 und sprach von einem »Neubeginn«. Das auch dieser Neubeginn nicht von einem Tag auf den nächsten startete, illustriert Kirsten Boie in ihrem Buch überaus anschaulich. Es ist der Kampf ums tägliche Überleben, das Organisieren von Lebensmitteln auf dem Schwarzmarkt, der Suche nach besser bezahlter Arbeit, der Suche nach Angehörigen, der Hoffnung auf ein Wiedersehen, der Hoffnung auf einen Neuanfang in einem anderen Land vielleicht. Lang geschürte Überzeugungen werden nicht einfach von heute auf morgen über Bord geworfen, das schwingt in dieser Geschichte mit. Viele dieser Überzeugungen sind leider auch heute noch vorhanden und bekommen wieder vermehrt Zulauf – was es zu verhindern gilt.
Kirsten Boies Heul doch nicht, du lebst ja noch liefert jungen Lesenden viel Material zum Nachdenken und Einfühlen in eine Zeit, in der die heutigen Großeltern Kind waren. Es ist jedoch kein schwarz-weißes Material, sondern vielmehr eine facettenreiche Darstellung einer Gesellschaft nach der Katastrophe, die so nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Städten Deutschlands zu finden war. Vielleicht ermutigt dieses Buch die Lesenden, ihre eigenen Großeltern nach deren Kindheit und Erlebnissen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu fragen – denn die Traumata aus Krieg und Verfolgung leben in uns ja bekanntermaßen weiter.

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch, Oetinger, 2022, 176 Seiten, ab 14, 14 Euro

Die Rechten erkennen

Juli ist Influencerin, trägt Zahnspange, lange braune Haare und erzählt auf ihrem YouTube-Kanal von ihrem Alltag. Soweit, so normal.
Juli ist eine erfundene Figur, mit der die Journalistin Lisa Duhm in ihrem Sachbuch Sie sind überall die Gefahr von scheinbar harmlosen rechten Influencern im Netz illustriert. Denn in Julis Filmchen schleichen sich nach und nach immer mehr unterschwellig rechte Tendenzen ein, manchmal sind es nur einzelne Sätze, manchmal ist es der schicke Leo, der einen Pulli mit dem Logo der Identitären Bewegung trägt. Als Julis Freundin Lotta ihr vorwirft rechts zu sein, ist Juli empört – denn sie hat doch nur ihre Meinung gesagt.

Von Alltagssorgen zum Hass

Juli mit ihren Alltagssorgen – auch in aktuellen Coronazeiten – klingt nachvollziehbar und plausibel. Aber Duhm zeigt in erklärenden Sachtexten zu den großen Themen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Meinungsfreiheit, Fake news oder Verschwörungserzählungen, wie perfide die Argumentationen von rechten Gruppierungen sein können. Es ist momentan nämlich alles andere als leicht, immer sofort klare Grenzen zwischen tolerablen Meinungsäußerungen und inakzeptabler Manipulation zu ziehen. Dafür muss man genau hinhören und hinsehen, man muss die Symbole der rechten Vereinigungen kennen und ihr Vokabular. Denn nur so kann man Hass und Hetze erkennen.

Grundlegende Bedeutungsklärungen

In leicht verständlichen Texten zeigt Duhm daher, wie schnell man in die rechte Szene rutschen kann, wenn man sich von Ideologen verführen lässt, ohne deren Absichten zu hinterfragen. Und wie schwierig es ist, dort wieder herauszukommen. Zudem liefert sie kurze Portraits der wichtigsten rechten Parteien und Gruppierungen, erklärt die Unterschiede zwischen Rechtspopulisten, Rechtsextremisten und Rechtsradikalen, Nazis, Neonazis, Faschisten und neuer Rechte – und listet die schlimmsten rechtsextremen Gewalttaten seit dem Jahr 2000 auf.

Sich gegen rechte Manipulation wappnen

Gerade die allgemeine Manipulierbarkeit der Menschen ist ihr bei all dem wichtig. Denn sich von anderen beeinflussen zu lassen ist durchaus menschlich. Kinder und Jugendliche müssen aber um diese Schwäche wissen, um sich dagegen wehren zu können. Da man als Eltern die Teens bei ihren Streifzügen durch das WWW jedoch nicht ständig begleiten und überwachen kann und will, ist gerade dieses Buch von Lisa Duhm so sinnvoll. Denn es gibt den Jugendlichen eine gut verständliche Aufklärung in Sachen Rechte im Netz an die Hand, sodass sie hoffentlich rasch deren Propaganda erkennen.
In einem abschließenden Quiz können die Lesenden ihr Wissen über die Rechten prüfen: Wofür stehen bestimmte Abkürzungen? Was darf man tatsächlich nicht sagen? Was war der meistgenutzte Hashtag? Das wird so einige (auch Erwachsene) sicher überraschen – doch genau das ist gut und hat den höchsten Lerneffekt. Dazu bekommen die Jugendlichen noch konkrete Hinweise, was sie tun und wie sie sich verhalten können, wenn ihnen oder anderen im realen Alltag Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit begegnet.
So sensibilisiert kann man hoffen, dass bei den Lesenden eine Immunisierung gegen rechtes Gedankengut stattfindet und sie sich dann später aktiv gegen die Verbreitung solcher Ideologien einsetzen.

Lisa Duhm: Sie sind überall. Gegen Faschismus in deinem Feed, Gabriel, 2021, ab 12, 15 Euro

Kluge Kämpferinnen

Abendliche Plauderei vor einiger Zeit mit einer jungen, früheren Kollegin, die ein Philosophiestudium begonnen hat: »Gibt es gar keine Philosophinnen?«, überlegt sie laut. Mir fällt spontan Hannah Arendt ein. Obwohl ich kaum etwas über die streitbare und kluge Frau wusste. Damals hatte ich noch nicht Ken Krimsteins grandiose Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt gelesen.
Vielleicht noch Simone de Beauvoir? Aber war das nicht eher eine Feministin und Schriftstellerin? Genau solche Überlegungen machen das von Rebecca Buxton und Lisa Whiting herausgegebene Kompendium Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte so spannend und wichtig.

Nie »nur« Philosophinnen

Natürlich sind die 20 in diesem, auch optisch sehr attraktiven Band vorgestellten Frauen alle Philosophinnen. Aber nie »nur« Philosophinnen. Sie alle, vom alten Griechenland bis in die Gegenwart, vereint etwas sehr Handfestes, Praktisches, Lebensnahes und Kämpferisches. Das zeigen die komprimierten, vielschichtigen, teils sehr anspruchsvollen, doch immer gut lesbaren und flüssig übersetzten Porträts, geschrieben von 20 Gegenwartsphilosophinnen. Im Gegensatz zu den oft sehr abgehobenen und realitätsfernen, männlichen Kollegen, die eher dem Klischee des verkopften Geisteswissenschaftlers in seinem Elfenbeinturm entsprechen.

Für ihren Intellekt respektiert und bewundert

Schon Hypatia, die im antiken Griechenland circa von 350 bis 415 n. Chr. gelebt hat, war außergewöhnlich vielseitig: Sie war Mathematikerin (von wegen Mädchen können kein Mathe, ihr Vater Theon unterrichtete sie von klein auf und schon bald stellte sie ihn in den Schatten, wie Quellen belegen), Astronomin und Philosophin, außerdem versiert in Rhetorik und Dialektik. Hypatia unterrichtete in Klassenzimmern und auf öffentlichen Plätzen die Lehren Platons, Aristoteles‘ und anderer Philosophen. Sie wurde bewundert von ihren Studenten, war eine charismatische Rednerin und für ihren Intellekt respektiert.

Von Gegnern gefürchtet und brutalst ermordet

Skurril ist die Anekdote, wie Hypatia sich eines besonders hartnäckigen Verehrers erwehrt hat. Nachdem es ihr nicht gelang, den jungen, schmachtenden Mann mit stundenlangem Musizieren abzuwimmeln, »zog sie ein mit Menstruationsblut verschmiertes Tuch hervor, das sie dem jungen Mann unter die Nase hielt und ihm erklärte, es sei nur ihre Lust, die er begehrte, und diese sei in ihrer Schönheit nicht annähernd vergleichbar mit ihrem Intellekt und dem Wunder der Philosophie.«
Außerdem war Hypatia eine kluge politische Ratgeberin und setzte sich sehr für das Gemeinwohl ein. Vor allem Orestes schätzte ihre Unterstützung so sehr, dass sie von Schergen seines Gegners brutalst gefoltert und ermordet wurde. Bis dahin galten Philosoph:innen als unantastbare Figuren des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Stadt Alexandria stand damals unter Schock. Es dauerte Jahrhunderte bis erneut Philosophinnen auf den Plan traten.

Durch die Lehre vom Sinn des Lebens dem Leben Sinn geben

Was bereits Hypatia auszeichnete gilt auch für die herausragenden Frauen, die ihr folgten: Sie sind Feministinnen, Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Kämpferinnen. Philosophie ist die Lehre vom Sinn des Lebens. Und das bedeutet für Frauen auch dem Leben Sinn zu geben und durch kluges Handeln die Welt zu verändern. Hannah Arendt bezeichnete sich selbst nie als Philosophin – sondern als politische Denkerin. Eines ihrer großen, viel zu wenig beachteten Themen war, auch aufgrund persönlicher Erfahrung, der Status von Geflüchteten und Staatenlosen. Arendt sagt, dass jeder »das Recht hat, Rechte zu haben.«

Philosophie nicht nur Selbst(darstellungs)zweck

Eine der interessantesten Philosophinnen ist die von Ellie Robson porträtierte Mary Midgley (1919–2018). Bis zum Alter von gut 50 Jahren war Midgley vor allem Lehrende, Wissenschaftlerin und Mutter dreier Söhne. Dem ureigenen Gesetz des Wissenschaftsbetriebs zum Trotz – »wer schreibt, der bleibt« – begann sie erst zum Ende ihres Berufslebens, philosophische Texte zu veröffentlichen. »Davor wusste ich nicht, was ich dachte.«
Für Midgley war Philosophie nie nur Selbst(darstellungs)zweck. Während sie bei ihren männlichen Kommilitonen beobachtete, wie diese in Wortgefechten vor allem die eigene Intelligenz zur Schau stellten, hatte Midgley ein praxisorientiertes Interesse und ging mithilfe der Philosophie lösungsorientiert alltägliche Sorgen an.

