Pinocchios übersetzerischer Werdegang

Neulich rückten die Übersetzer:innen in den Feuilletons in den Fokus, als anhand der Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb darüber diskutiert wurde, wer denn einen Texte übersetzen dürfe. Dieser Ton war neu. Wir Übersetzer:innen diskutieren liebend gern darüber, wie man einen Text übersetzen kann oder sollte. Wir ringen um Wirkungsequivalenz mit dem Original, schätzen ab, wie viel Nähe zum Original nötig und wie viel Freiheit möglich ist. Herkunft, Hautfarbe, Religion und Lebenserfahrungen haben dabei bis jetzt nie eine Rolle gespielt, denn zu den Hauptfähigkeiten von Übersetzer:innen gehört neben den Sprachkenntnissen eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen. Denn selbst wenn wir vergleichbare Erfahrungen machen, ganz gleich in welcher Lebenswelt, so empfindet jeder Mensch sie doch individuell und auf seine ganz spezielle Art. Niemand wird also das ganz genau das fühlen und assoziieren, was im Fall von Texten die Autor:innen beim Schreiben empfunden haben. Im besten Fall können Übersetzer:innen mit den Autor:innen kommunizieren und nachfragen – und bekommen dann Antworten, die die Feinheiten und Vielschichtigkeiten von Texten offenbaren. Diese gilt es dann zu übersetzen, also den Leser:innen in der Zielsprache zu vermitteln.
Und dennoch bleiben Übersetzungen immer nur ein »Serviervorschlag«, wie eine Kollegin mal sagte. Sie sind eine Momentaufnahme ihrer Zeit, sie unterliegen unzähligen (auch verlegerischen) Faktoren und haben die schlechte Angewohnheit noch schneller zu altern als die zugrundeliegenden Originaltexte. Was sich im Folgenden ziemlich gut erkennen lässt.

Von der Debatte zur Recherche

Während im Feuilleton also diese Debatte tobte – die für mich in dem Witz gipfelte, dass dann auch Kinderbücher nur noch von Kindern übersetzt werden sollten –, befasste ich mich mal wieder mit der italienischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Unter den Neuerscheinungen fand sich, wie quasi jedes Jahr, eine neue Pinocchio-Ausgabe – für die eine Übersetzung aus den 1960-Jahren genutzt wurde. Ich wunderte mich, fing an nach die Übersetzerin zu recherchieren, zu der ich nichts fand. Stattdessen stieß ich auf unzählige Übersetzer:innen-Namen, die alle Pinocchio übersetzt, neu bearbeitet, neu getextet, neu irgendwas hatten. Was soll ich sagen: In mir erwachte ein Sammeltrieb, den ich so von mir eigentlich nicht kenne … doch dieses Mal wurde es für mich immer spannender, mit jeder neuen Übersetzungsfassung, die ich in die Finger bekam.

Pinocchios lange Übersetzungshistorie

So stapeln sich bei mir nun Pinocchio-Ausgaben jeglicher Couleur – angefangen bei der deutschen Erstausgabe von 1905 über unzählige Versionen aus den 1940er-Jahren in traurig vergilbtem und zerfallendem Nachkriegspapier, bis hin zu verkürzten Erstlese-Versionen, einer Ausgabe in Bernerdeutsch, Comic-Adaptionen und Bilderbüchern. Die Versionen stammen aus der Schweiz, Österreich und der DDR. Von der Disney-Version aus den USA mal ganz zu schweigen. Insgesamt 54 deutsche Varianten plus das Original. 48 davon werde ich unten auflisten. Natürlich gibt es wesentlich mehr Pinocchio-Ausgaben auf dem Markt, weil quasi jeder Kinderbuchverlag seine eigene Variante herausgebracht hat. Doch oft haben die Verlage dann auf bereits bestehende Übersetzungen zurückgegriffen, was man an den Einträgen zu Pinocchio in der Deutschen Nationalbibliothek sehr gut erkennen kann, die in die Hunderte gehen.
Die mir vorliegenden Versionen umfassen jedoch immer noch nicht alle Übersetzungen, eine habe ich antiquarisch noch nicht gefunden. Ich werde sie, sobald die Bibliotheken wieder öffnen, in der Hamburger Staatsbibliothek einsehen können. Zudem gibt es eine Theaterfassung, auf die ich noch keinen Zugriff erhalten habe.
Pinocchio, der in Italien 1883 zum ersten Mal als Buch erschienen ist, dürfte somit eines der meistübersetzten Kinderbücher ins Deutsche sein. Für Alice im Wunderland von Lewis Carroll gibt Wikipedia 36 Übersetzungen seit 1869 an, allerdings mit sehr strengen Maßgaben (nur vollständige Versionen). Für Der kleine Prinz von Saint-Exupéry sind es neun, wobei das Original aber auch erst 1943 erschienen ist. Auch hier freue ich mich über Infos, falls ein Kinderbuch diese Zahlen noch toppt.

Drei Sätze im Vergleich

Da ich nun jedoch nicht die Zeit habe, all diese Bücher von vorn bis hinten Wort für Wort zu vergleichen, habe ich mir ein pragmatisches Vorgehen überlegt. Ich habe drei markante Sätze und Absätze ausgewählt, die für Übersetzer:innen interessant sind: Zunächst den Absatz, in dem Geppetto Pinocchio seinen Namen gibt. Warum sich die Übersetzer:innen für ihre Versionen entschieden haben, wird vermutlich immer ein Rätsel bleiben (evt. müsste ich die wissenschaftliche Literatur einsehen, ob es darüber etwas gibt, aber auch das ist ein Zeitfrage). Allein für die relativ schlichten italienischen Sätze: „–Che nome gli metterò? – disse fra sè e sè. – Lo voglio chiamar Pinocchio.“ gibt es kaum gleichlautende Übersetzungen.
Die Namensfrage war dann so interessant, dass ich noch ein paar Namen, Figuren und den „Caffé-e-latte“ verglichen habe. Schon was aus Romeo, dem Verführer wurde, ist irre. Und welches Getränk bereitet man Kindern zu? Auch das „Paese dei balocchi“ ist nicht so eindeutig zu benennen. Ich bin aus dem Staunen über die Kreativität und die Freiheiten der Kolleg:innen kaum noch rausgekommen.
Der zweite Satz schildert die Fee und ist allein wegen der Übersetzung von „turchina“, ihrer Haarfarbe, interessant: fifty shades of blue … könnte man sagen. Bei diesem Satz kann man jedoch auch einen Blick auf den Umgang mit der Syntax in den Übersetzungen werfen, die naturgemäß ebenfalls sehr unterschiedlich ausfällt.
Das dritte Beispiel schildert die „Schlacht der Schuljungen“, die sich ihre Bücher um die Ohren hauen. Collodi hat unter die Bücher zwei seiner eigenen Werke aufgeführt, die deutschen Leser:innen vermutlich nichts mehr sagen (falls überhaupt je). Auch hier ist die Kreativität der Übersetzenden und ihr freizügiger Umgang in Form von Ergänzungen, Kürzungen oder Umschreibung frappierend.
Bei diesem Blick auf die verschieden Übersetzungsfassungen geht es mir nicht um eine wissenschaftliche Analyse oder Einordnung, sondern viel mehr um eine Dokumention des Vorhandenen. Auch inhaltliche Erörterungen zum Inhalt und zur Lesart von Pinocchio sind hier nicht das Ziel. Mein Fokus liegt auf den Übersetzungen.

Die Vielfalt der Übersetzungen

Ich habe die Versionen als eine lange Liste zusammengestellt, die ich hier kommentarlos einstelle. Bei den eingekürzten Versionen fehlen oftmals gewisse Szenen oder Kapitel, so dass dann auch die ausgewählten Sätze fehlen. Das habe ich dann vermerkt. Die Walt-Disney-Version habe ich hier nicht berücksichtigt, weil es sich dabei um einen Sonderfall handelt und die Texte zumeist aus dem Englischen übersetzt wurden. Wer sich auf die Lektüre dieser langen Liste einlässt, wird sich seine eigenen Gedanken zu den Übersetzungen machen können. Eine Bewertung, was gelungen ist oder nicht, wage ich nicht vorzunehmen, denn jede Version ist in ihrem ganz eigenen Kontext und ihrer ganz eigenen Zeit entstanden. Doch allein an diesen drei Beispielssätzen zeigt sich – für mich auf jeden Fall – wie sehr sich Übersetzungen wandeln und wie frei Übersetzer:innen arbeiten (können). Und wie wenig die Frage bringt, wer einen Texte übersetzen darf.
Noch habe ich keine Lieblingsübersetzung ausgemacht, noch habe ich keine gefunden, die ich als „kanonisch“ bezeichnen würde. Aber dafür bin ich eben selbst zu sehr Übersetzerin und würde ja am liebsten den gesamten Pinocchio auch noch mal übersetzen. Es würde sicher wieder etwas ganz anderes dabei herauskommen.

Da diese Auflistung wirklich sehr lang ist, könnt ihr euch das Ganze auch als unkommentiertes PDF hier herunterladen:

Es ist nicht weniger lang, aber vielleicht besser lesbar.

Illustrationen auf Instagram

Auf meinem Instagram-Kanal letteraturen werde ich in den kommenden Wochen die einzelnen Bücher kurz vorstellen, da die meisten von ihnen illustriert sind und selbst diese Bilder auf ihre Art so einiges über den Umgang mit und den Wandel von Pinocchio verraten.

Ein italienisches Original und 46 deutsche Versionen

Carlo Collodi
Le avventure di Pinocchio
Illus: Enrico Mazzanti
1883

Nomi/Namen  
Mastr’Antonio/Maestro Ciliegia | compar Geppetto | Burattinaio Mangiafuoco | Caffè-e-latte | Romeo/Lucignolo | Paese degli balocchi | Pesce-cane – «l’Attila dei pesci e dei pescatori»

Kap. III, S. 29   –Che nome gli metterò? – disse fra sè e sè. – Lo voglio chiamar Pinocchio. Questo nome gli porterà fortuna. Ho conosciuto una famiglia intera di Pinocchi: Pinocchio il padre, Pinocchia la madre e Pinocchi i ragazzi, e tutti se la passavano bene. Il più ricco di loro chiedeva l’elemosina.Kap. XVI, S. 86   In quel mentre che il povero Pinocchio impiccato dagli assassini a un ramo della Quercia grande, pareva oramai più morto che vivo, la bella Bambina dai capelli turchini si affacciò daccapo alla finestra, e impietositasi alla vista di quell’infelice che, sospeso per il collo, ballava il trescone alle ventate di tramontana, battè per tre volte le mani insieme, e fece tre piccolo colpi.Kap. XXVII, S. 148   Allora I ragazzi, indispettiti di non potersi misurare col burattino a corpo a corpo, pensarono bene di metter mano ai proiettili, e sciolti I fagotti de’ loro libri di scuola, cominciarono a scagliare contro di lui i Sillabari, le Grammatiche, i Giannettini, i Minuzzoli, i Racconti del Thouar, il Pulcino della Baccini e altri libri scolastici.

Hippeltitsch’s Abenteuer. Geschichte eines Holzbuben.
In autorisierter deutscher Bearbeitung von
Paul Artur Eugen Andrae
Illus: E. Chiostri
Carl Siwinna
Kattowitz und Leipzig, 1905
262 Seiten

Meister Fridolin/Meister Kirsche | Schlampel | Budenbesitzer Feuerfresser| Kakaogeschmause | Land der Müßiggänger | Paul, Freund Spitz | Haifisch – „Geißel der Fische und Fischer“  

  „Welchen Namen soll ich ihm geben?“ Fragte er sich. „Hippeltitsch will ich ihn heißen! Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte eine ganze Familie Hippeltitsch: Hippeltitsch der Vater, Hippeltitschin die Mutter und Hippeltitschs auch die Kinder, und allen ging es gut. Der Reichste unter ihnen bettelte.“  Während der arme Hippeltitsch von den Mördern an einem Aste der großen Eiche aufgehängt wurde und jetzt einem Toten ähnlicher sah als einem Lebenden, trat das schöne Mädchen mit den dunkelbauen Haaren ans Fenster. Und da sie mit jenem Unglücklichen, der aufgehängt im Winde schaukelte, Mitleid hatte, klatschte sie dreimal leise in die Hände.  Aufgebracht, sich mit dem Holzbuben nicht Brust an Brust messen zu können, griffen sie zu Wurfgeschossen. Und nachdem sie ihre Schultaschen aufgeschnürt hatten, schleuderten sie ihre Fibeln, Grammatiken, Lesebücher, Heys Fabeln und andere Schulbücher gegen ihn; …

Die Geschichte vom hölzernen Bengele für große und kleine Kinder
Ü: Anton Grumann
Illus: Enrico Mazzanti
Herdersche Verlagshandlung, Freiburg, 1914
257 Seiten

Schreiner-Toni/Meister Pflaum | Meister Seppel | Direktor Feuerschlund | Kaffee mit Kuchen | Faulenzerland | Friedrich, Freund Röhrle | Der Große Hai, von dem ihr schon gehört habt


  Es quälte ihn nur noch eine Sorge. Er wackelte mit dem Kopfe hin und her, sann und dachte und fragte sich: „Ein Name!? – Ein Name!? – Was für einen Namen soll ich meinem Hampel geben?“ Plötzlich sprang er auf, griff sich an die Stirne und sagte: „Ja! ‚Bengele‘ muss er heißen. Das ist ein schöner Name und er bringt ihm Glück. Ich habe eine ganze Familie Bengele gekannt: der brave Vater Bengele, die fleißige Mutter Bengele, die Bengele Buben, alle so tüchtig, und allen ist es in der Welt gut gegangen. Einer von ihnen hat sogar Kienholz in der Stadt verkauft.“  In diesem Augenblicke, als Bengele zu sterben glaubte, trat das Mägdlein mit dem goldenen Haar wieder ans Fenster. Es hatte Mitleid bekommen mit dem armen Hampelchen, das vom Winde gefaßt hin und her schaukelte. Zierlich klatschte das holde Kind dreimal in die Hände und schlug dreimal mit dem Fuß auf den Boden.  Die Knaben waren wütend, daß sie Bengele nicht zwingen konnten, und wollten ihm auf eine andere Art beikommen. – Rasch machten sie ihre Schulsäcke auf und warfen ihre Bücher gegen ihn. Da kam eine Grammatik geflogen, da ein Rechenbuch, da eine Naturgeschichte, da ein Geographiebuch, ein Atlas und sogar ein Federkasten.

Hölzele, der Hampelmann, der schlimm ist und nicht folgen kann! Eine viellehrreiche Böse-Buben-Geschichte
Ü: Franz Latterer
Illus: Anton Kenner
Steyrermühl Verlag, Wien, 1923
166 Seiten

Meister Anton/Meister Kirschnas | Gevatter Armerling | Feuerfresser | Milchkaffee mit Schlagsahne | Spielestadt | Franz, Freund Döchterle | Haifisch [ohne Attila]  

  »Wie soll ich ihn nur taufen? … Halt! Ich habe es: „Hölzele“ will ich ihn nennen. Erstens weil er aus Holz ist, zweitens weil dieser Name sicher Glück bringt. Ich habe ja mal eine ganze Familie Hölzele gekannt: Herr Hölzele der Vater, Frau Hölzele die Mutter, Klein-Hölzele die Kinder und allen ist es gut gegangen; der Reichste von allen ging betteln.«  Während nun Arm-Hölzele, den die bösen Räuber an dem Zweig der Großen Eiche aufgehängt hatten, mehr tot als lebendig war, erschien am Fenster des Häuschens wieder das schöne Mädchen mit den schwarzblauen Haaren. Diesmal aber war sie gar nicht mehr tot und als sie den armen Wurstel an der Großen Eiche hängen sah und sah, wie er im Winde hin- und herbaumelte, ergriff sie tiefe Mitleid mit ihm. Dreimal schlug sie mit ihren Händchen zusammen, daß es dreimal niedlich patschte.  Die Buben ärgerten sich, daß es ihnen nicht möglich war, an Hölzele heranzukommen und sich mit ihm, einer nach dem andern, im Raufen messen zu können. Da kamen sie auf den Einfall, Hölzele zu bewerfen und zu beschießen mit den Geschossen, die sie eben zur Hand hatten, mit ihren Schulbüchern. Die Bücherpacke wurden rasch aufgeschnallt und schon flogen die Geschosse gegen Hölzele, das Lesebuch, das Sprachbuch, die Rechenlehre und die Geometrie, der Atlas und die Geographie.

Kasperles Abenteuer. Die Geschichte eines Holzbuben, der schließlich ein wirklicher Knabe wird
deutsch bearbeitet von Heinrich Siemer
Illus: Ottilie Kollwitz
Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin, o.J.
221 Seiten – vermutlich 1920er oder 1930er Jahre (Titelei ist in Sütterlin gesetzt)

Meister Anton/Meister Kirsche | Meister Seppel | Feuerfresser | Schokolade mit Schlagsahne | Spielzeugland | Friedrich, Freund Spindelfritz | Riesenfisch

  „Welchen Namen soll ich ihr geben?“ fragte er sich lachend. „Ich glaube, ich werde sie Kasperle nennen. Der Name wird ihr Glück bringen. Ich kannte einmal eine Familie, die so heiß. Da war Kasper, der Vater, Kasperline, die Mutter und Kasperle, das Kind, und allen ging es gut. Der reichste von ihnen war ein Bettler.“  Während das arme Kasperle am Zweig der großen Eiche hing, offenbar mehr tot als lebendig, erschien das wunderschöne Kind mit dem blonden Haar wieder am Fenster. Wie es das unglückliche Kasperle an dem Ast hängen sah, vom Nordwind hin und her geschleudert, wurde es von Mitleid ergriffen. Es klatschte leise dreimal in die Hände.  Die Knaben wurden zornig, als sie sahen, daß sie Kasperle im Nahkampf nicht überwältigen konnten, und griffen zu anderen Waffen. Sie nahmen ihre Ränzel vom Rücken und begannen, ihre Schulbücher gegen ihn zu schleudern: Grammatiken, Wörterbücher, Lesebücher, Geographiebücher und andere dicke Bände.

Klötzlis lustige Abenteuer
frei nach dem Italienischen von Josef Kraft
Illus: Ettore Cocchi
Verlag Huber & Co., Frauenfeld und Leipzig, 1938
146 Seiten

Schreiner Toni/Meister Zwetschg | Sepp | Hampelmeister Feuerfresser | Kaffee | Gänggeliland | Fritz, Freund Zündi | Riesenhai „Herr der Meere“

  „Was für einen Namen soll ich ihm geben? … Was, ich taufe ihn Klötzli! Dieser Name bringt ihm Glück. Ich kannte ja eine ganze Klötzli-Familie: Klötzli-Vater, Klötzli-Mutter und Klötzli-Buben. Alles feine Leute. Der reichste davon ging sogar betteln. Jawohl, Klötzli!“  In diesem Augenblick erschien das Mädchen mit dem blauen Haar wieder am Fenster. Es sah den armen Hampelmann im Biswind baumeln und bekam Mitleid mit ihm. Es klatschte dreimal leicht in die Hände.  Aus der Nähe war nichts zu machen. Darüber waren sie schrecklich wütend. „Bücher schmeißen!“ schrie da einer. Die Schultaschen wurden aufgemacht. Rechenbücher, Lesebücher, Lineale, Griffelschachteln sausten Klötzli um den Kopf.

Pinocchio. Die Geschichte des hölzernen Hampelmanns, der ein richtiger Junge wurde
Ü: Erni Russig
Illus: Jo von Kalckreuth
Wiking Verlag, Leipzig, 1944
178 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Seppel | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Kamerad Docht | Riesenhai, „Das Fischgrab“

  „Wie werde ich ihn nennen? Fragte er sich. „Ich will ihn Pinocchio1 taufen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie Pinocchio gekannt. Pinocchio Vater, Pinocchio Mutter und Pinocchio Kinder, und allen ging es gut. Der reichste von ihnen war ein Bettelmann.“   1 Sprich: Pinokkio (= der länglich-runde Kern der Frucht der Pinie)  Während der arme Pinocchio an einem Ast der „großen Eiche“ mehr tot als lebendig hing, schaute das schöne Mädchen mit den blauen Haaren wieder zum Fenster heraus. Beim Anblick des Unglücklichen, der da am Halse aufgehängt im Winde baumelte, überkam sie das Mitleid. Sie klatschte dreimal in die Hände.  Voller Wut, daß es ihnen nicht gelang, dem Hampelmann zu Leibe zu gehen, fingen die Jungen an, zu Wurfgeschossen Zuflucht zu nehmen. Sie öffneten die Schultaschen, und schon kamen ABC-Bücher, die Grammatik, das Rechenbuch, der Atlas und anderes auf ihn zugeflogen.

