Die Schatzinsel

„Mitten in der Nacht wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte solche Angst. Nie Geld zu haben war beängstigend. Und noch beängstigender war die Frage, wie lange wir überhaupt noch durchhalten würden, wenn uns bei jeder Kleinigkeit, die schiefging, gleich das Geld für die Miete fehlte.“

Kitchen-Sink-Drama heißen im Englischen Filme und Romane, in denen es um die Sorgen und Nöte der sogenannten Kleinen Leute geht. Das Geld ist immer knapp, der finanzielle Ruin stets nah und die Schuldenfalle schnappt schnell zu, wenn zum Beispiel die Schuhe zu klein werden, die Spülmaschine das Haus unter Wasser setzt und das Kaninchen krank ist. Das weiß auch und erlebt hautnah die zwölfjährige Holly Theresa Kennet, die mit ihrem älteren Bruder Jonathan und dem jüngeren Davy in einem heruntergekommenen Haus in London über einem Imbiss lebt. Trotzdem ist ihre Geschichte mit dem Titel Eine Insel für uns allein kein Trauerspiel. Sondern ein packendes, großes Abenteuer, bei dem es nicht nur längs durch Großbritannien auf die im Norden Schottlands gelegenen Orkney-Inseln geht. Schatzsuche, Detektivgeschichte, Familienporträt und Sozialstudie vereint Sally Nicholls brillant in ihrem jüngsten Buch. Und während der Vorgänger Wünsche sind für Versager kaum auszuhalten war ob des Teufelskreises, in dem eine zutiefst verletzte Kinderseele feststeckte, möchte man dieses Buch gar nicht aus der Hand legen, weil seine Helden so charmant sind und ihre Erlebnisse so unglaublich spannend. Beate Schäfer ist es wohl ähnlich ergangen, sie hat den Roman einfühlend und dialogstark, ohne Sozialkitsch und Melodramatik, übersetzt.

Angesichts der prekären Lage, in der sich die Geschwister nach dem Krebstod der Mutter befinden, ist ihre Suche nach dem versteckten Schmuck, den ihre Großtante ihnen vermacht hat, kein Kinderfreizeitvergnügen, sondern schiere Notwendigkeit. Holly ist extrem plietsch, kennt sich mit Computern und Programmieren aus, zählt Schlossknacker zu ihren Freunden und hat die einschlägige Kriminalliteratur gelesen, im Gegensatz zu ihren Schulfreunden, die „Sherlock Holmes auch nur über Benedict Cumberbatch kannten“. Es ist immer wieder nett und interessant zu lesen, welche Rolle in englischen Büchern vor allem der Meister der Deduktion nach wie vor spielt und zu was er inspiriert. Statt mit Lupe und dem Wissen von 100 Variationen von Zigarrenasche helfen heute Rechner, Digitalkameras, GPS-Daten und digitale Netzwerke bei des Rätsels Lösung.

Holly hätte man gern als Freundin: Sie ist mutig, klug, witzig, gibt nicht auf und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern. Ihre Stärke sind ihre besondere Familie, vor allem ihre Brüder, für die beide sie sich als „halbe Erwachsene“ verantwortlich fühlt, und ihre Freunde – Menschen, denen sie vertraut und auf die sie sich verlassen kann. Das ist der große Unterschied zur kaputten Heldin des vorhergehenden Romans, die immer wieder enttäuscht, verraten und im Stich gelassen wurde und deshalb niemandem vertraut, eine Insel für sich allein sozusagen, eine isolierte, einsame.

Die Insel für uns allein dagegen ist ein Zuhause, gebaut aus der besonderen Dreisamkeit, die die Geschwister zusammenhält. Zwar hat der 18-jährige Jonathan das Sorgerecht für die Jüngeren übernommen, aber jeder trägt seinen Teil bei, dass sie trotz ständiger Geldsorgen, gemeinsam den Alltag gewuppt kriegen und glücklich sein können.

Hier wird nicht verraten, was es mit den Fotos und dem versteckten Metallkoffer auf sich hat und ob sie den Schatz tatsächlich finden. Denn eigentlich finden Holly, Jonathan und Davy bei diesem Abenteuer, das das Leben an sich ist, etwas viel Besseres, Grandioses. Genau deshalb brauchen wir in aktuell ziemlich düsteren, verstörenden Zeiten Bücher wie dieses: herzergreifende kichen sink adventures.

Elke von Berkholz

Sally Nicholls: Eine Insel für uns allein, Übersetzung: Beate Schäfer, dtv Reihe Hanser 2017, 216 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Grandiose Geschichten aus kleinen Klumpen

„Ich kann euch ganz in Ruhe meine Geschichte erzählen. Davon, wie eines Tages eine drangsalöse Misere über mich hereinbrach, die mein ganzes Leben durcheinanderbringen sollte. Hätte ich damals geahnt, was für Kalamitäten auf mich zukommen würden, ich wäre an jenem Morgen unter der Bettdecke geblieben …“

Mit diesen hübsch altmodischen Wörten beginnt der Erzähler seine Geschichte. Und während sich der eine oder andere Leser angesichts gelegentlich komplett verkorkster Tage denkt, dass es manchmal sicher die bessere Idee ist, morgens einfach liegen zu bleiben, schlägt einen Kirsten Reinhardts neuer Roman Der Kaugummigraf schon in seinen Bann: Es ist ein in vielfacher Hinsicht verblüffendes Buch. Nicht nur weil der Erzähler und Titelgeber ein alter Knorz ist, genauer der 81-jährige Eberhart von Eberharthausen. Es ist eine erstaunlich komplexe und vielschichtige Erzählung, wie man hinter dem für Reinhardts Standards sehr schlichten Titel nicht vermuten würde (frühere Titel waren Fennymores Reise oder wie man Dackel im Salzmantel macht und Die haarige Geschichte von Olga, Henrike und dem Austauschfranzosen).

Die Kalamitäten verursachende Misere tritt in Gestalt der struppigen, frechen und enorm hungrigen Ausreißerin Eli in das Leben des komischen Kauzes. Sie bringt ihn nach einigen Anlaufschwierigkeiten zum Erzählen. Und vielleicht zum ersten Mal am Ende seines langen Lebens öffnet sich Eberhart, stellt sich seinen Verletzungen, alter Schuld und lebenslanger Reue, Gedanken und Gefühlen, die er seit 20 Jahren mithilfe eines selbst auferlegten, strengen Zeitplans verdrängt und eingesperrt hat. Und natürlich sind das keine uralten Geschichten, „solche Dinge wie damals gibt es bestimmt nicht mehr“; da hofft Eberhart leider vergebens.

Aber warum nennt Eli ihn Kaugummigraf? Das hängt mit der höchst kuriosen Sammlung des betagten Helden zusammen, ein jahrelang verschlossener Raum in dem alten, vom Abriss bedrohten Bahnhof, in dem der Graf wohnt – und auch in seinem Herzen. Hier verwahrt er hunderte Kaugummis auf, die er seit seiner Kindheit gesammelt hat – gekaute, versteht sich. Denn „ein Kaugummi ist besser als ein Fingerabdruck“, wie der Graf sagt. Ein Fingerabdruck verrät nichts über seinen „Besitzer“. Ein ausgespuckter Kaugummiklumpen dagegen gibt erstaunlich viel preis: durch seine Form, die Zahnabdrücke, den Auffindeort, den Geruch, die Geschmacksrichtung, die Farbe. Und natürlich durch die präzise Erinnerung an all die kauenden Menschen, denen der Sammler begegnet ist und die sein Leben geprägt haben.

Es sind spannende, fantastische, erschütternde und rührende Geschichten, zeitlos gut und ewig wahr, Geschichten von abgeschobenen, missverstandenen Kindern, von Grausamkeit und Feigheit, von Wut und Mut. Davon, dass man stärker ist als man denkt und es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Von der Suche nach Freundschaft, Liebe, Glück. Wahrheiten, gelassen ausgesprochen: Seine Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen. Und es ist gar nicht so einfach, nichts zu tun. Die Freiheit, alles (oder nichts) tun zu können ist beängstigend, das muss man erst mal aushalten. Trotzdem ist sie das Beste am Leben, weil sie grenzenlose Möglichkeiten birgt.

Hat sich schon mal jemand beim Anblick der Flecken auf dem Pflaster überlegt, dass hier gelebte Geschichten kleben? Das entschuldigt natürlich nicht die Unsitte, Kaugummis in die Gegend zu spucken! Inzwischen haben Künstler die Sprengsel als winzige Leinwände entdeckt, um darauf grandiose Miniaturmeisterwerke zu schaffen, zu sehen unter anderem auf der Millenium Bridge in London.

Der Kaugummigraf ist ein Buch, so wie man sich das weltbeste Kaugummi wünscht, das es aber nie geben wird: Eine Wundertüte, ein Feuerwerk an unterschiedlichsten Geschmackerlebnissen, schönste, raumgreifende Blasen bildend, ein Genuss, sich damit zu beschäftigen und ganz lang anhaltend.

Elke von Berkholz

Kirsten Reinhardt: Der Kaugummigraf, mit Vignetten von Marie Geißler, Carlsen, 2017, 224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

 

P.S. Es gab schon mal ein besonderes Buch mit Kaumasse im Titel: Der quergestreifte Kaugummi von Ephraim Kishon, von 1977, eine unvergessene Erzählungssammlung.

Fuchs, du zeigst ganz unverhohlen

Wolf Erlbruch ist wirklich ein Schöpfer wundervoller Kinderbücher mit einer einzigartigen, unverwechselbaren Bildsprache. Sein bekanntestes Werk, das mit dem Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat, ist gar nicht repräsentativ für seinen Stil. Kunstwerke wie Nachts, Ente, Tod und Tulpe oder Die große Frage sind sowohl optisch als auch thematisch reizvoller und brillanter, besonders, wenn man sich weniger für den Kacka-Komplex und mehr für eben große Fragen interessiert.

Der Wuppertaler Illustrator Erlbruch dominiert hierzulande, neben dem in England lebenden Axel Scheffler, die Bilderbuchszene.
Und doch gibt es auch neue, exzellente Illustratoren, von denen man sich noch viele Bilderbücher mehr wünscht. Mit einiger Verspätung habe ich jetzt die Berlinerin Nele Brönner entdeckt. Ihr Debüt Affenfalle ist im österreichischen Luftschacht Verlag erschienen und wurde auch gleich mit dem Serafina Illustrationspreis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.