Wie Wasserleitungssystem – grundlegend und lebenswichtig

Anschaulich ist ihr Vergleich der Philosophie mit dem Wasserleitungssystem. »Beides sind grundlegende Strukturen, die unverzichtbar sind, weil sie Menschen mit lebenswichtigen Mitteln versorgen.« Und es ist die Aufgabe des Philosophen, wie ein Klempner »den Fußboden aufzureißen«, unsere fehlerhaften Konzepte unter die Lupe zu nehmen und sich dranzumachen, das Problem zu beheben.
Allein Midgleys mittreißende Lebensgeschichte lohnt bereits, Philosophinnen zu lesen. Die versammelten herausragenden Denkerinnen weiten den Blick, machen Mut, motivieren nachzudenken, sich zu informieren und einzufühlen. Und zeigen, dass Philosophie keinesfalls nur abgehobener Intellektuellenfirlefanz ist. Sondern im Gegenteil elementar für das menschliche Zusammenleben. Und Philosophinnen haben einen mindestens ebenso großen Anteil wie die bekannten männlichen Protagonisten. Sie machen bloß nicht so ein Gewese drum. Und nutzen ihre klugen Gedanken für viel Sinnvolleres als den reinen Selbstzweck.

Rebecca Buxton und Lisa Whiting (Hg.): Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte, Übersetzung: Roberta Schneider, Daniel Beskos, Nefeli Kavouras, mairisch, 2021, 240 Seiten, 22 Euro, ab 16 Jahre

Die dunklen Seiten des Menschen

Was ist nur los mit den Menschen in der Welt und mit uns selbst? Das könnten wir uns in diesen Tagen ständig fragen, und zwar nicht nur wegen der nervenaufreibenden Corona-Lage. Hass, Lügen, Verarschung, Provokationen, Protest und Manipulationen sind gefühlt in allen Bereichen des Lebens an der Tagesordnung, in der Politik, der Wirtschaft, im virtuellen Raum wie auch im Freundes- oder Familienkreis. Schnell bleibt bei uns der Eindruck zurück, dass der Umgang der Menschen miteinander immer nur noch schlimmer wird. Diesem komplexen Phänomen widmet der Philosoph Jörg Bernardy sein aktuelles Buch für Jugendliche. In sechs Kapiteln erörtert er die oben genannten menschlichen Verhaltensweisen, unsere dunklen Neigungen.

Aufklärung im Sinne der Philosophie

In jedem Kapitel erklärt er die Grundlagen, also warum es beispielsweise menschlich ist zu lügen oder über wen gelacht werden darf und bei welchem Thema so etwas nicht angebracht ist. Bereits hier finden sich die Leser:innen rasch in ihren eigenen Lebenswelten wieder, die Bernardy mit unzähligen Beispielen aus den vergangenen Jahren und der Historie anreichert: Trumps Fake News-Politik kommen zur Sprache, die Provokationen der Dadaisten von Anfang des 20. Jahrhunderts oder auch die me-too-Debatte. So stecken wir von Seite eins an in einem hochpolitischen Buch, das nichts weniger verhandelt als die Grundfesten unserer Demokratie: Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Menschenrechte.

Orientierung im Polittalk

Was sich abstrakt anhört, begegnet uns nämlich tagtäglich, sobald wir mit anderen Menschen Umgang pflegen und mit ihnen über das Weltgeschehen, die Kommunalpolitik oder auch den Schulalltag diskutieren. Denn niemand von uns möchte angelogen, manipuliert, gemobbt oder rassistisch beleidigt werden. Bernardy bietet im Zuge einer grundlegenden Aufklärung differenzierte Definitionen allgegenwärtiger (Hass-)Tendenzen (z.B. Islamismus, Antisemitismus, Faschismus, Sexismus etc.) und macht damit deutlich, wie wichtig es ist, sich zunächst über die Begriffe und ihre Bedeutung klar zu werden.
Denn sobald wir wissen, wer beispielsweise den Begriff »Lügenpresse« in welchem Kontext und aus welchen Gründen benutzt, werden wir uns nicht so leicht vereinnahmen lassen oder möglichen Verschwörungstheorien auf den Leim gehen. Ausführlich erläutert Bernardy in diesem Kontext auch die die Rolle der Medien, das Ziel von »Clickbaiting« oder warum Tabubrüche in gewissen Blättern oder Sendern so beliebt sind.
So gelangen die Leser:innen im Laufe der Lektüre dazu, sich eine Haltung zu erarbeiten und sich mit ihren eigenen Meinungen und Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.

Eine Frage der Haltung

Doch Bernardy liefert nicht einfach nur Antworten und belässt es bei Erklärungen oder Definitionen, sondern er lädt die Leser:innen zu Gedankenspielen und -sprüngen ein, in denen ein jede/r angeregt wird, eigenes Tun und mögliche vorhandene Vorurteile zu überdenken. Er bedient sich dafür unzähligen Fragen, die tief in philosophische Diskussionen führen können, weil es selbst bei den dunklen Seiten von uns Menschen nicht einfach nur ein Richtig und ein Falsch gibt, sondern auch immer ein Es-kommt-darauf-an.
Ich glaube, es hackt! hat das Zeug, zur Diskussionsgrundlage für Schulklassen und Familien zu werden. Die gelungene Mischung aus Erklärungen, Beispielen und Fragen schafft ein kurzweiliges Lesevergnügen mit dem nachhaltigen Effekt, dass wir über viele Aspekte lange nachdenken und diskutieren können und sollten.
Junge Leute werden aus solchen Diskussionen auf jeden Fall gestärkt und mit einer eignen Haltung in diese anstrengende Welt gehen, in der scheinbar so vieles immer schlechter wird, es aber objektiv immer mehr Menschen besser geht. Wenn wir dann in Kenntnis unserer dunklen Seiten uns ganz bewusst für die guten Seiten wie Liebe, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Toleranz entscheiden, kann jede/r von uns das Leben für alle noch ein bisschen schöner machen.

Jörg Bernardy: Ich glaube, es hackt! Leben in Zeiten von Tabubrüchen, Beltz & Gelberg, 2021, 174 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Wider das Vergessen

Dunkelnacht

Als ich die Ankündigung zu Kirsten Boies neuem Buch Dunkelnacht vor einiger Zeit las, dachte ich noch, dass ich darüber eine ganz normale Rezension schreiben würde. Doch nachdem ich heute die gerade einmal hundertseitige Geschichte in einem Rutsch gelesen habe, wurde mir klar, dass es hier etwas persönlicher zugehen wird. Denn ich wurde bei der Lektüre doch sehr an meine eigene Novelle Der Schritt erinnert und wie sehr das Schreiben über solche Geschehnisse einen mitnimmt und anstrengt – und doch so immens wichtig ist.

Kirsten Boie erzählt in »Dunkelnacht« von einem Verbrechen im bayrischen Penzberg, bei dem am 28. April 1945 sechzehn Menschen aus dem Ort von Nazis – in diesem Fall der Wehrmacht und der Untergrundorganisation »Werwolf« – umgebracht wurden.
Zehn Tage vor der Kapitulation Deutschlands, als die Alliierten nur noch wenige Kilometer vor der Stadt entfernt waren. Im Radio, auf dem offiziellen Sender, verkündet die Freiheitsaktion Bayern, dass der Krieg zu Ende sei. Der Nero-Befehl, also die Zerstörung sämtlicher Infrastruktur, sollte nicht ausgeführt werden. In Penzberg ist man verwirrt: Stimmt das? Soll man handeln? Soll man warten?
Ein paar Männer handeln, übernehmen das Rathaus, verhindern die Sprengung des lebenswichtigen Bergwerks, hoffen, dass die Amerikaner möglichst schnell die Stadt erreichen, damit das Kriegsende glimpflich abläuft. Doch ein durchziehender Wehrmachtsregiment geht gegen diesen »Volksverrat« vor, erschießt die Männer standrechtlich und fordert die Werwölfe an, die den weiteren Aufstand verhindern soll.

Endphasenverbrechen

Am Ende sind sechzehn Menschen erschossen und erhängt, und das nur, weil sie nicht mehr an falsche Endsiegversprechen glaubten, nicht dem Führer nachliefen, auf der anderen Seite standen.
Boie schildert dieses unsägliche Verbrechen aus der Sicht, in Dialogen, Beobachtungen und Gedanken, von drei Jugendlichen, Marie, Schorsch und Gustl. Sie sind die drei einzigen fiktiven Figuren in diesem Buch. Vor den Augen von Marie und Schorsch, die ein bisschen in einander verliebt sind, spielen sich die aufwühlenden Szenen ab, Gustl hingegen ist gerade erst Mitglied bei den Werwölfen geworden, weil er die »Schande« seines Vaters – einem Sozialisten – aus der Welt schaffen will. Er macht aus falschen Überzeugungen bei den Morden an seinen Nachbarn mit.

Erinnern, immer wieder Erinnern

Das alles ist durchaus keine leichte Lektüre. Das wird eingefleischte Leser:innen von Kirsten Boie, die für ihre Möwenweg– und Sommerby-Bücher im ganzen Land verehrt und geschätzt wird, möglicherweise verstören. Doch mit Dunkelnacht wendet sich Boie nicht an Kinder, sondern an Jugendliche und Erwachsene, um ihnen deutlich zu machen, wie wenig dazu gehört, zu Täter oder Opfer zu werden, wenn man schon meint, alles überstanden zu haben. In der letzten Phase des Krieges, in den Wirren, als sich in diesem Land so gut wie alles in Auflösung befand, als klar wurde, dass die Nazis verloren hatten, konnte das Schlimmste immer noch gesehen.
Boie zeigt in ihrem akkurat recherchierten Text, wie sich die Wendehälse durchlavieren, wie falsche Ideale Jugendliche auf den letzten Metern zu Mördern machen, wie vorausschauend denkende Menschen noch zu Opfern werden, und das so etwas sehr schnell – die Geschichte spielt an nicht mal zwei Tagen – gehen und jeden von uns treffen kann.

