Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was entdecken. Zum Beispiel mitten in Berlin in einem sogenannten Kulturkaufhaus, einem großen Buch- und Tonträgerladen, auf einem für Touristen zusammengestellten Büchertisch. Zwischen den üblichen Stadtführern mit Gastrotipps, den 100 schönsten Orten, Berliner Geschichten und allerlei Vorschlägen für spezielle Interessen liegt eher dezent, mit blassgrünen Zeichnungen auf dem Einband Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder. Abgesehen davon, dass ich immer anspringe, wenn mich das Bild eines Fuchses anblickt, scheint die Autorin und Illustratorin Marie Parakenings mit dem Untertitel genau mich gemeint zu haben.
Originelles Zahlensystem und frischer Blick auf die Hauptstadt-Fauna
Natur ist echt nicht so mein Ding, viel stechendes Kleinvieh und gern mal ein Wolkenbruch aus heiterem Himmel auf freiem Feld. Und Stadtkind bin ich von Geburt an – mit allen entsprechenden Vorbehalten gegenüber Land, Dörfern und Kleinstädten. Über marodierende Wildschweine, zutrauliche Füchse und neugierige Waschbären mitten in Berlin hat man schon reichlich gehört. Aber die Designerin Marie Parakenings kommuniziert einen ganz neuen, frischen Blick auf die Fauna der Großstadt.
Abhängen am Paul-Lincke-Ufer
Das liegt auch am originellen Ordnungssystem, mit dem Parakenings die Tiere nach Fakten von 6.000.000 auf Null sortiert. Es fängt mit sechs Millionen Wanderratten an, die sich in Berlin tummeln, also fast doppelt so viele, wie Menschen in Berlin leben. Und wenn’s gut läuft für die vor 600 Jahren zugewanderten Säugetiere, könnte sich das Verhältnis zum Menschen zu ihren Gunsten noch locker verbessern – zahlenmäßig zumindest. Ein Rattenweibchen kann bis zu acht Würfe mit bis zu zwanzig Jungen haben, pro Jahr. Kommunizieren tun die bis zu 200 Tiere starken Familienverbände mit Lauten im Ultraschallbereich und hängen am liebsten, wie auch vor allem junge Berlinbesucher, am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer ab.
Verbündeter im Kampf um autofreie Innenstädte
Dieser allein ob ihrer Menge ziemlich beeindruckenden Hauptstadtbewohnerin folgt ein ebenso hübscher, naturalistisch gezeichneter und liebevoll kolorierter Steinmarder auf pastelfarbenem Fond – und die Zahl 2.500.000. Die nennt aber nicht die Größe der Population. Zweieinhalb Millionen Euro Schaden richten die einst menschenscheuen Allesfresser an Berliner Autos an, indem sie Kabel und Schläuche kaputtbeißen. Ein guter Verbündeter im Kampf für autofreie Innenstädte (meine Sicht, nicht dass die Autorin Ärger mit der mächtigen Autolobby bekommt).
Ansprechende Abschlussarbeit
307.088 Einwohner wiederum hat der Berliner Bezirk, der nach einem Vogel mit sprechendem, onomatopoetischem Namen benannt wurde, dem Stieglitz. »Welcher Bezirk mag das wohl sein? Na … zugezogen? Steglitz natürlich! Im Slawischen heißt das soviel wie da, wo es Stieglitze gibt« schreibt Parakenings. Was sie hier so souverän erklärt, weiß die selbst in Berlin aufgewachsene Autorin erst seit den Recherchen für ihr Buch. Berliner Tiere ist ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Weißensee.