Affenfalle kommt wie der Held des Buchs auf leisen, weichen Pfoten daher. Die Flächen gestrichelt, weit und in Fahlgelb wie die ausgetrocknete Steppe, in der die Geschichte spielt. Nur der schmale, junge Fuchs sticht mit seinem kräftig roten Fell hervor. Anfangs ist er nur ein kleiner Farbfleck, der sich durch ein großes Fast-Nichts bewegt, man fühlt die flirrende Hitze und seinen schrecklichen Durst.

Auf der Suche nach Wasser begegnet der Fuchs anderen Tieren, die auf unterschiedliche Art ihren Durst stillen: Erdferkel laben sich an stacheligen Nara-Melonen, die Gazelle wandert auf ihren langen Beinen zwei Tage bis in die Berge, Chamäleon und Käfer kommen mit einem Tropfen pro Tag aus. Zwischen Fuchs und anderen Steppenbewohnern entspinnen sich kurze, kuriose und interessante Dialoge, schön ist das wiederholte, abschließende „Hm“, das die beiderseitige Ratlosigkeit, wie der Fuchs seinen Durst stillen kann, elegant auf den Punkt bringt. So überzeugt Nele Brönners Affenfalle auch sprachlich.
Schließlich kommen wir zu den namensgebenden Affen und der Falle, in die die Tiere nur wegen ihrer Gier und ihres Geizes reinfallen.

Schlaue Füchse finden sich oft Fabeln und machen auf Missstände im Zusammenleben aufmerksam. Dieses faszinierende Bilderbuch nun führt eben diese zwei schlimmen Geißeln der Menschheit vor: Die Gier als den Motor des menschenverachtenden, grenzenlosen Kapitalismus. Und den Geiz, der noch nie geil war. Es sind Verbrechen der Menschheit gegen sich selbst, verantwortlich für Armut, Hunger, Krieg, Flucht und Klimakatastrophen.

Mit Grips und Geduld schlägt der fast schon dem Tode geweihte Fuchs die Affen mit ihren eigenen Waffen und triumphiert schließlich ebenso stilvoll wie spektakulär, ganz ohne Gedöns. Und das beschreibt dieses brillantes Buch sehr treffend.
Möge es nicht ein einzelnes Kleinod bleiben. Denn Nele Brönner ist eine würdige Nachfolgerin des großen Wolf Erlbruch.

Elke von Berkholz

Nele Brönner: Affenfalle, Luftschacht Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 21,30 Euro

Die helle Seite der Nacht

Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen. Dabei scheint Emilia de Wit ziemliches Glück gehabt zu haben, mit ihrem liebevollen Vater, der zwar auch Direktor ihrer Schule ist, aber der in ihrer Kindheit immer für sie da war und ihr die Sterne gezeigt hat. Und ihrer Mutter, der irischen Malerin Nora Quinn, deren Bilder in Museen auf der ganzen Welt hängen. Aber dann hat Emilias Vater etwas für sie Unverzeihliches getan, das irgendwie mit der blond gelockten Schulschönheit und 67 SMS zusammenhängt. Und damit Emilias Welt zerstört. Die 14-Jährige will nur noch so weit weg wie möglich von dem Sumpf aus abscheulichsten Hasstiraden und Gewaltdrohungen, in den Holland sich für sie verwandelt hat. Also schnappt sie sich Vaters Kreditkarte und flieht an den Ort, der schon für so viele Sehnsuchtsort, rettende Insel und Ausgangspunkt eines neuen Lebens war – nach New York.

Die niederländische Autorin Anna Woltz beginnt ihren ersten Jugendroman Hundert Stunden Nacht wie ein klassisches Abenteuer, der Aufbruch der Heldin wider Willen ins Ungewisse. Denn natürlich kommt vor Ort alles anders: Das online gebuchte und im Voraus bezahlte Apartment gibt es nicht. Stattdessen trifft Emilia auf den 15-jährigen Seth, dessen neunjährige Schwester Abby sowie den ebenso abgerissen wie filmstarmäßig aussehenden Jim. Der 17-Jährige hat einen Finger verloren, schimpft über Kapitalismus, Hypotheken und Banken – und verursacht bei Emilia erst weiche Knie, dann eine entsetzliche Panikattacke. Nach und nach, virtuos die Spannung haltend und konsequent aus Emilias Sicht erzählt, erfährt man nicht nur ihre Geschichte und den Grund für ihre Flucht. Auch die anderen drei haben ihre Dramen und dunklen Seiten und jeder geht anders damit um.

Es ist Ironie der Geschichte und ein besonders raffinierter Kunstgriff, dass Emilia auf der Flucht vor dem Shitstorm in einen äußerst realen, höchst gefährlichen Sturm gerät: Ende Oktober 2012 tobt Orkan Sandy über New York und New Jersey, die schlimmste Naturkatastrophe, die die Metropole je heimgesucht hat und nie zuvor erlebte Zerstörungen verursacht. Millionen Haushalte sind tage- und nächtelang ohne Strom, damit auch ohne Wasser und Internet. Die Stadt, die niemals schläft, wird über ganze Viertel hinweg zur City of Darkness. Die vier zufällig zusammengewürfelten jungen Helden bilden eine Notgemeinschaft. Und dieses Orkanasyl wird für Emilia Zufluchtsort im doppelten Sinn.

Das ist grandios geschrieben: Seien es Emilias Hass auf „ekelige Männer, ranzige, geile Böcke, die erst die Museen mit Bildern nackter Frauen vollgehängt, dann den Computer erfunden haben und seitdem das Internet mit Pornos vollstopfen“. Oder das Theater um Brüste, als ob die „wirklich die wichtigsten Ausstülpungen“ sind. Das ist polemisch, zugespitzt – und absolut zutreffend und feministisch frech. Woltz beschreibt toll Varianten von sichtbarer Entschlossenheit anhand der Geschwister: Abby, die aussieht, als könne sie die Welt retten. Und ihr älterer Bruder, der wirkt, „als wolle er eine jahrelange Gefangenschaft tapfer durchstehen.“ Später explodiert Emilia wie eine Supernova, schleudert ihre ganze aufgestaute Wut und Verzweiflung laut schreiend mitten in New York von sich, „als würde die Leuchtkraft von einer Milliarde Sonnen freigesetzt“. Und wandelt sich von einer, die „noch vor zwei Wochen beim kleinsten Zweifel es lieber nicht macht“. Zu einer, die jetzt denkt: „trotzdem machen, einfach versuchen.“

Nebenbei werden die Bedeutung von Religion und Schubladendenken, Bildungssysteme und Zukunftspläne, Gier, Ignoranz, Mitgefühl und Solidarität, Kunst als Seelenfutter versus Befriedigung der Grundbedürfnisse – also die großen Themen der Menschheit – reflektiert. Alles klug, mitreißend, offenherzig und freigeistig gesagt, gedacht, geflüstert, geschrien. Anna Woltz hat nach ihren ersten beiden, bereits sehr liebenswerten Büchern Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess und Gips oder wie ich die Welt an einem einzigen Tag reparierte als Romanautorin noch einen großen Sprung gemacht, sprachlich, inhaltlich und dramaturgisch. Und Andrea Kluitmann hat auch diesen Band erfrischend, ohne einen einzigen falschen Ton, ohne ein unglaubwürdiges Wort übersetzt.

Die Hundert Stunden Nacht enden mit dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft … ach, was, einer ersten, wahren Liebe. Weil nicht nur Emilia sich verändert hat. Auch Seth befreit sich aus seiner Kapsel. Denn er begreift, dass seine kleine, kluge Schwester instinktiv recht hat: Reden hilft. Und wie jede gute Liebesgeschichte fängt auch diese mit einem besonderen Kuss an – genauer: der Möglichkeit eines Kusses. Und das ist in diesem Fall sehr viel und sehr schön.

Elke von Berkholz

Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 2017, 253 Seiten, ab 14, 15,99 Euro

Gefühl Nummer Drei

zangeIn Plüschgewittern ließen sich nicht mehr ganz junge Menschen Anfang der 90er Jahre noch treiben. So nannte Wolfgang Herrndorff sein Romandebüt, das gleichzeitig diese freudig entspannte Stimmung im Berlin wenige Jahre nach dem Mauerfall beschrieb, mit Parties in halb zerfallenen Häusern, Leben in billigen Altbauwohnungen, alles wunderbar unhip und weit entfernt von Gentrifizierung, Start-ups und Selbstverwirklichungswahn.

25 Jahre später bewegt man sich in wesentlich widrigeren Elementen: Realitätsgewitter machen die Endzwanziger in Julia Zanges Roman zu Getriebenen. Diese Realitäten sind überwiegend virtuelle, die aber für die Protagonisten der Gegenwart die einzig realen und der tatsächliche Lebensraum zu sein scheinen. Mit dem Smartphone verwachsen fühlen sie sich nur unter dem Dauerbombardement von Nachrichten und Tweets lebendig. Ohne zig Friends und Followern auf Facebook und Twitter existiert man nicht, ein permanenter Zwang mehr zu scheinen als zu sein. Julia Zanges Heldin aber kann sich nicht länger erfolgreich mit permanenten Parties, pseudophilosophischem Geplauder, oberflächlichen Beziehungen und tristem Sex betäuben und über das Gefühl der hohlen Sinnlosigkeit hinwegtäuschen. „In den letzten Monaten ist etwas passiert. Etwas ist verschwunden und etwas anderes ist aufgetaucht“, stellt Marla auf den ersten Seiten fest. „Das ganz große Versprechen, das immer in mir schlummerte, etwas, das auf Erlösung hoffte, ein Wunder, ein unsinniger und irrsinniger Antrieb, eine naive Hoffnung, eine Frage – das gibt es nicht mehr. Es wurde ersetzt durch eine blanke, tiefe Traurigkeit, ein seltsames Wohlgefühl und eine Art Langeweile.“

So auf den Punkt beschreibt Julia Zange das Gefühl der Ernüchterung und Enttäuschung, das viele auf dem Weg zum Erwachsenwerden empfinden. „Denn auch wenn bei Gefühl 1 der Boden immerzu schwankte, gab es eine Intensität der Dinge, einen Zauber. Gefühl 2 brachte die Gewissheit, dass sich das Versprechen niemals einlösen wird, dass es keine andere Welt gibt als diese eine.“

Vermeintlich verliebt in einen neurotisch unverbindlichen Amerikaner und Kokskopf mit Hygienefimmel, angeödet vom Praktikum bei einem hippen Modemagazin, von Papa aus emotionaler Erpressung der Geldhahn zugedreht und komplett ideenlos versucht Marla der Leere ihres Lebens zu entkommen. Dazu reist sie zurück ins wohlstandsverwahrloste Elternhaus in die nordrhein-westfälischen Provinz und nach Sylt, um schließlich doch wieder nach Berlin und schließlich auch zu sich selbst zurückzufinden.