Parallelen

In so vielen Punkten und Aspekten dieser Novelle (in der Goethischen Definition »einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit«) hat mich Kirsten Boies Geschichte an meine eigene Novelle erinnert, die ich – einige von euch werden es wissen – im vergangenen Jahr herausgebracht habe. Darin erzähle ich die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm, einem Verbrechen an zwanzig jüdischen Kindern in Hamburg, die am 20. April 1945 im Keller einer Schule umgebracht wurden. Auch dies ein »Endphasenverbrechen«, auch dies absurd und sinnlos, auch hier gab es Menschen, die immer noch Befehle befolgten, obwohl sie es längst besser wussten und anders hätten handeln können, auch hier gab es hinterher Gerichtsverfahren, in denen so mancher Schuldige nicht belangt wurde. Die Parallelen sind zahlreich. Und daher ist mir Kirsten Boies Buch so nah. Denn die Intention unserer beider Geschichten ist dieselbe: das Erinnern – an die Toten, an die Opfer, an das Unsinnige in diesen Taten, daran, dass sich so etwas nicht wiederholen darf!

Ein Lese-Muss

Es ist dieser Erinnerungsliteratur eigen, dass sie nicht einfach ist. Hier gibt es kein »Lesevergnügen«, keine Entspannung, kein Abschalten. In solchen Texten ist der Ausgang der Geschichte klar, es gibt kein Happy End. Und doch muss man Bücher wie »Dunkelnacht« allen zur Lektüre empfehlen, denn sie bringen die nackten, erschreckenden Fakten auf emotionaler Ebene den Leser:innen näher. Reine Zahlen und Daten ziehen zumeist an einem vorbei, man kann sie registrieren und eventuell auswendig lernen, doch sie berühren oftmals nicht. »Dunkelnacht« hingegen berührt, gerade weil Boie die Sicht der Jugendlichen wählt, die Dinge mitansehen müssen, die kein Mensch erleben sollte. Die Gedanken der Protagonisten, ihre Beweggründe – gerade auch die von Gustl – können jungen Lesenden vertraut vorkommen, die Konsequenzen sind allemal erschreckend. Ein Nachdenken, ein sich Fragen – Was hätte ich getan? Was würde ich tun? – kann nach dieser Lektüre nicht ausbleiben. So hält Kirsten Boie nicht nur die Erinnerung hoch, sondern animiert zum Diskutieren.

Kirsten Boie: Dunkelnacht, Oetinger, 2021, ab 16, 13 Euro

Ulrike Schimming: Der Schritt. Das Martyrium der Kinder vom Bullenhuser Damm, epubli, 2020, ab 18, 10 Euro

Gefährlicher als die Atombombe

Klingner

Wenn man interessehalber unter Beiträgen und Artikeln im Internet die Kommentare liest, merkt man, dass überwiegend die immer gleichen Leute unter mehr oder weniger sprechenden Benutzernamen ihre Meinung raushauen. Das ist bestenfalls polemisch. Meist aber tendenziell sexistisch, homophob, rassistisch, hochgradig aggressiv und beleidigend. An einer wirklichen Diskussion scheint keiner dieser prinzipiell anonym agierenden Kommentarschreiber interessiert zu sein.
Dass dieser Müll nur die Spitze des Eisbergs ist, verdanken wir sogenannten Kommentar-Moderatoren. Deren verdienstvolle Sisyphusarbeit zeigt Kathrin Klingner jetzt in der exzellenten Graphic Novel Über Spanien lacht die Sonne ebenso eindringlich wie amüsant.

Freischalten oder Löschen? Entscheidung in Sekundenbruchteilen

Wie ihre Heldin Kitty hat auch die Illustratorin Kathrin Klingner den gröbsten Dreck beseitigt. Oder wie es ihr Chef formuliert: »Wir lesen hier den ganzen Kram, den Leute im Internet schreiben, damit es der Rest der Welt nicht tun muss.« Die Moderatoren müssen in Sekunden entscheiden, ob etwas freigeschaltet oder gelöscht wird.
Unter Pseudonymen wie »Angry white Steuerzahler«, »Wusel33« oder »H_lH_ler« hetzen Leute gegen Ausländer, die Regierung oder auch direkt gegen die Moderatoren. Sie verbreiten faschistische Ideologien, berufen sich aber auf demokratische Rechte wie Meinungsfreiheit. Manches ist einfach nur bescheuert und in der penetranten Wiederholung ungeheuer langweilig. Vieles ist aber auch gemeingefährlich.

Hasskommentare hallen nach

Über Seiten und zahlreiche Bilderfolgen gibt Klingner im Originalwortlaut wieder, wovor wir Leser im Internet bewahrt werden, während sie Kitty und ihre Kollegen bei der Arbeit, stoisch am Schreibtisch vorm Bildschirm sitzend und in der Zigarettenpause zeigt. Und keiner kann nach Feierabend einfach abschalten. Die Sätze bleiben im Kopf, sie begleiten die Moderatoren auf dem Heimweg oder beim Einkauf im Supermarkt. Auch weil in der analogen Welt die Mitmenschen nicht weniger aggressiv sind und zum Beispiel Autofahrer Radfahrer sinnlos anpöbeln.
Über Spanien lacht die Sonne beginnt im Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise und Angela Merkels berühmter Beteuerung »Wir schaffen das«. In diesem Jahr hat die Hemmungslosigkeit der Kommentare deutlich zugenommen, wie Klingner selbst beobachtet hat.

In Krisenzeiten nimmt Kommentarunwesen zu

2020 ist es die Coronakrise, weshalb das Kommentarunwesen noch mal Fahrt aufnimmt. Auch deshalb ist dieser 2018 begonnenen Comic jetzt hochaktuell.
Die Stimmung unter den Kollegen ist zum Glück gut, gelegentlich macht man sich über den größten Schwachsinn und schlimmsten, falsch geschriebenen Gewaltfantasien gemeinsam lustig, um diesen nicht allein ausgeliefert zu sein und auch nicht völlig abzustumpfen. Abends gehen sie zusammen etwas trinken, Leute, die mal Weihnachtsbaumverkäufer oder beim Fernsehen waren oder eine Kneipe hatten.

Nicht einfach nur ein Job

Für die reduziert mit fünf schwarzen Flecken irgendwo zwischen Katze und Kaninchen dargestellte Kitty ist es eigentlich nur ein Job von vielen. Der aber nicht ganz spurlos an ihr vorbeigeht, trotz ihrer grundsätzlich indifferenten Art. Auf einer Doppelseite sieht man Kitty in diversen Jobs, ob in der Eisdiele oder Kneipe, als Zimmermädchen, am Fließband oder im Callcenter. Aber es macht doch ein Unterschied, ob die Espressomaschine zischt, Gläser klirren, man die Bestellung aufnimmt – oder einem jemand »Kakerlakenfotzen« entgegenschleudert.

Mentale Reife fehlt, aber jeder darf mitmischen

»Bei der Entwicklung der Atombombe hat man sich wenigstens gefragt, ob die Menschheit denn überhaupt moralisch im Stande ist, damit umzugehen«, sagt Kittys Kollegin abends in der Kneipe. »Und im Fall der Atombombe gibt es nur ganz wenige Leute, die sie nutzen können. Beim Internet hingegen kann jeder mitmischen! Aber die Frage, ob diese Leute die nötige mentale Reife haben, wird gar nicht gestellt!« Viele brillante Denker sind daran bereits gescheitert: Die Idee ist gut. Nur die Menschen sind noch nicht so weit.

Normal bleiben trotz all des kranken Drecks

Es ist eine skurrile und sympathische Gruppe, die Klingner da zeigt. Anthropomorphe Tierfiguren, mit reduziertem Strich und unaufgeregt gezeichnet, die versuchen, die potenziell zerstörerische Macht des Internets in Schach zu halten. Mit gesundem Menschenverstand schaffen sie das kranke Geschrei weg, den Hass und die Hetze, die unverhohlenen Mordaufrufe und perversen Gewaltfantasien. Auch damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, die Mehrheit denke so. Klingner zeigt liebevoll, wie diese wackere Putztruppe trotzdem normal bleibt, mit Familie, Freunden, Kindern, Serienkucken und durchs Viertel stromern. Nebenbei gibt es noch ein paar Hamburgensien, viel trockenen Humor zu noch mehr Rotwein und ein lustiges Rattelschneck-Zitat. Über Spanien lacht die Sonne ist ein kluger, witziger und sehr wichtiger Kommentar zu Zeit.

Kathrin Klingner: Über Spanien lacht die Sonne, Reprodukt, 128 Seiten, ab 16, 20 Euro,

Liebe über Grenzen

Maike Stein

Die Feierlichkeiten zum 30-jährigen Mauerfall sind beendet, da bietet sich ein Blick darauf an, was dem Ganzen 28 Jahre zuvor vorausgegangen ist: der Mauerbau.
Maike Stein erweckt mit ihrem Roman Ein halber Sommer das Berlin von 1961 wieder zum Leben. Die Stadt ist in Sektoren unterteilt, als sich Marie aus dem sowjetischen Sektor und Lennie aus dem amerikanischen im Westteil der Stadt zufällig über den Weg laufen.
Die beiden sind sofort voneinander fasziniert, sind überwältigt, dass sie in der konservativ-düsteren Nachkriegsgesellschaft einen Menschen gefunden haben, der genauso tickt wie sie selbst.