Larifaris Abenteuer. Eine Kasperlgeschichte nach C. Collodis „Pinocchio“
frei übersetzt: Louis Concin
Illus: Reinken
Ritsch-Verlag, Bludenz, 1947
Teil 1-4, 130 Seiten 

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Valentin | Theaterdirektor Feuerfraß | Kakao mit Schlagobers | Land der Spiele | Hans – Freund Docht | Riesenhaifisch, „Attila der Fische und der Fischer“

  „Wie soll ich ihn aber nennen?“ fragte er sich. „Ich heiße ihn Larifari. Dieser Name bring Glück. Ich habe einmal eine ganze Familie Hampelmännchen gekannt. Der Vater hieß Larifari, die Mutter Frau Larifari und Larifaris hießen alle Kinder. Allen ging es gut, ja der Reichste von ihnen war sogar ein Bettler.“  Als nun der arme Larifari am Aste der großen Eiche hing und schon mehr tot als lebendig war, sah das Mädchen mit den türkisblauen Haaren neuerlich zum Fenster hinaus und erblickte den unglücklichen Hampelmann, der dort im Winde hin- und herschaukelte. Tiefes Erbarmen ergriff sie. Das schöne Mädchen schlug dreimal in die Hände.  Da sich die Buben mit Larifaris Kräften nicht messen konnten, wurden sie böse und trachteten, ihn auf andere Art unterzukriegen. Bald waren die Schulranzen aufgemacht und die Bücher flogen nur so gegen den Armen Hampelmann. Da regnete es Fibeln und Rechenbücher, große und kleine Schulbücher aller Art, […]

Pinocchio der Hampelmann
neubearbeitet von Marina Thudichum
Illus: Hans Toscano del Banner
Salzburger Jugendverlag, 1947
213 Seiten

Schreiner Toni/Meister Powidl | Schnitzer Sepp | Carlo Diabolicus | Kaffee, Kuchen und Butterbrot mit Honig | Vakanzien/Spielestadt | Fritz, Freund Röhrle | Haifisch [Dampfschiff-Vergleich]

  „Hör zu, was ich dir sage! Pinocchio sollst du heißen und du sollst ein wunderbarer Hampelmann werden! Alle Hampelmänner der Welt sollen vor Staunen die Arme und Beine hängen lassen, wenn sie dich sehen, und ich werde ein glücklicher Vater sein.“  Das schöne Mädchen mit den schwarzen Haaren, das Pinocchio am Fenster des Häuschens gesehen hatte, war eine gute Fee und hieß Felicitas. Weil sie eine Fee war, wußte sie mehr als gewöhnliche Menschen, und sie kannte auch den ungezogenen Hampelmann ganz genau. Als ihn aber nun so zwischen Himmel und Erde baumeln sah, erfaßte sie großes Mitleid mit ihm. Sie beugte sich aus dem Fenster und klatschte dreimal in die Hände.  Die Meerspinne zog den Kopf ein und kroch zurück, und die sieben Buben sahen sich nach neuen Wurfgeschossen um. Da fiel ihr Blick auf Pinocchios Schulmappe, die noch vollgepackt im Sande lag. Sogleich schnallten sie sie auf und fingen an, mit seinen Büchern und Heften nach ihm zu werfen. Der Lange nahm ein besonders Dickes Rechenbuch mit festen Lederecken und zielte damit nach dem Kopf des Hampelmanns.

Die Abenteuer des Pinocchio,
Ü: Vico Mantovani,
Illus: Gerhard Klaus
Erich Schmidt Verlag, Berlin, o.J.
vermutlich 1948

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Schlaraffenland | Romeo, Freund Docht | Haifisch, der „Attila der Fischer und Fische“

  „Welchen Namen werde ich ihm geben?“ fragte er sich. „Ich will ihn ‚Pinocchio‘ nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie Pinocchio gekannt: Pinocchio – der Vater, Pinocchia – die Mutter und Pinocchi – die Kinder, und allen ging es gut: der reichste von ihnen mußte betteln.“  Als nun der arme, von Mördern an einem Zweig der „Großen Eiche“ aufgehängte Hampelmann mehr tot als lebendig zu sein schien, zeigte sich das schöne Mädchen mit dem blauschwarzen Haar von neuem am Fenster. Von Mitleid ergriffen beim Anblick des armen Unglücklichen, der, am Halse aufgehängt und von den Stößen des Nordwindes hin und hergeworfen, hin und her tanzte, klatschte es dreimal in die Hände.  Da ärgerten sich die Jungen, daß sie sich mit dem Hampelmann im Nahkampf nicht messen konnten, darum sahen sie sich nach Geschossen um. Sie ergriffen ihre Schulbücher und schleuderte sie nach Pinocchio. Es flogen die Fibel, die Grammatik, das Lesebuch, das Rechenbuch und andere, […]

Purzel der Hampelmann. Eine abenteuerliche Geschichte
Ü: Alois Pischinger
Illus: Susi Storck-Rossmanit
Carl Übereuter, Wien, 1948
254 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsch | lieber Josef | Herr Direktor Feuerfresser | Faulenzerland | Leopold, Freund Dochterl | zweihundert Schalen Schokolade | der riesige Haifisch, „der Attila der Fische und der Fischer“

  „Aber wie soll ich ihn nennen?“ dachte er bei sich und überlegte hin und her. Es wollte ihm nichts Rechtes einfallen. Doch plötzlich tippte er sich an den Kopf und rief freudig aus: „Ich hab’s! Ich will ihn Purzel heißen, ja Purzel! das ist ein schöner Name und wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie gekannt, die Purzel hieß, Vater, Mutter und Kinder, alle hießen so, und allen ist es in der Welt gut gegangen. Einer von ihnen hat es gar weit gebracht; er durfte im Zirkus Purzelbäume schlagen und am Ende der Vorstellung Geld einsammeln.“  Während der arme Purzel am Strick auf der großen Eiche hing und dem Tode nahe war, erschien das schöne Mägdlein mit den blauschwarz schimmernden Haaren wieder am Fenster des Häuschens. Beim Anblick des unglücklichen Knaben, der da im Wind an einem Ast baumelte, schlich sich inniges Mitleid in das Herz der lieblichen Jungfrau. Sie klatschte dreimal in die Hände und stampfte dreimal mit dem zierlichen Füßchen auf den Boden.  Die Buben waren wütend, daß sie nicht an den Hampelmann herankommen konnten, um im Ringen ihre Kräfte mit ihm zu messen. Da kamen sie auf den Gedanken, ihn mit Geschossen zu bewerfen. Sie rissen ihre Schultaschen auf, und schon flogen ihre Büchergeschosse gegen den wackeren Kämpfer. Da kam ein Lesebuch geflogen, da ein Rechenbuch, eine Naturgeschichte, ein Atlas, und noch viele andere Schulbücher traten denselben Weg an.

Die wunderbare Geschichte des Hampelmanns Pinocchio
Ü: Ella Zahn
Illus: Helmut Bibow
Gustav Kiepenheuer Verlag, o.O., 1948
192 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsch | Gevatter Pepi | Feuerfresser | Schokolade und Torte | Schlaraffenland | Romeo, Freund Döchtchen | Riesenhai, „Attila der Fische und der Fischer“

  „Welchen Namen werde ich ihm geben?“ fragte er sich. „Ich will ihn „Pinocchio“ nennen. Dieser Name wird ihm bestimmt Glück bringen. Ich habe einmal eine ganze Familie von Pinocchi gekannt. Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchi die Kinder. Allen ginge es großartig. Der reichste von ihnen bettelte um Almosen…“  Der arme Pinocchio, den die Räuber auf einen Zweig der Großen Eiche aufgehängt hatten, schien mehr tot als lebendig, als ihn das schöne Mädchen mit den blauschwarzen Haaren von ihren Fenstern erblickte. Der Bergwind schaukelte den armen Jungen hin und her. Da klatschte sie dreimal in die Hände und klopfte dreimal leicht auf das Fensterbrett.  Die Buben waren wütend, daß sie im Handkampf unterlagen und sahen sich nach Waffen um; sie öffneten schnell ihre Schulranzen und warfen nun mit Büchern nach dem Hampelmann: die Grammatik, das Rechenbuch, die Naturgeschichte flogen durch die Luft.

Die Abenteuer des Kasperle Pinocchio
Ü: Hildegard Ossen
Stahlberg Verlag, Karlsruhe, 1948
202 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Freund Beppo | Theaterdirektor Feuerfraß | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Strickchen | der riesige Haifisch, „der Schrecken der Fische und der Fischer“

  „Wie soll ich ihn nennen?“ sagte er zu sich. „‘Pinocchio‘ soll er heißen, dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie gekannt, die alle Pinocchio hießen: Pinocchio, der Vater, Pinocchia, die Mutter, und Pinocchi, die Kinder, und allen ist es gut gegangen; der reichste von ihnen war ein Bettler.“  Als der arme Pinocchio, von den Räubern aufgehängt, mehr tot als lebendig am Ast der dicken Eiche baumelte, erschien das schöne Mädchen mit den himmelblauen Haaren wieder am Fenster, und wie es den Unglücklichen da am Ast der Eiche baumelnd im Takt des Nordwindes tanzen sah, füllte sich sein Herz mit Mitleid und schnell klatschte es dreimal in die Hände.  Als die Jungen merkten, daß sie so dem Kasperle nichts anhaben konnten, wurden sie wütend und sahen sich nach Wurfgeschossen um; im Nu wurden die Ranzen aufgerissen und Lesebücher, Grammatiken, Rechenbücher und Federkästen wurden gegen ihn geschleudert.

Die Abenteuer des Pinocchio
Ü: Hubert und I. Tigges
Illus: Reinhold Bicher
Marées-Verlag, Wuppertal, 1948
168 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsch | Meister Sepp | Direktor Feuerfresser | Milchkaffee | Schlaraffenland | Julius, Freund Spitzdocht | Großer Hai, „Attila der Fische und Fischer“

  „Welchen Namen soll ich ihm geben?“ sagte er zu sich selbst. „Ich will ihn Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie Pinocchio bekannt, Pinocchio den Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchi die Kinder, und allen ist es gut ergangen. Der reichste von ihnen ging betteln.“  In dem Augenblick als der arme, von den Räubern an einem Ast der „Großen Eiche“ aufgehängte Pinocchio mehr tot als lebendig zu sein schien, zeigte sich das schöne Mädchen mit den blauschwarzen Haaren wieder am Fenster. Als es den Unglücklichen am Halse aufgehängt im Nordwind seinen Reigen tanzen sah, bekam es Mitleid, klatschte dreimal in die Hände und stampfte dreimal mit dem Fuß auf den Boden.  Dann versuchten es die Jungen, die sich darüber ärgerten, mit Wurfgeschossen; sie öffneten ihre Taschen mit den Schulbüchern und begannen, ihre Fibeln, Grammatiken, Lesebücher, Rechenbücher, ihre Naturgeschichte, ihr Geographiebuch, ihren Atlas und andere Schulutensilien gegen ihn zu schleudern.

Kasperls Abenteuer
Ü: Egle Rollinger
Illus: W. Kurasch
Scholle Verlag, Wien, o. J. (vermutlich 1949)
207 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Franzl | Kasperletheaterdirektor Feuerfresser | Kaffee mit Schlagobers | Spielzeugland | Fritz, Docht | Riesenhaifisch, der Schrecken aller Fische und Fischer

  „Welchen. Namen werde ich ihm geben?“ sprach er bei sich. „Ich will ihn ‚Bimbo‘ nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine große Familie von Bimbos gekannt: Vater Bimbo, Mutter Bimbo und Kinder Bimbo. Und alle waren glücklich und wohlauf. Der Reichste von ihnen war Bettler.“  Während der arme Bimbo von den Räubern auf den Ast der Eiche gehängt wurde und schon tot schien, zeigte sich wieder das Mädchen mit den blauen Haaren am Fenster und hatte Mitleid mit dem Unglücklichen, der, am Halse aufgehängt, im Winde hin und her schaukelte. Sie klatschte dreimal in die Hände.  Die Buben, gereizt und verärgert, weil sie mit dem Kasperl nicht Körper an Körper kämpfen konnten, entschlossen sich, zu Wurfgeschossen zu greifen. Sie machten ihre Schulbündel auf und begannen gegen ihn Lesebücher, Federpennale und sonstige Schulrequisiten zu werfen.

Purzels Abenteuer. Die Geschichte vom Pinocchio
Ü: Charlotte Birnbaum
Holzschnitte: Alfred Zacharias
Verlag Kurt Desch München, 1949
212 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Knurz | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Kinderspielland | Paul, Freund Strich | Wal, der euch hier schon mal begegnet ist

  Dabei überlegte er, wie der Holzbub heißen solle. „Ich hab’s“, rief er plötzlich. Ich nenne ihn Purzel. Dieser Name bringt ihm sicher Glück. Ich kannte eine ganze Familie Purze von Pinienholz. Purz den Vater, Purzi die Mutter, Purzel und Purzelchen die Kinder, und allen ging es gut. Der reichste von ihnen war ein Bettler.“  Da trat das schöne Mädchen mit den blauen Haaren wieder ans Fenster. An der Großen Eiche baumelte der Unglückliche, und der Nordostwind schlenkerte ihm Arme und Beine durcheinander, daß es aussah, als wolle der Purzel schuhplatteln. Dem Mädchen schmolz das Herz vor Mitleid. Es war ja wohl gestraft genug. Sie klatschte dreimal leicht in die Hände.  Da sich nun die Jungen an Körperkräften nicht mit dem Holzbub messen konnten, griffen sie in ihrer Wut zu Wurfgeschossen. Jetzt hagelte es Buchstabierfibeln, Sprachlehren, Rechenbücher, Fabeln und alles, was in ihren Ranzen zu finden war.

Pinocchio
Ü: Jakob Lorey
Ellermann, 1950

  • Liegt nicht vor

Pinocchios Abenteuer
Ü: Heinz Riedt
(Lizenz-Nr. 301.120/128/60), 20,5 cm hoch
Ü: Pan Rova
(Lizenz-Nr. 301.120/77/54) 21 cm hoch
Holzschnitte: Werner Kemke
Aufbau-Verlag, Berlin, 1954
250 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Land der Spielzeuge | Romeo, Freund Docht | Haifisch, Attila der Fische und Fischer

  ‚Welchen Namen soll ich ihm nur geben?‘ überlegte er sich. ‚Ich will ihn Pinocchio heißen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte mal eine ganze Familie von Pinocchi: Pinocchio hieß der Vater, Pinocchia hieß die Mutter und Pinocchi hießen die Kinder, und alle haben sich gut gehalten. Der reichste lebte von Almosen.‘  Als nun der arme Pinocchio, den die Mordsgesellen an einem Ast der Großen Eiche aufgehängt hatten, mehr tot als lebendig schien, kam das schöne Mädchen mit dem türkisblauen Haar wieder ans Fenster. Sie wurde beim Anblick des unglücklich Erhängten, der unter den Stößen des Nordwinds herumwirbelte, von tiefem Mitleid ergriffen und klatschte dreimal kurz in die Hände.    Da ärgerten sich die Jungs, daß sie im Nahkampf nicht an den Hampelmann herankonnten, und griffen zu ihren Wurfgeschossen. Sie öffneten ihre Ranzen und bewarfen ihn mit ihren Fibeln und Grammatiken, mit ihren „Giannettini“ und „Minuzzoli“, mit den „Erzählungen“ von Thouar, dem „Pulcino“ von Baccini und noch anderen Schulbüchern.

Pinocchio
Ü: Rudolf Köster
Illus: Jan Marcin Szancer
Alfred Holz Verlag, Berlin, 1956
192 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirschnase | Gevatter Geppetto | Direktor Feuerfresser | Milchkaffee | Romeo, Freund „Docht” | Spielzeugland | Walfisch, „das Grab der Fische und Fischer”

  „Welchen Namen werde ich ihr geben?“ fragte er sich. „Ich werde da hölzerne Menschlein Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie von Pinocchios gekannt. Pinocchio hieß der Vater, Pinocchia die Mutter und PInocchi die Kinder. Und allen ging es glänzend. Der Reichste von ihnen mußte betteln gehen.“  In dem Augenblick, als der arme Pinocchio schon mehr tot als lebendig an einem Ast der „Großen Eiche“ hing, zeigte sich das Mädchen mit den dunkelblauen Haaren erneut am Fenster, und da sie bei dem Anblick des Unglücklichen, mit dem der Nordwind seinen Reigen aufführte, Mitleid empfand, klatschte sie dreimal in die Hände.  Da griffen die Jungen, ärgerlich, sich mit dem hölzernen Burschen nicht Körper an Körper messen zu können, zu Wurfgeschossen. Sie machten die Schulranzen auf und schleuderten ihre Bücher gegen ihn: Fibeln, Rechenbücher, Sprachlehren und anderes mehr;  […]

Die Geschichte vom Hölzernen Hampelchen
Ü: Lily Dolezal
Atlas-Verlag, Köln, o.J.
143 Seiten
– vermutlich 1956

Meister Anton/Meister Kirsche | Freund Beppo | Theaterdirektor Feuerfraß | Kaffee und Kuchen, Kakao und Brötchen | Ferienland | Robert, Strickchen | der riesige Haifisch

  »Wie soll ich ihn nennen?« sagte er zu sich. »Hampelchen solle es heißen, dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie gekannt, die alle Hampel hießen: Hampel-Vater, Hampel-Mutter und Hampel-Kinder. Allen ist es gut gegangen; der reichste von ihnen war ein Bettler.«  Als das arme Hampelchen den Tod vor Augen sah, erschien das schöne Mädchen mit den goldenen Haaren wieder am Fenster, und wie es den Unglücklichen da am Ast der Eiche baumelnd im Takt des Nordwindes tanzen sah, füllte sich sein Herz mit Mitleid, und schnell klatschte es dreimal in die Hände.  Als die Jungen merkten, daß sie so dem Hampelmann nichts anhaben konnten, wurden sie wütend und sahen sich nach Wurfgeschossen um; im Nu wurden die Ranzen aufgerissen, und Lesebücher, Grammatiken, Rechenbücher und Federkästen wurden gegen ihn geschleudert.

Pinocchios Abenteuer
Ü: Nino Erné,
Illus: Martin und Ruth Koser-Michaels
Droemersche Verlagsanstalt, München/Zürich, 1959
158 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsch | Gevatter Joseph | Puppenspieler Feuerschluck | Schokolade | Rudolf, Freund Bindfaden | Spielzeugland | Haifisch, „der Dschingis Khan der Fische und Fischer“

  „Wie soll ich sie denn nennen?“ sagte er zu sich selbst. „Ich weiß schon: ich nenne sie Pinocchio. Das wird ihr Glück bringen. Ich habe mal eine ganze Pinocchio-Familie gekannt: Vater Pinocchio, Mutter Pinocchio und einen Hafen kleiner Pinocchios; allen ginge es glänzend, der reichste von ihnen bettelte um Almosen.“  Zur selben Zeit, als der arme Pinocchio, mehr tot als lebendig, an einem Ast der tausendjährigen Eiche hing, trat das schöne Mädchen mit den Blauen Haaren noch einmal ans Fenster. Der Anblick des Unglücklichen, der da im Nordwind hin- und herschaukelte, rührte sie. Dreimal klatschte sie sacht in die Hände.  Die Buben wurden immer wütender, weil sie nicht an den Kasper herankommen konnten, und fingen an, Geschosse auf ihn zu schleudern, nämlich ihre Schulbücher, das Lesebuch, das Rechenbuch, die Grammatik und so weiter.