Mit sehr viel, gänzlich unkitschigem Lokalkolorit und schlaglichtartig aufblitzenden, politischen Ereignissen des Jahres 2015 (Flüchtlinge, Merkels „wir schaffen das“, Attentat in Nizza) haut die knapp 30-jährige Julia Zange eine höchst moderne Coming-of-Age-Geschichte raus. Weil das alles sehr klug beobachtet ist, darf es gelegentlich etwas altklug klingen, Marla nennt es „kitschigen Facebook-Eintrag“, Altklugheit ist schließlich ein Privileg der Jugend. „Wir haben eine Entscheidungsfreiheit, jede Sekunde. Aber das Seltsamste, was jetzt passiert, ist, dass auf einmal Gefühl 3 auftaucht“, erkennt Marla. „Und das hat etwas mit den anderen Menschen zu tun. Vielleicht kann man erst mit jemandem befreundet sein, wenn man den Falter von seinem Herzen entfernt hat.“

Junge Frauen auf der Suche nach sich und dem Sinn des Lebens in Berlin – das ist als Thema nicht neu. Noch nie hat man es aber so gegenwärtig und nicht zuletzt so elegant formuliert gelesen wie in Realitätsgewitter.

Elke von Berkholz

Julia Zange: Realitätsgewitter, Aufbau Verlag 2016, 157 Seiten, junge Erwachsene, 17,95 Euro

Keine Lust auf Konventionen

Dies ist ein Schlag ins Gesicht aller Märchenliebhaber: Obwohl Sebastian Meschenmosers Bilderbuch Rotkäppchen hat keine Lust ganz harmlos, geradezu klassisch, daherkommt, bricht es auf witzige Art mit allen Konventionen. Keine schreiend bunten Farben, nur dezent kolorierte, gegenständliche Illustrationen in normalem Buchformat – und doch entfaltet sich hier eine Geschichte, die es in sich hat. Es beginnt aus der Perspektive des ziemlich knuddelig wirkenden Wolfs. Der lebt in einer Höhle, die schön gruselig wie das Maul eines Monsters aussieht. Er ist auch kein Kuschel-, sondern ein echtes Raubtier, das gegen seine schlechte Stimmung dringend ein süßes Kind fressen muss. Der Plan ist klar: „Kind in ein Gespräch verwickeln, danach Wald, Höhle, Kochtopf, Zack!“

Aber da hat er die Rechnung ohne Rotkäppchen gemacht. Das hat nämlich so richtig schlechte Laune, weil es die Großmutter besuchen muss: „Eine Stunde hin, komische Fotoalben angucken, öde Geschichten anhören und dann eine Stunde zurück. Der Sonntag ist jedenfalls hin!“ Das Mädchen ist so sauer, dass es gar nicht kapiert, in welcher Gefahr es schwebt. Als der Wolf auch noch sieht, was es als Geburtstagsgeschenke im Korb hat – einen Ziegelstein, eine Socke, einen Kaugummi – ist er fassungslos. Also pflückt er Blumen, backt einen Kuchen und kauft Wein. Und versteht sich wunderbar mit der alten Dame, die beiden werden ein Herz und eine Seele.

Rotkäppchen wird währenddessen kein bisschen lieblicher, es sieht richtig hässlich mit seiner wütenden Miene aus. Erst ganz zum Schluss entwickelt es sich sehr attraktiv und in seinem Sinne. Die erfrischend direkte Erzählweise macht klar: Rotkäppchen hat keine Lust auf die Opferrolle.

Endlich räumt mal jemand damit auf: Viel zu selbstverständlich werden Märchen in klassischer Form wieder und wieder erzählt und als große Tradition gefeiert. Und wenn das bisher mal jemand in Frage gestellt hat, dann oft zu plakativ und nicht so deutlich auf den Punkt gebracht wie jetzt von Sebastian Meschenmoser. Seine Bildsprache ist zwar nicht sonderlich kunstvoll und raffiniert und auch nicht jedermanns Geschmack. Tiere gelingen ihm aber besonders gut und sind charmante Nebendarsteller. Grandios ist der genervt guckende Kater, der in einer Anspielung auf die Bremer Stadtmusikanten drei gestapelte Hühner beim Foto-Shooting auf seinem Rücken ertragen muss, während sich daneben zwei Mäuse köstlich amüsieren.

Jetzt könnte Meschenmoser eigentlich mit Christian Andersens Aufopferungsklassikern wie der kleinen Meerjungfrau und dem Mädchen mit den Schwefelhölzern gleich so weiter verfahren.

Tierisch genervt ist auch der Held im Bilderbuch Grododo. Für Michaël Escoffiers verhinderte Schlafgeschichte und Kris di Giacomos skurrile, puristisch in nächtlichem Schwarz, Grau und Braun gehaltene Illustrationen mache ich sogar eine Ausnahme meiner Regel, Bücher mit bekleideten Tieren abzulehnen. Das Nachthemd hätte der müde Hase zwar nicht gebraucht, die Melone auf seinem Kopf funktioniert aber als Magritte-Zitat und damit als Synonym für den typischen Spießer gut. Der Hase Cäsar kann nämlich nur nach einem Standardritual schlafen: Glas Wasser auf den Nachttisch stellen, Pantoffeln auf den kleinen Teppich, überprüfen, ob sich keine Monster unterm Bett verstecken, Teddy knuddeln, Augen nacheinander schließen, auf beiden Ohren einschlafen.

Und dann beginnt auf den folgenden Seiten das onomatopoetische, also lautmalerische Fest:TOCK, TOCK, TOCK klopft es laut auf einer Doppelseite. Cäsar schreckt auf und ist gleich empört: Ein Vogel nagelt mitten in der Nacht seine Bildergalerie an. Kaum ist der ignorante Kunstliebhaber verscheucht, beginnt Cäsar von neuem mit seinem Ritual. Nur um gleich von einem martialisch laut Nüsse kackenden Eichhörnchen aus dem Schlaf gerissen zu werden. CRUNCH, CRUNCH, CRUNCH, QUIETSCH, QUIETSCH, QUIETSCH, BUMM, BUMM, BUMM – so geht es immer weiter. Und die Einschlafroutine wird immer chaotischer. Ein großer Spaß ist es, zu beobachten, welche Fehler sich vor lauter Übermüdung einschleichen.

Einziger Grund zu Mäkeln: Es müsste nicht „Crunch“ heißen; das versteht hierzulande zwar mittlerweile jedes Kind. Aber warum nicht, da es doch ums Nüsseknacken geht,  KNACK, KNIRSCH, KNURPS? Man könnte sich noch so einige laute Geräusche vorstellen, die durch die Dunkelheit hallen, verursacht von Nachtaktiven, Bettflüchtern und sonstigen Somnambulen.

Wir lernen: Die Nacht ist nicht nur zum Schlafen da. Einschlafrituale sollten nicht zu kompliziert sein. Und: Man muss IMMER mit Monstern unterm Bett rechnen.

Elke von Berkholz

Sebastian Meschenmoser: Rotkäppchen hat keine Lust, Thienemann, 2016, 32 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

Michaël Escoffier: Grododo, Illustration: Kris di Giacomo, Übersetzung: Anna Taube, Carlsen, 2017, 56 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Wider die Bequemlichkeit

brüder„Wenn du vor mir stirbst, schreibe ich ein Buch über dich“, sagt der 18-jährige Quentin Bell zu seinem knapp drei Jahre älteren Bruder Julian. Das Buch Brüder für immer sollte es also nicht geben. Dann hätte Quentin seinen älteren Bruder und besten Freund noch. Ihren Eltern und Angehörigen wäre die Trauer über den frühen Tod des Sohns, Neffen und Freundes erspart geblieben. Vor allem der Mutter der beiden, der Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell, ältere Schwester der Schriftstellerin Virginia Woolf.

Aber es ist gut, dass es diesen Roman gibt, angelehnt an realen, historischen Personen, erdacht und geschrieben vom vielfach ausgezeichneten niederländischen Autor Rindert Kromhout.

Denn was von einigen Kritikern nur als die etwas naiv erzählte Geschichte zweier Brüder, aufgewachsen in einem unkonventionellen Milieu, aufgefasst wurde, ist tatsächlich ein hinreißendes Porträt der aus Schriftstellern, Journalisten, Verlegern, Künstlern und Wissenschaftlern bestehenden Bloomsbury Group.

Und es ist ein Manifest des freien Denkens, geradezu ein Imperativ sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, ohne Vorurteile, ohne geistige Scheuklappen, und nach seinen Idealen zu leben und zu lieben. Das ist heute, in Zeiten von Fremdenhass und nationalistischer Ideologie, religiösem Fanatismus und Vorurteilen gegen alles Nonkonforme, dem Erstarken rechtsradikaler Politiker und Parteien wichtiger denn je.
Die Hauptfiguren in Kromhouts Roman haben wirklich gelebt: Die Malerin Vanessa Bell, geborene Stephen, ihr Ehemann, der Kunstkritiker und Journalist Clive Bell, Vanessa Bells homosexueller Freund, künstlerischer Partner und Liebhaber Duncan Grant und dessen Freund David. Zudem Vanessa und Clive Bells Söhne Julian und Quentin sowie deren jüngere Halbschwester Angelica. Sie alle lebten in Charleston, einem von Vanessa und Duncan zum lebendigen Kunstwerk gestalteten Haus auf dem Land in Sussex.