Verwundete Familien

Heimlich treffen sie sich in einer Kriegsbrache voller Brombeergestrüpp, schreiben sich Briefchen oder treffen sich bei Lennies Tante im Osten. Beide kommen aus unvollständigen Familien, Lennies Vater ist im Krieg gefallen, Maries Mutter hat den Mann und die zwei Kinder verlassen. Und beide Mädchen sollen nach dem Wunsch des verbliebenen Elternteils etwas werden, was sie nicht wollen. Lennie soll Friseurin werden wie die Mutter, Marie Theaterschneiderin. Verständnis und familiärer Rückhalt ist bei diesen Konstellationen für beide nicht zu erwarten. Zumal Maries Vater einen guten Posten in der DDR-Administration bekleidet und viel auf den Sozialismus hält. Dass Marie regelmäßig in den Berliner Westen fährt, weiß er nicht und würde es auch nicht gutheißen.

Getrenntes Glück

In den ersten Wochen ihrer Liebe können die beiden noch annähernd ungehindert über die Grenze, sie verbringen heimlich ein Wochenende zusammen – denn ihre Liebe können sie nicht offen ausleben.
Im Sommer schließlich riegelt die DDR die Grenze ab, zieht Stacheldraht, baut die Mauer, verweigert ihren Bürgern die Ausreise und kappt die Telefonverbindungen. Lennie und Marie drehen schier durch – jede auf ihrer Seite der Mauer. Und dennoch hoffen sie, glauben an sich und an ihre Liebe, obwohl sie keinen Kontakt zueinander haben. Beide suchen Wege, wie Marie Ostberlin verlassen kann, doch die Grenzkontrollen werden immer schärfer …

Liebenswerte Figuren

Maike Stein hat mit Marie und Lennie zwei wunderbar liebenswerte Frauenfiguren erschaffen, die in ihrer Komplexität die Dramen des Lebens spiegeln und dadurch sehr viel Identifikationspotential liefern. So läuft Lennie am liebsten in den Klamotten ihres verstorbenen Vaters herum, möchte Uhrmacherin werden wie ihre geliebte Tante Ilse und sucht nach Nachrichten zum ungeklärten Tod des Vaters. Marie hingegen berlinert überaus sympathisch, ersetzt dem jüngeren Bruder quasi die Mutter und kann daher nicht so einfach alles stehen und liegen lassen, als sie Lennie kennenlernt. Die Figuren sind, so wie jeder von uns, in ihren eigenen Welten eingebettet und doch Teil des großen Ganzen. In diesem Fall ist es die Stadt Berlin in der heißen Phase des kalten Krieges, die so quasi zur dritten Hauptfigur wird.
Mit gekonnt gesetzten Wendungen hält Maike Stein bei dieser queeren Liebesgeschichte die Spannung wirklich bis zur letzen Seite und zeigt gleichzeitig, wie grausam die DDR-Regierung durch die Mauer das Leben der Menschen beeinflusst und beschädigt hat, wie sehr die Menschen leiden mussten. Erst dieses Wissen macht den Mauerfall dann zu diesem großen Glücksfall, der er gewesen ist.

Irreführendes Cover

Man darf sich bei dieser perfekten Geschichte nur nicht vom knallbunten Cover leiten lassen, das durch die Graffitis eher den Eindruck vermittelt, hier würde etwas aus den 1980er-Jahre erzählt. Ein bisschen mehr Zeitkolorit bei der Grafik hätte ich persönlich passender und authentischer gefunden. Ich frage mich dann immer, ob man jugendlichen Leserinnen so etwas nicht zumuten mag (von den ökonomischen Gründen mal abgesehen). Die Bilder, die Maike Stein mit ihrem stimmigen Text in mir erzeugt hat, sehen auf jeden Fall ganz anders aus und liefern mir quasi meinen eigenen inneren Film. Und den mag ich sehr gern!

Maike Stein: Ein halber Sommer, Oetinger, 2019, 270 Seiten, ab 14, 19 Euro

Mauergeschichten

Mauerfall

Dieser Tage häufen sich in den Medien die Rückblicke und Erinnerungen an den Mauerfall vor 30 Jahren.
Hierzu gibt es natürlich eine Reihe von Publikationen für eine junge Zielgruppe. Vier davon habe ich herausgegriffen, die den Kids, für die dieses Kapitel jenseits der persönlichen Erfahrung liegt und über das sie nur von Eltern oder Großeltern Dinge erzählt bekommen, einen guten Eindruck von der damaligen Zeit liefern.
Bei zweien muss ich feststellen, dass es tatsächlich gewisse erzählerische Wendungen gibt, die offensichtlich in der Luft liegen und nicht durch Plagiat entstanden sein können (es würde mich jedenfalls sehr wundern). Denn sowohl in Helen Endemanns Roman Todesstreifen und in dem Briefroman Mauerpost von Maike Dugaro und Anne-Ev Ustorf entwickeln die Autorinnen einen Blick von zwei Seiten auf die Mauer, sprich auf die DDR und die Lebensverhältnisse ihrer Bewohner.
Endemann erzählt vom Ben, der in einem Westberliner Sportinternat wohnt und mit seiner Mannschaft zu einem Freundschaftstreffen in den Ostteil der Stadt fährt. Geplant ist ein Tag Aufenthalt mit Wettkampf. Doch für Ben wird es eine Odyssee, denn während des Querfeldeinlaufs wird er von zwei DDR-Jungs entführt und in einen Schuppen verschleppt. Dort steht ihm dann Marc gegenüber – und der sieht Ben verdammt ähnlich.

Republikflucht und Jugendwerkhof

Marc schlüpft in die Klamotten von Ben und fährt mit den westdeutschen Sportschülern nach Westberlin. Keiner der Schüler merkt, dass Marc nicht Ben ist.
Ben hingegen soll zu Marcs Oma und dessen Vater, die ihn dann – so die Vorstellung der Entführer – gleich wieder an der Grenze abliefern, weil er ja nicht Marc ist. Dass dieser halbgare Plan von Marc nicht aufgeht, merken Ben und die zwei »Fluchthelfer« von Marc, als vor dessen Haus die Stasi steht und Ben/Marc in einen Jugendwerkhof steckt, weil er kein ordentliches Mitglied der DDR-Gesellschaft ist. Ben sitzt in der Falle und die Möglichkeiten, rasch und unbehelligt wieder in den Westen zu gelangen sind gleich Null.

Beklemmende Atmosphäre

Das ist spannender Lesestoff, der auf sehr intensive Weise die beklemmende Atmosphäre, die Überwachung und das Eingesperrtsein in der DDR vermittelt. Jeden Weg, den die Jungs sich überlegen, wie Ben wieder nach Westen kommen kann, ist versperrt. Auch aus dem Westen ist keine Hilfe zu erwarten, denn Bens Eltern sind in Afrika auf einer Hilfsmission.
Marc hingegen macht sich im Westen auf die Suche nach seiner Mutter, die vor Jahren illegal über die Grenze geflüchtet ist. Doch auch er stößt auf Hindernisse: eine Tante, die etwas über die Mutter wissen könnte, ist dement. So ist es schließlich seine Oma, die den Enkeltausch natürlich gleich erkennt, nachdem Ben aus dem Jugendwerkhof zurückkommt, die als Botin zwischen den Welten wandelt.

Die Verbindung zwischen Ost und West

Mauerfall

Eine grenzgängerische Oma ist auch in dem Briefroman Mauerpost das verbindende Element zwischen Ost und West. Hier vermittelt Oma Ursel eine Brieffreundschaft zwischen ihrer Westberliner Enkelin Ines und der Ostberliner Nachbarstochter Julia. Die Mädchen beginnen sich zu schreiben, erzählen der jeweils anderen von ihrem Alltag und der Schule. Waren die Jungs noch 1985 in Berlin unterwegs, so kommunizieren die Mädchen bereits 1988 und schreiben sich mehr als ein Jahr, sodass die Ereignisse in der DDR, die zum Mauerfall geführt haben, in die die Briefe einfließen. Julia erzählt von den Demos auf der Straße, während Ines von dem merkwürdigen Verhalten der Mutter erzählt, die einst aus der DDR freigekauft wurde.

Erzählerische Parallelen

Hier entfaltet sich zwischen den beiden nach und nach ein fesselnder Krimi, in dem zwar nicht die Zustände in den Jugendwerkhöfen, dafür aber die in den Staatsgefängnissen wie Hoheneck und Hohenschönhausen geschildert werden. Dabei entdecken Ines und Julia immer mehr Details, die ihre Schicksale miteinander verbinden.
Zwar erzählen beide Romane unterschiedliche Geschichten, so zeigen sich doch bestimmte Muster, die bei beiden auftauchen: Ost trifft West, die Omas werden als Boten benutzt, die Stasi spielt natürlich immer mit, der Knast in der DDR ist für Jugendliche nicht weniger schlimmer wie der für Erwachsene, und am Ende stehen die Helden in beiden Geschichten in einem gewissen Verhältnis zueinander, dass ich nicht nennen werde, das man sich aber in beiden Geschichten relativ schnell denken kann. Es liegt eben in der Luft, 30 Jahre nach dem Mauerfall.
Parallel ist in beiden Romanen selbst eine gewisse Verwirrung um Ostberliner Stadtteile: So liegt im Todesstreifen eine Psychiatrie mal in Potsdam, ein paar Seiten weiter dann in Pankow (S. 194 vs. 202), in der Mauerpost werden Kekse in ein und demselben Laden gekauft, der mal in Friedrichshain, mal im Prenzlauer Berg zu finden ist (S. 100 vs. 134). Früher hat mich so was immer geärgert, heute schmunzle ich, weil das nun mal in der Hektik der Buchproduktion passiert. Es wäre trotzdem schön, wenn das in den nächsten Auflagen, soweit es die geben wird, behoben wird.
Beide Geschichten entwickeln jedoch einen packenden Drive und lassen die Leser und Leserinnen in die Zeit vor der Wende und vor dem Mauerfall eintauchen.