Die Abenteuer des Pinocchio

Ü: Hannelore Mücke-Wien
Illus: Libico Maraja
Heide Verlag, Linz
Fratelli Fabbri Editori, Milano, 1960
63 Seiten

Meister Antonio | Vater Kirsche/Freund Gepetto | Marionettenführer Feuerfresser | Milchkaffee | Land der Freuden | Romeo, Freund Spargel | Wal, „Attila“

  Er nannte ihn Pinocchio.  Als Pinocchio schon ehr tot als lebendig schien, wurde das schöne, junge Mädchen mit den blauen Haaren von Mitleid bewegt. Der unglückliche Hampelmann, der im Wind hin- und herschaukelte, dauerte sie. Sie klatschte dreimal in die Hände.  Die Kinder waren wütend, weil sie dem Hampelmann nicht nahekommen konnten, und begannen, ihn mit Schulbüchern zu bewerfen. Grammatik- und Geographie-, Lese- und Rechenbücher flogen auf Pinocchios Kopf zu.

Pinocchios Abenteuer
Ü: Paula Goldschmidt
Illus: Jan Marcin Szancer
Alfred Holz Verlag, Berlin, 6. Auflage 1966
208 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | Riesenwalfisch, die Geißel der Fische und der Fischer

  „Welchen Namen soll ich ihr geben?“, überlegte er. „Ich werde den kleinen Kerl Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte eine ganze Familie von Pinocchi, Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchi die Kinder, und allen ging es großartig. Der Reichste von allen war ein Bettler.“  In diesem Augenblick, als der arme Pinocchio, den die Räuber an einem Ast der Großen Eiche aufgeknüpft hatten, schon mehr tot als lebendig war, da erschien das schöne Mädchen mit dem blauen Haar wieder am Fenster. Als es den unglückseligen Pinocchio erblickte, der an seiner Schnur baumelte und mit dem Nordwind tanzte, fühlte es tiefes Mitleid und klatschte dreimal in die Hände.  Da griffen die Jungen, verärgert darüber, dass sie sich mit Pinocchio nicht Körper an Körper messen konnten, schließlich zu Wurfgeschossen. Sie öffneten ihre Ranzen und schleuderten ihre Bücher nach ihm: ihre Fibeln, die Sprachlehre und die Rechenbücher, ihre Lesebücher und ganze Bände mit Erzählungen und alles, was sie sonst noch an Schulbüchern bei sich trugen.

Die Abenteuer des Pinocchio/Le avventure di Pinocchio
zweisprachige Ausgabe
Ü: Helga Legers
Max Huber Verlag, München, 1967
341 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsch | Freund Gepetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | das Land der Spielereien | Romeo, Freund Kerzendocht | der riesige Haifisch, „der Attila der Fische und der Fischer“

  »Welchen Namen soll ich ihm geben?« sagte er zu sich selbst. »Ich will ihn >Pinocchio< nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Pinocchio-Familie gekannt: Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchi die Kinder, und allen ging es gut. Der reichste unter ihnen bettelte um Almosen.«  Während der arme Pinocchio, von den Mördern an einem Ast der »Großen Eiche« aufgehängt, mehr tot als lebendig schien, zeigte sich das schöne Mädchen mit den dunkelblauen Haaren wieder am Fenster und empfand Mitleid beim Anblick des Unglücklichen, der, am Hals aufgehängt, eine Art Springtanz im Nordwind vollführte. Es klatschte dreimal in die Hände mit drei leichten Schlägen.  Erbost darüber, sich im Nahkampf mit dem hölzernen Buben nicht messen zu können, gingen die Jungen zum Angriff mit Wurfgeschossen über. Sie schnallten die Bündel ihrer Schulbücher auf und begannen ihre Fibeln, Grammatikbücher, und die Giannettini und die Minuzzoli1, die Erzählungen von Thourar, das Küken von Baccini und andere Schulbücher gegen ihn zu schleudern.

  1 Giannettino und Minuzzolo sind Titel zweier Bücher von Collodi.

Die Abenteuer des Pinocchio. Eine Kasperlgeschichte
Ü und Bearbeitung: Maria Lutz
Illus: Helga Demmer
Obelisk-Verlag, Innsbruck, o.J.
vermutlich 1967

Meister Antonio/Meister Kirsch | Freund Geppetto | Direktor Feuerfresser | Schalen Schokolade | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | ein riesiger Wal

  „Ich werde ihn Pinocchio nennen“, sagte er. „Das ist ein schöner Name. Ich habe eine ganze Familie gekannt, die so geheißen hat, Vater, Mutter und die Kinder, und alle waren sie glücklich. Der reichste von ihnen war ein Bettler.“  In dem Augenblick, als der arme Pinocchio halbtot an einem Ast der großen Eiche im Wind baumelte, erschien am Fenster des schneeweißen Hauses ein schönes Feenmädchen mit blauschimmernden Haaren. Es klatschte in die Hände.  [fehlt ]

Das Märchen von Pinocchio. Eine Geschichte, die vor mehr als hundert Jahren in Italien passierte
Ü: nicht genannt
Illus: Martha Pfannenschmid
Silva-Verlag, Zürich, 1968
136 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler «Feuerfressen» | Milchkaffee | Land der Spielzeuge | Romeo, Freund Docht | Haifisch, «der Schrecken der Fische und der Fischer»

  «Welchen Namen werde ich ihm geben?» fragte er sich. «Ich will in Pinocchio nennen. Dieser Name bringt ihm Glück. Ich kannte eine ganze Familie von Pinocchios: Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchini di Kinder, und allen ist es glänzend gegangen. Der Reichste von ihnen ist ein Bettler gewesen.»  Im Augenblick, als der arme Pinocchio, den die Räuber an einem Ast der Großen Eiche aufgeknüpft hatten, schon mehr tot als lebendig schien, kam das schöne Mädchen mit dem blauen Haar wieder ans Fenster, und voller Mitleid mit dem Unglücklichen, der da am Hals aufgehängt mit dem Nordwind einen Reigen tanzte, klatschte es dreimal in die Hände.  Die Buben – verärgert darüber, daß sie nicht an Pinocchio herankommen konnten –  überlegten es sich nicht lange, griffen wahllos zu ihren Büchern und benützten sie als Wurfgeschosse. Sie schleuderten alles nach ihm: ihre ABC-Bücher, die Sprachlehre, die Rechenbücher, die Lesebücher und ganze Bände mit Räubergeschichten, auch Lineale und alles, was sie sonst noch an Krimskrams bei sich trugen.

Pinocchio
Ü: Brigitte Eichhorn
Illus: Val Munteanu
Loewes Verlag, Bayreuth, 1972
175 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Freund Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | Haifisch, „Attila der Fische und Fischer“

  „Welchen Namen soll ich ihm geben?“ murmelte er vor sich hin. „Ich will ihn Pinocchio heißen. Der Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine ganze Familie von Pinocchi gekannt: Pinocchio hieß der Vater, Pinocchio hieß die Mutter, und Pinocchio hießen die Kinder – und alle hatten ihr gutes Auskommen. Der reichste von ihnen war ein Bettler.“  Während der arme Pinocchio, von den Mordgesellen an einem Ast der großen Eiche aufgeknüpft, mehr tot als lebendig schien, zeigte sich das schöne Mädchen mit den türkisblauen Haaren von neuem am Fenster, und es wurde von tiefem Mitleid ergriffen beim Anblick, des Unglücklichen, der, am Halse aufgehängt, zum Blasen Nordwindes einen Tanzreigen aufführte. Und so klatschte sie dreimal kurz und leicht in die Hände.  Erbost darüber, daß sie es im Nahkampf nicht mit dem Holzbuben aufzunehmen vermochten, gingen die Jungen zum Angriff mit Wurfgeschossen über. Sie schnallten ihre Packen Schulbücher ab und fingen an, mit Fibeln und Grammatiken nach ihm zu werfen, mit ihren „Giannettini“ und „Minuzzoli“, den „Erzählungen von Thouar, dem „Pulcino“ von Baccini und anderen Schulbüchern.   [fehlende Abführungszeichen so im Text]

Pinocchio
Ü: Käthe und Günter Leupold
Illus: Sakura Fujita
Peters Bilderbuch
Hans Peters Verlag, Hanau, 1972
24 Seiten

– / – |Puppenspieler Gepetto [sic!] | Theaterdirektor | – | Spielzeugland | – | Walfisch

  »[…] Eigentlich sollte ich ihm einen Namen geben. Wie wär’s mit … Pinocchio?«  [Satz fehlt ]  [Satz fehlt]

Pinocchio
Ü: Fritz Märtin
Illus: N. Grzewski
Franz Schneider Verlag, München, 1973
122 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsch | Freund Seppel | Theaterdirektor Feuerfresser | Kaffee | Land Kinderspiel | –, Freund Strick | Haifisch

  „Wie soll diese Figur heißen?“ fragte er. „Pinocchio klingt nicht schlecht, meine ich. Dieser Name wir ihr Glück bringen.“  [ein schönes Mädchen mit blau schimmerndem Haar]   Dem schönen Mädchen war Pinocchios Leiden nicht verborgen geblieben. Es trat wieder ans Fenster und sann voller Mitleid sogleich auf Hilfe. Dreimal klatschte die Schöne in die Hände […]  […] und versuchten nun, ihn aus sicherer Entfernung mit den Schulbüchern zu treffen, die sie nach ihm warfen.

Pinocchio,
Bearbeitung: Anne Busch
Illus: Franz Josef Tripp,
Engelbert-Verlag, Alve/Sauerland, 1974
204 Seiten

Antonio/Meister Kirsche | lieber Gepetto | Meister Feuerschlund | Milchkaffee | Land der Faulenzer | Romeo, Docht | Haifisch

  Welchen Namen soll sie haben?“ überlegte er. „Oh ja jetzt weiß ich es! Ich werde meine kleine Puppe Pinocchio nennen. Das soll ihr Glück bringen. Ich erinnere mich an eine ganze Familie Pinocchi. Pinocchio, der Vater, Pinocchia, die Mutter, und Pinocchi, die Kinder. Allen ging es sehr gut  – der Reichste von ihnen war ein Bettler.“    Noch immer hing der bedauernswerte Pinocchio an der großen Eiche, wo ihn die Räuber aufgeknüpft hatten, und es schien kein Leben mehr in ihm zu sein. Da entdeckte ihn das schöne Mädchen mit den hellblauen Haaren, das in dem weißen Haus am Fenster saß. Sie empfand großes Mitleid mit ihm und wollte ihm helfen. Sie klatschte dreimal in die Hände, worauf […]  Vor Ärger darüber, daß es ihnen trotz ihrer Übermacht nicht gelang, Pinocchio in die Knie zu zwingen, gingen sie zu einer anderen Kampfesart über. Sie holten aus ihren Ranzen, die sie am Strand abgelegt hatten, die Bücher heraus und warfen sie nach Pinocchio. Lesebücher und Rechenbücher flogen durch die Luft, doch Pinocchio […]

Pinocchio
Text: M. Faulmüller/Ingrid Emond
Illus: Einar Lagerwall
Meister Verlag, München, 1980
28 Seiten

–/Schreinermeister Kirsche | Freund Gepetto [sic!] | Theaterdirektor Mangifuoco | – | – | – | –

  »Ich werde die Puppe Pinocchio taufen!« sagte Gepetto zu sich selbst. »Dieser Name bringt Glück!«  Das schöne Mädchen mit den blaugrünen Haaren Hatte Pinocchio wohl bemerkt. Sie klatschte in die Hände, […]  [Satz fehlt]

Die Abenteuer des Pinocchio
Ü: Roswitha und Neil Morris
Illus: Frank Baber
Tessloff Verlag, Hamburg, 1982
84 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Limonade | Narrenland | Carlo, Freund Docht | Haifisch

  „Ich werde sie Pinocchio nennen“, dachte er. „Dieser Name wird ihr Glück bringen.“  Während Pinocchio so verlassen da draußen lag, erschien das schöne Mädchen mit den blauen Haaren wieder am Fenster. Sie blickte in den dunklen Wald und erkannte die Marionette, die wie ein Bündel nasses Reisig aussah. Sie tat ihr so leid, daß sie dreimal in die Hände klatschte.  Die Jungen ärgerte es fürchterlich, daß sie Pinocchio nicht unterkriegen konnten. Sie holten ihre Schulbücher aus den Ranzen und warfen damit nach ihm.

Pinocchio
neu erzählt: Bärbel Haller
Illus: Siegfried Krumm
Südwest Verlag, München, 3. Auflage 1983
157 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | Riesenhai, »der Teufel der Fische und der Fischer“

  Wie soll ich sie nur nennen? überlegte er. Ich werde sie auf den Namen Pinocchio taufen. Er wird ihr sicher Glück bringen. Ich habe einmal eine ganze Familie gekannt, die so hieß. Der Vater, die Mutter, die Kinder – alle hießen Pinocchio, und allen ging es gut. Der reichste von ihnen war ein Bettler.  Als der arme Pinocchio mehr tot als lebendig am Ast der Großen Eiche hing, sah das schöne Mädchen mit dem schwarzen Haar wieder beim Fenster heraus. Sie erblickte den Unglücklichen, der da aufgehängt im Wind hin und her baumelte; das Mitleid überkam sie, und sie klatschte dreimal in die Hände.    Vor Wut darüber, daß sie ihm nicht an den Leib konnten, griffen die Taugenichtse zu Wurfgeschossen. Sie öffneten ihre Schultaschen, und Augenblicke später kamen Abc-Bücher, Sprachlehren, Rechenbücher und was es an Schulbüchern sonst noch alles gibt auf ihn zugeflogen.  

Pinocchios Abenteuer. Die Geschichte einer Holzpuppe
Ü: Hubert Bausch
Illus: Enrico Mazzanti
Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1986 (2008)
200 Seiten

Meister Anton/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler | Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | Haifisch, „Attila der Fische und der Fischer

  »Wie soll sie den heißen«, fragte er sich. »Ich will sie Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihr Glück bringen. Ich kannte eine ganze Familie, die Pinocchi hieß: Vater Pinocchio, Mutter Pinocchia und die Kinder Pinocchi. Und alle kamen gut durchs Leben. Der Reichste von ihnen bettelte um Almosen.«  Gerade als der arme Pinocchio, den die Mörder an einem Ast der Großen Eiche aufgehängt hatten, mehr tot als lebendig war, erschien das schöne Mädchen mit dem blauen Haar wieder am Fenster. Beim Anblick des armen, am Halse Aufgehängten, den die Böen des Nordwindes im Kreise herumwirbelten, wurde ihr Herz weich, und sie klatschte dreimal leise in die Hände.  Erbost darüber, dass sie sich nicht mit dem hölzernen Jungen im Nahkampf messen konnten, griffen sie zu Wurfgeschossen. Sie lösten ihre Bündel mit Schulbüchern auf und begannen, ihn mit ihren Lesebüchern, Grammatiken, ihren »Gianettini«, »Minuzzoli«,1 den »Erzählungen« von Thouar, Baccinis »Pulcino« und anderen Schulbüchern zu bewerfen.  

1 Gianettino und Minuzzolo sind Werke von Collodi.

Pinocchios Abenteuer
Ü: Joachim Meinert
Holzstiche: Werner Klemke
Aufbau-Verlag, Berlin, 1988
238 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | riesiger Haifisch, „Attila der Fische und Fischer“

  »Wie soll ich ihn nennen?« sprach er zu sich. »Ich will ihn Pinocchio, Zapfenauge, nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich habe eine Familie gekannt, in der alle Pinocchio hießen: Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter, Pinocchi die Kinder, und alle lebten sie fröhlich dahin. Der reichste von ihnen war Bettelmann.«  Während nun Pinocchio, von den Räubern am Ast der Großen Eiche aufgeknüpft, so dahing und mehr tot als lebendig schien, trat das Schöne Mädchen mit dem blauschwarzen Haar erneut ans Fenster. Beim Anblick des Unglücksvogels, der da am Halse aufgehängt war und bei den heftigen Böen des Nordost eine Dreher tanzte, erbarmte sie sich seiner und klatschte dreimal in die Hände.  Die Jungen waren wütend, weil sie sich mit dem Burattino nicht im direkten Handgemenge messen konnten, und suchten nach Wurfgeschossen. Sie knüpften die Bündel ihrer Schulbücher auf und schleuderten ihre Fibeln, Grammatiken, Lese- und andere Schulbücher nach ihm.

Der neue Pinocchio
neu erzählt von Christine Nöstlinger
Illus: Nikolaus Heidelbach
Beltz Verlag, Weinheim, 1988
215 Seiten

–  /Meister Kirsche | Geppetto | Puppenspieler | Kakaoschlückchen | Spielzeugland | –, Docht | Haifisch

  Mit den Haaren begann er, und dabei beschloß er, den Hampelmann Pinocchio zu taufen. Er hatte nämlich einmal eine Familie aus lauter lustigen Leuten gekannt, in der hatte der Vater Pinocchio geheißen und die Mutter Pinocchia und die Kinder Pinocchi. Dieser Name, dachte Geppetto, wird meinem Hampelmann sicher Glück bringen!  Das wunderschöne Mädchen mit den türkisblauen Locken machte sich Sorgen um Pinocchio, denn es hatte ja gesehen, wie er von den zwei tropfnassen Kartoffelsäcken in den Wald geschleppt worden war. Und daß die Kartoffelsäcke nichts Freundliches im Sinn gehabt hatten, war zu merken gewesen.  Da ließen ihn die bösen Buben los. Doch als Beute hatten sie seinen Schulranzen erobert. Mit dem traten sie den Rückzug an und verschanzten sich hinter einem Felsen am Ufer. Pinocchio rief: »Gebt mir meine Schulsachen wieder!« »Aber gern«, brüllte es hinter dem Felsen hervor, und dann sauste Pinocchios Lesebuch über den Felsen und platschte ins Wasser. Und hinter dem Felsen hervor kreischte es: »He, Blöder, warum hast du das Buch auch nicht gefangen?« Gleich darauf sausten Pinocchios Tintenwischer und seine Schreibfeder über den Felsen und landeten auch im Wasser.

Pinocchio
Ü: Maria Czedik-Eysenberg
Verlag Carl Ueberreuter, Wien, 1990
155 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Herr Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Docht | Riesenwalfisch, »die Geißel der Fische und der Fischer«

  »Welchen Namen soll ich ihr geben?« überlegte er. »Ich werde den kleinen Kerl Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte eine ganze Familie von Pinocchi: Pinocchio der Vater, Pinocchia die Mutter und Pinocchi die Kinder, und allen ging es großartig. Der Reichste von allen war ein Bettler.«  In diesem Augenblick, als der arme Pinocchio, den die Räuber an einem Ast der Großen Eiche aufgeknüpft hatten, schon mehr tot als lebendig war, da erschien das schöne Mädchen mit dem blauen Haar wieder am Fenster. Als es den unglückseligen Pinocchio erblickte, der an einer Schnur baumelte und mit dem Nordwind tanzte, fühlte es tiefes Mitleid und klatschte dreimal in die Hände.  Die Jungen verärgert darüber, daß sie Pinocchio nicht an den Leib rücken konnten, griffen schließlich zu Wurfgeschossen. Sie öffneten ihre Ranzen und schleuderten ihre Bücher nach ihm: ihre Fibeln, die Sprachlehre- und die Rechenbücher, ihre Lesebücher und ganze Bände mit Erzählungen und alles, was sie sonst noch an Schulbüchern bei sich trugen.

Pinocchios Abenteuer
anhand der dt. Erstausgabe neu bearbeitet von Anne Braun
Illus: Klaus Müller
Arena Verlag, Würzburg, 1993
206 Seiten

Schreiner Tonio/Meister Pflaum | Meister Geppetto | Puppenspieler Feuerschlund | Kakao mit Kuchen | Faulenzerland | Friedrich, Freund Spindel | der große Hai, von dem ihr schon gehört habt

  Es quälte ihn nur noch eine Sorge. Wie sollte er seinen Hampelmann nennen? Plötzlich sprang er auf, schlug sich an die Stirn und rief: »Ja! Pinocchio muss er heißen. Das ist ein schöner Name, der ihm Glück bringen wird. Ich habe eine ganze Familie von Pinocchios gekannt: Vater Pinocchio, Mutter Pinocchio und all ihre Kinder. Sie waren so tüchtig und allen ist es im Leben gut gegangen. Einer von ihnen hatte es sogar zum reichsten Bettler der Stadt gebracht.«  In diesem Augenblick, als Pinocchio mehr tot als lebendig zu sein glaubte, trat das Mädchen mit dem goldenen Haar wieder ans Fenster. Es hatte Mitleid bekommen mit dem armen Hampelmann, der vom Winde geschüttelt, hin und her schaukelte. Es klatschte dreimal in die Hände und klopfte dreimal leicht mit dem Fuß auf den Boden.  Die Jungen ärgerten sich, dass sie Pinocchio auf diese Art nicht beikommen konnten, und griffen zu einer neuen Kampfart. Rasch machten sie ihre Schultaschen auf und bewarfen ihn mit ihren Büchern. Da kam eine Grammatik geflogen, ein Rechenbuch, dann eine Naturgeschichte, dann ein Geografiebuch, ein Atlas und sogar ein Federkasten.