Am bekanntesten ist die Schriftstellerin Virginia Woolf, Vanessas jüngere Schwester, und deren Ehemann Leonard, Verleger und Publizist. Beide wohnten und arbeiteten im Monk’s House, das in Fahrradfahrtdistanz zu Charleston lag.
Außerdem kommen die Malerin Dora Carrington und ihr Lebenspartner, der Biograf und Kritiker Lytton Strachey, und die Kunstmäzenin Ottoline Morrell vor.

Dazu hat Kromhout diverse Nebenfiguren erdacht, die exzellent zu der ebenso ungewöhnlichen wie liebenswerten Gemeinschaft passen: die patente, großherzige Köchin Grace, ein aufgeschlossener Pfarrer sowie eine anfangs gegenüber den zugezogenen Künstlern sehr skeptische Dorfgemeinschaft.

Kromhout bedient sich eines Kunstgriffs, um seiner Geschichte die gewünschte Perspektive zu geben. Er erzählt vom Erwachsen- und Bewusstwerden unter dem Eindruck des fortschreitenden Faschismus in Europa. Dazu macht er die realen Brüder Bell fast zehn Jahre jünger. 1925 zieht die bunte Familie in das Charleston Haus, da sind Quentin und Julian sechs und acht Jahre alt. Während Julian sich schon früh für Politik interessiert und sich als Jugendlicher den Kommunisten anschließt, ist der Erzähler Quentin ein aufmerksamer Beobachter. Unterstützt von seiner Tante Virginia Woolf beginnt er seine literarischen Ambitionen mit einer Hauszeitung, für die er kluge und witzige Geschichten und Szenen aus dem Alltag in Charleston notiert.

Es ist ebenso faszinierend wie erstaunlich, wie selbstverständlich die Bewohner absolut unkonventionell zusammenleben. Hier halten wahre Zuneigung, Liebe, gemeinsame Interessen, die Kunst und gegenseitiger Respekt die Menschen zusammen, nicht gesellschaftliche und sexuelle Konventionen. Diese Leute sind wirklich glücklich in ihrer selbst gewählten Wunschgemeinschaft, da können die meisten modernen Patchworkfamilien nur von träumen, wo doch immer einer den Kürzeren zieht oder verletzt wird.

Die Kinder verbringen eine Kindheit in ungeheurer Freiheit, mit Baumhaus, Kostümfesten, durch die Felder streifen und Staudämme bauen. Man traut ihnen Vieles zu, spricht mit ihnen offen und auf Augenhöhe, und sie danken dieses Vertrauen, indem sie zu freigeistigen, klugen, toleranten und offenherzigen Menschen heranwachsen.

Kromhout lässt Quentin von diesen zwölf Jahren, von der Ankunft in Charleston House bis zu Julians Tod im Spanischen Bürgerkrieg, in einer einfachen, klaren und unaufgeregten Sprache erzählen. Birgit Erdmann hat das erfrischend und flott zu lesen übersetzt.

Nebenbei gibt Quentins Tante Virginia Woolf Einblick in das Schreiben und was es bedeutet, Schriftsteller zu sein. Sie ist auch selbst eine kluge Beobachterin des Weltgeschehens und warnt vor gefährlichen Simplifizierungen: So war Benito Mussolini, Führer der italienischen Faschisten, kein „dummer Diktator“, wie Quentin ihn in einer Geschichte darstellen möchte: Mussolini idealisierte Bücher, etablierte einen jährlichen Feiertag des Buchs, schrieb sogar selbst, „ein Kollege“, wie Virginia erklärt. Natürlich wusste er genau, was er die Leute lesen ließ, aber anstatt Bücher zu verbrennen und zu verbieten, instrumentalisierte und unterminierte er geschickt ein Medium, das eigentlich für geistige Freiheit steht.

Brüder für immer ist ein differenzierter und klarer Blick auf Entstehung und Mechanismus von Faschismus und Diktatur, die ja nur die Oberhand und schließlich die Macht gewinnen, weil so viele Menschen bereitwillig mitmachen oder es zumindest zulassen. „Die meisten Menschen finden es großartig, wenn es jemanden gibt, der für sie nachdenkt. Dann brauchen sie sich um nichts zu kümmern. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken, ob etwas sein muss. Nie müssen sie zweifeln oder unsicher sein“, erklärt Clive Bell seinen Söhnen, „das ist pure Bequemlichkeit. Werdet nicht bequem. Denkt immer darüber nach, was ihr selbst wollt und meint. Notfalls müsst ihr dafür kämpfen.“

In diesem Sinne: Bleibt unbequem! Lest unbequeme Bücher, besonders, wenn es so schöne, bewegende und gut erzählte wie „Brüder für immer“ sind.

Elke von Berkholz

Rindert Kromhout: Brüder für immer, Übersetzung: Birgit Erdmann, Mixtvison, 2016, 300 Seiten, ab 12, 14, 90 Euro,  Jahren

Licht aus, Film ab!

lichternKurzfilme gelten nur als Fingerübung junger, angehender Regisseure, bevor diese den ersten „richtigen“, abendfüllenden Spielfilm drehen können. Kurzgeschichten werden ebenfalls gering geschätzt. Im Gegensatz zum angloamerikanischen Sprachraum genießt die knappe Erzählform hierzulande wenig Anerkennung als eigenständige, literarische Form; noch weniger, wenn sie „nur“ von Kinder- und Jugendbuchautoren geschrieben wurde, also Schriftstellern, die ohnehin belächelt werden.

Der Kurzgeschichtenband Hinter den Lichtern lässt das vernachlässigte Genre in neuem Glanz erstrahlen. 18 Autoren, darunter bekannte wie Frank Goosen, Antje Wagner und Nils Mohl haben Originalstories extra für die von Christian Walther herausgegebene Anthologie geschrieben.

18 Geschichten, 18 Parallelwelten, 18 mal Kopfkino, nicht nur in Elisabeth Steinkellners gleichnamiger Geschichte um Eifersucht, Betrug und das Erstarren einer Liebe.

Wir begeben uns auf eine spannende und skurrile Vatersuche, gleichzeitig eine Neuinterpretation des Schubladendenkens, wir erleben Selbstfindung in der Ferne und Entfremdung zu Hause. Eine in ungewöhnlichen Zeitsprüngen erzählte Liebesgeschichte entlarvt Geschlechterklischees. Ein getriezter Gymnasiast verstrickt sich in einen makabren Krimi. Eine neue Superheldin lässt nicht nur Herzen entflammen. Reisen durch Traum und Zeit. Nicht zuletzt geht es auch um die Zeit des Übergangs, um Orientierungslosigkeit und Sinnsuche, zum Beispiel der „Ex-Einserschülerin, der Ex-Person mit großer Zukunft“, die sagt: „Der Schulhof war meine Welt“, und die jetzt, verstoßen von dieser Welt, nicht weiß, wo sie hin soll.

Geschichten von Vertrauen und Verrat, von geträumten Heldentaten und albtraumhaften Verhältnissen, von der Lebendigkeit der Jugend gegen die sedierte Abgeklärtheit der Erwachsenen. Geschichten die neugierig machen, die rühren, verstören und nach Mehr schreien.

Diese Sammlung beinhaltet eine Fülle literarischer Rohdiamanten: Und während das Vorwort des prinzipiell lobenswerten Herausgebers und Germanisten Christian Walther etwas verwackelt und bildschief wirkt, sind viele der stories zu funkelnden Edelsteinen geschliffen, mit brillant entworfenen Charakteren und Figurenkonstellationen, raffiniert geschnittenen Szenen und besonderem Ton.

Hinter den Lichtern, das sind einerseits die im Dazwischen, in der Übergangszone, im Zwielicht – übrigens, soviel Zeit muss jetzt sein für einen kleinen Seitenhieb, das beste an der ganzen erzkonservativen, ansonsten überhaupt nicht ambivalenten Twilight-Saga ist der Titel. Die Geschichten blicken hinter das Vordergründige, Ausgeleuchtete, Eindeutige. Andererseits beschreibt das „dahinter“ auch die Perspektive derjenigen hinter dem Filmprojektor, auf deren innerer Leinwand die Erzählungen lebendig werden.

Hinter den Lichtern ist ein Buch für „eigentlich-Nicht-Leser“, für Bildermenschen.

Licht aus, story ab! Ganz großes Kino!

Elke von Berkholz

Hinter den Lichtern – 18 unglaubliche stories, Christian Walther (Hrsg.), Beltz & Gelberg 2016, 264 Seiten, ab 14, 13,95 Euro

Bücher, die die Welt reparieren

„Es gibt eine größere Offenheit, die Literatur ist vorwitziger und frecher, weil man die Kinder ernst nimmt, sie auch zum Nachdenken bringen will, denn das gehört zum Aufwachsen.“ So beschreibt der Autor Bart Moeyart das Besondere der niederländischen und flämischen Kinder- und Jugendliteratur. Der Flame ist künstlerischer Leiter der Ehrengast-Präsentation bei der Frankfurter Buchmesse. Und das, obwohl er „nur“ Kinder- und Jugendbuchautor ist. Dass Literatur für junge Leser bei unseren Nachbarn einen besonderen Stellenwert genießt und im flämischen Sprachraum brillante Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben werden, zeigt auch diese Auswahl.

 

51efazxaazlJede dritte Ehe scheitert, das ist bedauerlich, aber alltäglich und banal, Menschen verlieben und entlieben sich. Schlimm wird es nur, wenn Kinder involviert sind: Denen fehlen ein paar Jahrzehnte ernüchternde Erfahrungen, es kann ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen und fortan müssen sie sich nicht nur mit „Hin- und Her-Taschen“ abschleppen zwischen getrennten Wohnungen und Leben. Da helfen auch oberschlaue Ratgeber wie „Glücklich verheiratet, glücklich getrennt“ nichts, die nur das schlechte Gewissen der Eltern beruhigen.

Die zwölfjährige Felicia, die fortan Fitz genannt werden will, ist vor allem wahnsinnig wütend. Auch noch, als ihr Vater und ihre jüngere Schwester Bente einen Unfall haben und die ganze Familie in der Notaufnahme zusammentrifft. Fitz ist aber auch eine scharfsinnige Beobachterin, ein ungeheuer waches, kluges und einfühlsames Mädchen, das man sofort ins Herz schließt. Kein Wunder, dass in den Weiten des großen Krankenhauses der höchst attraktive, lakonische Adam und die schräg-witzige Primula sofort auf sie anspringen und die drei im Laufe des Tages gleich mehrere Herzen entflammen, nicht nur die eigenen.