Blutsbrüder über die Mauer hinweg

Mauerfall

Etwas anders verhält es sich mit dem Kinderroman Alles nur aus Zuckersand von Dirk Kummer. Hier geht es hauptsächlich um eine Jungenfreundschaft in der DDR im Jahr 1979. Fred und Jonas sind dickste Kumpels, verbringen ihre Zeit zusammen, schließen Blutsbrüderschaft und erzählen sich alles – bis Jonas‘ Mutter einen Ausreiseantrag stellt.
Fred, dessen Vater beim Grenzschutz in Falkensee arbeitet, verbietet ihm den Kontakt mit Jonas. Doch daran hält er sich natürlich nicht. Stattdessen fangen die Jungs an, angeregt durch die Erzählungen vom alten Nachbar Marek über Australien, einen Tunnel in den brandenburgischen Sand zu graben. Sie wollen sich später in Australien treffen …

Kindgerechter Blick auf die DDR

Aufgrund der noch jüngeren Zielgruppe sind die Schrecken der DDR hier nicht ganz so heftig zu spüren wie in den beiden Jugendromanen. Fred fungiert als Ich-Erzähler und zeigt durch seine kritischen Kommentare alles das, was in der Schule und im System schief läuft. Er konstatiert, dass die Lehrerin den Schülern Angst macht, dass das System den Menschen Angst macht vor allem, was aus dem Westen kommt. Fred aber will keine Angst haben, sondern nur mit Jonas zusammen sein.
Als Jonas dann tatsächlich mit seiner Mutter ausreist und plötzlich weg ist, vermisst Fred ihn sehr. Ein Brief, den er an Jonas schreibt, kommt zurück, da Westkontakt verboten ist.

Das Buch nach dem Film

Wem diese Geschichte jetzt vielleicht bekannt vorkommt, liegt richtig, denn dieses Buch beruht auf dem gleichnamigen Film von Dirk Kummer, der 2018 mit den Grimme-Preis ausgezeichnet ist. Sind normalerweise erst die Bücher in der Welt und die Verfilmungen folgen später, so ist hier der andere Weg gegangen worden – allerdings mit einem entscheidenen Haken.
Um das Buch für Zehnjährige erträglich zu machen, haben Autor und Verlag auf einen Erzählstrang aus dem Film völlig verzichtet. Da ich den Film bereits kannte, habe ich mich zu Beginn der Lektüre noch gefragt, wie dieser Teil im Buch wohl erzählt wird (Achtung Filmspoiler: Jonas läuft kurz vor der Ausreise, als er mit der Mutter schon im Tränenpalast ist, noch einmal weg und findet in dem bereits gegrabenen Loch der Jungs ein schreckliches Ende). Dieser Teil wird gar nicht erzählt, was mich kurzfristig enttäuscht hat. Doch ich kann diese Auslassung verstehen, denn Jonas Schicksal ist im Film selbst für Erwachsene kaum zu ertragen.
So bleibt für junge Lesende eine liebevolle Freundschaftsgeschichte aus einem anderen Land. Sie erzählt von dem zerstörerischen Einfluss eines Staats in das Privatleben, aber auch noch ein Fünkchen Hoffnung aufblitzen lässt, dass die Jungs sich möglicherweise nach ein paar Jahren wiedersehen.

Doku-Fiktion zum Lesen

Mauerfall

Junge Lesende, die es nicht so sehr mit Romanen haben, können sich hingegen in dem Sachbuch Mein Mauerfall über die Zeit vor 30 Jahren informieren. Hier führt zwar der zwölfjährige Theo mit Erzähltexten durch das Buch, doch viele Fakten zur deutsch-deutschen Geschichte werden in Infokästen, Sprechblasen, Grafiken und Bildern in kurzen Texten geliefert.
Dabei geht Autorin Juliane Breinl auch auf die historischen Gründe für die deutsche Teilung ein, erläutert, was Hitler und die Nazis mit all dem zu tun haben und wie es überhaupt zu zwei deutschen Staaten gekommen ist.

BRD versus DDR

Gerade diese Gegenüberstellung von BRD und DDR zieht sich durch das Buch. Die Unterschiede, die wir heute immer noch spüren, wenn wir von West nach Ost und von Ost nach West fahren, bekommen in diesem Sachbuch ein Gesicht und eine Erklärung. Das mag uns Erwachsenen selbstverständlich vorkommen, doch den jungen Generationen das auf diese Art noch einmal vor Augen zu führen erscheint mir wichtig zu sein – und sehr gelungen.

DDR-Alltag und Zeitzeugenberichte

Breinl berichtet von den alltäglichen Unterschieden in beiden Staaten, von der allgegenwärtigen Überwachung in der DDR, den unterschiedlichen Inhalten in den Schulen, den Trabis und den Intershops, dem West-Konzert an der Mauer, zu denen die Ost-Jugend pilgerte und brutal niedergeknüppelt wurde. Doch auch staatlich organisierte Konzerten im Osten konnten die Menschen nicht mehr besänftigen, die Unzufriedenheit wuchs, man wollte raus und ging dafür in Massen auf die Straße. Die Mauer fiel. Von all dem lässt Breinl unter anderem Zeitzeugen erzählen, bekannte wie Jana Pallaske (Ost) oder Peter Wohlleben (West) und unbekannte, und bringt so jede Menge Authentizität in ihre Darstellung der damaligen Ereignisse.

Brüderlichkeit und Freiheit

Doch mit dem Mauerfall endet das Buch nicht. Es schlägt vielmehr eine Brücke bis in die Gegenwart, zum neuaufgeflammten Rechtspopulismus, ja Rechtsextremismus, dem grassierenden Fremdenhass, aber auch zum Bekenntnis für Europa, für Brüderlichkeit und eine grenzenlose Freiheit. Je länger ich in dem Buch vor und zurück gelesen habe, umso öfter wünschte ich mir, dass nicht nur Kinder dieses Buch lesen, sondern alle, die diese blöde blaue Partei wählen und anscheinend vergessen haben, was die Politik vor 80 Jahren und in den 40 Jahren der DDR-Geschichte angerichtet hat. Mögen die Kinder durch diese Lektüre ordentlich angeregt werden, in den eigenen Familien nachzufragen und die eigenen Familiengeschichten erkunden, ganz gleich, ob in Ost oder West.

Helen Endemann: Todesstreifen, Rowohlt, 2019, 256 Seiten, ab 13, 14 Euro
Maike Dugaro/Anne-Ev Ustorf: Mauerpost, cbt, 2019, 336 Seiten, ab 13, 9,99 Euro
Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand, Carlsen, 2019, 144 Seiten, ab 10, 12 Euro
Juliane Breinl: Mein Mauerfall. Von der Teilung Deutschlands bis heute, arsEdition, 2019, 144 Seiten, ab 10, 15 Euro

Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

Packende Geschichtsstunde in Mogelpackung

ostpreußenEin Pferdebuch auf LETTERATUREN? Das gab’s in sieben Jahren noch nie. Ja, genau, klassische Pferdegeschichten kommen hier eigentlich nicht vor, aber bei Anne C. Voorhoeves neuem Roman darf man sich auf gar keinen Fall von Titel und Cover täuschen lassen.

Gefährten für immer erzählt zwar auch von Pferden, von den Trakehnern Ostpreußens, doch es ist nicht die klassische Kombination von ein Mädchen plus ein Pferd gleich Freunde für immer. Denn hier geht es um die 14-jährige Lotte, die im Sommer 1943 von ihrem blinden Vater nach schweren Bombenangriffen auf Hannover auf den Pferdehof Waldeck in Ostpreußen geschickt wird. Zur Sicherheit. Denn eigentlich will Lotte nicht weg, da ihr Vater nicht allein zurecht kommt und sie gerade erst in den Trümmern fast verschüttet worden war und nun weiß, wie hilflos ein Mensch sich im Krieg und im Dunkel fühlen kann. Doch der Vater bekommt Hilfe von einer Nachbarin, die seit dem Tod von Lottes Mutter ein Auge auf den Vater geworfen hat.
An ihrem letzten Tag in der Stadt, an dem Lotte sich von ihren Freunden verabschiedet, begegnet sie Georg, einem Klassenkameraden, dessen Vater als Kommunist im KZ in Dachau sitzt. Innerhalb von wenigen Stunden, die die beiden in den Trümmern Hannovers zusammen verbringen, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch über die Entfernung halten soll.

Mit all diesem psychischen Gepäck kommt Lotte wenig später in Waldeck bei Antonia, einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter an, die der Familie die Hilfe angeboten hat. Lotte mag Antonia, doch das hilft ihr nur bedingt, sich an das Leben auf dem Hof zu gewöhnen. Im Pferdeland Ostpreußen dreht sich nämlich alles um die geschätzten Trakehner, und das Reiten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Lottes Reitkünste sind jedoch ziemlich beschränkt. Und so blamiert sie sich beim ersten Ausritt. Emilia, Antonias Nichte, ebenfalls 14, verspottet das Stadtkind – und es sieht nicht so aus, als könnten die beiden Mädchen Freundinnen werden, wie Antonia es sich gewünscht hat.
Stattdessen soll zunächst Harro, 17, Sohn des ehemaligen Verwalters, Lotte den Umgang mit den Pferden inklusive Reiten und Springen beibringen. Die beiden verbringen Zeit bei Ausritten in den Weiten Masurens, baden in den Seen – und Lotte verknallt sich in den gut aussehenden Jungen. Doch auch Emilia ist in Harro verliebt.
In dieser Konstellation verbringt Lotte ein Jahr auf Waldeck. Anfangs ist der Krieg scheinbar weit weg, zu schön, zu idyllisch ist die Landschaft, zu wichtig die Arbeit mit den Pferden. Doch rasch begreift Lotte, dass hier jede Familie bereits Angehörige im Krieg verloren hat, dass die Zwangsarbeiter nicht ohne Grund auf dem Hof sind, und alle Männer und Jungen fürchten, jederzeit eingezogen werden zu können.