Pinocchio
erzählt von Kristina Franke
Illus: Kestutis Kasparavicius
Coppenrath Verlag, Münster, 1993
48 Seiten

–/– | Holzschnitzer Geppetto | Puppenspieler Herr Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | –/der faule Docht | der riesige Haifisch

  „Aus dir will ich meine schönste und lebendigste Holzpuppe machen“, dachte er plötzlich. „Ich werde mit dir durch die Welt ziehen, damit du mir Glück und Geld bringst. Und weil du aus Pinienholz gemacht bist, will ich dich Pinocchio nennen.“  In dem schneeweißen Häuschen aber, das Pinocchio zwischen den Bäumen gesehen hatte, wohnte eine wunderschöne Fee mit blauen Haaren. Sie war Herrin und Freundin aller Tiere und empfand Mitleid mit dem armen Pinocchio.  [Satz fehlt]

Pinocchios Abenteuer
Ü: Bettina Kienlechner
Illus: Roland Topor
Gina Kehayoff, München, 1995
184 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | guter Geppetto | Puppenspieler Mangiafoco | Milchkaffee | Spielland | Romeo, Freund Docht | der riesige Haifisch, »Attila der Fische«

  »Wie soll ich sie nennen?« sagte er zu sich selbst. »Ich will sie Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihr Glück bringen. Ich kannte einmal eine ganze Familie voller Pinocchi: Vater Pinocchio, Mutter Pinocchia, und Kinder Pinocchi, und allen ging es sehr gut. Der reichste von ihnen ging betteln.   [fehlende Abführungzeichen im Text]  Als der arme Pinocchio, den die Mörder an einem Ast der Großeiche aufgehängt hatten, mehr tot als lebendig schien, schaute das schöne Mädchen mit den blauen Haaren aus dem Fenster und war beim Anblick des Unglückseligen, der dort hing und im Wind einen Reigen tanzte, voller Mitleid. Es klatschte kurz dreimal in die Hände […]    Verärgert darüber, daß sie sich im Nahkampf mit Pinocchio nicht messen konnten, beschlossen die Jungen, zu den Wurfgeschossen zu greifen. Sie lösten die Riemen ihrer Bücherbündel und begannen Pinocchio mit Fibeln, Grammatiken, dem Einmaleins, mit Krambambuli und Reinicke Fuchs und anderen Schulbüchern zu bewerfen.

Pinocchios Abenteuer
neu erzählt: Ilse Bintig
Illus: Oliver Regener
Arena Verlag, Würzburg, 2000
80 Seiten

–/– | Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | – | Spielzeugland | Romeo, Kerzendocht | Riesenwal Monstro

  Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er lachend zu dem zappeligen Männchen: »Weißt du, ich werde dich Pinocchio nennen. Das ist ein Name, der Glück bringt.«  [Satz fehlt]    [Satz fehlt]

Pinocchio
Ü: Ilse Fath-Engelhardt
Illus: Simon Bartram
Gondrom Verlag, Bindlach, 2002
48 Seiten

Meister Antonio/ – | Geppetto | – | – | Spielzeugland | Romeo | der schreckliche Hai

  »Wie soll ich die Puppe nur nennen?«, fragte er sich. »Ich weiß, sie soll Pinocchio heißen.«    In einem Häuschen wohnte aber eine wunderschöne Fee mit blauem Haar. Als sie am nächsten Tag aus dem Fenster schaute und den Holzbuben am Ast baumeln sah, hatte sie Mitleid. Sie klatschte dreimal in die Hände – eins, zwei drei.  Sie hatten Pinocchio hereingelegt, und es kam noch schlimmer. Einer der Jungen boxte ihn. Pinocchio schlug zurück und unversehens war eine Schlägerei im Gange.

Pinocchio. Die Geschichte eines Hampelmanns, ein Fortsetzungsroman
Ü: Marianne Schneider
Schirmer/Mosel, München, 2003
237 Seiten
– zweisprachige Ausgabe

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerschlucker | Kaffee mit Milch | Land der tausend Spiele | Romeo, Freund Dünndocht | Riesenhaifisch, „Attila der Fische und der Fischer“

  »Wie werde ich ihn denn nennen?« sagte er bei sich. »Pinocchio soll er heißen. Dieser Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte einmal eine ganze Familie Pinocchios: Pinocchio, der Vater, Pinocchia, die Mutter, und Pinocchi, die Kinder, und alle ließen es sich wohl sein. Der Reichste von ihnen ging betteln.«    Während der arme Pinocchio, von den Mördern an einem Ast der Großen Eiche erhängt, nun schon mehr tot erschien als lebendig, zeigte sich das schöne Kind mit dem nachtblauen Haar wiederum am Fenster und beim Anblick des Unglückseligen, der am Hals aufgeknüpft zu den Stößen des Nordwinds einen gewaltsamen Reigen tanzte, wurde es von Mitleid erfaßt, klatschte in die Hände und ließ drei kleine Schläge hören.  Da griffen die Jungen vor Ärger darüber, daß sie mit dem Hampelmann nicht ringen konnten, wohlweislich zu ihren Geschossen, und nachdem sie die Riemen um ihre Schulbücher gelockert hatten, begannen sie Lesebücher, Grammatiken, sämtliche Giannettinos und Minuzzolos von Collodi und noch andere Schulbücher nach ihm zu werfen.

Pinocchio
Ü: Sonja Hartl
Illus: Barbara Scholz
Thienemann Verlag, Stuttgart, 2003
202 Seiten

Tischler Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | der riesige Haifisch

  »Wie soll ich ihn nennen?«, grübelte er. »Pinocchio! Pinocchio nenne ich ihn. Der Name wird ihm Glück bringen. Ich kannte mal eine Familie Pinocchio, in der es alle gut hatten! Der Reichste von ihnen war Bettler.«  In jenem Augenblick, als Pinocchio mehr tot als lebendig am Baume hing, trat das schöne Mädchen mit dem nachtblauen Haar von neuem ans Fenster. Beim Anblick jenes unglücklichen Hampelmannes, der dort am Kragen aufgehängt im Nordwind baumelte, über kam sie solches Mitleid, dass sie dreimal leise in die Hände klatschte.    Dass sie mit Pinocchio nicht Mann gegen Mann kämpfen konnten, ärgerte die Jungen so sehr, dass sie darangingen, sich mancherlei Wurfgeschosse zu bedienen. Sie schnürten ihre Bücherbündel auf und eins ums andere warfen sie ihre Bücher nach ihm. So flogen Pinocchio also Lesebuch, Grammatik und andere gelehrte Werke um die Ohren.

Pinocchios Abenteuer
neu erzählt von Maria Seidemann
Illus: Petra Probst
Edition Bücherbär, Arena, Würzburg, 2006
64 Seiten
– Erstleser

–/– | Geppetto | Direktor | – | – | – | Wal

  » […] Und einen Namen kriegst du auch. Ich werde dich Pinocchio nennen. So wie die kleinen Kerne in den Pinienzapfen hießen. Weil du aus Pinienholz gemacht bist.«  »Weine nicht!«, sagte das Mädchen mit den blauen Haaren, das ihn aus dem Sack befreit hatte.  [Satz fehlt]

D Aabetüür vom Pinocchio
Ü ins Berndeutsche: Ruth Troxler und Thomas Gsteiger
Illus: Martha Pfannenschmid
Weltbild, CH-Olten, 2007
159 Seiten

Meischter Antonio/Meischter Chrischi | Nachber Geppetto | Puppespiler Mangiafoco | Milchgeffee | Gfätterliland | Romeo, Fründ Bohnestange | Haifisch <Attila vo de Fisch u de Fischer>

  «Was chönnt i ihm für ne Name gä?» het er sech gfragt. «Er söll Pinocchio heisse. Dä Name bringt ihm Glück I ha ne Familie vo Pinocchios kennt; Pinocchio der Vater, Pinocchia d Mueter u Pinocchini d Chind. U allne isch es glänzend ggange. Der Rychscht von ne isch e Bättler gsy.»      I däm Momänt, wo der arm Pinocchio, wo vo de Mörder amenen Ascht vo der Grossen Eichen ufghänkt worden isch, scho meh tod als läbig isch gsy, isch das schöne Meitschi mit de dunkelblaue Haar wider a ds Fänschter cho. Voll Erbarme mit däm Unglückleche, wo da ma Hals ufghänkt mit em Nordwind e Polka tanzet, het es drü Mal i d Händ gchlatschet.  Jitz hei di Giele, verergeret drüber, dass si nid a Pinocchio ane chöme, nid lang überleit, u wahllos zu ihrne Schuelbüecher ggriffen u se als Wurfgschoss benützt. Si hei ihm alles nachegschosse, was ne i d Händ cho isch: Läsibüecher, Grammatikbüecher, d «Giannettini» d «Brösmeli», di «Erzählige» vom Thouar, ds «Bibeli» von der Baccini u no anderi Schuelbüecher.

Die Abenteuer des Pinocchio
Ü und Illus: Mario Grasso
Lappan, Oldenburg, 2011
173 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Freund Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Kerzendocht | Haifisch, »Attila, der Hunnenkönig der Fische und Fischer«

  »Was für einen Namen gebe ich ihr?«, fragte er sich. »Ich will sie >Pinocchio< nennen. Dieser Name wird ihr Glück bringen. Ich kannte eine Familie Pinocchi. Der Vater hieß Pinocchio, die Mutter Pinocchia und die Kinder Pinocchi; und allen ging es gut. Der Reichste unter ihnen bettelte um Almosen.«  Als der arme Pinocchio, mehr tot als lebendig, an dem Ast der großen Eiche hing, erschien am Fenster wieder das schöne Mädchen mit den dunkelblauen Haaren und empfand Mitleid mit ihm. Da die Böen des Nordwindes im Kreise herumwirbelten, wurde ihr Herz weich, und sie klatschte dreimal in die Hände.    Erbost darüber, dass sie sich mit Pinocchio nicht messen konnten, griffen sie zu Wurfgeschossen. Sie bewarfen ihn mit ihren Schulbüchern.

Pinocchios Abenteuer
Ü aus dem Englischen: Gundula Müller-Wallraf
Illus: Robert Ingpen
Knesebeck Verlag, München, 2014 (2. Auflage 2020)
207 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Meister Geppetto | Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Kerzendocht | der mächtige Hai, »Attila der Meere«

  »Wie soll ich sie nennen?«, fragte er sich. »Ich glaube, ich nenne sie Pinocchio. Mit diesem Namen lässt sich ein Vermögen verdienen. Ich kannte einmal eine ganze Familie Pinocchi – Vater Pinocchio, Mutter Pinocchia und Kinder Pinocchi –, die alle vom Glück gesegnet waren. Der reichste von ihnen konnte nur vom Betteln leben.«  Wenn die arme Marionette dort noch etwas länger hätte baumeln müssen, wäre sicher alle Hoffnung dahin gewesen. Aber zu ihrem Glück sah das liebliche Mädchen mit dem azurblauen Haar noch einmal aus dem Fenster. Und voller Mitleid beim Anblick des armen, kleinen Kerls, der dort hilflos vom Wind hin und her geworfen wurde, klatschte es dreimal laut in die Hände.  Zornig darüber, die Marionette nicht im Nahkampf besiegen zu können, begannen die Jungen, alle möglichen Bücher nach ihr zu werfen. Lesebücher, Atlanten, Geschichtsbücher, Grammatiken flogen in alle Richtungen.

Pinocchio
Text: Giada Francia
Ü: Ulrike Schimming
Illus: Manuela Adreani
White Star, DeAgostini, Novara, 2014
80 Seiten

–/– | Tischler Geppetto | Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | –, Docht | Wal

  „[…] Ich werde dich Pinocchio nennen, so wie der Schlaumeier, den ich mal kannte. Dieser Name wird dir Glück bringen.“  Während Pinocchio am Ast baumelte, stand ein Mädchen mit türkisem Haar am Fenster eines Hauses ganz in der Nähe und sah die Holzpuppe, die mehr tot als lebendig war. Pinocchios Schicksal rührte sie, und sie beschloss, ihm zu helfen. Dreimal klatsche sie in die Hände […]  Doch die Jungen konnte ihm nichts anhaben, weil er sich mit seinen harten Holzfüßen geschickt zur Wehr setzte. Deshalb holten sie Bücher und Hefte aus ihren Ranzen und warfen sich Grammatik und Arithmetik an den Kopf.

Die Abenteuer des Pinocchio
Ü: Paul Goldschmidt (gekürzt und redigiert, s. 1966)
Illus: MinaLima Design
Coppenrath Verlag, Münster, 2020
287 Seiten

Meister Antonio/Meister Kirsche | Gevatter Geppetto | Puppenspieler Feuerfresser | Milchkaffee | Spielzeugland | Romeo, Freund Docht | Riesenwalfisch

  »Welchen Namen soll ich ihr geben?«, überlegte er. »Ich werde den kleinen Kerl Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihm Glück bringen.«  In diesem Augenblick, als der arme Pinocchio schon mehr tot als lebendig war, da erschien das schöne Mädchen mit dem blauen Haar wieder am Fenster. Als es den unglückseligen Pinocchio erblickte, der an seiner Schnur baumelte und mit dem Nordwind tanzte, fühlte es tiefes Mitleid und klatschte dreimal in die Hände.  Da griffen die Jungen, verärgert darüber, dass sie sich mit Pinocchio nicht im Kampf messen konnten, schließlich zu Wurfgeschossen. Sie öffneten ihre Ranzen und schleuderten ihre Bücher nach ihm: ihre Fibeln, die Sprachlehre und die Rechenbücher, ihre Lesebücher und ganze Bände mit Erzählungen und alles, was sie sonst noch an Schulbüchern bei sich trugen.

Urzustand jedes Seins

Zuletzt hat hier Burkhard Spinnen mit »Fipp, Vanessa und die Koofmichs« gezeigt, was der Besuch von Außerirdischen mit den Erdenbewohnern machen kann. Diesmal werden Außerirdische durch eine Begegnung mit dem All bedroht. Es sind Die letzten 23 Tage der Plüm, die die Comic-Zeichnerin Katharina Greve höchst vergnüglich in Szene setzt. Ursprünglich als täglicher Strip in der Berliner Tageszeitung abgedruckt, liegt die komplette Katastrophe jetzt sauber hintereinander weg erzählt in einem entzückenden, querformativen Band des avant-Verlags vor.

Erste Regel in ausweglosen Situationen: PANIK!!!

Es ist das klassische Endzeitszenario zahlreicher Filme und reizvoller Gedankenspiele: Du hast nur noch wenige Tage zu leben – was machst du? Oder anders gesagt: Du hast keine Chance – nutze sie.
Das ist leichter gesagt als getan. »Schte, Rüm, schlechte Nachrichten. Dieser pinke Punkt da oben kommt auf uns zu. Nach meiner Berechnung stoßen wir in 23 Tagen mit ihm zusammen. Wir werden alle sterben«, erklärt Pla, der schlaueste der letzten drei Bewohner des Planeten Plümos. Und die drei Plüm reagieren so, wie wohl Jeder andere auch. Erste Regel in ausweglosen Situationen: PANIK!!! Zweite Regel: So viel Summerling, das lokale Rauschmittel, trinken wie sie können.

Ungeschlechtliche Kopffüßler mit erstaunlich viel Charakter

Die Plüm sind ungeschlechtliche Kopffüßler. Greve gibt den drei extrem reduzierten grünen Riesenköpfen mit Strichbeinchen und -ärmchen erstaunlich viel Charakter. Nicht nur optisch sind die kuriosen Plüm auf das Wesentliche reduziert. Jeder Tag endet mit »Wissenswertem über die Plüm«. Greves Comic ist eine famose Symbiose aus lustigen Zeichnungen und hintersinnigen Texten, die genug Raum zum Weiterdenken lassen.
Auch die Zivilisation der Plüm konzentriert sich auf das Essenzielle: Zum Beispiel haben sie sich von den immer komplizierteren Ritualen der Anbetung einer stetig wachsenden Zahl von Göttern dem Monotheismus zugewandt. »Da aber auch der Kult um nur einen Gott den Plüm bald zu anstrengend wurde, schafften sie einfach die Religion komplett ab.« Eine weise Entscheidung, die auch den Bewohnern anderer Planeten viele Probleme ersparen würde.

Diese komische Phase, wenn man dem Leben Sinn geben will

Sehr sympathisch ist auch diese Lebenseinstellung: »Seit jeher halten die Plüm den Schlaf für den Urzustand jedes Seins, da man schlafend niemandem Schaden zufügt. Alle anderen Aktionen – wie etwa die Ernährung – dienen nur dazu, den Schlaf zu sichern.«
So könnte es also immer weitergehen, wenn sich nicht dieser pinke Punkt auf ihren Planeten zu bewegen würde … Verdrängen, Ignorieren und demonstratives Vorbeisehen klappen auf Dauer nicht.
Und so machen die Plüm diese komische Phase durch, wenn man glaubt, dem Leben einen Sinn geben zu müssen. Vermehren, was in ihrem Fall mühselige Teilung statt entspanntem Sex bedeutet, verbietet sich, weil dann noch mehr Plüm beim Zusammenstoß getötet würden.

Alles sinnlos, sehr lustig und allzu menschlich

Also entschließen sie sich, jeden Tag etwas zu machen, was sie noch nie gemacht haben: Schmutzen und den Dreck wieder auffegen. Vergammeltes Trufontfleisch essen und zum ersten Mal eine Fleischvergiftung haben – obwohl der plümsche Magen sonst fast alles verträgt. Überflüssige Bildhauerei, Megaschaumbäder, unspielbare Bälle, mythische Artefakte ausgraben und vor des Rätsels Lösung gleich wieder vernichten …
Alles sinnlos, total bekloppt, sehr lustig und vor allem allzu, ja genau, menschlich. Kein Wunder, dass die taz-Leser vehement gegen Greves ursprünglichen Plan, die Plüm nach 23 Tagen tatsächlich sterben zu lassen, protestierten. Mit Erfolg: Am Ende entpuppt sich der große Knall als ein großer »Platsch«, es regnet rosa, das war’s. »Na, das war ja maximal ein ENDCHEN«, konstatiert ein Plüm.

Very nice, very nice … but maybe in the next world

Der kluge Pla begreift den knapp verpassten Weltuntergang als zweite Chance: »Wir sind quasi verpflichtet, die Plümheit zu neuer alter Größe zu führen! Wir legen Sum-Baum-Plantagen und Lübosen-Farmen an, füllen die Plüm-Kultur mit neuem Leben, bauen Städte, Straßen, Kanäle, erschließen neu Energiequellen, versetzen Berge, erobern den Weltraum!«
Tolle Ideen, leider sehr anstrengend umzusetzen. Oder wie The Smiths einst sangen: »Love, peace and harmony? Oh, very nice. Very nice. Very nice … but maybe in the next world.«
Darauf einen Summerling. Und noch einen. Und noch ganz viele. Und ein Hoch auf die Plüm!