Anna Woltz hat bereits mit ihrer sehr modernen Familiengeschichte „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ zwei liebenswerte Charaktere geschaffen, die draufgängerische Tess und den sensiblen Samuel. Ihre Heldin Fitz ist einfach grandios: Sie rettet vielleicht nicht die ganze Welt, auch die Ehe ihrer Eltern nicht, die kann man halt nicht wieder zusammennähen wie Bentes verletzen Finger. Aber mit ihrem Charme, ihrer Direktheit und ihren klugen Erkenntnissen kann sie die Welt auf jeden Fall lebenswerter machen. Weil dieses Mädchen abgeklärte Leser wieder an so etwas wie Liebe glauben lässt. Das liegt auch an den erwachsenen, ebenso lebendig wie vielschichtig beschriebenen Nebenfiguren. Spätestens wenn Fitz, nach ihrer Tour de Force über mehrere Stockwerke und Stationen der Klinik, nicht länger „lieber in einen Vulkan springen will, als jemals zu heiraten“. Man will dieses absolut hinreißende Mädchen am Ende der Geschichte und des Tages nie mehr loslassen. Aber mit etwas Glück hat Adam ja recht: „Vielleicht ist morgen dann wieder heute“ – in neuer Tag voller verrückter Emotionen, Begegnungen und Erfahrungen.

Nur schade, dass der Carlsen Verlag diese unter die Haut gehende Geschichte hinter einem nichtssagenden Einband versteckt. So don’t judge a book by looking at it’s cover.

Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte; Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen 2016, 176 Seiten, ab 10 Jahren, 10,99 Euro

 

51n5-hss4cl-_sx355_bo1204203200_ Kalle ist ein Macher, der lieber einen Gedanken zu wenig denkt, als sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Bei Helicoptereltern hätte solch ein tatendurstiger kleiner Kerl keine Chance (übrigens spielt ein Hubschrauber später auch noch eine Rolle, aber mehr wird hier nicht verraten!). Selbst für weniger behütende und gerade auch sehr müde Erziehungsberechtige ist es ganz gut, wenn sie nicht so genau wissen, was Kalle vorhat, wenn er sagt, er geht weg: Der Achtjährige springt mit Nachbarhund Max und Meerschweinchen Hektor in sein kleines Motorboot und nimmt Kurs Richtung großen Fluss – eine ebenso spannende und witzige wie haarsträubend gewagte Bootstour. Anke Kranendonks Geschichte ist pädagogisch völlig wertlos – im besten Sinn. So wie vor wartenden Kindern bei Rot über die Ampel zu gehen. Weil es Kinder zu selbstständigem Denken und Eigenverantwortung motiviert.

Charmant zitiert die niederländische Kinder- und Jugendbuchautorin Tomi Ungerers „Kein Kuss für Mutter“ und beerbt anarchistisch-autarke Helden wie Pippi Langstrumpf oder Michel. Sympathisch persifliert sie in den etwas einseitigen Dialogen Kalles mit Vierbeiner Max wie Eltern mit ihrem Nachwuchs reden: ein wenig herablassend ob des vermeintlich geringeren Verstands, auch mal ganz schön genervt, doch letztlich immer voller Zuneigung, gelegentlich zerknirscht.

Noch schöner wird die von Sylke Hachmeister erfrischend übersetzte Geschichte durch Annemarie van Haeringens in kräftigen Farben colorierte und an Quentin Blake (bekannt aus Roald Dahls Büchern) erinnernde Illustrationen. Kalles Selbstbewusstsein und Abenteuerlust sind umwerfend, niemand sollte solch tollkühne Kinder stoppen dürfen!

Anke Kranendonk: Käpt’n Kalle; Illustrationen: Annemarie van Haeringen, Übersetzung: Sylke Hachmeister, Carlsen 2016, 152 Seiten, ab 8 Jahren, 9,99 Euro

 

51gzheiofl-_sx258_bo1204203200_„One ist the loneliest number“ wissen wir aus der Popmusik. Jetzt erweitert die niederländische Illustratorin Henriette Boerendans unser Zahlenwissen mit „Die Null ist eine seltsame Zahl“. Mit kunstvollen Holzschnitten verknüpft sie die Ziffern eins bis zehn sowie fünfzig und hundert mit spannenden Informationen für kleine Kinder: Ein kleiner Elefant braucht zwei Jahre, bis er geboren wird. Tiger haben an den Vorderpfoten fünf Zehen und an den Hinterpfoten vier. Wie viele hat das Kind? Eine Schildkröte legt zehn Eier. Sie selbst kann bis zu 188 Jahre alt werden. Aber Muscheln werden noch viel älter. Und kleine Kaninchen sehen ihre Mutter nur fünf Minuten täglich.

In der Farbgebung erinnern die Drucke an Andy Warhols Siebdruckserien. Von der Anmutung haben sie etwas klassisch Asiatisches. Boerendans entwickelt eine ganz eigene Bildsprache und macht so abstrakte Größen lebendig und begreifbar. Für Vorleser ist dieses Buch auf jeden Fall ein optischer Genuss. Und warum ist die Null seltsam? Weil sie das Nichts beschreibt, eine Lücke – so wie die Dodos, die es nicht mehr gibt, die ausgestorben sind, weil ihre Eier aufgefressen wurden.

Henriette Boerendans: Die Null ist eine seltsame Zahl, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag 2016, 32 Seiten, ab 3 Jahren, 14,90 Euro

Elke von Berkholz

Abenteuer in Boschs Bestiarium

51hv2orrirl-_sx375_bo1204203200_Ich war zehn, als ich ihm das erste Mal begegnete. Es war in Madrid im Prado, und ich war sofort fasziniert von seiner Welt. Mit dem kindlichen Hang zum Makabren, der in Spanien reichlich mit den skurrilen Umzügen in der Karwoche und den Hunderten Darstellungen von Jesus am Kreuz allerorten bedient wird, entflammte ich sofort für die fantastischen und unheimlichen Bilder von Hieronymus Bosch. So sehr, dass ich mir den ersten Kunstbildband meines Lebens gekauft habe, im taschengeldkompatiblen Postkartenformat.

Jetzt kann jedes Kind in Boschs Welt verloren gehen – in den großformatigen, farbenprächtigen und schlicht überwältigenden Bildern des aus Indonesien stammenden Illustrators Thé Tjong-Khing in seinem Bilderbuch (komplett ohne Worte) Hieronymus.
Wie Alice ins Kaninchenloch so stürzt ein Junge beim Spiel mit seinem Hund von einer Klippe und landet in einem von merkwürdigen Fabelwesen bevölkerten Land. Beim Sturz verliert er seine Kappe, seinen Rucksack und den roten Ball samt Ballnetz. Sofort beginnen die drachenartigen, stacheligen, riesenohrigen oder vielbeinigen Schnabelmonster sich um die Sachen zu kloppen. Der Junge jagt ihnen hinterher und erobert nach und nach mit viel Mut und Raffinesse seine Dinge zurück. Dabei begegnet er mehreren menschlichen Wesen in mittelalterlicher Kleidung, die entsetzt vor einem leeren Bettchen stehen, über einem Kinderbild weinen oder mit zwei Kleinen in einer Trage auf dem Rücken vor Flugechsen fliehen. Sogar ein Engel kniet verzweifelt vor einer ärmlichen Bruchbude und vergießt bittere Tränen über drei ausgerupften Federn.

Was ist hier los? Was macht den Erwachsenen Angst? Wer terrorisiert sie? Und wo sind ihre Kinder? Unerschrocken nimmt der Junge den Kampf auf und hilft den Großen. Immer wieder taucht ein Wesen im gepunkteten Kleid auf. Hat es etwas mit den verschwundenen Kindern zu tun? Man blättert vor und zurück, entdeckt die Kappe, den Ball, den Rucksack im Wasser, in der Luft, im Maul eines Monsters. Man sieht Bestien wieder und entdeckt neue.

Dabei zitiert Thé Tjong-Khing den vor 500 Jahren gestorbenen Maler Hieronymus Bosch elegant und baut dessen Bestiarium klug in seine eigene Geschichte ein. So taucht mehrfach eines von Boschs berühmtesten Monstern auf: der buckelige Typ im roten Cape, mit langem, gekreuztem Schnabel, gepunkteten Schlappohren, auf Schlittschuhen und dem charakteristischem Trichter auf dem Kopf, aus dem auch noch so etwas wie ein verkrüppelter Weihnachtszweig mit einer Kugel ragt. Eine äußerst zwielichtige Figur, nicht nur, weil der umgedreht auf den Kopf gestülpte Trichter in der Bildsprache des Mittelalters für ein böses, weil sich gegen Gott abschirmendes Wesen steht. Modern gesagt, jemand der sich gegen intelligenten Input und Wissen verschließt. Es scheint eine der Schlüsselfiguren bei den schauerlichen Verbrechen in dieser Welt zu sein. Am Rand trinken und grasen Einhörner, ebenfalls von Bosch vertraut, eine Eule trägt das Ballnetz durch die Luft. Wir sehen Boschs bäuerliche Landschaften und seine fantastischen Behausungen, wie riesige Muscheln auf Stelzen, sehr organisch und extrem modern.

Auf jeder Seite gibt es Neues zu entdecken, Zusammenhänge werden klar, und es entspinnen sich mehrere Handlungen. Auch in Hieronymus Boschs Bildern gibt es zahlreiche, kleine Szenen, mal eine Rangelei, mal etwas Irritierendes am Rand. Es waren die ersten Wimmelbilder, wie 500 Jahre später die von Ali Mitgutsch, der so seine besonderen Sachbücher für Kinder gestaltete.

Warum allerdings der Moritz Verlag darauf besteht, dass der Junge gestelzt altmodisch Hieronymus heißen soll, bleibt sein Geheimnis. Im niederländischen Original heißt Thé Tjong-Khings Buch Bosch – het vreemde verhaal van Jeroen, zijn pet, zijn rugsak en de bal, also Bosch – die unheimliche Geschichte von Jeroen, seinem Hund, seinem Rucksack und dem Ball. Wobei Jeroen tatsächlich die moderne Namensadaption von Jheronimus ist, wie Hieronymus in den Niederlanden genannt und geschrieben wurde.