Gema-Gebühren und Kotcontent
Es gibt viel Skurriles und Lustiges über Berlins tierische Bevölkerung zu erfahren. Die 168 im U-Bahnhof Hermannplatz lebenden, an Dönerfleisch adaptierten Gleismäuse waren ursprünglich Feldmäuse. Spatzen machen ihre Nester mit Kippen milbensicher. Rotkehlchenmännchen bleiben zu 20 Prozent ihr Leben lang Singles. Und nicht nur die in der Kapitale ansässigen 65 Waldkäuze wären »ziemlich reich, würde ihnen die Gema Tantiemen zahlen für jedes Mal, wenn in Film und Fernsehen ihr typisches huuu huuu ertönt«. Fakten über Fuchsfäkalien, Losung genannt, nennt Parakenings scherzhaft »Kotcontent«. Den Ausdruck könnte man auch als höfliche Umschreibung für den vielen im Netz kursierenden Dreck verwenden.
Für welches Tier steht »4,99«?
Was es unter anderem mit den Zahlen »1945«, »569«, »275« und »4,99« auf sich hat, wird hier auf keinen Fall verraten – unbedingt selbst lesen! So war diese Reise nach Berlin und ist dieses brillante Tierbuch in vielfacher Hinsicht ein fa(u)ntastisches und bereicherndes Erlebnis.
Marie Parakenings (Text und Illustration): Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder, Kulturverlag Kadmos Berlin, 2020, 160 Seiten, ab 10, 19,90 Euro
Seit nun mehr einem guten Jahr mahnt Greta Thunberg uns immer wieder und völlig zu Recht: »Unser Haus steht in Flammen.« Das Bild des Hauses für unseren Planeten Erde haben die Macher des großformatigen Sach-Bilderbuches So geht Planet! sehr genial aufgegriffen. In 17 Kapiteln, die jeweils eine Doppelseite umfassen, erklärt Emmanuelle Figueras, wie die Erde entstanden, aufgebaut, bewohnt, bewässert, bewirtschaftet, aber auch von uns zerstört wird.
Unser Planet – eine Bestandsaufnahme
Das Haus Erde verfügt in dieser Darstellung unter anderem über ein Untergeschoss – das Erdinnere –, über Etagen und Dach – die Berge –, eine Küche – unsere Nahrungsressourcen –, Badezimmer und Toilette – die Weltmeere –, eine Werkstatt voller Bodenschätze, sowie über menschliche und tierische Mitbewohner. Zu jedem Lebensbereich des Hauses und seiner Umgebung – also dem Weltall – gibt es grundlegende Fakten und Zahlen, die erstaunen, aber auch erschrecken können.
Beeindruckende Zahlen
So erstaunt der Bau des Hauses Erde durch die langen Jahren bis zu seinem heutigen Aussehen. Die Vorstellung von Million oder gar Milliarden Jahren ist nicht einfach zu realisieren, ebensowenig Mengenangaben in Trilliarden – ich würde beim Aufschreiben der Nullen rettungslos durcheinander kommen. Doch genau diese immensen, quasi unfassbaren Zahlen setzen unser Hier und Jetzt in ein Verhältnis – vor allem, wenn es um die Zerstörung dieses Hauses geht, dessen Bau so ewig gedauert hat und das wir, die Mitbewohner, nun quasi in Null Komma Nix wieder einreißen.
Erschreckende Zahlen
Denn sobald es in die Werkstatt unseres Hauses geht, wird es erschreckend: Hier lagern die Bodenschätze und die Regale sind zum Teil schon verdammt leer. Kupfer, Zink und Blei dürften in etwa 25 Jahren erschöpft sein, Erdöl, Erdgas und Kohle in etwa 50 Jahren. Ja, könnte man sagen, das ist alles längst bekannt – doch bleibt es meist abstrakt und eine Umkehr im Denken, vor allem in der Wirtschaft und der Politik, scheint es nicht zu geben. Betrachtet man jedoch diese letzten Reste in den hier gezeichneten Regalen, kommt man ziemlich ins Grübeln.