Katharina Greve: Die letzten 23 Tage der Plüm, avant-Verlag, 2021, 104 Seiten, ab 10, 20 Euro

Die dunklen Seiten des Menschen

Was ist nur los mit den Menschen in der Welt und mit uns selbst? Das könnten wir uns in diesen Tagen ständig fragen, und zwar nicht nur wegen der nervenaufreibenden Corona-Lage. Hass, Lügen, Verarschung, Provokationen, Protest und Manipulationen sind gefühlt in allen Bereichen des Lebens an der Tagesordnung, in der Politik, der Wirtschaft, im virtuellen Raum wie auch im Freundes- oder Familienkreis. Schnell bleibt bei uns der Eindruck zurück, dass der Umgang der Menschen miteinander immer nur noch schlimmer wird. Diesem komplexen Phänomen widmet der Philosoph Jörg Bernardy sein aktuelles Buch für Jugendliche. In sechs Kapiteln erörtert er die oben genannten menschlichen Verhaltensweisen, unsere dunklen Neigungen.

Aufklärung im Sinne der Philosophie

In jedem Kapitel erklärt er die Grundlagen, also warum es beispielsweise menschlich ist zu lügen oder über wen gelacht werden darf und bei welchem Thema so etwas nicht angebracht ist. Bereits hier finden sich die Leser:innen rasch in ihren eigenen Lebenswelten wieder, die Bernardy mit unzähligen Beispielen aus den vergangenen Jahren und der Historie anreichert: Trumps Fake News-Politik kommen zur Sprache, die Provokationen der Dadaisten von Anfang des 20. Jahrhunderts oder auch die me-too-Debatte. So stecken wir von Seite eins an in einem hochpolitischen Buch, das nichts weniger verhandelt als die Grundfesten unserer Demokratie: Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Menschenrechte.

Orientierung im Polittalk

Was sich abstrakt anhört, begegnet uns nämlich tagtäglich, sobald wir mit anderen Menschen Umgang pflegen und mit ihnen über das Weltgeschehen, die Kommunalpolitik oder auch den Schulalltag diskutieren. Denn niemand von uns möchte angelogen, manipuliert, gemobbt oder rassistisch beleidigt werden. Bernardy bietet im Zuge einer grundlegenden Aufklärung differenzierte Definitionen allgegenwärtiger (Hass-)Tendenzen (z.B. Islamismus, Antisemitismus, Faschismus, Sexismus etc.) und macht damit deutlich, wie wichtig es ist, sich zunächst über die Begriffe und ihre Bedeutung klar zu werden.
Denn sobald wir wissen, wer beispielsweise den Begriff »Lügenpresse« in welchem Kontext und aus welchen Gründen benutzt, werden wir uns nicht so leicht vereinnahmen lassen oder möglichen Verschwörungstheorien auf den Leim gehen. Ausführlich erläutert Bernardy in diesem Kontext auch die die Rolle der Medien, das Ziel von »Clickbaiting« oder warum Tabubrüche in gewissen Blättern oder Sendern so beliebt sind.
So gelangen die Leser:innen im Laufe der Lektüre dazu, sich eine Haltung zu erarbeiten und sich mit ihren eigenen Meinungen und Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.

Eine Frage der Haltung

Doch Bernardy liefert nicht einfach nur Antworten und belässt es bei Erklärungen oder Definitionen, sondern er lädt die Leser:innen zu Gedankenspielen und -sprüngen ein, in denen ein jede/r angeregt wird, eigenes Tun und mögliche vorhandene Vorurteile zu überdenken. Er bedient sich dafür unzähligen Fragen, die tief in philosophische Diskussionen führen können, weil es selbst bei den dunklen Seiten von uns Menschen nicht einfach nur ein Richtig und ein Falsch gibt, sondern auch immer ein Es-kommt-darauf-an.
Ich glaube, es hackt! hat das Zeug, zur Diskussionsgrundlage für Schulklassen und Familien zu werden. Die gelungene Mischung aus Erklärungen, Beispielen und Fragen schafft ein kurzweiliges Lesevergnügen mit dem nachhaltigen Effekt, dass wir über viele Aspekte lange nachdenken und diskutieren können und sollten.
Junge Leute werden aus solchen Diskussionen auf jeden Fall gestärkt und mit einer eignen Haltung in diese anstrengende Welt gehen, in der scheinbar so vieles immer schlechter wird, es aber objektiv immer mehr Menschen besser geht. Wenn wir dann in Kenntnis unserer dunklen Seiten uns ganz bewusst für die guten Seiten wie Liebe, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Toleranz entscheiden, kann jede/r von uns das Leben für alle noch ein bisschen schöner machen.

Jörg Bernardy: Ich glaube, es hackt! Leben in Zeiten von Tabubrüchen, Beltz & Gelberg, 2021, 174 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Wider das Vergessen

Dunkelnacht

Als ich die Ankündigung zu Kirsten Boies neuem Buch Dunkelnacht vor einiger Zeit las, dachte ich noch, dass ich darüber eine ganz normale Rezension schreiben würde. Doch nachdem ich heute die gerade einmal hundertseitige Geschichte in einem Rutsch gelesen habe, wurde mir klar, dass es hier etwas persönlicher zugehen wird. Denn ich wurde bei der Lektüre doch sehr an meine eigene Novelle Der Schritt erinnert und wie sehr das Schreiben über solche Geschehnisse einen mitnimmt und anstrengt – und doch so immens wichtig ist.

Kirsten Boie erzählt in »Dunkelnacht« von einem Verbrechen im bayrischen Penzberg, bei dem am 28. April 1945 sechzehn Menschen aus dem Ort von Nazis – in diesem Fall der Wehrmacht und der Untergrundorganisation »Werwolf« – umgebracht wurden.
Zehn Tage vor der Kapitulation Deutschlands, als die Alliierten nur noch wenige Kilometer vor der Stadt entfernt waren. Im Radio, auf dem offiziellen Sender, verkündet die Freiheitsaktion Bayern, dass der Krieg zu Ende sei. Der Nero-Befehl, also die Zerstörung sämtlicher Infrastruktur, sollte nicht ausgeführt werden. In Penzberg ist man verwirrt: Stimmt das? Soll man handeln? Soll man warten?
Ein paar Männer handeln, übernehmen das Rathaus, verhindern die Sprengung des lebenswichtigen Bergwerks, hoffen, dass die Amerikaner möglichst schnell die Stadt erreichen, damit das Kriegsende glimpflich abläuft. Doch ein durchziehender Wehrmachtsregiment geht gegen diesen »Volksverrat« vor, erschießt die Männer standrechtlich und fordert die Werwölfe an, die den weiteren Aufstand verhindern soll.

Endphasenverbrechen

Am Ende sind sechzehn Menschen erschossen und erhängt, und das nur, weil sie nicht mehr an falsche Endsiegversprechen glaubten, nicht dem Führer nachliefen, auf der anderen Seite standen.
Boie schildert dieses unsägliche Verbrechen aus der Sicht, in Dialogen, Beobachtungen und Gedanken, von drei Jugendlichen, Marie, Schorsch und Gustl. Sie sind die drei einzigen fiktiven Figuren in diesem Buch. Vor den Augen von Marie und Schorsch, die ein bisschen in einander verliebt sind, spielen sich die aufwühlenden Szenen ab, Gustl hingegen ist gerade erst Mitglied bei den Werwölfen geworden, weil er die »Schande« seines Vaters – einem Sozialisten – aus der Welt schaffen will. Er macht aus falschen Überzeugungen bei den Morden an seinen Nachbarn mit.

Erinnern, immer wieder Erinnern

Das alles ist durchaus keine leichte Lektüre. Das wird eingefleischte Leser:innen von Kirsten Boie, die für ihre Möwenweg– und Sommerby-Bücher im ganzen Land verehrt und geschätzt wird, möglicherweise verstören. Doch mit Dunkelnacht wendet sich Boie nicht an Kinder, sondern an Jugendliche und Erwachsene, um ihnen deutlich zu machen, wie wenig dazu gehört, zu Täter oder Opfer zu werden, wenn man schon meint, alles überstanden zu haben. In der letzten Phase des Krieges, in den Wirren, als sich in diesem Land so gut wie alles in Auflösung befand, als klar wurde, dass die Nazis verloren hatten, konnte das Schlimmste immer noch gesehen.
Boie zeigt in ihrem akkurat recherchierten Text, wie sich die Wendehälse durchlavieren, wie falsche Ideale Jugendliche auf den letzten Metern zu Mördern machen, wie vorausschauend denkende Menschen noch zu Opfern werden, und das so etwas sehr schnell – die Geschichte spielt an nicht mal zwei Tagen – gehen und jeden von uns treffen kann.

Parallelen

In so vielen Punkten und Aspekten dieser Novelle (in der Goethischen Definition »einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit«) hat mich Kirsten Boies Geschichte an meine eigene Novelle erinnert, die ich – einige von euch werden es wissen – im vergangenen Jahr herausgebracht habe. Darin erzähle ich die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm, einem Verbrechen an zwanzig jüdischen Kindern in Hamburg, die am 20. April 1945 im Keller einer Schule umgebracht wurden. Auch dies ein »Endphasenverbrechen«, auch dies absurd und sinnlos, auch hier gab es Menschen, die immer noch Befehle befolgten, obwohl sie es längst besser wussten und anders hätten handeln können, auch hier gab es hinterher Gerichtsverfahren, in denen so mancher Schuldige nicht belangt wurde. Die Parallelen sind zahlreich. Und daher ist mir Kirsten Boies Buch so nah. Denn die Intention unserer beider Geschichten ist dieselbe: das Erinnern – an die Toten, an die Opfer, an das Unsinnige in diesen Taten, daran, dass sich so etwas nicht wiederholen darf!

Ein Lese-Muss

Es ist dieser Erinnerungsliteratur eigen, dass sie nicht einfach ist. Hier gibt es kein »Lesevergnügen«, keine Entspannung, kein Abschalten. In solchen Texten ist der Ausgang der Geschichte klar, es gibt kein Happy End. Und doch muss man Bücher wie »Dunkelnacht« allen zur Lektüre empfehlen, denn sie bringen die nackten, erschreckenden Fakten auf emotionaler Ebene den Leser:innen näher. Reine Zahlen und Daten ziehen zumeist an einem vorbei, man kann sie registrieren und eventuell auswendig lernen, doch sie berühren oftmals nicht. »Dunkelnacht« hingegen berührt, gerade weil Boie die Sicht der Jugendlichen wählt, die Dinge mitansehen müssen, die kein Mensch erleben sollte. Die Gedanken der Protagonisten, ihre Beweggründe – gerade auch die von Gustl – können jungen Lesenden vertraut vorkommen, die Konsequenzen sind allemal erschreckend. Ein Nachdenken, ein sich Fragen – Was hätte ich getan? Was würde ich tun? – kann nach dieser Lektüre nicht ausbleiben. So hält Kirsten Boie nicht nur die Erinnerung hoch, sondern animiert zum Diskutieren.

Kirsten Boie: Dunkelnacht, Oetinger, 2021, ab 16, 13 Euro

Ulrike Schimming: Der Schritt. Das Martyrium der Kinder vom Bullenhuser Damm, epubli, 2020, ab 18, 10 Euro

Überall Gespenster

Halloween

Kinder, Halloween muss dieses Jahr leider ausfallen. Jetzt ist es offiziell: Familienministerin Giffey verbietet die mittlerweile arg kommerzialisierte Plündertour von Kinderbanden am 31. Oktober. Weil die Gefahr von etwas echt Gruseligem zu groß ist, könnte doch ein minderjähriger Superspreader vor der Tür der netten alten Nachbarin stehen.
Wogegen aber (noch) nichts spricht, ist eine coole Kostümparty drinnen in kleinem Kreis.
Und wofür sehr viel spricht, egal, wie sich die Pandemie entwickelt, ist das ungeheuer gute Buch Halloween – von Geistern, Vampiren und anderen Spukgestalten. Und zwar nicht nur am 31. Oktober, dem Abend vor Allerheiligen.

Kürbislaternen, Leckereien und Tote

Auch Oíche na nÙll genannt, irisch-gälisch für »Snap Apple Night«. Was es mit diesem seltsamen Namen, mit Kürbislaternen und traditionellen süßen Leckereien auf sich hat und wie alles mit den Toten zusammenhängt und seit Jahrtausenden zelebriert wird, davon erzählt Birge Tetzner in Halloween klug und mitreißend.
Bekannt ist Tetzner als Autorin der Hörbücher mit dem Zeitreisenden Fred. Geschichte spannend erzählen kann sie super, aber für ihr neues Buch hat sie richtig Unheimliches ausgegraben. Vor allem im abschließenden Teil Eine echte Gruselgeschichte wird wahrhaftig tief gegraben und in ganz viele Gräber gekuckt.

Mancher Horrorfilm ist nur ein billiger Abklatsch

Das geht echt unter die Haut, weil alles wahr und richtige Archäologie ist. Denn im Kampf gegen Untote, Wiedergänger und Vampire haben sich die Menschen über die Jahrhunderte die bizarrsten, martialischsten Methoden einfallen lassen. Aberglaube mischt sich mit gefährlichem Unwissen. Pest und Tuberkulose verbreiteten Angst und Schrecken. Mancher Horrorfilm ist dagegen nur ein billiger Abklatsch.
Tetzner reist durch die Jahrhunderte, von Neuengland bis in den hohen Norden und in die abgelegensten Karpaten. Wir begegnen Draugr und Strigoi, Zombies und Vampiren. Hierzulande trieben Aufhocker und Nachzehrer ihr Unwesen. Nicht umsonst umfasst das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zehn Bände (in Zeiten von kruden und extrem gefährlichen Verschwörungstheorien könnten noch ein paar Kapitel dazukommen).

Vom gekreuzten Oberschenkelknochen zum zarten Pfauenfederkiel

Dabei kommt die studierte Kunsthistorikerin gewitzt und raffiniert vom Hölzchen aufs Stöckchen – oder von den piratenmäßig gekreuzten Oberschenkelknochen zu den zarten Kielen prächtiger Pfauenfedern. Warum letztere als Hutschmuck für La Catrina unverzichtbar sind und wie in Mexiko ganz anders – nämlich liebevoll und freundschaftlich – mit den verstorbenen Angehörigen umgegangen wird, erfährt man in diesem höchst lesenswerten Buch. Dieses Halloween macht richtig Spaß und Lust, sich zu verkleiden und zu feiern. An jedem Abend im Jahr und für alle Leser ab dem Grundschulalter. Und mit wohligem Schauer spezielles Naschwerk zu genießen. Im Mittelteil finden sich deshalb viele leckere Rezepte, bei denen ein erwachsener Bäcker durchaus mehr als ein eiskaltes Händchen beisteuern sollte. An Halloween bleiben wir zu Haus – mit dem größten Vergnügen.

Halloween

Tiefer in die Welt der Gespenster eintauchen kann man dann auch mit der neuesten Anthologie des Kollektivs SPRING. Das besteht seit der Gründung 2004 ausschließlich aus Zeichnerinnen – ohne Binnen*, weil tatsächlich nur Frauen daran beteiligt sind.
Jedes Jahr erscheint ein neuer Band zu einem bestimmten Thema, ob Wunder, Arbeit oder Sex. Gespenster ist weniger eine Comic-Anthologie, sondern vielmehr besticht diese Ausgabe durch das Zeichnerische: Großflächige Fratzen in verwischtem Kohlestrich. Zart-nebulöse Bleistiftzeichnungen von Figuren und Räumen. Kontrastreiche und verzerrte Geisterstädte und Seelenlandschaften.

Kuscheltiere werden zu gar nicht friedlich ruhenden Dämonen

Knallige Kuscheltiere, nicht auf dem Friedhof, sondern als gar nicht friedlich ruhende Dämonen. Untot umherstreifende und unsichtbar, doch fühlbar begleitende Tiere. Dunkle, bedrohliche Wälder und Gänge, abgebrochene Zähne, bizarre Muster, Faszinierendes und Erdrückendes.
Es geht viel um persönliche Dämonen und düstere Emotionen. Katrin Stangl, Almuth Ertl, Doris Freigofas und Anke Feuchtenberger setzen auf die Macht des Bildes und spielen mit ihrer Zeichenkunst die Klaviatur des Unheimlichen in unterschiedlichen Stilen und Techniken aus.
Apropos heim, Stephanie Wunderlich nimmt sich in ihrer Strecke »Schließt die Türen« dem ganz aktuellen Schrecken des Rückzugs in die eigenen vier Wände, der Vereinsamung und der Gefühlsleere an.

Das Gespenst des Kapitalismus im Schlafanzug

Ein klassischer Comic, also witzige Dialoge und karikatureske Bilder in kleinteiligen Panels, ist dem Gespenst des Kapitalismus gewidmet. »Puh, hast du mich erschreckt!!! Wir hatten doch vereinbart, dass du nur noch auf gezielte Einladung hin her kommst! Wofür habe ich jahrelang Therapie gemacht?!« Es ist aber auch ein bemitleidenswertes Gespenst, mit dem notdürftig an der altmodischen Galauniform angenähten Kopf, zahnlos und längst von der modernen und perfektionierten Verrohung der globalisierten Welt vergessen. Diese Bilderstrecke ist ein absolut erschreckender Blick auf die Welt, Ausdruck von Schuld und Hilflosigkeit, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Blockade und Deadline – Geister, die niemand rief

Angesichts unstillbarer Gier und diktatorischem Konsumkult ist einem der gute, klassische Kapitalismus fast sympathisch und darf im Schlafanzug mit ins Bett schlüpfen.
Zu guter Letzt (und es ist kein Zufall, dass die Geschichte am Ende des ursprünglich mit 224 Seiten geplanten Buches steht) befasst sich Larissa Bertonasco mit mir leider auch nur zu gut vertrauten Gespenstern: der (Zeichen-)Blockade und der Abgabefrist, treffend auch Deadline genannt. Es hat sich gelohnt, auf diese sehr persönliche Comicstrecke zu warten, bannt sie doch die Geister, die viele ungerufen immer wieder neu piesacken.
Gespenster ist übrigens bereits der 17. Band von SPRING, aber der erste, bei dem das Titelbild im Dunkeln leuchtet. Ein leuchtendes Beispiel für die vielfältige und lebendige Szene der Zeichnerinnen und Illustratorinnen ist SPRING sowieso.

Birge Tetzner, Dirk Uhlenbrock (Illustration und Gestaltung): Halloween – von Geistern, Vampiren und anderen Spukgestalten, ultramar media, 2020, 96 Seiten, ab 9, 14 Euro

Spring #17: Gespenster, mairisch, 2020, 256 Seiten, 24 Euro

Vom Tragen des Leids

Nils

Heute, am Gratis-Comic-Tag hätte ich mir einen Haufen Heftchen holen können, die mir Einblick in die neuesten Comics auf dem Markt liefern würden. Hab ich aber nicht. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis die Graphic Novel, Nils der Illustratorin Melanie Garanin zu lesen – obwohl ich um das schwere und bedrückende Thema dieser Geschichte wusste.

Melanie Garanin erzählt darin von ihrem Sohn Nils, der mit nicht einmal vier Jahren stirbt. Sie findet für dieses Unfassbare berührende, teils poetische Bilder aus klarem Strich und perfekt akzentuierten Aquarellfarben, die tatsächlich so mühelos erscheinen, wie es sich Garanin in ihrem Interview (s. unten) wünscht. Diese visuelle Mühelosigkeit und Leichtigkeit steht jedoch im Gegensatz zu der Schwere des Inhalts. Nils, der unerschrockene Ritter mit dem Laserschwert, erkrankt mit zwei Jahren an Leukämie. Die Familie – aus Eltern Melanie und Georg, sowie die drei Geschwister Artur, Greta und Julius – bangt um den Jüngsten. Mal scheinen die Prognosen gut, mal machen die Ärzte Hoffnung, mal verschlimmert sich Nils‘ Zustand, rein ins Krankenhaus, wieder raus. Ein fürchterliches Hin und Her, das per se schon kaum ein Mensch ertragen könnte. Irgendwann bekommt Nils Bauchschmerzen, deren Ursachen jedoch nicht festgestellt werden können. Er stirbt schließlich an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung, etwas das mit der richtigen Behandlung wohl hätte geheilt werden können. Doch »hätte«-Sätze sind in dieser Geschichte nicht erwünscht.