Die Idylle zerfällt. Antonia hört alliierte Radiosender, um über die wirkliche Lage im Krieg besser unterrichtet zu sein. Den Durchhalteparolen und Falschinformationen der Nazis schenken immer weniger Menschen Glauben. Doch Kritik darf man nicht äußern, zu groß ist die Gefahr, verraten und drakonisch bestraft zu werden. Das Leben auf dem Hof wird immer schwieriger. Antonia beschließt, einen Teil ihrer Pferde nach Pommern zu evakuieren – und die Jugendlichen als Begleitung mitzuschicken.
So verlassen Lotte, Emilia und Harro im Herbst 1944 Ostpreußen und landen auf dem Lindenhof bei Stettin, wo Harros Vater und Emilias Mutter, die vor Jahren für einen Skandal auf Gut Waldeck gesorgt haben, zusammen leben. Hier hoffen die drei, dass Antonia mit den Bewohnern Waldecks, darunter Harros Mutter, und den restlichen Pferden zu ihnen stoßen wird. Doch Ostpreußens Gauleiter Koch hat unter Strafe verboten, die Provinz zu verlassen.
Ein eiskalter Winter bricht an, und Anfang 1945 greifen die Russen ultimativ an.
Endlose Flüchtlingstrecks machen sich auf den Weg in den Westen. Als auch Gräfin von Dobschütz, eine gute Freundin Antonias, den Lindenhof auf ihrem Hengst erreicht, erfahren die Jugendlichen, dass Ostpreußen unwiederbringlich verloren ist.

Mehr und mehr merkt Lotte zudem, dass sie – anders als auf Waldeck – nicht mehr zur Gemeinschaft von Lindenhof, der Familie von Harro und Emilia, dazugehört. Für sie wird es Zeit wieder nach Hannover zurückzukehren. Sie kann Gräfin von Dobschütz überzeugen, sie auf dem zweiten Pferd der Gräfin mit nach Westen reiten zu lassen. Entbehrungsreiche Wochen durch Schnee und Kälte beginnen.

Anne C. Voorhoeve, bekannt für die Romane Unterland und Nangking Road, führt auch hier wieder die jugendliche Leserschaft in die düsteren Kapitel deutscher Geschichte. In einem komplexem Plot verpackt sie die Schrecken von Bombenangriffen, Verlust der Heimat und die Verbrechen der Nationalsozialisten auf feinfühlige, aber dennoch eindrückliche Art. Sie erinnert an das alte Leben in Ostpreußen, an den Stolz der Trakehner-Züchter und räumt neben all der Trauer um Menschen und Orte auch den Tieren ihren Raum ein.
Da sie Lotte als Ich-Erzählerin agieren lässt, die sich entweder an Schreckliches erinnert (das Verschüttetsein) oder von anderen die Schrecknisse erzählt bekommt, mildert Voorhoeve das Grauen für die Leser_innen gekonnt ab. So bekommen sie zwar einen Eindruck, was vor allem im Winter 44/45 in Ostpreußen passiert ist, werden aber nicht durch die Gräueltaten traumatisiert. Diese erzählerische Gratwanderung ist hervorragend gelungen.

Die Figur der Gräfin Dobschütz ist zudem eine ganz wunderbare Hommage an Marion Gräfin von Dönhoff, deren eigene Flucht per Pferd nach Westdeutschland hier Pate stand. Realität und Fiktion verweben sich zu einer eindrucksvollen Erzählung, die die Geschichte lebendig werden lässt und die Erinnerung an Menschen und Orte bewahrt.

Das Einzige, was ich nicht gelungen finde, sind, wie schon angedeutet, der Titel und das Cover. Dass es dort nicht einen Hinweis auf den historischen Hintergrund der Geschichte gibt, grenzt für mich schon fast an Lesertäuschung und suggeriert, dass hier eine klassische Mädchen-Pferde-Geschichte erzählt wird. Ich möchte mir die Enttäuschung der Mädchen nicht ausmalen.
Wobei man sich dabei zudem fragen könnte, warum die Geschichte über diese Kombination so angelegt wurde, dass sie für Jungs nicht mehr interessant ist. Dabei besteht die Enkel- und Urenkelgeneration der aus Ostpreußen Geflüchteten ja nicht nur aus Mädchen. Umso mehr würde es mich freuen, wenn auch Jungs den Mut hätten, sich auf diese Geschichte einzulassen – denn das Erzählte geht sie genauso an.

Anne C. Voorhoeve: Gefährten für immer, Sauerländer, 2018, 480 Seiten, ab 13, 17 Euro

Zeitreise nach Ostberlin

krauseWir nähern uns ja schon wieder den Jahrestagen, und in gar nicht all zu langer Zeit „nullt“ der Mauerfall. Jaja. Dreißig Jahre ist es dann her, dass die DDR sich abschaffte und der Westen zugriff. Wir Älteren erinnern uns noch, so einigermaßen. Die Jüngeren, die nach der Jahrtausendwende Geborenen, kennen höchstens unsere Anekdoten und die „Damals-war-alles-anders“-Geschichten. Nicht immer können wir (ich als Westfrau schon mal gar nicht) das Gefühl, wie es denn in dieser DDR wirklich war, noch mitreißend vermitteln. Mag sein, dass es Ost-Groß-Eltern noch gelingt, aber allen anderen?

Eine spannende Version hat nun Ute Krause vorgelegt mit ihrem Kinder-Roman Im Labyrinth der Lügen. Darin versetzt sie junge Leser_innen in die Mitte der Achtziger Jahre nach Ostberlin. Paul, 12, wohnt bei seiner Großmutter und seinem Onkel Henri, nachdem seine Eltern versucht haben, über Ungarn das Land zu verlassen. Sie sind erwischt und eingesperrt worden. Nun bekommt Paul die Nachricht, dass seine Eltern von der Bundesrepublik freigekauft wurden.

Natürlich ist ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass er seine Eltern vielleicht nie mehr wiedersehen wird. Doch seine Oma und Onkel Henri tun ihr Bestes, damit der Junge nicht verzweifelt. So darf Paul den Onkel abends im Pergamonmuseum besuchen, wenn Oma im Hotel Metropol als Klofrau arbeiten muss. Allein im Museum, nur mit Onkel Henri, das ist aufregend und gruselig zugleich. Paul meint ungewöhnliche Geräusche zu hören. Der Onkel jedoch beruhigt ihn – versucht er zumindest.

Das gelingt jedoch nur mäßig, vor allem seit Paul die neue Mitschülerin Millie kennengelernt hat, deren Vater im Berliner Ensemble arbeitet. Gemeinsam streifen die beiden durch das Ostberlin rund um die Museumsinsel, beobachten, wie Onkel Henri ein merkwürdiges Paket hin- und herträgt, und fangen an, sich Fragen zu stellen: Zu dem, was die Erwachsenen ihnen erzählen, was Henri wohl verbirgt, über was man reden und worüber man am besten schweigen sollte. Sie vertrauen einander, doch irgendwo ist ein „Leck“ und eines Tages ist die Wohnung von Oma durchwühlt und Onkel Henri verschwunden.

Man könnte nun annehmen, es hier mit einer aktuelleren Version von Emil und die Detektive oder Pünktchen und Anton zu tun zu haben. Doch dem ist nicht so – denn in dem System der DDR bleibt den Kindern nicht viel Spielraum, selbst zu ermitteln. Zu schnell stoßen sie im eigenen Land an Grenzen, und sei es, dass Paul sogar am heimischen Küchentisch nicht mehr laut und unbeschwert reden kann, weil die Wohnung verwanzt ist.
So lösen am Ende zwar nicht die Kinder das Rätsel um Henri – es wird ihnen dann doch von den Erwachsenen erzählt –, aber sie und mit ihnen die Leser_innen bekommen einen fesselnden Eindruck davon, wie sehr vor mehr als dreißig Jahren die Atmosphäre in Ost- und Westberlin durch Misstrauen und Überwachung vergiftet war: Nicht linientreue Mitbürger wurden abgestraft, indem sie ihre Jobs oder Studienplätze verloren, Privatsphäre selbst in der eigenen Wohnung existierte so gut wie nicht und wenn jemand das Land verlassen wollte, wurde die Familie quasi in Sippenhaft genommen. So musste Paul eine Zeit in einem Kinderheim verbringen, ohne dass seine Oma wusste, wo der Junge eigentlich war. Eine schreckliche Vorstellung, die jedoch die Härte des DDR-Systems noch einmal eindrücklich zeigt, da nicht einmal vor den Kindern Halt gemacht wurde.

Fast nebenbei gelingt es Ute Krause zudem den Fremdenhass, den es offiziell in der DDR nicht gab, der jedoch im Alltag spürbar gewesen ist, einzuflechten. Das Mädchen Millie hat nämlich eine kubanische Mutter und daher dunkle Haut und schwarze Haare, was sie auffällig macht und ihr den Spott der Mitschüler einbringt.

Diese Facetten des DDR-Alltags verwebt Krause in Kombination mit einem Rätsel um das Pergamonmuseum zu einer fesselnden Agentengeschichte, der – zumindest für mich als Westsozialisierte – die beklemmende Atmosphäre des Stasi-Staates durchaus anhängt. Vielleicht sehen die in der DDR aufgewachsenen Menschen das anders – es wäre eine interessante Diskussion.

Im Glossar finden sich schließlich die Erklärungen zu den wichtigsten Begriffen aus DDR-Zeiten, die erwachsene Leser im Text vermutlich überhaupt nicht stören, weil sie altbekannt sind, die Kinder von heute jedoch irritieren können.
Schön ist zudem, dass im Vorsatz vorn und hinten Karten von der Museumsinsel und von Osterberlin eingefügt sind. Eine Karte des geteilten Deutschlands ergänzt diesen geografischen Überblick, der noch einmal das veranschaulicht, was heute in der Landschaft des Grünen Bandes und auf dem Mauerstreifen in Berlin kaum noch zu erkennen ist und man nur noch sieht, wenn man etwas darüber weiß.