Zusammenhänge erkennen
Man grübelt jedoch nicht nur hier, sondern auch bei solchen Infos wie der, dass ein Schaf nur etwa vier Kilogramm Wolle pro Jahr liefert. Das erscheint nicht viel, wenn man an die steigende Weltbevölkerung und den Bedarf an Kleidung denkt. Plastikkleidung scheint keine gute Lösung zu sein, denn die Herstellung verschmutzt Luft und Wasser viel zu sehr. Ähnlich ergeht es einem im Wintergarten des Hauses, in dem die Lebensräume und Vegetation erklärt werden. Dort heißt es, dass in jeder Sekunde auf der Welt 32 Bäume gepflanzt werden. Im ersten Moment freut man sich vielleicht, doch dann liefert der nächste Kasten darunter die Information, dass in jeder Sekunde auch ein halbes Fußballfeld an Vegetation auf der Welt verschwindet. Was das dann für den wenigen Raum heißt, der auf der Erde überhaupt mit Bäumen und Pflanzen bedeckt ist, kann sich wirklich jedes Kind ausrechnen.
Hoffnung inklusive
Damit es jedoch nicht völlig frustrierend wird, liefern Figueras & Co. immer auch Lösungsvorschläge, wie wir das Haus Erde noch retten können. Sei es, dass man die Kleidung öfter trägt oder mehr Second-Hand-Klamotten kauft, sei es, dass man Wertstoffe recycelt oder neue Energien nutzt. Diese Kombination aus Zahlen, Fakten und Handlungshinweisen erscheint mir ein sehr gelungenes Konzept, um das Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unser eigenes Verhalten noch weiter zu schärfen.
Graphisch klar und aktuell
Zusätzlich trägt das optische Layout und die Illustrationen zu einem gelungenen Lese- und Schmökererlebnis bei. Verschieden große Kästen, in perfekt abgestimmten, gedeckten Farben liefern moderne flächige Illus, die in ihren Details viel zum Entdecken bieten. Da sitzt dann auch schon mal der Hipster mit einem Panda auf dem Sofa oder die überschwappende Badewanne bekommt Besuch vom Pinguin.
Nicht nur für Kinder interessant
Und wenn man am Ende der Lektüre erfährt, dass es mit dem Zweitwohnsitz auf Mond, Mars oder Jupiter eher schwierig werden dürfte, wird jedem doppelt klar, dass wir nur dieses eine Haus haben. Wir sollten es sorgsam behandeln, die Feuer löschen, unser eigenes Verhalten überdenken und verändern und uns so mehr um den Erhalt unseres Planeten kümmern. Es wären gute Vorsätze für das neue Jahr.
Emmanuelle Figueras: So geht Planet! Wissenswertes für junge Erdbewohner, Illustration: Alexandre Verhille und Sarah Tavernier, Übersetzung: Frederik Kugler, Kleine Gestalten, 2019, 45 Seiten, ab 8, 22,90 Euro
Kälte ist nicht so mein Ding, weshalb ein Ausflug in die Antarktis, selbst nur als literarisch-virtueller, nicht naheliegend ist. Aber hey, da ist jetzt Sommer, die Sonne scheint rund um die Uhr, bei lauschigen –10° bis –40° Celsius, ohne das Minus davor geradezu perfekt. Zum Südpol fällt einem zunächst nicht viel mehr ein als klirrendkalt und jwd und Pinguine. Der tschechische Autor und Illustrator David Böhm zeigt jetzt mit A wie Antarktis, das da unten, am anderen Ende der Welt so viel mehr ist – Spannendes, Unglaubliches, Überwältigendes.