Empathielose Ärzteschaft

Dieses an sich schon Unerträgliche wird jedoch durch das Verhalten der Ärzteschaft noch gesteigert. Oberflächlich betrachtet wird sich um den Jungen gekümmert, sein »Fall« ist interessant, er soll Teil einer Studie werden. Die Behandlung wird durch die Studie bestimmt. Die Bedenken der Eltern räumen die Behandelnden aus dem Weg, besser gesagt, sie beachten sie eigentlich nicht, sondern reden darüber hinweg, hören nicht zu. Garanin markiert den Fachsprech der Ärzte und Ärztinnen in serifenloser, steriler Druckschrift, während sie selbst die Geschichte in einer fast krakeligen Schreibschrift erzählt. Diese Druckschriftblöcke mit dem unverständlichen Fachvokabular wirken wie undurchdringliche Mauern, hinter denen sich die Behandelnden verrammeln, nur um sich nicht auf eine menschliche Kommunikationsebene zu begeben. Niemand gibt zu, irgendeinen Fehler gemacht oder gar nachlässig gehandelt zu haben.
Garanin bedient sich bei diesen Dialogen einem fantastischen (im Sinne des Wortes) Erzähltrick, indem sie ihrer Schreibtischlampe Leben einhaucht und sie zur »Mitarbeiterin«, die die Behandlenden verhört. Mit aller Wut und berechtigter Penetranz befragt die Lampe Frau Doktor Königin Antibiotika-Aber, ohne dass es ihr gelingt, deren Schutzwall aus Fachsprech zu durchdringen. Es hat was liebevoll humoristisches, wie die Mitarbeiterin den »Hals« verdreht und nur durch winzige Striche an den Augen, die Mimik ändert – wenn es nur nicht so erschütternd wäre.
Denn hier zeigt sich neben all der Trauer, die die Familie durchmacht, die Wut, die so überaus berechtigte Wut auf ein System, das versagt hat, weil sich dort – immer noch! – Behandelnde für etwas Besseres, Reineres, Weißgöttisches, Wissenderes halten. Sie sind von besorgten Eltern abgenervt, verstecken sich hinter einer unverständlichen Sprache, lassen keine Gefühle und kein Mitgefühl zu, weil ihre Karriere, ihr Ruf und ihr Status auf dem Spiel stehen. Es wäre wohlfeil zu sagen, auch Mediziner sind Menschen, die Fehler machen, die unter Druck stehen. Natürlich. Doch wenn so etwas wie mit Nils versteht, sollte es selbstverständlich sein, Mitgefühl zu zeigen. Als Leserin blättere ich fassungslos weiter, hoffe auf irgendein winziges Zeichen irgendeiner Menschlichkeit. Doch nichts.

Bewundernswerte Stärke

Umso mehr bewundere ich die Stärke von Mutter Melanie und ihrer Familie, die sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben, wozu sie alles Recht hätten, denn das Weiterleben nach so einem Schlag ist anstrengend genug. Die Eltern kämpfen viel mehr für Aufklärung, wollen, dass die Behandelnden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen werden, ihre Fehler zugeben oder sich – zumindest – entschuldigen. Unnötig zu sagen, dass sie gegen Druckbuchstabenwände rennen, durch die kein menschliches Wort dringt.
Die Schreibschrift-Krakel-Erzählung hingegen ist durchzogen von allen menschlichen Regungen, inklusive einer leichten Ironie und einer guten Portion Humor. Denn »Humor ist in der Trauer sehr wichtig«, wie Garanin im Interview sagt. Und nur so scheint das alles in einem gewissen Maße ertragbar zu sein. Was jedoch nicht verhindert hat, dass mein Exemplar ein paar Tränen abbekommen hat, die sich in den Aquarellfarben auflösten.

Von Gänsen und Kämpferinnen

Im vierten und letzten Kapitel kämpft eine – imaginäre – Ritterschar für den kleinen Ritter Nils, für große, allumfassende Gerechtigkeit, darum, dass wenigstens einige um Verzeihung bitten. Am Anfang und am Ende fliegen Gänse. Eine von ihnen markiert jedes Kapitel, sie trägt ein Laserschwert und erinnert mich sehr stark an Wolf Erlbruchs Ente aus Ente, Tod und Tulpe – was ich als wunderschöne Hommage empfinde. Sie wandelt sich immer mehr in eine Kämpferin, so wie sich Garanin in eine Kämpferin verwandelt hat. Durch ihre Graphic Novel, an der sie dreieinhalb Jahre gearbeitet hat (wenn ich das recht sehe, entspricht das ungefähr den Lebensjahren von Nils und diese Koinzidenz treibt mir schon wieder die Tränen …), hat sie Nils auf ihre ganz eigene, sehr persönliche Art unsterblich gemacht.
Andere Eltern, die ähnlich Schlimmes erleben müssen, werden hier vielleicht ihr eigenes Gefühlschaos wiederfinden und somit auch ein Quäntchen Trost. Falls es so etwas in diesen Fällen überhaupt geben kann.
Alle anderen dürften sich ihres Glücks bewusst(er) werden und den hohen Wert des Mitgefühls erkennen. Hoffentlich.

Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut, Carlsen, 2020, 200 Seiten, ab 16, 22 Euro

Tierisch faszinierende Berliner

Parakenings

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was entdecken. Zum Beispiel mitten in Berlin in einem sogenannten Kulturkaufhaus, einem großen Buch- und Tonträgerladen, auf einem für Touristen zusammengestellten Büchertisch. Zwischen den üblichen Stadtführern mit Gastrotipps, den 100 schönsten Orten, Berliner Geschichten und allerlei Vorschlägen für spezielle Interessen liegt eher dezent, mit blassgrünen Zeichnungen auf dem Einband Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder.
Abgesehen davon, dass ich immer anspringe, wenn mich das Bild eines Fuchses anblickt, scheint die Autorin und Illustratorin Marie Parakenings mit dem Untertitel genau mich gemeint zu haben.

Originelles Zahlensystem und frischer Blick auf die Hauptstadt-Fauna

Natur ist echt nicht so mein Ding, viel stechendes Kleinvieh und gern mal ein Wolkenbruch aus heiterem Himmel auf freiem Feld. Und Stadtkind bin ich von Geburt an – mit allen entsprechenden Vorbehalten gegenüber Land, Dörfern und Kleinstädten.
Über marodierende Wildschweine, zutrauliche Füchse und neugierige Waschbären mitten in Berlin hat man schon reichlich gehört. Aber die Designerin Marie Parakenings kommuniziert einen ganz neuen, frischen Blick auf die Fauna der Großstadt.

Abhängen am Paul-Lincke-Ufer

Das liegt auch am originellen Ordnungssystem, mit dem Parakenings die Tiere nach Fakten von 6.000.000 auf Null sortiert. Es fängt mit sechs Millionen Wanderratten an, die sich in Berlin tummeln, also fast doppelt so viele, wie Menschen in Berlin leben. Und wenn’s gut läuft für die vor 600 Jahren zugewanderten Säugetiere, könnte sich das Verhältnis zum Menschen zu ihren Gunsten noch locker verbessern – zahlenmäßig zumindest. Ein Rattenweibchen kann bis zu acht Würfe mit bis zu zwanzig Jungen haben, pro Jahr. Kommunizieren tun die bis zu 200 Tiere starken Familienverbände mit Lauten im Ultraschallbereich und hängen am liebsten, wie auch vor allem junge Berlinbesucher, am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer ab.

Verbündeter im Kampf um autofreie Innenstädte

Dieser allein ob ihrer Menge ziemlich beeindruckenden Hauptstadtbewohnerin folgt ein ebenso hübscher, naturalistisch gezeichneter und liebevoll kolorierter Steinmarder auf pastelfarbenem Fond – und die Zahl 2.500.000. Die nennt aber nicht die Größe der Population. Zweieinhalb Millionen Euro Schaden richten die einst menschenscheuen Allesfresser an Berliner Autos an, indem sie Kabel und Schläuche kaputtbeißen. Ein guter Verbündeter im Kampf für autofreie Innenstädte (meine Sicht, nicht dass die Autorin Ärger mit der mächtigen Autolobby bekommt).

Ansprechende Abschlussarbeit

307.088 Einwohner wiederum hat der Berliner Bezirk, der nach einem Vogel mit sprechendem, onomatopoetischem Namen benannt wurde, dem Stieglitz. »Welcher Bezirk mag das wohl sein? Na … zugezogen? Steglitz natürlich! Im Slawischen heißt das soviel wie da, wo es Stieglitze gibt« schreibt Parakenings. Was sie hier so souverän erklärt, weiß die selbst in Berlin aufgewachsene Autorin erst seit den Recherchen für ihr Buch. Berliner Tiere ist ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Weißensee.

Gema-Gebühren und Kotcontent

Es gibt viel Skurriles und Lustiges über Berlins tierische Bevölkerung zu erfahren. Die 168 im U-Bahnhof Hermannplatz lebenden, an Dönerfleisch adaptierten Gleismäuse waren ursprünglich Feldmäuse. Spatzen machen ihre Nester mit Kippen milbensicher. Rotkehlchenmännchen bleiben zu 20 Prozent ihr Leben lang Singles. Und nicht nur die in der Kapitale ansässigen 65 Waldkäuze wären »ziemlich reich, würde ihnen die Gema Tantiemen zahlen für jedes Mal, wenn in Film und Fernsehen ihr typisches huuu huuu ertönt«. Fakten über Fuchsfäkalien, Losung genannt, nennt Parakenings scherzhaft »Kotcontent«. Den Ausdruck könnte man auch als höfliche Umschreibung für den vielen im Netz kursierenden Dreck verwenden.

Für welches Tier steht »4,99«?

Was es unter anderem mit den Zahlen »1945«, »569«, »275« und »4,99« auf sich hat, wird hier auf keinen Fall verraten – unbedingt selbst lesen!
So war diese Reise nach Berlin und ist dieses brillante Tierbuch in vielfacher Hinsicht ein fa(u)ntastisches und bereicherndes Erlebnis.

Marie Parakenings (Text und Illustration): Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder, Kulturverlag Kadmos Berlin, 2020, 160 Seiten, ab 10, 19,90 Euro

Kein Mensch ist illegal

illegal

Kaum ein Tag, an dem die Nachrichten nicht von Rettungsschiffen im Mittelmeer berichten, die Italien immer noch viel zu selten anlaufen dürfen. Das Leid der Menschen an Bord können wir uns in unseren sicheren Häusern und Wohnungen kaum vorstellen dürfen.
Und nun berichtet die UNHCR seit gestern von den noch größeren Gefahren an Land für die Flüchtenden.
Wie so eine Flucht durch den afrikanischen Kontinent aussehen könnte, zeigen uns Eoin Colfer und Andrew Donkin in der Graphic Novel Illegal, in der Übersetzung von Ulrich Pröfrock.
Colfer, eigentlich für seine Fantasy-Romane um Artemis Fowl, Warp und den nicht bellenden Hund bekannt ist, widmet sich hier dem tatsächlichen Leben.

Höllentour durch die Wüste

Colfer schildert die fiktive Geschichte des zwölfjährigen Ebo. Sein großer Bruder Kwame ist in der Nacht abgehauen, auf den Weg nach Europa zur Schwester. Kwame hat nichts gesagt und Ebo ist fest entschlossen, dem Bruder zu folgen. Aus seinem Dorf, irgendwo in Nigeria oder Ghana, nimmt er den Bus in die nächste größere Stadt: Agadez, eine riesige, labyrinthische Stadt in der Wüste. Hier sitzt Ebo erst einmal fest, er braucht Geld, ist aber noch zu jung, um für die üblichen Arbeitgeber zu schuften. Doch Ebo kann singen, und das tut er dann auf einer Hochzeit – und findet so durch Zufall seinen Bruder wieder.
Fünf Monate müssen die beiden arbeiten und sparen, bis sie die Tickets für den Lastwagen zusammen haben, der sie durch die Sahara bringen soll.

In den Fängen der Schlepper

Die Fahrt wird zur Tortur, dicht gedrängt stehen sie mit Fremden auf der Ladefläche. Die Sonne brennt ohne Schutz auf sie nieder. Als ein Mann vom Wagen fällt, hält der Fahrer nicht an. Das wenige Wasser, was mitgenommen wurde, verkauft der Schlepper für immer mehr Geld.
Bei der Übergabe an den nächsten Schlepper ist nicht mehr genug Platz für alle. Ebo, Kwame und ein halbes Dutzend weiterer Männer müssen zu Fuß durch die Wüste weiterlaufen. Die in Ligne claire gezeichneten Panels von Giovanni Rigano machen die tödliche Hitze und den Durst förmlich spürbar. Zu dritt schaffen sie es bis zur nächsten Siedlung.

Ebo wird krank. Doch die Brüder arbeiten weiter, um so von einer Stadt zur nächsten zu gelangen, bis sie schließlich Tripolis erreichen. Sie müssen sich vor Soldaten verstecken, dürfen niemandem vertrauen, nicht auffallen. Sie schlafen in einem Abflussrohr, werden von Ratten angeknabbert. Colfer erspart den Lesenden zwar die schrecklichen Lager, euphemistisch „Gefangenen-Zentren“ genannt, für die Libyen mittlerweile bekannt ist, doch das mindert den Schrecken in seiner Darstellung der Landflucht nicht.

Auf See in einem zu kleinen Schlauchboot

Und irgendwann ist der Tag bzw. die Nacht da, an dem Ebo und Kwame mit zwölf anderen Menschen auf ein Schlauchboot steigen, das nur für sechs Personen ausgelegt ist.
Ebo erzählt aus diesem Moment heraus. Die Kapitel auf dem Meer wechseln mit dem Rückblick auf Durchquerung der Wüste. Und das Meer ist nicht weniger lebensfeindlich wie die Sahara. Auch hier brennt die Sonne, das Wasser ist kalt, das Boot hat ein Leck. Diese Seefahrt ist alles andere als lustig.
Irgendwann ist der Sprit alle und das Trinkwasser auch. Die Richtung ist nicht mehr klar, in die die Jungs paddeln müssen. Die nächste Katastrophe steht kurz bevor.

Sensibilisierung für Ursachen und Gefahren einer Flucht

Colfers Geschichte, auch wenn sie fiktiv ist, orientiert sich an realen Schicksalen und kann daher als eine gelungene Illustration für jugendliche Leser_innen angesehen werden, die ihnen die täglichen Dramen auf dem Mittelmeer näher bringt. Das Verständnis und die Empathie für die Menschen, die sich nicht zum Spaß auf diesen lebensgefährlichen Weg machen, wächst. Die Ursachen, warum die Menschen die Heimat verlassen, werden zwar nur angedeutet und nicht in ihrer teilweise traumatisierenden Realität dargestellt, dennoch werden die Lesenden auf vielen Ebenen sensibilisiert.

Was heißt schon illegal

Gerade weil hier ein Kind flüchtet, wird zudem noch einmal deutlicher, dass kein Mensch illegal ist. Sie werden erst von Populisten und unmenschlichen Gesetzen dazu gemacht, eine Vorgehensweise, die unter keinen Umständen akzeptabel ist. Diese eigentlichen Banalitäten und Selbstverständlichkeiten über eine schnell zu lesende Graphic Novel auch der Jugend klar zu machen ist die Stärke dieses Buches.

Eoin Colfer/Andrew Donkin: Illegal, Illustrationen: Giovanni Rigano, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Rowohlt, 2019, 144 Seiten, ab 11, 16,99 Euro

Bruderliebe

Bruder

In den vergangenen Jahren gab es erstaunlich wenige Bücher, bei denen ich weinen musste. Die Britin Katya Balen hat es geschafft, dass mir nun beim Lesen immer wieder die Tränen kamen. Tränen der Rührung, der Trauer, der Freude …
Dabei hatte ich zwar immer auch den Gedanken im Kopf, welches Kind den Roman Mein Bruder und ich und das ganze Universum wohl mit Freude lesen würde, denn Balen erzählt eine nicht ganz einfache Geschichte.

Alltag mit einem autistischen Bruder

Der zehnjährige Frank hat nämlich einen autistischen Bruder. Max kann nicht sprechen, trägt immer nur ein bestimmtes T-Shirt, braucht seinen ganz besonderen Teller und isst nur gelbliche Lebensmittel. Wenn etwas anders ist, sich verändert, dann »schmilzt« Max: Er versteift sich, schreit und kreischt und flattert mehr als sonst mit den Händen. Und Max braucht natürlich Aufmerksamkeit – mehr als Frank. Die Mutter, eine ehemalige Künstlerin, kümmert sich rührend um beide Söhne, doch steht Max immer ein bisschen mehr im Fokus. Frank versteht das durchaus, doch natürlich hat er auch Momente, in denen er sich vernachlässigt fühlt. Dann versucht er, seine Welt mit Codes zu ordnen. Er morst mit der Mutter, hat einen Zahlencode, in dem er seine Gedanken aufschreibt – und in dem die Überschriften in der Geschichte verschlüsselt sind (eine sehr gelungene Art, um die Lesenden aus dem gewohnten Lektüretrott zu holen und zu veranschaulichen, wie es sein kann, wenn man das Leben nicht sofort entschlüsseln kann oder von Veränderungen immer wieder aus der sicheren Routine gebracht wird).
Der Spott in der Schule über seinen Bruder macht ihm das Leben zusätzlich schwer, da er manchmal nicht so souverän reagieren kann, wie er es gern möchte. Dann ärgert sich Frank jedoch mehr über sich selbst, als über den Mitschüler, der den dummen Kommentar abgeliefert hat.
Nun steht die Einschulung von Max kurz bevor, und Frank zählt in einem Countdown die Tage runter. Denn diese Veränderung im Leben seines Bruders betrifft die ganze Familie, da niemand sagen kann, wie Max reagieren wird.

Bis hierhin ist das Buch bereits großartig, konsequent aus der Perspektive von Frank erzählt, und bietet daher jede Menge Identifikation für alle Kinder, die Geschwister mit Behinderungen haben. Sie können sich in Franks emotionaler Zerrissenheit gegenüber dem Bruder wiederfinden, in der Liebe zu ihm und in dem manchmal aufkommenden Hass, weil der Bruder eben doch irgendwie immer der Mittelpunkt ist.

Die wahre Tragödie

Dann jedoch setzt Katya Balen dieses »Drama« in Bezug zum dem, was eine wirkliche Tragödie ist. Sicher ist das Leben mit Kindern mit Genveränderungen, Krankheiten oder Behinderungen anstrengend, vielleicht anstrengender als mit »normalen« Kindern sowieso, doch es ist ein Leben und zwar ein sehr lebenswertes. Das sieht man in dieser Geschichte an Max, der das Leben und alles, was dazu gehört, liebt: den Hund von nebenan, das Schlittenfahren, er drückt sich auf seine ganz eigene Art aus, lernt, spielt Theater und feiert so sein Dasein. Ein wirkliches Drama ist der Dreh, den Balen nun einbaut – und der muss hier verraten werden, denn sonst versteht man diese Rezension nicht: Die Mutter stirbt, und für Frank bricht sein Universum richtig zusammen. Die Ordnung kommt nicht nur für Max, sondern auch für ihn durcheinander. Die Leere und die Trauer sind immens.
Der Vater ist anfangs durch die Trauer um die geliebte Frau und die neue Rolle, die er nun für seine zwei Jungs spielen muss, völlig überfordert. Die Großmutter kann nur eine vorübergehende Hilfe sein.
Frank fehlt die Mutter, mit der er sich über Morse-Codes unterhalten konnte, unglaublich. Aus dem Countdown bis zu Max‘ Einschulung wird eine Zählung, wie lange die Mutter bereits tot ist.

Die Brüder entwickeln sich weiter

Das alles ist zum Teil nur schwer zu ertragen, aber gleichzeitig auch so großartig erzählt, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Franks Schmerz geht auf die Lesenden über, aber seine Wandlung zu einem liebevollen großen Bruder macht gleichzeitig stolz und rührt ungemein. Denn Frank berichtet weiter von Max – und seinen Fortschritten, die er mit seinen sechs Jahren nun in der Schule macht. Und so wie Max sich entwickelt, mit den drastischen Ereignissen auf seine Art umzugehen lernt, so verändert sich auch Frank, der nun blöde Sprüche über Max nicht mehr einfach so schluckt, sondern Widerworte gibt.
Frank, der einen Faible für Spiralgalaxien und Codierungen hat, lernt, sein Universum neu zu ordnen.