Eins darf man bei diesem Buch allerdings nicht: sich von dem Cover abschrecken lassen. Mir sagt die Fotomontage aus sommerlich gekleidetem Jungen der Gegenwart vor der Rykestraße aus DDR-Zeiten in einer Farbgebung aus den Siebzigern nicht zu, auch wenn ich die Rykestraße sehr schön finde.  Zumal – jetzt werde ich mal wieder pingelig: An den Bäumen in der Straße sind keine Blätter, sprich: Es ist also Winter. Und der Winter in Berlin ist eisig. Da läuft kein Mensch im T-Shirt rum… Wer das also entspannt sehen kann, wird mit einer atmosphärisch dichten Geschichte belohnt, die der jungen Leserschaft einen annähernd authentischen Einblick in die DDR-Zeit gibt.
Mit diesem Wissen kann das dreißigjährige Jubiläum des Mauerfalls im kommenden Jahr dann mit noch mehr Wissen begangen werden. Und der nächste Familienausflug nach Berlin wird auf jeden Fall noch erhellender!

Ute Krause: Im Labyrinth der Lügen, cbt, 2018, 288 Seiten, ab 10, 8,99 Euro

Die Sieger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2018

Und wieder ist eine Buchmesse vorbei. Doch was für eine! Ich habe den Überblick verloren, wie oft ich schon in Frankfurt auf der Buchmesse war – doch so wie diese war noch keine.
Denn zum ersten Mal im Leben habe ich einen Preis gewonnen: Den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch für meine Übersetzung Der Dominoeffekt von Gianumberto Accinelli und Serena Viola, die die wunderschönen Illustrationen beigetragen hat. Über den Inhalt des Buches habe ich schon einmal hier berichtet.

Als Übersetzerin war ich dieses Jahr zum zweiten Mal nominiert – nach 2016 für das Bilderbuch Der goldene Käfig von Anna Castagnoli und Carll Cneut – und konnte die Verleihung etwas gelassener angehen als beim ersten Mal. Schon allein die Nominierung ist ein großer Erfolg, kommen doch jedes Jahr etwa 9000 neue Kinder- und Jugendbücher auf den Markt. Und wie eine Jury entscheidet – das kann man nie, nie, nie vorhersehen. So ein Preis ist im Grunde die Sahnehaube auf der Nominierungstorte.

Als Bundesfamilienministerin Franziska Giffey dann jedoch den Umschlag öffnete – diese Veranstaltung hat schon ein bisschen etwas von einem Hollywood-Oscar-Anstrich – haben Serena Viola und ich uns an den Händen gepackt und gebangt. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass man völlig erleichtert ist, wenn dann der Name des eigenen Buches genannt wird – doch es war eher das Gegenteil: Schlagartig war ich so aufgeregt, dass ich total weiche Knie und hektische rote Flecken im Dekolleté bekam. OMG!!!
Serena Viola schien es ähnlich zu ergehen. Wir sind quasi Arm in Arm auf die Bühne, während Gianumberto Accinelli voller Energie vorstürmte. Wir haben dann dort oben ein paar Fragen beantwortet – und ich bewundere seitdem jeden, der in so einer Situation auf einer hell erleuchteten Bühne auch nur einen klaren Satz herausbringt. Ich jedenfalls stand eher ein bisschen neben mir und hielt mich quasi an der schweren Momo-Statue fest, die jede_r Gewinner_in bekam.
Der Rest des Abends war ein wunderbarer Reigen von Gratulationen, Umarmungen, Anstoßen, Durchatmen, Es-nicht-glauben-Können und einem herrlichen Essen mit dem Fischer Verlag. Mit anderen Worten: großartig und unvergesslich!

BruderDoch nicht nur Der Dominoeffekt ist ausgezeichnet worden, sondern auch vier weitere Bücher.
In der Sparte Bilderbuch ging der Preis an Oyvind Torseter und seine Übersetzerin Maike Dörries für Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas. Darüber habe ich hier berichtet.
In der Sparte Kinderbuch sind Megumi Iwasa (Text), Jörg Mühle (Illustrationen) und Ursula Gräfe (Übersetzung) für Viele Grüße, deine Giraffe ausgezeichnet worden. Dieses Buch habe ich noch nicht gelesen und muss es unbedingt nachholen.

 

Das Buch Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß von Manja Präkels hat in der Sparte Jugendbuch gewonnen und stellt gerade meine Frühstückslektüre dar.
Präkels erzählt darin von der Umbruchzeit 1989/1990 in der ostdeutschen Provinz, als in einem kleinen Havelstädtchen sich die ehemaligen Spielkameraden von Mimi zu Nazis wandeln und der westliche Kapitalismus die zuvor leeren Schaufenster überquellen lässt.
Präkels erinnert so daran, wie es vor fast dreißig Jahren in der zerfallenden DDR zuging, mit welchen Unsicherheiten und Veränderungen die Menschen dort zu kämpfen hatten, wie sie überrumpelt wurden und wie auf einmal Überzeugungen zu Tage traten, die man nicht für möglich gehalten hätte – und die leider auch heute wieder hochkochen. Das, was die Ostdeutschen damals erleben mussten, können wir heute nicht mehr rückgängig machen, doch Präkels Roman hilft dabei, deren Frust zu verstehen. Das ist zwar noch lange keine Lösung unserer jetzigen Probleme, doch Verständnis und das Miteinander-Reden ist ein Anfang, um die unsichtbare Mauer, die zwischen Ost und West immer noch besteht, endgültig niederzureißen. Es wird Zeit.

Die Jugendjury schließlich hat sich für den Roman The Hate U Give von Angie Thomas in der Übersetzung von Henriette Zeltner entschieden. Eine wunderbare Wahl, wie ich finde. Das Buch habe ich hier vorgestellt.

Zudem gab es zwei Sonderpreise, in diesem Jahr waren die Übersetzer_innen an der Reihe – im Drei-Jahres-Turnus werden Autor_innen, Illustrator_innen und Übersetzer_innen ausgezeichnet.
Der Preis für die Newcomerin ging an Gesa Kunter und ihre Übersetzung des Buches Schreib! Schreib! Schreib! der Schwedinnen Katarina Kuick und Ylva Karlsson.

Der Preis für das Gesamtwerk Übersetzung erhielt Uwe-Michael Gutzschhahn, dessen Werke ich auch hier schon das eine oder andere Mal vorgestellt habe – so sei hier an das umwerfende Buch Zorgamazoo von Robert P. Weston erinnert. Schon allein für dieses sprachliche Leistung hätte Gutzschhahn jeden möglichen Preis verdient.

Allen Siegern gratuliere ich ganz herzlich und freue mich sehr, in dieser wunderbaren Runde vertreten sein zu dürfen!

 

Mit den Augen der Opfer

corradiniNeulich habe ich ja bei Lütte Lotte etwas ausführlicher über italienische Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Nun habe ich den Roman Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge von Matteo Corradini genauer gelesen und dem Autor ein paar Fragen zu seinem Werk gestellt, das ich im Abschnitt zu den „Stillen“ nur kurz angerissen habe.

In seiner Geschichte, die feinfühlig von Ingrid Ickler ins Deutsche übertragen wurde, erzählt Corradini von einer Handvoll Jungen, die während des 2. Weltkrieges in Theresienstadt eingesperrt und später nach Auschwitz deportiert wurden.
Diese Jungen mit Namen Zappner, Edison, Embryo, Petr, Josif und Zdenek haben in ihrer Zeit im Ghetto eine Art Zeitung geschrieben. In diesen Blättern, die sie einmal pro Wochen abends mit Bleistift auf alle erdenklichen Papiere geschrieben haben, berichten sie von den Vorfällen und Vorgängen im Ghetto. Hatten sie anfangs die Blätter noch öffentlich wie eine Wandzeitung ausgehängt oder Kopien verkauft, so lesen sie irgendwann ihre Texte anderen Kindern und Erwachsenen nur noch heimlich vor, zu gefährlich war es, die Texte in Umlauf zu bringen.

Corradini bezieht sich hier auf dokumentierte Fakten: Mehrere jugendlichen Gruppen im Ghetto haben tatsächlich Zeitungen geschrieben. „Meine Absicht war, dass die Jugendlichen von heute die Geschichte der gleichaltrigen Jugendlichen aus Theresienstadt lesen können“, sagt Corradini.

Acht Jahre hat er recherchiert und dabei mit vielen Zeitzeugen und Überlebenden gesprochen.  Eines jedoch hat ihn besonders berührt: „Die Vorstellung die 800 Seiten der Zeitung Vedem lesen zu können, die von den Jugendlichen produziert worden waren.“ Diese Seiten hat man nach dem Krieg gefunden. Wie sie entstanden sind, davon erzählt Corradini in seinem Roman, den er dann in nur fünf Wochen niedergeschrieben hat.

Die Jugendlichen im Roman berichten in ihren Artikeln von kleinen Anekdoten, veröffentlichten Gedichte, malen Bilder, schildern das Fußballspiel und die Vorbereitungen für die Filmaufnahmen, die für die Öffentlichkeit im Ghetto inszeniert werden. So sollten die Menschen außerhalb der Mauern von Theresienstadt davon überzeugt werden, dass es den Menschen hier gut ging, sich die vielen Künstler und Kreativen, die hier zusammengepfercht worden waren, austauschen und ein vermeintlich normales Leben führen konnten.

„Glaubst du, jemand hat ihnen geglaubt?“
„Ein paar Erwachsene vielleicht?“

Wie man weiß, haben sich internationale Kontrolleure blenden lassen – unvorstellbar in heutigen Zeiten.
Die Jugendlichen jedoch schauen genau hin. Sie beobachten: die Soldaten, die Inhaftierten, erzählen vom Leben in der ehemaligen Garnisonsstadt, die durch ihre Stadtmauern für die Nazis perfekt zu kontrollieren war. Sie kämpfen um Kartoffelschalen, teilen sich die karge Beute.