Weltbild auf den Kopf gestellt
Was heißt das eigentlich, „da unten“? Gleich zu Beginn stellt Böhm unser Weltbild in Frage und auf den Kopf. Auf einer Kugel gibt es gar kein oben und unten, keinen Anfang und kein Ende. Unsere eurozentrische und am Äquator orientierte Sicht der Welt ist nicht nur perspektivisch verzerrt. Das fängt schon beim Namen an: Antarktis ist zunächst ein nur im Deutschen gebräuchlicher, unpräziser Ausdruck. In den meisten Sprachen heißt die Landfläche Antarktika und das umgebende Meergebiet Südpolarmeer oder Antarktik. Sie ist der südlichste Kontinent und ein in vielerlei Hinsicht ein Unikum. Verblüffenderweise ist sie nicht nur mit durchschnittlich 2020 Metern überm Meeresspiegel der höchste (Ha! Himalaja), sondern auch der trockenste Kontinent. Es regnet dort seltener als in der Sahara. Und doch speichert sie dreiviertel des Süßwasser der ganzen Welt in ihrem Eis. Zur extremen Kälte, –89° C wurde 1983 gemessen, kommen noch bis über 250 Stundenkilometer schnelle Winde.
Antarktika gehört niemandem
Das sind die harten geographischen und klimatischen Fakten. Es gibt auch sehr sympathische Fakten: Die Antarktis gehört niemandem – oder allen. Mittlerweile haben 54 Nationen den Antarktisvertrag vom 1. Dezember 1959 unterschrieben. Der besagt, dass man hier keinen Krieg führen und keine militärischen Übungen machen darf. Niemand darf mineralische Rohstoffe fördern. Die Antarktis darf nur friedlich genutzt werden und ist der ganzen Welt für wissenschaftliche Forschung zugänglich. Leider endet der Vertrag 2048. Nicht nur aus edlen Motiven lieferten sich Anfang des vorherigen Jahrhunderts zahlreiche Abenteurer absurde Wettrennen, um Erster am Pol zu sein. Überschattet von ihren Gespenstern erzählt und zeigt Böhm auf der ersten von zahlreichen aufklappbaren Doppelbreitbandseiten die Abenteuer dieser Polverrückten.
Entspannte Pelztiere und kuriose Architektur
Die Weddelrobbe hätte gut auf diese Extremtouristen verzichten können. Wegen ihres superdichten und fantastisch wärmenden Pelzes wäre das am nächsten zum Südpol lebende Säugetier fast ausgerottet worden. Meist liegt sie nämlich entspannt auf dem Eis, als wäre es der Strand. Nicht nur mit ihr, die bis zu 80 Minuten unter Wasser bleiben kann, tauchen wir ein in David Böhms fantastische Panoramabilder zum Leben an Land und unter Wasser, über Eisberge und ins ewige Eis, das wie das Gedächtnis der Erdgeschichte ist. Wir sehen die kuriose, unter Extrembedingungen entstandene und völlig unterschiedliche Architektur der insgesamt 70 Stationen, die von derzeit 30 Nationen am Südpol bewohnt und unterhalten werden. Jüngst hat Südkorea 2014 eine der modernsten Stationen eröffnet, die chinesische ist in jeder Hinsicht extrem und die ukrainische hat als einzige ein Bar.