Was ist schon eine Genveränderung im Vergleich zum Tod

Dachte ich zunächst ja, welches Kind so ein Buch mit Freude lesen würde, so sage ich jetzt viel mehr: Welches Leser_in wäre nicht von Frank beeindruckt? Denn dieser Held zeigt in seinen eigenen Worten – wunderbar von Annette von der Weppen ins Deutsche übersetzt –, dass das Leben bekanntermaßen kein Ponyhof ist, aber der Mensch unglaublich zäh ist und mit vielen Schicksalsschlägen umzugehen weiß. Durch die Relativierung von Autismus zu Tod feiert die Autorin die Vielfalt und Diversität des Lebens in all seinen Facetten. Nicht die Andersheit des Bruders ist schlimm, ganz und gar nicht, sondern das Fehlen der Mutter. Das lernt Frank, das lernen die Lesenden.
Man wird demütig, wenn man sagen kann, dass man die Liebsten noch um sich hat. Wie unwichtig ist dagegen schon eine Genveränderung? Frank entdeckt so, wie viel Liebe er für seinen Bruder empfindet und wie viel Kraft sie ihm gibt, mit dem größten aller Verluste zu leben. Und diese Botschaft macht Hoffnung, und zwar allen.

Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum, Übersetzung: Annette von der Weppen; Carlsen, 2019, 208 Seiten, ab 11, 13 Euro

Fred zum Lesen

Heute erscheint ein Buch, auf das ich mich lange gefreut habe – denn ich durfte als Lektorin daran mitwirken. Nun ist mit Fred bei den Wikingern das erste Print-Produkt im Berliner ultramar Verlag erschienen. Warum ich das hier so betone? Ganz einfach, ultramar und seine beiden Hauptakteure Birge Tetzner und Rupert Schellenberger haben bis jetzt nur CDs herausgebracht, nämlich die wunderbar Hörspiel-Reihe um die Hauptfigur Fred. Über die spannenden Zeitreise-Geschichten und die Robin-Hood-Variation habe ich hier bereits berichtet.
Konnten archäologie-begeisterte Kids bis jetzt den insgesamt sieben Abenteuern von Fred und Opa Alfred nur lauschen, so können sie jetzt die Zeitreise zu den Wikingern auch nachlesen und sich von den stimmungsvollen Illustrationen von Karl Uhlenbrock in die Zeit des Nordvolkes vor ungefähr tausend Jahren entführen lassen.

Sturz durch die Zeit

Fred macht mit Opa Alfred ja bekanntermaßen Ferien in Dänemark. In Roskilde unternimmt der Junge eine Ruderpartie in einem originalgetreu nachgebauten Langboot der Wikinger – und geht über Bord. In dem aus den Hörspielen bereits bekannten Kniff fällt Fred durch die Zeit und findet sich bei den nordischen Kämpfern wieder.
Fred landet genau in dem Moment in einem Wikinger-Dorf genau, als der herrschende Jarl in einer Seeschlacht gefallen ist. Nun ist die Frage, ob sich dessen Sohn Ivar als Nachfolger durchsetzen kann. Fred und Ivar freunden sich an.
Fast ein Jahr verbringt Fred bei den Nordmännern und lernt durch Ivar und die Dorfbewohner das ganz normale Leben kennen, das die Menschen damals neben den Raubzügen führten. Er erfährt, was es mit Odin, Rán und Loki auf sich hat, welche Rolle die Seherin spielt … und muss schließlich einen Weg zurück in seine Zeit finden, um nicht auf ewig bei den Wikingern bleiben zu müssen.

Fundiert recherchiert

Und mit dem, was Fred so alles erfährt, lernt auch die Leserschaft. Denn genau wie die überaus akkurat und exzellent recherchierten Hörspiele ist auch diese gedruckte Ausgabe der Geschichte ein wahrer Schatz an fundiertem Wissen über die Wikinger. Neben der abenteuerlichen und packenden Geschichte ergänzen nämlich erklärende Sachtexte die Welt der Wikinger, ihre Lebensart, ihre Bestattungsriten, ihren Schiffbau, wie sie beispielsweise Taue, Segel und Waffen herstellten. Ein Glossar erläutert die wichtigsten Fachbegriffe sowie die Aussprache des Altnordischen und gibt Anregungen, welche Wikingerorte man in den nächsten Ferien besichtigen kann, um vor Ort diese Kultur weiter zu erforschen.

Liebevoll gemacht

So sorgsam, wie Birge Tetzner den Inhalt aufbereitet und verständlich gemacht hat, so liebevoll ist die Ausstattung dieses Buches: dickes champagnerfarbenes Papier, Hardcover mit Prägedruck, Lesebändchen. Dazu die zahlreichen Illustrationen von Karl Uhlenbrock. Die erzählenden Bilder sind in gedeckten, manchmal düsteren Farben gehalten, voller Dynamik, manchmal fast ein bisschen gruselig, mit wilden Kriegern. Sie allen füttern die Fantasie und machen die Geschichte noch lebendiger. Daneben gibt es zudem noch erklärende Illustrationen, die die Sachtexte begleiten und beispielsweise archäologische Fundstücke zeigen. Das Lesen und Schauen wird hier auf jeden Fall nicht langweilig.

Wem also das Hörspiel zu kurzweilig war, der kann hier ausgiebig weiterschmökern.
Da wünscht man sich, dass auch die anderen sechs Fred-Abenteuer möglichst bald in Buchform vorliegen…

Birge Tetzner: Fred bei den Wikingern, Illustration: Karl Uhlenbrock, ultramar media, 2019, 208 Seiten, ab 9, 22 Euro

Ein Genre – tausend Welten

Hans ist ein netter Kerl. Aber zum Haareschneiden hat er kein Talent, wie Øyvind Torseter auf der ersten Seite seines neues Kinderbuchs Hans sticht in See sehr lustig zeigt, wochenlange bad hair days garantiert. Also verliert der sanftmütige Schlacks mit dem freundlichen Gesicht, einer Mischung aus Mumin und Elchkopf, gleich wieder seinen ersten Job. Kurz darauf ist auch noch seine Wohnung weg, seine Habe weggeschlossen und nur gegen 70.000 Kronen auslösbar.
»Ich brauchte etwas Starkes«, denkt Hans und geht in die Hafenkneipe, wo er sonst nie hinkommt. »Was Starkes« sind Chilinüsse – aber die sind aus! Hans hat ziemliches Pech.
In der sozialen Realität von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot beginnt der norwegische Autor und Zeichner Torseter seine charmante Neuerzählung von Hans im Glück. Seinen Hans, schüchtern und sanftmütig, kennt man von seiner Neuinterpretation der norwegischen Sage Der siebente Bruder. Vom Äußeren her erinnert er auch an sein niederländisches Pendant Krawinkel, bester Freund des Hundes Eckstein.
Weil Hans wirklich nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich von einem großspurigen Millionär anheuern, das größte Auge der Welt für dessen außergewöhnliche Sammlung zu suchen.

Keine Graphic Novel – hier wird über die Bilder erzählt

Auf einer stimmig kolorierten Doppelseite zeigt Torseter mit viel Liebe zum Detail zahlreiche Kuriositäten. So vielfältig und einfallsreich wie die Geschichte, die sich zu einer Odyssee und Liebesgeschichte entwickelt, sind auch die Bilder, mit denen der mehrfach ausgezeichnete Autor erzählt. Mal sind es nur ganz reduzierte Schwarzweißzeichnungen, gerade mal die Konturen mit leicht verwackeltem Strich angedeutet, dann malt er Tableaus von Kneipeninterieurs, Stadtansichten, Schiffsquerschnitten und Tiefseewelten. Dabei setzt Torseter Farbe dezent und meist flächig ein, um Stimmungen zu erzeugen. Als Innenarchitekt wäre er wohl auch sehr überzeugend.
Obwohl andere es so nennen, Hans sticht in See ist keine Graphic Novel, und zwar nicht nur, weil der Text deutlich unterliegt. Es ist die perfekte Mischung aus Comic und Kinderbuch, hier wird über die Bilder erzählt, Dialoge stehen in klassischen Sprechblasen.

Synthetischer Seemannspulli und Gin Tonic

Witzig ist die Mischung aus Märchen und Anspielungen an das Hier und Jetzt. Seinen Seemannspulli verschenkt Hans an einen frierenden Delfin, der sich sehr darüber freut, »obwohl es nur Synthetikwolle ist«. Gegen Skorbut auf große Fahrt mitgenommene Zitronen verschwinden im Gin Tonic, mit dem sich die blinde Passagierin unter Deck über Wasser hält. Es tauchen mythische Figuren auf wie ein sehr wütender Wal und ein gefährlicher Zyklop, wuschelig weiche Reisebegleiter spielen ebenso eine Rolle wie ein verlorenes Medaillon. Manchmal hat man das Glück direkt vor der (weichen, großen) Nase – und findet es aber erst nach langer Irrfahrt.
Hans sticht in See ist ein wunderbares Comic mit allem, was richtig gute Bildergeschichten brauchen.

Ein sprachlich und optisch höchst unterhaltsames Vergnügen ist der erste Band der neuen Comicreihe Atom Agency. Die Juwelen der Begum basieren auf einem dreisten Blitzüberfall 1949 an der Côte Azur, bei dem historisch verbürgt der Begum, Frau des Aga Khans, Schmuck im Wert von zwei Millionen Mark geraubt wurden. Der junge Atom, armenischstämmiger Sohn eines Polizeikommissars in Paris, wittert seine große Chance als Privatdetektiv. Gemeinsam mit Freundin und Assistentin Mimi sowie dem ehemaligen Catcher Jojo versucht er den Schmuck zu finden.

In der Tradition belgischer Comickünstler

So wohlbekannt das Genre, so klassisch sind auch die Zeichnungen. Olivier Schwartz ist ein Vertreter der Nouvelle Ligne claire, in der Tradition der großen belgischen Comickünstler wie Hergé und André Franquin, letzterer bekannt für Spirou und Fantasio. Deren Abenteuer setzt Schwartz gemeinsam mit dem Szenaristen Yann seit einigen Jahren fort. Und jetzt hat dieses kongeniale Duo ein schlaues und schlagkräftiges Trio ins Leben gerufen.
Schwartz‘ Bilder leben von der Detailtreue: in einer Autowerkstatt sind mehrere Michelinmännchen zu sehen, an der Wand hängt ein Plakat des Autorennens in Monaco von 1937. Das Bistro wird dekoriert mit Martini-Reklame, auf den Tisch kommt Ricard. Auf dem Boulevard wirbt ein Plakat für Orson Welles Der dritte Mann, Straßenkreuzer bekannter Automarken rauschen vorbei, historische Neonschriftzüge blinken an Fassaden.

Vielmehr ein Paradigmenwechsel

Yann setzt alles stimmig und spannend in Szene. Seine Dialoge sprühen vor Wortwitz, besonders die sehr selbstbewusste, kluge und unabhängige Mimi nimmt kein Blatt vor den Mund. Jojo, der die Ermittlungen finanziert, stellt klar: »Ich spiele auf keinen Fall den Muskelprotz, den Idioten mit ´ner Erbse im Schädel, der die Türen eintritt, den Frontmann, der die Bösen verhaut und den Strohkopf, der die Koffer schleppt! Nee! Njet! Nichts da!« Und schlägt »vielmehr einen Paradigmenwechsel vor«.
Ganz klassisch, ganz ohne Klischees. Nebenbei lernt der Leser einiges über die Résistance. Aus sehr unterschiedlichen Menschen mit diversen Motiven setzte sich die französische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer während des zweiten Weltkriegs zusammen. Kommunisten, aufrechte Franzosen, politisch Verfolgte und echte Gangster kämpften gemeinsam für ein freies Frankreich und die Demokratie. Alte Netzwerke und merkwürdige Konstellationen blieben bis weit in die Nachkriegszeit bestehen.

Résistance und Armenier, Geschichte und Familienkonflikt

Man erfährt zudem etwas über Armenier in Frankreich, von denen der als guter Bekannter von Atoms Vater genannte Aznavourian der bekannteste ist, der Chansonier und Schauspieler Charles Aznavour. Atom ist ein traditionell armenischer Vorname, den sein Vater ihm zu Schadenfreude seiner ihm wohlgesonnenen Onkel verpasst hat, zusammen mit der Forderung, ein »anständiges armenisches Mädchen« zu heiraten. Also auf keinen Fall eine wie die emanzipierte und freiheitsliebende Mimi. Hier vermischt sich sehr raffiniert Geschichte mit Fiktion, wahre Verbrechen mit Krimistory, Familienkonflikt mit Zeitkolorit. Ein toller Auftakt, der große Lust auf Fortsetzung macht.

spiderman

Spiderman – A New Universe ist das, wie mehrfach auf den ersten Seiten betont wird, offizielle Buch zum Film. Also das Buch zum Film, der das Anime zum Spielfilm zum Comic ist – Comic auf der Metaebene. Und ein Band aus der Sachbuchreihe für Erstleser aus dem Dorling-Kindersley-Verlag. Jetzt können ganz junge Superheldenfans das neue Universum des Spinnenmanns erkunden.
Aber was heißt ein Universum oder Spinnenmann?! Viel besser, auch Marvel erweitert sein Weltbild. Seit dem Animationsfilm von 2018 wissen wir: Es gibt nicht nur einen Spiderman. Sondern ganz viele. Es sind Frauen und Mädchen, junge Schwarze und düstere Typen vom alten Schlag, und Spider-Ham, in dessen Universum es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, dass Schweine Superhelden sind.

Helden und Schurken gibt es so viele wie Parallelwelten

Es gibt so viele Helden wie es denkbare Parallelwelten gibt. Und jede braucht Leute, die gegen das Böse antreten. Denn auch die gibt es weiterhin massenweise, da bleibt Marvel konservativ. Oder wie Toby Maguire in einer meiner Lieblingsszenen sagt, wenn er sich nach dem Kampf mit dem Sandmann auf einem Hochhaus sitzend den Sand aus den Schuhen kippt: »Wo kommen diese Typen nur alle her?«
Dieses Sachbuch erweitert auf originelle Weise das Weltbild ganz junger Leser_innen und lässt erfahrenere Leser (und Filmliebhaber_innen) die früher etwas eindimensionalen Superheldengeschichten mit neuen Augen sehen.

Drei Bücher, die zeigen, wie vielfältig und klug, erfrischend und lebendig das Comicgenre ist.

Øyvind Torseter: Hans sticht in See – Die Irrfahrt eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg 2019, 160 Seiten, ab 12, 26 Euro

Yann, Olivier Schwartz: Atom Agency – Band 1 Die Juwelen der Begum, Übersetzung: Marcel Le Comte, Carlsen 2019, 56 Seiten, ab 12, 12 Euro

Marvel: Spiderman – A New Universe. Das offizielle Buch zum Film, aus der Reihe Sach-Geschichten für Erstleser, Dorling Kindersley, 95 Seiten, ab 6, 7,95 Euro

Vereint sind wir stark

Murgia

An diesem Wochenende wählen wir – Europa. Und hoffentlich nutzen viele, richtig viele das wichtige Grundrecht, ihre Stimme abzugeben. Denn gemeinsam können wir viel bewegen.
Das ist auch der Tenor von einem italienischen Buch, dass ich euch heute vorstellen möchte, obwohl es noch nicht auf Deutsch erschienen ist. (Ich habe es vergangene Woche quasi druckfrisch aus Italien mitgebracht und weiß noch nicht, ob es überhaupt übersetzt wird – falls jemand Infos dazu hat, bitte melden.)
Die sardische Autorin Michela Murgia, die hierzulande durch ihren Roman Accabadora dem erwachsenen Publikum bekannt geworden ist, hat in Noi Siamo Tempesta (wörtlich: Wir sind der Sturm) 16 Ereignisse der Weltgeschichte versammelt, in denen es keinen Einzelhelden gibt, sondern die Gemeinschaft Fundamentales bewegt hat.

Michela Murgia schreibt auch für Jugendliche

So erzählt sie für junge Leser_innen, aber auch für Erwachsene beispielsweise von der Entstehung von Wikipedia, in der das Weltwissen gesammelt wird, vom Fall der Berliner Mauer, aber auch von der historischen Schlacht bei den Thermopylen, in der 300 Spartaner gegen die übermächtigen Perser unter Xerxes antraten, oder von den Müttern auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die es nicht hinnehmen wollten, dass das Regime ihre Kinder verschlingt.
Die Geschichte über die erste weibliche Fliegerstaffel der Sowjetunion, die „Hexen der Nacht“, lässt Murgia, die sich immer auch für Frauenrechte und gegen jeglichen Faschismus einsetzt, von Paolo Bacilieri in Form eines Comics erzählen. Von langweiliger Lektüre kann hier also nicht die Rede sein.
Auch die Menschen, die die Geflüchteten im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten, würdigt Murgia. So nimmt sie die Leser_innen auf eine kurzweilige Reise durch Raum, Zeit und Medien mit. Erzählt jede Geschichte zuerst auf sehr persönliche Art und schließt sie jeweils mit einer Faktenseite ab, die kurz über die historischen und politischen Zusammenhänge aufklärt.

Gemeinschaft bewegt

Mit diesen kurzen Geschichten, die von dem Mailänder Grafikstudio The World of Dot (Mitgründer ist u.a. Iacopo Bruno) sehr modernistisch illustriert wurden, schärft sie ganz enorm das Bewusstsein der Lesenden, dass weltbewegenden Veränderungen, Umstürze oder Aktionen zumeist nicht auf das Konto eines einzelnen Menschen gehen. Es ist vielmehr der Zusammenschluss von Gleichgesinnten, der die Welt ändern … und vielleicht noch retten kann, was die Fridays-for-Future-Bewegung dieser Tage gerade zu beweisen bzw. anzuleiern versucht. Sollten sie Erfolg haben – was uns allen nur zu wünschen wäre – wird Michela Murgia sie sich in ihrer Fortsetzung erwähnen (nein, ich weiß nicht, ob es eine Fortsetzung geben wird, aber ich würde es mir wünschen.)

Geschichten ohne Helden

Nach all den Büchern über rebellische Girls und mutige Boys und die entsprechenden Nachfolgerprodukte, die wir in den Buchhandlungen finden, wäre das Buch von Michela Murgia eine wichtige Ergänzung und ein ganz wunderbarer Gegenpol zum Heldenmythos, den im Grunde niemand mehr braucht. Selbst die Avengers im Kino können nur gemeinsam die Welt vor dem Bösen retten. Und das will schon was heißen.
Daher sollten wir eigentlich viel mehr von diesen gemeinschaftlichen Geschichten in unser Bewusstsein und unser Leben holen. Denn jeder kann bei solchen Aktionen mitmachen und etwas bewegen – am Sonntag bei der Wahl und immer wieder freitags für das Klima!

(Michela Murgias Buch würde ich jedenfalls sehr gern übersetzen, liebe Verlage, falls einer von euch sich die Rechte dafür gesichert hat. Anruf genügt.)

Michela Murgia: Noi siamo Tempesta. Storie senza eroe che hanno cambiato il mondo, Salani Editore, 2019, 128 Seiten, 16,90 Euro

Psychologie lohnt sich

Zu meiner Zeit studierten Betriebswirtschaft nur die Langweiler, die mit Aluaktenkoffern zur Schule gegangen sind und wirklich glaubten, so gleich ins gehobene Management zu steigen. Cool war das nicht. Psychologie hatte durchaus seinen Reiz, aber als Beruf konnte man sich das auch nicht vorstellen.
Eine Generation später ist Wirtschaftspsychologie so begehrt, dass viele es für viel Geld an privaten Universitäten studieren, hierzulande. Ob die alle Arbeit finden und die teure Ausbildung sich schließlich auszahlt, ist wiederum psychologisch ein interessantes Thema.
Auf jeden Fall kann man sich schon in der Schule auf dieses reizvolle Fach einstimmen, mit den hervorragenden Büchern Kernfragen Wirtschaft und Kernfragen Psychologie von Marcus Weeks. Die beiden je 160 anregende Seiten dicken Bände sind der Auftakt einer Sachbuchreihe des Verlags Dorling Kindersley.

