Viel mehr als Hummus

Jerusalem

Israel als ein kompliziertes Land zu bezeichnen, wie der Titel eines aktuellen Spiegel-Bestsellers lautet, ist zu einfach und fast schon euphemistisch. Hoffnungslos verfahren beschreibt die Situation treffender. Warum das so ist, hat Anja Reumschüssel packend und anschaulich in ihrem ersten Jugendroman Über den Dächern von Jerusalem dargestellt.

Es geht vor allem um Menschen,
junge Menschen

Dabei ist es fast unmöglich, alle Perspektiven der unversöhnlich wirkenden Gegner und die damit verbundene Ansprüche auf den schmalen Streifen karges Land am östlichen Rand des Mittelmeeres wiederzugeben. Reumschüssel gelingt dies jedoch wunderbarerweise, indem sie jeweils zwei junge Menschen in der Gegenwart und zur Zeit der Gründung des Staates Israel nach dem zweiten Weltkrieg aufeinandertreffen lässt und aus ihrer Sicht erzählt. So rückt sie in den Fokus, dass es bei diesem Konflikt vor allem um Menschen geht, junge Menschen, die ein Leben ohne Angst, Krieg und Verfolgung ersehnen, ein Leben in Freiheit, frei von Repressalien, Armut und der permanenten Sorge vor Anschlägen, erschossen oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es ist ein Jahrtausende zurückreichender Streit, bei dem alle in doppelter Hinsicht beteiligt sind, als Betroffene und als Treffende.

Yerushalayim und Al-Quds

Schon der Titel Über den Dächern von Jerusalem ist klug gewählt, klingt doch bereits hier so vieles an: Der geradezu mythische, religiös aufgeladene Ort Jerusalem, der im Hebräischen Yerushalayim heißt und von den Palästinensern Al-Quds genannt wird. Dieser Ort hat für Juden, Moslems und Christen eine enorme Bedeutung, historisch und identitätsstiftend. Über den Dächern ist die Andeutung einer größeren und damit auch objektiveren, umfassenderen Perspektive, nicht nur auf die Stadt. Hier begegnen sich im Dezember 1947 die 15-Jährige Tessa und der gleichaltrige Mo. Die junge Jüdin hat das KZ überlebt, dort ihren kleinen Bruder und ihre Mutter sterben sehen. Jetzt ist sie auf abenteuerlichen und gefährlichen, weil illegalen Wegen aus einem Lager für Displaced Persons, für entwurzelte Menschen, nach Palästina gekommen, wohin ihr Vater kurz vor der Deportation geflohen ist und die Familie nicht mehr nachholen konnte. Der junge Moslem Mo hat seinen Vater ein Jahr zuvor bei einem Attentat verloren. Seitdem ist er als Ältester für seine Mutter und die drei kleineren Geschwister verantwortlich, musste die Schule abbrechen und schuftet in einer Metzgerei.

Eigentlich waren zwei Staaten geplant

Abends klettert er auf das Dach seines Elternhauses und trifft dort die im Nachbarhaus mit ihrem Vater und vielen weiteren Juden wohnende Therese, genannt Tessa. »Wenn er an Tessa dachte, dachte er an sein Zuhause … an seinen Lieblingsplatz auf dem Dach, wo er sich fühlte, als würde er über den Dingen schweben«, als Mo bereits mit seiner Familie das Haus verlassen hatte und zu Verwandten nach Bethlehem gezogen war. Wenige Monate zuvor, am 29. November 1947 war durch eine UN-Resolution der Weg zum Staat Israel geebnet worden. Die Briten, die das Land nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches regierten und von Arabern wie Juden gehasst wurden, zogen sich zurück, die innere Sicherheit war endgültig zerstört. Eigentlich waren damals zwei Staaten geplant: Israel und Palästina. Eigentlich …

Flüchtlingslager, in denen keine Flüchtlinge wohnen

Und damit begegnen die Lesenden in der Gegenwart der jungen Anat, die ihren Wehrdienst in der israelischen Armee leistet. Und dem jungen Palästinenser Karim aus einem Flüchtlingslager im Westjordanland. Dieser Satz enthält bereits zwei Reizwörter, die stellvertretend für die konträren, unvereinbaren Sichtweisen stehen: viele Israelis erkennen die Existenz Palästinas, auch nur die Möglichkeit eines gleichnamigen Nachbarstaates nicht an. Und auch nicht die von Palästinensern. Für die Fundamentalisten sind sie alles Araber und damit gefährliche Gewalttäter und Todfeinde. »Sie sah, wie der Junge um eine Mauerecke verschwand. Der Weg dahinter führte ins Aida-Flüchtlingscamp, das wusste sie. Auch, dass es schon lange kein richtiges Flüchtlingslager mehr war. Die meisten Bewohner waren dort geboren. Höchstens ihre Großeltern waren von irgendwo geflohen, aber das war nun wirklich lange her. Trotzdem wurden sogar die Babys hinter den hohen Betonmauern als Flüchtlinge bezeichnet. Irgendwann musste es aber auch mal gut sein, dachte Anat. Das sagte jedenfalls ihre Mutter immer.«

Religion stiftet Identität und treibt in die Radikalität

Die jungen Menschen, Leute wie Anat und Karim, Tessa und Mo, erleben und müssen sie tagtäglich ertragen – die Folgen dieses uralten Kampfes um ein kleines, geschichtsträchtiges  Stück Land. Religion spielt in allen Erzählungen eine fatale Rolle, sie stiftet Identität, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, des gemeinsamen WIR gegen DIE. Das Erlebte treibt auf beiden Seiten ursprünglich säkulare Menschen in den Fundamentalismus, in die Radikalität und den Extremismus.

Wegen Steinewerfens nach Militärrecht verurteilt

Die politische Journalistin Anja Reumschüssel hat sowohl einige Zeit in Israel, in Tel Aviv, als auch auf der anderen Seite der meterhohen, trennenden Mauer im Westjordanland gelebt. »Für eine Reportage habe ich palästinensische Jugendliche interviewt, die erst kürzlich aus Gefängnissen entlassen worden waren. Palästinensische Kinder und Jugendliche, denen zum Beispiel Steinewerfen vorgeworfen wird, werden nach Militärrecht behandelt«, schreibt Reumschüssel im Nachwort. »Sie erleben häufig Gewalt bei der Verhaftung und während der Haft, sie dürfen ihre Familien nicht sehen, erhalten keinen Schulunterricht und werden zu deutlich längeren Haftstrafen verurteilt als israelische Jugendliche, die für das gleich Vergehen vor ein Zivilgericht kommen.«

Die meisten wollen ein Ende der Gewalt

So wird die nächste Generation geprägt und die Spirale aus Hass und Gewalt immer weiter gedreht. Dass das nicht so sein muss, deutet Reumschüssel in ihrem sehr einfühlsamen und berührenden Roman an. Die meisten jungen Menschen wollen ein Ende der Gewalt. »Ich will kein Land, das auf Toten aufgebaut ist«, lässt sie Tessa ihrem Vater entgegnen, der für Israel terroristische Anschläge auf Moslems verübt. Komprimiert stellt die Autorin noch einmal die Positionen in einem Schlagabtausch zwischen Karim und Anats Mutter dar. Das Ende ist offen, doch versöhnlich und mit einer leisen Hoffnung. Die Israelis und Palästinenser, Juden und Moslems eint doch mehr als eine gemeinsame Vorliebe für Hummus.

Anja Reumschüssel: Über den Dächern von Jerusalem, Carlsen, 2023, 336 Seiten, ab 14, 16 Euro