Tiefblaue Panoramen und plüschige Pinguine
Die klugen, fakten- und informationsreichen Texte allein machen A wie Antarktis schon zu einem höchst lesenswerten Buch. Perfekt wird es aber durch die abwechslungsreiche und lebendige Gestaltung. Böhm, Absolvent der Akademie für Bildende Künste in Prag, spielt mit Formaten, Farben und Formen. Wir tauchen ein in das Südpolarmeer in tiefen Blautönen, blicken winzigen Bärtierchen ins Auge, erkunden Eiswüsten in epischer Breite, leiden in Comicform mit an übelster Seekrankheit. Dazwischen finden sich zahlreiche Fotos und realistische Collage-Elemente. Die verschiedenen Pinguin-Arten wiederum sind von einer Künstlerin extra als Stofftiere genäht. A wie Antarktis ist so viel mehr als nur ein brillantes Sachbuch voller echter Abenteuer – es liefert neue Ansichten vom kältesten Kontinent, vom Leben und dem ganzen Rest
David Böhm: A wie Antarktis – Ansichten vom anderen Ende der Welt, Übersetzung: Lena Dorn, Karl Rauch Verlag, 2019, 78 Seiten, ab 7, 22 Euro
Dieser Tage häufen sich in den Medien die Rückblicke und Erinnerungen an den Mauerfall vor 30 Jahren. Hierzu gibt es natürlich eine Reihe von Publikationen für eine junge Zielgruppe. Vier davon habe ich herausgegriffen, die den Kids, für die dieses Kapitel jenseits der persönlichen Erfahrung liegt und über das sie nur von Eltern oder Großeltern Dinge erzählt bekommen, einen guten Eindruck von der damaligen Zeit liefern. Bei zweien muss ich feststellen, dass es tatsächlich gewisse erzählerische Wendungen gibt, die offensichtlich in der Luft liegen und nicht durch Plagiat entstanden sein können (es würde mich jedenfalls sehr wundern). Denn sowohl in Helen Endemanns Roman Todesstreifen und in dem Briefroman Mauerpost von Maike Dugaro und Anne-Ev Ustorf entwickeln die Autorinnen einen Blick von zwei Seiten auf die Mauer, sprich auf die DDR und die Lebensverhältnisse ihrer Bewohner. Endemann erzählt vom Ben, der in einem Westberliner Sportinternat wohnt und mit seiner Mannschaft zu einem Freundschaftstreffen in den Ostteil der Stadt fährt. Geplant ist ein Tag Aufenthalt mit Wettkampf. Doch für Ben wird es eine Odyssee, denn während des Querfeldeinlaufs wird er von zwei DDR-Jungs entführt und in einen Schuppen verschleppt. Dort steht ihm dann Marc gegenüber – und der sieht Ben verdammt ähnlich.
Republikflucht und Jugendwerkhof
Marc schlüpft in die Klamotten von Ben und fährt mit den westdeutschen Sportschülern nach Westberlin. Keiner der Schüler merkt, dass Marc nicht Ben ist. Ben hingegen soll zu Marcs Oma und dessen Vater, die ihn dann – so die Vorstellung der Entführer – gleich wieder an der Grenze abliefern, weil er ja nicht Marc ist. Dass dieser halbgare Plan von Marc nicht aufgeht, merken Ben und die zwei »Fluchthelfer« von Marc, als vor dessen Haus die Stasi steht und Ben/Marc in einen Jugendwerkhof steckt, weil er kein ordentliches Mitglied der DDR-Gesellschaft ist. Ben sitzt in der Falle und die Möglichkeiten, rasch und unbehelligt wieder in den Westen zu gelangen sind gleich Null.
Beklemmende Atmosphäre
Das ist spannender Lesestoff, der auf sehr intensive Weise die beklemmende Atmosphäre, die Überwachung und das Eingesperrtsein in der DDR vermittelt. Jeden Weg, den die Jungs sich überlegen, wie Ben wieder nach Westen kommen kann, ist versperrt. Auch aus dem Westen ist keine Hilfe zu erwarten, denn Bens Eltern sind in Afrika auf einer Hilfsmission. Marc hingegen macht sich im Westen auf die Suche nach seiner Mutter, die vor Jahren illegal über die Grenze geflüchtet ist. Doch auch er stößt auf Hindernisse: eine Tante, die etwas über die Mutter wissen könnte, ist dement. So ist es schließlich seine Oma, die den Enkeltausch natürlich gleich erkennt, nachdem Ben aus dem Jugendwerkhof zurückkommt, die als Botin zwischen den Welten wandelt.