Außergewöhnlich gut durch gutes Lektorat

Was macht sie so außergewöhnlich gut? Zum einen das gute Lektorat. Gleich sechs Leute stehen bei der Wirtschaft im Impressum, sogar sieben haben bei Psychologie Fakten überprüft, Themen gesetzt und eine stimmige Struktur entwickelt. Und Texte redigiert und in eine höchst lesenswerte Form gebracht.
Das ist der große Vorzug dieser Sachbücher gegenüber zum Beispiel textlastigen Genreklassikern aus der Reihe Was ist was. Jeweils auf einer Doppelseite wird ein Aspekt wie zum Beispiel Wettbewerb, Genossenschaften oder ethisches Handeln im Wirtschaftsbuch knackig erläutert. Bei der Psychologie werden abstrakte Themen wie Wahrnehmung, Gedächtnis und Wissen neben Fragen, ob man verrückt ist und wie wir uns entscheiden auf zwei Seiten facettenreich beleuchtet.
Vorangestellt ist ein Überblick über verschiedene Schwerpunkte, Spezialisten und Tätigkeitsbereiche des jeweiligen Fachgebiets, beide Bände schließen mit einem ausführlichen Personenregister und Glossar.
Und dazwischen gibt’s geballtes Wissen: Von den Anfängen des Geldes, warum wir von »Banknoten« sprechen, über Aktiengesellschaften, Angebot und Nachfragen und Armut bis zu persönlichen Finanzen spannt sich in den Kernfragen der Wirtschaft der Bogen, alles anschaulich und praxisnah erklärt.

Verrückt oder Volkswirt

Übrigens ist »die Ökonomie keine exakte Wissenschaft, mit der sich Theorien eindeutig beweisen oder widerlegen lassen. Einige Ökonomen machen Vorschläge zur Regelung der Wirtschaft. Aber letztlich ist sie nicht vorhersehbar und sie können auch völlig falsch liegen.« So steht es ganz ehrlich in der Zusammenfassung des ersten Kapitels, nebenbei auch eine treffende Analyse der Finanzkrise von 2007/2008, der bisher schlimmsten seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Oder wie es der britische Ökonom Kenneth Boulding erfrischend ehrlich auf den Punkt bringt: »Wer glaubt, exponentielles Wachstum könne in einer begrenzten Welt immer weitergehen, ist entweder verrückt oder Volkswirt.«
Das macht den Charme dieser Bücher neben den klugen Texten aus: die originellen Details, Einsprengsel und Anmerkungen, mal als Fingerzeig in einer Textblase oder als umkringelte Notiz, mal als kleiner Extrakasten. Hierzulande ist das Thema Wohnen und Eigentum brandaktuell. Bei unseren Nachbarn ist das kein Problem: »In den Niederlanden ist fast ein Drittel des Wohnraums im Besitz von Genossenschaften.«
Und in Fernost, im Staat Bhutan, wurde 1972 statt des Bruttoinlandsprodukts ein Maß für das Buttoinlandsglück ins Leben gerufen – arm, aber glücklich. Seitdem veröffentlichen auch die Vereinten Nationen jedes Jahr den Weltglücksreport.

Grafiken, die wirklich informieren statt nur illustrieren

Und immer wieder wird deutlich, wie viel Psychologie in der Wirtschaft steckt. Damit sind wir bei dem sogar noch besseren der beiden Bände. Hier sind die Illustrationen nicht bloß illustrativ und lockern das Ganze hübsch auf. Sondern sie veranschaulichen und intensivieren die Informationen. Sie leiten den Blick und geben jeder Doppelseite eine besondere Dynamik. Sei es der Schneeballeffekt der Wissensbildung, der munter und immer größer werdend über die Seiten purzelt. Oder »Assoziationen, die typisch sind für das menschliche Bewusstsein«, dargestellt in einem Apfel.
Es sind keine Infografiken im üblichen Sinn, also so typische wie langweilige Törtchen und Balkendiagramme mit mehr oder weniger sinnvollen Relationen.
Die Raffinesse der Illustrationen kommt auch bei den zahlreichen Porträts einflussreicher Köpfe zum Ausdruck. Prägende Charakteristika oder Theorien werden mit einfachen Symbolen versehen –  zum Beispiel, ob jemand sich mit Phantomgliedern, Hunden oder Träumen beschäftigt hat, ein Künstler oder viel in Afrika unterwegs war. Aus diesen individuellen Piktogrammen als grobe Pixel setzt sich das Gesicht der Psychologin oder Verhaltensforschers zusammen.
„Dieser erstaunliche Wirrwarr im Kopf macht uns zu dem, was wir sind“ lautet ein Zitat des britischen Neurowissenschaftler Colin Blakemore (zu dem im Anhang nicht verschwiegen wird, dass er Tierversuche befürwortet). Diese Bücher vergrößern das Wirrwarr aufs Beste, , »weil um etwas wirklich lernen zu können, müssen wir es verstehen«, wie schon am Anfang beim Thema Entwicklungspsychologie steht. Man kann sich nur wünschen, dass auch alle Schulbücher so lesenswert und lehrreich wären.

Marcus Weeks: Kernfragen Psychologie, Übersetzung: Edigna Hackelsberger, und Kernfragen Wirtschaft, Übersetzung: Ute Mareik, Dorling Kindersley Verlag, 2019, je 160 Seiten, je 14,95 Euro

Die Welt braucht mehr Leute wie Onkel Stan

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Was für ein Glück, A.L. Kennedy als Babysitterin zu haben! In ihren Romanen und Erzählungen für Erwachsene schreibt die schottische Schriftstellerin über kaputte, traumatisierte, versoffene, gewalttätige und gequälte Menschen, für die es keine Hoffnung gibt. In ihre Geschichten für Kinder von Onkel Stan und Dan aber packt sie so viel Freude, Optimismus, Liebe, Glück und Witz, dass man sie nicht wiedererkennt.
Weil es doch extrem schade wäre, wenn die Abenteuer vom Dachs Dan und seinem Freund Onkel Stan im schottischen Hochland bei den Zwillingen der Schauspielerin Tilda Swinton (denen hat Kennedy sie vor Jahren erzählt) verschwinden würden, erscheinen sie jetzt nach und nach in Buchform.

A. L. Kennedy als Kinderbuchautorin

Dabei ist das Leben in Kennedys Kinderromanen keinesfalls ein Ponyhof. Im ersten Band über das fast ganz ungeplante Abenteuer, in dem der Dachs und Onkel Stan sich kennenlernen und Freunde werden, kommt es für einige der späteren Helden als unfassbar trostlose Lamafarm daher. Und für den knuffigen Dan könnte es auch gleich das Ende seines noch jungen Lebens bedeuten, in blutige Fetzen zerbissen bei einem äußerst unfairen Kampf mit drei Kampfhunden.

Der Dachs sowie vier Lamas sind in die Fänge einer absolut bösartigen Farmerfamlie geraten. Wie unglaublich fies diese Leute sind, macht Kennedy von Anfang an deutlich, mit der Entführung Dans durch die Schwestern Esther und Martha: Zwar steckt Dan in einem Sack und sieht zunächst nichts, aber »Dan brauchte bloß einmal zu schnüffeln, da wusste er: Wer ihn wegschleppt, hatte ein Herz voller Nägel, Sand und Gehässigkeit.«

Als er auf einen kalten Steinfußboden geschüttet wird, sieht er dass seine Kidnapperinnen »winzig kleine und verärgerte Augen von der Farbe schlecht schmeckender Bonbons haben«.

Poetische Metaphern schaffen Kopfkino

Es sind diese ungeheuer eindringlichen Bilder und Vergleiche, die dieses Buch so besonders machen. Eine Stimme klingt, »als würde man etwas Hässliches in einen Brunnenschacht fallen lassen.«  Oder »Esther kicherte, was sich anhörte wie falsch verlegte Rohrleitungen.« Diese fast poetischen Metaphern schaffen intensives Kopfkino. Hier werden Menschen beschrieben, die aus Spaß andere quälen und alle als extrem ekelige Pasteten enden lassen wollen.

Konterkariert werden diese komplexen Charakterisierungen von Gemma Corrells zahlreichen, sehr reduzierten Zeichnungen (angeblich von einem von ihr mit Karamellbonbons bezahlten Fünfjährigen angefertigt), die mit zahlreichen Erklärungen versehen wie Schautafeln eines sehr schrägen Wissenschaftlers daherkommen.
Ingo Herzke hat Kennedys bildgewaltige Prosa mit viel Wortwitz und Fantasie übersetzt, zum Teil selbst kleine Scherze angefügt, zum Bespiel gehört ein Hubschrauber zur Staffel der »Air Forst One«. In eine Reklame für schneeweiße Unterwäsche fügt er, frei nach der mütterlichen Mahnung, immer eine frische Hose anzuziehen, wenn man das Haus verlässt, die raffinierte Zeile »Man weiß nie« ein. Und ein Witz für Freunde von Druckerzeugnissen lautet: »Was kriegt man, wenn man eine Druckerpresse verprügelt? Schlagzeilen!«

Grausame Figuren – aber Hoffnung auf Rettung

Darf man Kindern von so grausamen Menschen erzählen? Ja. Wenn es Hoffnung auf Rettung gibt. Wenn die alte Westernregel, dass das Böse immer gewinnt, widerlegt wird. Wenn die Bösen nicht besser werden und deshalb gerechterweise ein bizarres Ende finden. Wenn das Gute so charmant und liebenswert und klug wie Onkel Stan daherkommt: »Ein großer, ziemlich dünner Mann mit rötlichbraunen Locken, schlaksigen Armen, knochigen Knien, schlenkernde Beinen«, der in seinen Taschen eine dösende Maulwurfsmutter und Käsestangen, aber keine Socken hat, weil er die einem Eichhörnchen als Schlafsack zum Campingurlaubspielen geliehen hat. Ein wahnsinnig netter und sympathischer Kerl, ein Traumtänzer mit scharfem Verstand.

dan

Im zweiten, dem »ungeheuer, ungewöhnlichen Abenteuer« geht es fast Onkel Stan an den Kragen. Genauer gesagt droht er von einem abgrundtief bösen Manipulator zerquetscht zu werden. Dieser Gegner geht sehr systematisch vor, er will alles Ungewöhnliche aus der Welt schaffen – und er hat erschreckend leichtes Spiel damit. Der Herdentrieb und das Streben nach Gleichförmigkeit und Normen sind entsetzlich stark.

Band zwei ist ein Plädoyer für Vielfalt, für den Mut anders zu sein und zu handeln. »Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang der famose Carsten Friedrich einst bei Superpunk. Und mit Der Liga der gewöhnlichen Gentlemen gelingt ihm die Beschreibung des grundguten und kämpferischen Onkel Stans: »Immer freundlich, nie gemein / Und wenn doch, dann muss es sein … Streetwise wie ein East-End-Schläger / Schlau wie ein Nobelpreisträger / Niedlich wie ein Hasenkind / Und berauschend wie Absinth … Die Welt braucht mehr Leute so wie Dich.«

Ein Plädoyer für Vielfalt

Dass dieses Abenteuer dem ureigenen Wesen und der Seele Onkel Stans gefährlich nahe kommt, merkt man, dass dieser im Laufe der Geschichte zu seinem eigenen Erstaunen »innendrin zornig« wird. Obwohl er jedem Gelegenheit gibt, seine Meinung zu ändern, weiß er schließlich, dass es bei diesem Gegner sinnlos ist: »Sie hassen es, wenn Leute sie selbst und glücklich sind.«

Wie gut, dass A.L. Kennedy ihre Helden ganz sie selbst sein lässt. Und was für ein Glück, dass die Ersthörer der Abenteuer von Onkel Stan und Dan mittlerweile erwachsen sind – und deshalb jetzt alle die Geschichten kennen und lieben lernen können.

A.L. Kennedy: Onkel Stan und Dan und das fast ganz ungeplante Abenteuer, 192 Seiten, und Onkel Stan und Dan und das ungeheuerlich ungewöhnliche Abenteuer, 272 Seiten, Orel Füssli, 2018/2019, Illustration: Gemma Correll, Übersetzung: Ingo Herzke, ab 9, je 14,95 Euro

Umfallen lernen

umfall

Was ist das denn für ein schräger Superheld? Ein moppeliger Kerl mit schwarzem Pilzkopf  und Oberlippenflaum, im rotgestreiften Schlafanzug und Badeschlappen an den Füßen, der sich seinen Umhang festknotet – so steht er auf dem Titelbild von Mikael Ross‘ Comic Der Umfall. Und wieso Umfall?

Zack, ist man schon drin in der Geschichte: Jetzt ist der Held namens Noel in seiner Daunenjacke ein rotes Michelinmännchen mit Mütze – und er benimmt sich auch ziemlich schräg: Bestaunt Prinzessinenpuppen, weiß nicht, wie alt er ist, schmettert lauthals im Feierabendrummel umgetextete Weihnachtslieder. Nach ein paar idyllischen, liebevollen Szenen mit seiner Mutter, genannt Mumsie, Geburtstagsgeschenken und gegrillten Marshmallows auf dem Balkon passiert der titelgebende Umfall: »Mumsie schläft auf dem Boden. Schlafen tut man aber im Bett. Und da is auch Blut … gehört da nicht hin.«

Panik, zur Beruhigung stülpt Noel sich einen Blumentopf über den Kopf, schließlich schafft er es mit größter Anstrengung einen Rettungswagen zu rufen.

Mit dem Umfall fällt Noel aus seinem bisherigen behüteten Leben in Berlin. Mumsie liegt im Koma, allein kann Noel nicht in der Wohnung bleiben. »Daheim ist nicht mehr mein Daheim.« Also bringt ihn »der Mann mit Bart« (sein Vater? Eine Frage, die Noel nicht stellt) nach Niedersachsen in das Dorf Neuerkerode.

Neuerkerode – die besondere Dorfgemeinschaft

Wie sein fiktiver Held Noel kam der Comiczeichner Mikael Ross in eine ihm zuvor völlig unbekannte Welt: Neuerkerode gibt es wirklich. Es ist ein inklusives Dorf, in dem Menschen mit und ohne Behinderung, unterschiedlichster Vorgeschichte und Prägung, leben und arbeiten. Ross erzählt die Geschichte dieser besonderen Dorfgemeinschaft aus Noels Perspektive: vorsichtig beobachtend und absolut unvoreingenommen. Langsam lernt er die Bewohner, Bürger genannt, und ihre individuellen Besonderheiten kennen. Wir sind hautnah dabei. Natürlich läuft beim »normalen« Leser (in der taz nannte eine Autorin, Mutter eines Sohns mit Downsyndrom und Tochter mit ADHS, ihren Mann »mehrfach schwer normal«) immer der Meta-Text mit: Wir versuchen die Art der Behinderung und ihre Schwere zu benennen, erkennen natürlich einen epileptischen Anfall als solchen, fremdeln in diesem Kontext noch mehr als sonst beim Thema Sex, denken über vermeintlich politisch korrekte Begriffe wie »anders begabt« nach. Oder, wie Andreas Steinhöfels Rico sagen würde: »tiefbegabt«.

Recherche vor Ort

Es gelingt Mikael Ross grandios, die Menschen aus Noels Sicht zu zeigen und sie einfach, so wie sie sind, auf sich zu kommen zu lassen. Ihren eigenen Humor, ihre Sprache, teils verquere Sichtweise und skurrile Logik übersetzt er geistreich und witzig. Zweieinhalb Jahre hat Ross in Neuerkerode recherchiert und wiederholt mehrere Tage in einem Apartment im Dorf gewohnt. Nach einiger Zeit hat er gelernt, dass er viel mehr über die Menschen vor Ort erfährt, wenn er, anstatt einzelnen gezielt Fragen zu stellen, sie auf sich zukommen lässt. Sie haben ihn an ihrem Leben, ihrer individuellen, teils sehr speziellen Erlebniswelt teilhaben lassen.

Und sie haben ihm viel von sich erzählt, unter anderem von dem schrecklichen Kapitel der 150 Jahre alten Einrichtung während der NS-Zeit. Zahlreiche Bewohner wurden abgeholt und ermordet. Damals waren Jungen und Mädchen, Männer und Frauen streng durch einen hohen Zaun voneinander getrennt. Trotzdem konnte ein Junge seine Schwester noch warnen, bevor auch er deportiert wurde. Die mit 92 Jahren älteste Bewohnerin Neuerkerodes überlebte, weil sie sich im Wald versteckt hatte. Diese erschütternde Erzählung webt Ross geschickt als eine frühmorgendliche Begegnung Noels mit der reizenden, alten Irma an der Bushaltestelle ein.

Beiläufig erfährt man andere Lebensgeschichten, vom autistisch-zahlenversessenen Valentin, von Alice, die bei großer Aufregung epileptische Anfälle erleidet, von der Frau, die sich früher selbst verletzt hatte, mit Medikamenten sediert und ans Bett fixiert wurde und dann Judo für sich als Therapie ohne schädliche Nebenwirkungen entdeckt hat und den übersetzt »sanften Weg« anderen Bewohnern beibringt.

Dabei beschönigt Ross nicht, er idealisiert und verharmlost Behinderungen nicht. Die meisten Neuerkeroder wären außerhalb, in der »normalen« Welt nicht lebensfähig. Schon am Anfang reißt Noels Mutter angesichts seiner Trödel- und Singerei irgendwann der Geduldsfaden und sie brüllt: »Es reicht. Du nervst.«

Sie alle sind mal niedlich, lustig, entzückend, sympathisch verschrobene, harmlose Spinner. Aber ebenso können sie extrem anstrengend sein, gewalttätig, nerven und einen in den Wahnsinn treiben.

Das Leben in allen Facetten

Während Noels Eingewöhnungszeit, seinen Begegnungen und Erfahrungen, wird uns klar, dass genau das unser Unbehagen gegenüber Behinderten ausmacht: Dass sie uns »Normalen« fremd und unberechenbar sind. Dass ihre Handlungen oft unlogisch erscheinen und wir uns nicht in sie hineindenken und –fühlen können; dass wir uns in ihrer Gegenwart deshalb selbst hilflos fühlen.

Ross zeigt auch, dass in Neuerkerode ebenso geliebt, gestritten, um Aufmerksamkeit geeifert, getrauert, vermisst und Freude empfunden wird. Leben in allen Facetten, nur halt ein bisschen anders.

Kluger Strich, kühne Konturen

Ross, der ursprünglich Herrenschneider gelernt und nie Illustration studiert hat und heute im Zweitjob als Kostümbildner arbeitet, fängt dieses eben nicht ganz normale Leben in Buntstiftzeichnungen ein. Die Technik hat er erst in Neuerkerode für sich entdeckt, wo viel und begeistert gezeichnet wird. Seine Figuren sind alle ausgereifte Charaktere mit markanten, nie genormten oder klassisch schönen Physiognomien. Manchmal bekommen die Zeichnungen etwas karikatureskes, doch ohne jemanden zu verspotten oder lächerlich zu machen. Außer bei der Gruppe Ärzte, die Noel über den Zustand seiner Mutter informieren wollen: Sie wirken absolut nachvollziehbar wie durcheinanderquakende Enten, angesichts unverständlicher und kaum empathisch hervorgestoßener Fachtermini. Flaschenbodendicke Brillengläser etwa lassen aus Sicht Noels die Augen seines Gegenübers wahlweise verschwinden oder untertassengroß erscheinen. Und Alices Eifersuchtsanfall zum Beispiel verwandelt sich zum Cartoon in Stop-Motion-Bildern. Ross braucht im Gegensatz zum Film keine aufwendigen Special Effects für seinen mitreißenden Comic. Kluger Strich, kühne Konturen und kräftige Colorationen machen seine Panels lebendig und dynamisch.

Erstaunlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Comics: Es ist die offizielle Festschrift zum 150. Geburtstag Neuerkerodes am 13. September 2018, wie man erst im Nachwort  erfährt.  Zwar gab’s einen konkreten Abgabetermin, ansonsten hatte Ross aber hierfür sämtliche künstlerische Freiheiten. Das spricht auch für den ungewöhnlichen Geist dieses inklusiven Dorfs: Dass man eben nicht das macht, was man normalerweise macht.

Zum Schluss, ein Jahr ist mittlerweile rum, hat Noel sich mit seinem neuen Leben in Neuerkerode arrangiert. Er hat vieles gelernt. Auch, nicht zuletzt dank Judo, richtig umzufallen – und wieder aufzustehen.

Mikael Ross: Der Umfall, Avant Verlag 2018, 128 Seiten, ab 14, 28 Euro