Thé Tjong-Khings brillantes Bilderbuch ist zwar auch eine Hommage an den fantastischen Maler. Vor allem ist es aber eine ganz eigene, schaurig-schöne Geschichte, erzählt in faszinierenden Bildern, die noch lang nachhallen und dazu einladen, immer wieder in diese Welt einzutauchen.

Elke von Berkholz

Thé Tjong-Khing: Hieronymus, Moritz Verlag, 2016, 48 Seiten, ab 6, 14,95 Euro

Der kalte Hauch des sozialen Untergangs

410wW6LIryL„Doch sein Herz war im Schmerz gestorben, weil er es nicht geschafft hatte, Essen nach Hause zu bringen – und weil er dachte, seine Familie würde glauben, er hätte sie im Stich gelassen. Das stimmte nicht! Er hatte alles versucht, mit aller Kraft und all seinem Mut! Aber das wusste niemand. Und so blieb das Herz des Mannes aus Eis auch nach seinem Begräbnis im Gletscher gefangen.“

Mythisch-poetisch beschreibt die 15-jährige Erzählerin in Carla Maia de Almeidas Bruder Wolf, wie ihr Vater sich durch Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrise in Portugal vom heiß geliebten und bewunderten Familienoberhaupt „Schwarzer Elch“ in einen unnahbaren, innerlich toten Mann verwandelt. Mit mittlerweile 15 Jahren beginnt Bolota zu verstehen, was vor einigen Jahren mit ihrer Familie passiert ist und warum sich ihr Leben damals verändert hat. Und sie erinnert sich an eine letzte gemeinsame Fahrt mit ihrem Vater im Sommer, als sie acht Jahre alt war und ihr Vater für immer verschwunden ist.

Die portugiesische Schriftstellerin Carla Maia de Almeida gibt Bolota eine außergewöhnlich bildhafte Sprache. Das klingt nach indianischen Sagen und Überlieferungen: „Es war der Sommer der Großen Überquerung der Todeswüste. Oder einfach der Sommer der Großen Durchquerung.“ Mit diesen Assoziationen und Umschreibungen kann Bolota die Erinnerung an ein Trauma, an den großen Schmerz, der ihr als Achtjährige widerfahren ist, heraufbeschwören und erträglich machen.

Andere Metaphern und Umschreibungen stammen aus der Geographie: Da ist von tektonischen Platten die Rede, die sich unterirdisch, anfangs von der Familie noch unbemerkt, verschieben und zu immer größeren Beben und Erschütterungen führen, die schließlich alle, Vater, Mutter, drei Kinder, also Bolota sowie ihre ältere Schwester Miss Kitty und den erstgeborenen Bruder, das Fossil genannt, auseinanderreißen und zu einem Archipel vereinzelter Inseln werden lassen.

Ganz neu und ungeheuer eindringlich wird hier erzählt und von Claudia Stein sehr nachfühlbar übersetzt, wie der soziale Abstieg Menschen zerstört, Familien den Boden unter den Füßen wegzieht und auseinandertreibt, und die Gesellschaft verändert. Immer wieder muss Bolotas Familie in immer kleinere Wohnungen, immer weiter weg vom Meer ziehen, jedes Mal ganz schnell, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Ihr geliebter Husky ist eines Tages verschwunden, angeblich zu anderen Leuten mit Garten gebracht. Die Achtjährige schnappt auf, wie man über sie sagt, sie sei „zur falschen Zeit geboren“. Ihre älteren Geschwister erzählen von glücklichen Zeiten und gemeinsamen Restaurantbesuchen mit unbeschwerten und glücklichen Eltern.

Sie selbst hat kaum solche Erinnerung. Nur ein Foto zeigt, dass es schönere Zeiten gibt: Die ganze Familie an einem Tag am Strand, und alle haben mit Sonnencreme Streifen auf die Wangen gemalt, wie eine familieneigene Stammesbemalung. Diese fast traumhaften, auch albtraumhaften Erinnerungen sind auf blaues Papier gedruckt. Auf weißen Seiten steht die Erzählung von der „Großen Durchquerung“, jener weniger Tage mit Zwischenstopps bei Verwandten, als ihr Vater sich mit ihr zum familieneigenen Haus auf dem Land aufmacht, sie aber nur noch eine Ruine vorfinden und ihr Vater endgültig alle Hoffnung verliert und nie mehr zurückkommt.

Zu etwas Einzigartigem und Unvergleichlichem wird dieses Buch durch Jorge António Gonçavalves Illustrationen in Blau, Schwarz und Weiß. Sie wirken wie Bildausschnitte und Detailaufnahmen. Auch sie haben etwas Traumhaftes, so wie man sich manchmal beim Aufwachen wundert, warum man sich gerade an jene Szene so genau erinnert oder einem im Traum ausgerechnet dieser Moment so plastisch vor Augen gekommen ist. Und gleichzeitig seine Bedeutung versteht.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass Illustrationen in Jugendbüchern nichts verloren hätten, oder das Ganze gleich eine Graphic Novel sein soll. Dieses stimmige, ergreifende Gesamtkunstwerk aus bildhafter Sprache und vielsagenden Bildern beweist das Gegenteil. Als hätten der düstere Punkpoet Nick Cave und die explizit und gnadenlos ehrliche Künstlerin Tracey Emin gemeinsam ein Kinderbuch geschrieben.

Elke von Berkholz

Carla Maia de Almeida: Bruder Wolf, Übersetzung: Claudia Stein, Illustration: Jorge António Gonçalves, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Kaputtes Kind

nichollsDieses Buch – Wünsche sind für Versager von Sally Nicholls – ist kaum auszuhalten. Es ist verstörend, es macht traurig, wütend, hilflos. Es lässt einen zweifeln und verzweifeln. Es nährt leise Hoffnung, um sie gleich auf den nächsten Seiten dröhnend zu zertrümmern.

Es geht um die systematische Zerstörung einer Kinderseele. Die 11-jährige Olivia erzählt von ihrer Odyssee durch Pflegestellen, Fürsorgeeinrichtungen, Kinderheime und Ersatzfamilien. Mittlerweile ist sie bei „Zuhause Nummer 16“ angelangt, bei Jim und den Kindern Daniel und Harriet sowie der fast erwachsenen Grace mit ihrem Baby Maisy. Sie leben auf dem Land in der Nähe von Bristol.

Olivia wünscht sich nichts mehr, als anzukommen, eine Familie zu haben und geliebt zu werden. Das ganze Buch ist ein Schrei nach Liebe (obwohl man das nach dem Song von den Ärzten über Neonazis kaum noch neutral schreiben kann, ist das Bild trotzdem sehr treffend). Doch nach den vielen Traumata und Verletzungen von frühester Kindheit an fasst Olivia nicht nur schwer Vertrauen, sie ist auch der festen Überzeugung, dass man ihr selbst nicht trauen darf: Weil sie böse ist, ein Monster, eine Hexe, ein abgrundtief schlechter Mensch.

Warum Olivias versoffene, alleinerziehende Mutter sie von Anfang an auf das Perfideste misshandelt hat, wird nicht erörtert und ist nicht das Thema. Es heißt zwar, dass die Misshandelnden selbst als Kinder misshandelt wurden. Eine Elfjährige kann diese Frage aber nicht beantworten und es würde ihr auch nicht weiterhelfen, geschweige denn, den Kreislauf aus Gewalt durchbrechen und beenden.

Perverserweise liebt Olivia ihre Mutter, obwohl sie auch schreckliche Angst vor ihr hat. Seit mittlerweile fünf Jahren hat sie sie gar nicht mehr gesehen. Das ist, wie man aus Erzählungen und Fallberichten von misshandelten und vernachlässigten Kinder weiß, nicht ungewöhnlich, eher normal. Genau darum geht es: Olivia sehnt sich nur nach etwas, das selbstverständlich sein sollte. Ein Kind sollte geliebt werden. Das ist nur natürlich. Sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben, zu Recht. Auch Tiere kümmern sich um ihren frischgeborenen Nachwuchs, beschützen und ernähren ihn. Das ist laut unserer Definition keine Liebe, sondern nur Instinkt. Aber eine Grundvoraussetzung für das Überleben. Und wenn Tiermütter in Gefangenschaft ihren Nachwuchs verstoßen, wird er, wie beispielsweise beim Eisbären Knut vor ein paar Jahren, von Millionen Menschen adoptiert und umsorgt.

Olivias Mutter hat als erste dieses Urvertrauen zerstört. Sie hat so getan, als wolle sie Olivia umarmen, stattdessen hat sie ihr Brandwunden mit Zigaretten zugefügt. Aber weil sie ganz selten wirklich nett war, ist Olivia immer wieder darauf reingefallen. „Ich wusste gleich, du bist der Teufel“, hat Olivia schon als Kleinkind gehört. Als Baby hat sie so lange verzweifelt vor Hunger, Durst, Einsamkeit geschrien, bis sie verstanden hat, dass sie beim nächsten Mucks nur Schlimmeres erleiden muss oder gleich tot geschlagen wird. Für Olivia ging es instinktiv fortan nur noch ums bloße Überleben. Oder wie sie später schreibt: „Wünsche sind für Versager.“

Später hat sie ihre jüngeren Geschwister vor der Raserei der Mutter beschützt. Vor allem hat sie dafür gesorgt, dass die Kleinen nicht schreien, hat als Vier-, Fünfjährige ihren Babybruder stundenlang rumgetragen, gefüttert, obwohl oft nichts Essbares im Haus war. Und auch keiner etwas von den schrecklichen Zuständen „zu Hause“ mitbekommen durfte, auch nicht, wenn ihre Mutter auf tagelange Sauftouren ging und die Kinder eingeschlossen hat.

Als dann Jugendamt und Polizei endlich eingriffen, wurde Olivia nach einigen Interimslösungen und Trennung von ihren Geschwistern auch noch das Opfer einer sadistischen Pflegemutter, die sie im Keller einsperrte, und dem vernichtenden Gefühl aussetzte, dort vergessen zu werden und zu sterben. Manchmal stellte sie Olivia aus „disziplinarischen Gründen“ unter die eiskalte Dusche. Olivias Rettung hierbei war ihre Fähigkeit, ihren Körper zu verlassen und so den Schmerz nicht fühlen zu müssen. Dissoziation nennt man das in Psychologie und so nennt es auch ihre spätere Therapeutin.