Corradini hat sich bei den geschilderten Episoden dicht an das gehalten, was er über die Kinder und ihre Erlebnisse hat recherchieren können. Bezüglich der Vermengung von Fiktion und Fakten sagt er: „Ich respektiere die Fiktion, sie ist eine wunderschöne Sache. Doch im Fall eines Buches über die Shoah, die für sehr viele Menschen extrem schmerzhaft war, kann die Fiktion schnell respektlos werden. Beispielsweise, wenn man unnütze, absurde oder sogar antihistorische Szenen erfindet. Oder auch, wenn man die Geschehnisse abmildert, um sie Jugendlichen zu erzählen. Das ist schlechte Fiktion. Mein Buch hat zwar die Form eines Romans, doch ich erzähle zu 99 Prozent von Dingen, die tatsächlich geschehen sind.“

Corradini bedient sich dabei eines Ich-Erzählers, was mich zunächst etwas irritiert hat. Denn es erscheint schrecklich, wenn der Protagonist, dem man als Leser_in durch diese Erzählart sehr nahe kommt, am Ende in den Tod geschickt wird. Corradini erklärt es so: „Ich habe mich für die Ich-Erzählung entschieden, um einen namenlosen Helden zu erschaffen, der einer von uns sein könnte. Der auch der Leser sein könnte oder aber jemand anderes. Der jemand wäre, dem man die Geschichte anvertrauen würde. Die jugendlichen Leser_innen können sich mit so einer Geschichte bestimmt gut auseinandersetzen, auch wenn die Geschichte voller Schrecken ist. Zum Erwachsenwerden gehört eben auch dazu, dass Schreckliche zu erfahren und sich damit zu befassen. Nur so kann man das alles verstehen, es verinnerlichen, sodass es in Zukunft nie wieder passiert.“

Ein Anliegen des Autors ist es unter anderem, dass Jugendliche möglichst viele Bücher über die Geschichte und die Shoah lesen. Durch die jungen Protagonisten in seinem Roman können sie sich – seiner Meinung nach – besser in die Historie einfühlen: „Die Jugendlichen wissen dann, dass das, was passiert ist, Menschen in ihrem Alter zugestoßen ist. Sie sehen die Geschichte mit den Augen derjenigen, die den Schrecken erlebt haben.“

Diese Buch, das bereits im vergangenen Jahr erschienen ist, und das scheinbar nicht wahrgenommen wurde, ist ein stiller Schatz. Es beleuchtet ein weniger bekanntes Kapitel des Holocaust und lenkt den Fokus auf die Kinder und Jugendlichen, die nicht weniger gelitten haben als die Erwachsenen. Es ist keine spaßige Lektüre, natürlich, doch bietet sie einen Zugang auf Augenhöhe für jugendliche Leser zu den Schrecken von damals und sorgt für Diskussionsstoff und Sensibilisierung.

Matteo Corradini: Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge, Übersetzung: Ingrid Ickler, cbj, 2017, 288 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Deutsche Geschichte in falscher Verpackung

68erDieser Tage häufen sich die Berichte und Diskussionen über 68er Bewegung, pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum. So wurde kürzlich dem Anschlag auf Rudi Dutschke in Berlin ausführlich gedacht. Die Studentenunruhen erreichten nach diesem Gewaltakt im Sommer 1968 ihren Höhepunkt, durch das spießige Nachkriegsdeutschland wehte ein frischer, ungewohnter Wind, der sich später durch die Anschläge der RAF zu einem terroristischen Sturm entwickeln sollte.
Im Rückblick betrachtet eine aufregende, umwälzende Zeit, von deren positiven Effekten (trotz aller Gewalt) wir heute noch profitieren – auch wenn gerade wieder rechtskonservative Strömungen das Rad der Geschichte weit, weit zurückdrehen und scheinbar die 68er ungeschehen machen möchten.

Vor ein paar Monaten erreichte mich per E-Mail eine Anfrage, ob ich nicht eine Empfehlung zu einem Jugendbuch hätte, das sich mit eben diesen 68ern beschäftigt. Hatte ich nicht. Aber so etwas reizt mich dann ja, ob nicht doch etwas zu dem Thema für junge Menschen erschienen ist. Das Ergebnis war eher ernüchternd.

Ja, es ist etwas erschienen, allerdings schon vor zwei Jahren: Sturmfrühling von Inge Barth-Grözinger. Darin begleiten die Leser_innen die Hauptfigur Marianne, die Fans von Barth-Grözinger schon aus dem Vorgängerband Stachelbeerjahre kennen können, vom Schwarzwald zum Studium nach Heidelberg.
Marianne studiert Germanistik, ist hingerissen von der Literatur der Romantik und dem Professor, der adrett gekleidete Studentinnen schätzt. Sie wohnt zur Untermiete in einem Zimmer, in dem Herrenbesuch natürlich verboten ist und ein Wohlgefühl nicht unbedingt aufkommt. Zudem belasten Mariannes Mutter und Schwester sie immer noch mit ihrem dunklen Geheimnis, das über ihrem Zuhause im Schwarzwald lastet und von dem der Roman Stachelbeerjahre erzählt.

Nach und nach merkt Marianne jedoch, dass an der Uni weit andere Dinge vor sich gehen, als nur das reine Studieren. Sie gerät in das Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und den charismatischen Kommilitonen David. Dieser treibt in Heidelberg den Protest gegen die verkrusteten Strukturen an der Universität, gegen die Alt-Nazis unter den Professoren und gegen die insgesamt spießige Gesellschaft voran.
Marianne ist fasziniert, zieht zu ihm in eine Kommune, geht mit ihm demonstrieren und fängt an, die ungeklärte Vergangenheit des verehrten Professors zu hinterfragen.
Die Bewohner der Kommune versuchen dem Berliner Vorbild, der Kommune 1, nachzueifern, David reist durch die Republik, um die Revolte weiter anzuheizen und seinem Idol Rudi nahe zu sein. Marianne jedoch kann sich nicht so richtig mit allen Facetten der Bewegung identifizieren.

Beim Lesen war ich hin- und hergerissen, was ich von dieser Geschichte halten soll, ich hatte mich – trotz des irreführenden Covers, das eher auf ein seichte Liebesgeschichte verweist – auf eine Revoluzzerstory eingestellt. Die Revolution, die Studentenrevolte schildert Barth-Grözinger durchaus, jedoch durch den Filter von Hauptfigur Marianne, die eben nicht nach Berlin fährt und mit einer gewissen Skepsis aus ihrem romantischen Elfenbeinturm tritt und eher zögerlich an den Demos teilnimmt. Das hat mich ganz kurz enttäuscht, doch dann wuchs in mir die Erkenntnis, dass diese Art der Darstellung sehr fein und subtil ist. Denn von den damaligen 300 000 Studenten waren eben nicht alle auf der Straße, haben nicht alle demonstriert, haben nicht alle im Zentrum des Geschehens mitgewirkt, sondern beobachtet.

Und trotz dieser hauptsächlichen Beobachtungshaltung, die Marianne einnimmt, hat die Bewegung auch direkte Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Sie ist die Beispielfigur, wie sehr die 68er die Gesellschaft aufgewühlt und umgekrempelt haben. Marianne setzt sich in der Folge kritisch mit der NS-Vergangenheit der Deutschen auseinander und löst sich selbst von ihrem erstickenden Elternhaus. Zwei Komponenten, die unsere Gesellschaft bis heute prägen: Vielleicht wäre es ohne die 68er nie zu einer Aufarbeitung des Nationalsozialismus gekommen, vielleicht hätte sich die Gleichberechtigung der Frau noch länger hingezogen, wenn nicht vor 50 Jahren die Frauenbewegung neue Impulse bekommen hätte.

Inge Barth-Grözinger schafft es durch ihren distanzierten Blick, die wichtigen Aspekte der 68er Bewegung herauszuarbeiten, ohne die gewaltbereiten Strömungen und spätere RAF-Terroristen zu glorifizieren. Zudem bekommen junge Leser_innen einen Einblick in die politische Lage der Bundesrepublik, die Notstandsgesetze und die Auswirkungen des Vietnamkriegs. Barth-Grözinger überwältigt ihre Leser_innen somit nicht, indem sie ein historisches Phänomen hochjubelt, sondern sie gibt ihnen zu denken. Das kann für geschichtlich nicht bewanderte Jugendliche zwar im ersten Moment sehr herausfordernd sein, doch für ein besseres Verständnis der Geschehnisse gibt es kurzes Glossar mit den wichtigsten Begriffen und Personen der Zeitgeschichte sowie ein Quellenverzeichnis für alle, die in dieses wichtige Thema weiter und tiefer einsteigen wollen. Man darf sich nur von dem leider völlig unpassenden Cover des Buches nicht abschrecken lassen.

Generell jedoch bin ich von den Jugendbuchverlagen ein bisschen enttäuscht, dass sich zum aktuellen Zeitpunkt keine fiktive Neuerscheinung mit den deutschen 68ern auseinandersetzt (bei Carlsen ist der zweibändige japanische Manga Unlucky Young Men erschienen, der 1968 spielt und die Umbrüche in Japan schildert, der jedoch nichts mit den hiesigen Geschehnissen zu tun hat). Klar, bedarf so eine publizistische Punktlandung langjähriger Planung, aber im Sachbuchbereich klappt so etwas ja doch das eine oder andere Mal. Nun ja, dies ist jetzt eine hypothetische Anmerkung. Vielleicht habe ich ja aber auch eine neue Publikation übersehen, dann bitte ich um Hinweise.

Inge Barth-Grözinger: Sturmfrühling, Thienemann Verlag, 2016, 272 Seiten, ab 14, 16,99 Euro