Die Verbindung zwischen Ost und West
Eine grenzgängerische Oma ist auch in dem Briefroman Mauerpost das verbindende Element zwischen Ost und West. Hier vermittelt Oma Ursel eine Brieffreundschaft zwischen ihrer Westberliner Enkelin Ines und der Ostberliner Nachbarstochter Julia. Die Mädchen beginnen sich zu schreiben, erzählen der jeweils anderen von ihrem Alltag und der Schule. Waren die Jungs noch 1985 in Berlin unterwegs, so kommunizieren die Mädchen bereits 1988 und schreiben sich mehr als ein Jahr, sodass die Ereignisse in der DDR, die zum Mauerfall geführt haben, in die die Briefe einfließen. Julia erzählt von den Demos auf der Straße, während Ines von dem merkwürdigen Verhalten der Mutter erzählt, die einst aus der DDR freigekauft wurde.
Erzählerische Parallelen
Hier entfaltet sich zwischen den beiden nach und nach ein fesselnder Krimi, in dem zwar nicht die Zustände in den Jugendwerkhöfen, dafür aber die in den Staatsgefängnissen wie Hoheneck und Hohenschönhausen geschildert werden. Dabei entdecken Ines und Julia immer mehr Details, die ihre Schicksale miteinander verbinden. Zwar erzählen beide Romane unterschiedliche Geschichten, so zeigen sich doch bestimmte Muster, die bei beiden auftauchen: Ost trifft West, die Omas werden als Boten benutzt, die Stasi spielt natürlich immer mit, der Knast in der DDR ist für Jugendliche nicht weniger schlimmer wie der für Erwachsene, und am Ende stehen die Helden in beiden Geschichten in einem gewissen Verhältnis zueinander, dass ich nicht nennen werde, das man sich aber in beiden Geschichten relativ schnell denken kann. Es liegt eben in der Luft, 30 Jahre nach dem Mauerfall. Parallel ist in beiden Romanen selbst eine gewisse Verwirrung um Ostberliner Stadtteile: So liegt im Todesstreifen eine Psychiatrie mal in Potsdam, ein paar Seiten weiter dann in Pankow (S. 194 vs. 202), in der Mauerpost werden Kekse in ein und demselben Laden gekauft, der mal in Friedrichshain, mal im Prenzlauer Berg zu finden ist (S. 100 vs. 134). Früher hat mich so was immer geärgert, heute schmunzle ich, weil das nun mal in der Hektik der Buchproduktion passiert. Es wäre trotzdem schön, wenn das in den nächsten Auflagen, soweit es die geben wird, behoben wird. Beide Geschichten entwickeln jedoch einen packenden Drive und lassen die Leser und Leserinnen in die Zeit vor der Wende und vor dem Mauerfall eintauchen.
Blutsbrüder über die Mauer hinweg
Etwas anders verhält es sich mit dem Kinderroman Alles nur aus Zuckersand von Dirk Kummer. Hier geht es hauptsächlich um eine Jungenfreundschaft in der DDR im Jahr 1979. Fred und Jonas sind dickste Kumpels, verbringen ihre Zeit zusammen, schließen Blutsbrüderschaft und erzählen sich alles – bis Jonas‘ Mutter einen Ausreiseantrag stellt. Fred, dessen Vater beim Grenzschutz in Falkensee arbeitet, verbietet ihm den Kontakt mit Jonas. Doch daran hält er sich natürlich nicht. Stattdessen fangen die Jungs an, angeregt durch die Erzählungen vom alten Nachbar Marek über Australien, einen Tunnel in den brandenburgischen Sand zu graben. Sie wollen sich später in Australien treffen …
Kindgerechter Blick auf die DDR
Aufgrund der noch jüngeren Zielgruppe sind die Schrecken der DDR hier nicht ganz so heftig zu spüren wie in den beiden Jugendromanen. Fred fungiert als Ich-Erzähler und zeigt durch seine kritischen Kommentare alles das, was in der Schule und im System schief läuft. Er konstatiert, dass die Lehrerin den Schülern Angst macht, dass das System den Menschen Angst macht vor allem, was aus dem Westen kommt. Fred aber will keine Angst haben, sondern nur mit Jonas zusammen sein. Als Jonas dann tatsächlich mit seiner Mutter ausreist und plötzlich weg ist, vermisst Fred ihn sehr. Ein Brief, den er an Jonas schreibt, kommt zurück, da Westkontakt verboten ist.