Es gibt aber auch Menschen, die nett zu ihr sind, die sich um sie kümmern und ihr helfen wollen. Sie sind sogar in Mehrzahl, dieses Buch ist kein Buch gegen staatliche Fürsorge und Pflegeeltern. Aber Olivia hat solche Angst, erneut verletzt und enttäuscht zu werden, dass sie niemandem mehr traut und alle von sich stößt, mit wildem Geschrei, gemeinsten Beleidigungen, Kratzen, Beißen, Treten, Zerstörungsorgien und sogar Messern. Nur einer einzigen Betreuerin gelingt es, an sie ranzukommen. Aber diese ist nur für den Übergang da, das ist ihr Job. Und als sie Olivia einer neuen Familie anvertrauen will, schlägt Olivias zarte Zuneigung, Vertrauen und erster Respekt für einen Erwachsenen, vielleicht sogar Liebe, in Hass um.

Die englische Autorin Sally Nicholls beschreibt Olivias Gefühle so eindringlich, so furios und schmerzhaft, dass es kaum zu ertragen ist. Schon bei ihrem Debüt Wie man unsterblich wird von 2008 ist sie in die Seele eines Elfjährigen eingetaucht, eines krebskranken Jungen, der einerseits noch ganz Kind ist, mit seinem Sterben und dem baldigen Tod aber wesentlich reifer und reflektierter umgeht als manche Erwachsenen. Doch dieser Junge wurde geliebt. Und obwohl er zum Schluss stirbt, war dieses Buch auch lustig, lebendig, hoffnungsvoll und versöhnlich mit der totalen Ungerechtigkeit, dass Kinder sterben müssen. Es war sogar besser, als John Greens vier Jahre später erschienener Bestseller zum selben Thema Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Wünsche sind für Versager erzählt von einem seelisch fast toten Kind und endet mit einem vernichtend winzigen Hoffnungsschimmer auf Errettung. Ein einzigartiges Horrorbuch, eine nachhallende Zombiegeschichte. Trotzdem oder gerade deshalb muss man sie unbedingt lesen!

Elke von Berkholz

Sally Nicholls: Wünsche sind für Versager, Übersetzung: Beate Schäfer, Hanser Verlag 2016, 224 Seiten, ab 13, 15,90 Euro

Die Eleganz des Stinktiers

51jaiKqgejL„Als ich mein Haus verließ, saß ein Stinktier vor der Tür.“ Ebenso überrascht wie der Erzähler gerät man in die skurrile, zunehmend gruselige und doch ganz bezaubernde Geschichte einer grotesken Verfolgungsjagd. Gleichzeitig beginnt so eines der schönsten Bilderbücher dieses Jahres. Und das obwohl es überhaupt nicht kunstvoll, großspurig und auf den ersten Blick pädagogisch wertvoll daherkommt.

Das Stinktier heftet sich dem befrackten, mit seiner Brille und Frisur an den jungen Woody Allen erinnernden Helden an die Fersen; egal wo er langgeht, ob er rennt oder trödelt, es ist immer da, mal hinter oder auch neben ihm. Das ist anfangs noch spaßig, wird aber immer unheimlicher. Es hilft auch nicht, den Verfolger zur Rede zu stellen: „Ich drehte mich zu dem Stinktier um. Ich fragte: ,Was willst du von mir?’ Das Stinktier antwortete nicht. Das Stinktier war ein Stinktier.“

Natürlich ist das Stinktier viel kleiner als der Verfolgte, und es tut nichts, es stinkt auch gar nicht. Und doch kriecht die Paranoia in die Geschichte, Hitchcock lässt grüßen, bei den Vögeln fing auch alles ganz harmlos an. Schließlich treibt blanke Panik den Helden auf seiner surreal-slapstickhaften Flucht durch die Oper, über Friedhöfe und Rummelplätze, in Sackgassen und schließlich in die Kanalisation. Unter der Stadt hetzt er ohne Pause weiter, schüttelt den Verfolger ab, bezieht ein neues Haus, beginnt ein neues Leben …

Das ambivalente Ende der wunderbar absurden Geschichte, das der Anfang einer anderen sein könnte, sei hier nicht verraten. Der amerikanische Kinderbuchautor Mac Barnett ist keiner der definitiven happy endings. Wie zum Beispiel in seinem actiongeladenen Comic mit dem selbstredenden Titel Oh No! Or How My Science Project Destroyed The World: Darin erfindet ein nerdiges Mädchens einen tollen Roboter, der leider die ganze Welt in Schutt und Asche legt – das kann man nicht mehr heil machen. Mac Barnett erzählt in kurzen, präzisen Sätzen, seine Worte sind klar und auf den Punkt gebracht – und von Barbara Küper ebenso prägnant ins Deutsche übersetzt.

In Patrick McDonnell hat Barnett einen kongenialen Illustrator gefunden: Die größtenteils in schwarz-weiß gehaltenen Bilder, nur vereinzelt mit roten Farbtupfern versehen, wie zum Beispiel der Nase des Stinktiers und Fliege des Helden, wirken wie aus der Zeit gefallen und doch zeitlos schön. McDonnells Stil, den einige vielleicht von seinen Comicstrips Mutts kennen, erinnert an einen anderen, vor einigen Jahren vom Berlin Verlag wiederentdeckten Klassiker: Eloise in Paris. Mit leicht anarchistischem Charme erobert hier eine kleine New Yorkerin die Stadt der Lichter. Und in beiden Büchern spielt die Urbanität, das Großstadtleben eine wichtige Rolle.

McDonnells gibt vor allem dem ursprünglich nicht großstädtischen Stinktier wahre Eleganz. Von wegen die befrackten Pinguine, sein Stinktier hat wirklich Klasse: in stilvollem schwarz-weißen Streifenlook, den buschigen Schwanz wie eine lässig getragene Pelzstola hinter ihm herwehend. Blöd, dass es im Deutschen nur ein Wort gibt, das die unangenehme Seite des hübschen Tiers betont. Das englische „skunk“ klingt natürlich nicht besser,„Gestank“ schwingt auch hier mit. In Frankreich heißt das Buch lustigerweise „Das Stinktier, das mich liebte“. Nur „Stinktier“ als Titel verfängt im Land der Parfümeure wohl nicht; dann lieber ein scheinbares James-Bond-Zitat.

Die stilvoll schwarz-weißen Bilder kippen nur einmal ins grell Bunte. Und zwar während der vermeintlich besseren, weil wieder stinktierlosen Zeit. Instinktiv merkt man, dass in der schicken Wohnung, zwischen den aufgekratzt feiernden Partygästen in all ihrer Farbigkeit etwas – oder jemand – fehlt.

Was oder wer? Das kann jeder für sich interpretieren. Ist es das anhängliche, jüngere Geschwisterkind? Oder etwas Abstraktes wie Träume oder eine Sehnsucht, die man sich nicht traut auszuleben, die einen aber nicht loslässt, weil ohne sie das Leben hohl und sinnlos ist. Oder steht das Stinktier für den  Freund aus Kindertagen, der einem mittlerweile peinlich ist, weil er nicht zu den neuen coolen, hippen Freunden passt und sich nicht für die Modetrends und den nächsten heißen Scheiß interessiert. Stattdessen ist er verlässlich, treu und bodenständig, und nicht zuletzt von subtiler, erst auf den zweiten Blick erkennbarer Eleganz.

Das Stinktier von Mac Barnett und Patrick McDonnell ist für Leser jeden Alters eine Entdeckung und hat das Zeug zum modernen Klassiker, mit der Betonung auf Klasse!

Elke von Berkholz

Mac Barnett: Das Stinktier, Illustration: Patrick McDonnell, Übersetzung: Barbara Küper, Tulipan 2016, 44 Seiten, jedes Alter, 13 Euro

Bilder gegen Neonazis

drei steineBrutal zusammengeschlagen liegt ein Junge auf dem siffigem Fußboden eines Schulklos. Seine Schulsachen sind ausgekippt, an den Wänden Kritzeleien, die Comicfigur Werner, BVB Logo, ein verdrehtes Hakenkreuz.

Mit dem Titelbild seiner autobiographischen Graphic Novel Drei Steine springt Nils Oskamp direkt in die Geschichte: Dortmund-Dorstfeld in den 80er Jahren. Zechen werden geschlossen, mit der Stahlindustrie geht es bergab, die Arbeitslosigkeit steigt und die rechtsradikale Szene erstarkt.

Der Schüler Nils Oskamp hat bei den immer lauter werdenden, faschistischen Parolen an seiner Schule nicht weggehört und den Neonazis seine Meinung gesagt – und hätte das fast mit dem Leben bezahlt. Doch die rechte Gewalt hat ihn nicht mundtot gemacht – im Gegenteil: Statt den Neonazis mit den gleichen Mitteln zu begegnen und die Spirale der Gewalt weiterzudrehen, schlägt der Illustrator jetzt mit Drei Steine zurück.

Seine Geschichte zeigt, dass man sich wehren muss. Vor allem wird deutlich, wie gefährlich die Rechtsradikalen waren und immer noch sind. Und wer dachte, dass die Neonazi-Szene früher nur im repressiven DDR-Staat gedeihen konnte und wie aus dem Nichts mit der Wiedervereinigung über Deutschland hereingebrochen ist, dem werden mit diesen Szenen aus Dortmund, einer Hochburg der Rechtsradikalen seit Jahrzehnten, unmissverständlich die Augen geöffnet.

Zur Story: Oskamp, der auch Trickfilm studiert hat, beherzigt die alte Filmregel, mit einer Explosion zu beginnen und sich dann langsam zu steigern. Gleich auf dem Vorsatzpapier knallt es: Mit einem gewaltigem „BÄÄM“ wird ein riesiger Förderturm gesprengt und kracht in sich zusammen. Das Ende von Bergbau und Stahlindustrie im Ruhrgebiet Anfang der 80er Jahre. Und dann gerät der Leser unvermittelt in einen Albtraum: Mehrere Skinheads mit Baseballschlägern treiben einen Teenager in eine Falle, prügeln und treten auf ihn ein. Es ist ein wiederkehrender Albtraum, aus dem der Erzähler Nils Oskamp erwacht, geweckt von seinem kleinen Sohn Tom. Der ist nach einem Schulfreund Oskamps benannt, und jetzt erzählt der Vater seinem Jungen die Geschichte.

Die gegenwärtige Rahmenhandlung ist in warmen Sepiatönen gehalten. Die eigentliche Geschichte in kaltem Blau-Grau. Die Atmosphäre ist sofort so bedrückend wie das Geschehen. Als 14-Jähriger erlebt Oskamp, wie Mitschüler rechtsradikale Parolen grölen, ungeniert antisemitische Meinungen äußern, die Nazidiktatur verherrlichen und Wände mit Hakenkreuzen beschmieren. Er beobachtet, wie Altnazis Kinder für „kameradschaftliche“ Freizeitaktivitäten anwerben. Im Geschichtsunterricht verbreitet der Lehrer, früher Wehrmachtssoldat und Ostfrontkämpfer, angefeuert von interessierten Schülern, ungehemmt revanchistisches Gedankengut. Nils Oskamp kann und will das nicht hinnehmen. Seine vermeintlich neutralen Mitschüler lachen zwar, wenn er Paroli bietet, sich Wortgefechte liefert und aus dem Unterricht fliegt. Aber er ist isoliert und bleibt im unfairen Kampf gegen die Neonazis allein.

Die Gewalt, die die Faschos ausüben, um Andersdenkende mundtot zu machen, ist erschütternd anzusehen. Das sind nicht nur Einschüchterungen. Bei „mundtot“ liegt die Betonung auf dem zweiten Teil, so brutal und hemmungslos wie die Schläger auf ihre Opfer einprügeln. Da gibt es keine Anzeichen von Mitgefühl, Empathie oder Verständnis für den Schmerz des anderen. Ihre Ideologie scheint alle diese Emotionen auszuschalten und jedes Mittel zu rechtfertigen.

Fast ebenso schlimm und wirklich übelkeitserregend ist das Weggucken Außenstehender. Passanten drehen sich weg, Fenster werden geschlossen, Lehrer verkennen Tatsachen und Zusammenhänge. Als auf Oskamp in seinem Elternhaus durch ein Fenster geschossen wird, verharmlosen Polizisten den Anschlag als Luftgewehrstreich und „am Sonntag kommt die Spurensicherung nicht“. Richter ahnden rechtsradikale Verbrechen als Straftaten Minderjähriger und verurteilen Gewalttäter, falls es überhaupt zur Anzeige und einem Verfahren kommt, zu geringen Bewährungsstrafen. Oskamps Eltern sind von familiären und finanziellen Problemen absorbiert.

Das ist wirklich schwer auszuhalten und macht ungeheuer wütend. Nur Tom, eigentlich ein Kumpel seines ebenso ignoranten, älteren und pseudocoolen Bruders, hilft Nils gegen die Neonazis und haut ihn auch mal aus einer brenzligen Situation raus. Kurzzeitig war Tom selbst für die „kameradschaftlichen“, sportlichen Verlockungen der rechtsradikalen Verbände empfänglich, aber sein Verstand hat ihn vor falschen Freunden und deren kranken Ideologien bewahrt.

Umso erstaunlicher und bewundernswerter, dass Oskamp noch als Jugendlicher in einem entscheidenden Moment innehält, nicht mit dem Stein in seiner Hand zum finalen Schlag ausholt, sondern beschließt, mit anderen Mitteln und einer anderen Sprache zu kämpfen. Davon erzählt seine Graphic Novel Drei Steine sehr eindringlich.

Nur wie die Nazis ihre Propaganda so effektiv verbreiten können und was Menschen dafür so empfänglich macht, wird in dieser Geschichte nicht deutlich, insbesondere für jüngere Leser, die wenig von den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen wissen. Oskamp erzählt aus der Perspektive eines 14-Jährigen. Auch der ausführliche Informationstext am Ende des Buchs ist eher eine zeitgeschichtliche Rekapitulation der erstarkenden Neonaziszene in Dortmund und Westdeutschland.

Drei Steine ist ein starkes Buch, eine eindringliche Graphic Novel. Es ist nur zum Kotzen (sorry für die deutlichen Worte), dass solche Geschichten immer noch und immer wieder erzählt werden müssen.

Elke von Berkholz

Nils Oskamp: Drei Steine, Panini Comics, 2016, 160 Seiten, ab 13, 19,99 Euro

Die Mädchen und das liebe Vieh

milchmaedchen„Das sind Kühe, keine Krokodile“, sagt Cowgirl spöttisch zu Gemma, die nach einer halsbrecherischen Schussfahrt vom Fahrrad geflogen ist und sich jetzt von einem Dutzend Wiederkäuer umgeben sieht. Aber Gemma ist nicht überzeugt und fürchtet sich vor den Tieren genauso wie vor ihrer groß gewachsenen Klassenkameradin, die eigentlich Kate heißt, von allen aber nur Cowgirl genannt wird. Blöde Kuh, denkt die 13-Jährige folgerichtig, als sie sich wieder auf den Sattel schwingt.

Cowgirl ist der Originaltitel des Romans. Und es passt perfekt zur burschikosen, selbstbewussten und reifer wirkenden, ebenfalls 13-Jährigen Kate. Trotzdem ist es gut, dass der Verlag Königskinder das Debüt des Walisers G. R. Gemin Milchmädchen genannt hat und dazu ein bildhübsches Mädchen mit Sommersprossen auf dem Umschlag zeigt, umrankt von rosa Kleeblüten. Das wirkt so friedlich, idyllisch und auch ein bisschen naiv und lebensuntauglich. Größer könnte der Kontrast nicht sein, denn das Leben der Mädchen in der Geschichte ist alles andere als rosig. Zudem funktioniert der Begriff Milchmädchen im Singular und Plural – raffiniert.

Gemmas Vater sitzt im Knast, ihre Mutter ist erschöpft von Alltag und Geldsorgen und ihr jüngerer Bruder Darren nervt. Sie leben in Wales, in dem heruntergekommenen Viertel Bryn Mawr (was „Brinn Maur“ gesprochen wird, mit gerollten R, und großer Hügel heißt) am Rand von Cardiff. Eine Mischung aus mehrstöckigen Sozialbauten und einfachen Einfamilienhäuschen mit kleinem Garten, von denen Gemmas Großmutter Lily eins bewohnt. Einbrüche, Diebstahl und Überfälle auf ältere Menschen, die ihre Rente abholen, sind Alltag; die Zeitungen berichten täglich und lakonisch. Deprimierende soziale Realität.

Cowgirl Kate lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof den Hügel hoch, mit nur noch einem Dutzend Kühen, die ihr Vater mangels Rentabilität und wegen der Schulden verkaufen will und muss. Aber Kate liebt die Kühe, sie ist Milchmädchen, Cowgirl, Kuhhirtin mit Leib und Seele. Noch immer leidet sie darunter, dass die einst 50-köpfige Herde wegen der Maul- und Klauenseuche vor einigen Jahren  gekeult werden musste, wie es zynisch in der Sprache der Massentierhaltung heißt. Später erzählt sie Gemma, dass sie nicht nur den schwarzen Fleck, wo die getöteten Tiere auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt worden waren, mit Entsetzen gesehen, sondern auch noch tagelang das verbrannte Fleisch gerochen hat. Sie will ihre Kühe, die natürlich alle Namen tragen, nicht verlieren. Also muss Kate sie in Sicherheit bringen.

Erzählerin Gemma wird ihre wichtigste und stärkste Verbündete. Verrückterweise wird alles von ihrer über 80-jährigen Oma angestoßen, die nach dem Tod ihres räudigen Hundes zunächst todtraurig ist. Sie lernt Kate kennen und schließt das verschlossene und von allen anderen gemiedene Mädchen in ihr Herz, erst recht, als sich herausstellt, dass Oma Lily als junge Frau während des Krieges auf genau dem Hof, damals bei Kates geliebtem Großvater als Melkerin und Kuhhirtin ausgeholfen und beste Erinnerungen daran hat. Die Geschichte einer verwegenen Tierrettung nimmt so rasant Fahrt auf wie Gemma anfangs tollkühn abwärts gerast ist. „Die Ampel wurde grün. ,Na los, Mädels’, sagte ich und wir gingen über die Straße. Ich nickte einem wartenden Fahrer zu, als ob ich jeden Tag mit fünf Kühen die High Street überquerte.“ Am Ende beteiligt sich das gesamte Viertel Bryn Mawr.

Der in Cardiff als Sohn italienischer Einwanderer geborene G. R. Gemin hat eine bezaubernde und mitreißende Geschichte von zwei unglaublich mutigen Mädchen und ihrer wachsenden, wunderbaren Freundschaft geschrieben. Schonungslos beschreibt er im Kontrast dazu die Auswirkungen von Massentierhaltung, unser perverses Verhältnis zu Tieren und eine von Arbeits- und Perspektivlosigkeit zerrüttete Gesellschaft. Er zeigt aber auch, dass man noch etwas ändern – es zumindest versuchen – kann, und dass es manchmal noch Hoffnung gibt. Mit Gemmas Großmutter Lily hat er – neben diversen anderen – eine grandiose, total liebenswerte Figur erschaffen. Alles ist in einem erfrischenden, authentischen und lebendigen Ton erzählt. Gabriele Haefs hat die Geschichte ebenso spritzig und feinfühlig ins Deutsche übersetzt, mit ein paar netten Extras. So führt sie anfangs fünf walisische Begriffe und Namen mit Aussprache und Übersetzung an, was den Lesenden  die Gegend, in der der Roman spielt, näher bringt.

Am Ende reift die Erkenntnis: Kühe sind nicht nur keine Krokodile. Kühe sind auch keine Milchmaschinen, sondern empfindsame, individuelle Lebewesen. Und Darrens faszinierte Erklärung der Milchproduktion – „vorne kommt Gras rein und hinten kommt Milch raus“ – verdirbt einem Polizisten vorläufig die Lust auf seine morgendlichen Cornflakes. Kühe sind zudem keine Steaks auf vier Beinen, und die gemeinsame Sorge um das liebe Vieh schweißt schließlich auch die Menschen zusammen.

Elke von Berkholz

G.R. Gemin: Milchmädchen, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2016, 272 Seiten, ab 12, 16,99 Euro