Das Buch nach dem Film
Wem diese Geschichte jetzt vielleicht bekannt vorkommt, liegt richtig, denn dieses Buch beruht auf dem gleichnamigen Film von Dirk Kummer, der 2018 mit den Grimme-Preis ausgezeichnet ist. Sind normalerweise erst die Bücher in der Welt und die Verfilmungen folgen später, so ist hier der andere Weg gegangen worden – allerdings mit einem entscheidenen Haken. Um das Buch für Zehnjährige erträglich zu machen, haben Autor und Verlag auf einen Erzählstrang aus dem Film völlig verzichtet. Da ich den Film bereits kannte, habe ich mich zu Beginn der Lektüre noch gefragt, wie dieser Teil im Buch wohl erzählt wird (Achtung Filmspoiler: Jonas läuft kurz vor der Ausreise, als er mit der Mutter schon im Tränenpalast ist, noch einmal weg und findet in dem bereits gegrabenen Loch der Jungs ein schreckliches Ende). Dieser Teil wird gar nicht erzählt, was mich kurzfristig enttäuscht hat. Doch ich kann diese Auslassung verstehen, denn Jonas Schicksal ist im Film selbst für Erwachsene kaum zu ertragen. So bleibt für junge Lesende eine liebevolle Freundschaftsgeschichte aus einem anderen Land. Sie erzählt von dem zerstörerischen Einfluss eines Staats in das Privatleben, aber auch noch ein Fünkchen Hoffnung aufblitzen lässt, dass die Jungs sich möglicherweise nach ein paar Jahren wiedersehen.
Doku-Fiktion zum Lesen
Junge Lesende, die es nicht so sehr mit Romanen haben, können sich hingegen in dem Sachbuch Mein Mauerfall über die Zeit vor 30 Jahren informieren. Hier führt zwar der zwölfjährige Theo mit Erzähltexten durch das Buch, doch viele Fakten zur deutsch-deutschen Geschichte werden in Infokästen, Sprechblasen, Grafiken und Bildern in kurzen Texten geliefert. Dabei geht Autorin Juliane Breinl auch auf die historischen Gründe für die deutsche Teilung ein, erläutert, was Hitler und die Nazis mit all dem zu tun haben und wie es überhaupt zu zwei deutschen Staaten gekommen ist.
BRD versus DDR
Gerade diese Gegenüberstellung von BRD und DDR zieht sich durch das Buch. Die Unterschiede, die wir heute immer noch spüren, wenn wir von West nach Ost und von Ost nach West fahren, bekommen in diesem Sachbuch ein Gesicht und eine Erklärung. Das mag uns Erwachsenen selbstverständlich vorkommen, doch den jungen Generationen das auf diese Art noch einmal vor Augen zu führen erscheint mir wichtig zu sein – und sehr gelungen.
DDR-Alltag und Zeitzeugenberichte
Breinl berichtet von den alltäglichen Unterschieden in beiden Staaten, von der allgegenwärtigen Überwachung in der DDR, den unterschiedlichen Inhalten in den Schulen, den Trabis und den Intershops, dem West-Konzert an der Mauer, zu denen die Ost-Jugend pilgerte und brutal niedergeknüppelt wurde. Doch auch staatlich organisierte Konzerten im Osten konnten die Menschen nicht mehr besänftigen, die Unzufriedenheit wuchs, man wollte raus und ging dafür in Massen auf die Straße. Die Mauer fiel. Von all dem lässt Breinl unter anderem Zeitzeugen erzählen, bekannte wie Jana Pallaske (Ost) oder Peter Wohlleben (West) und unbekannte, und bringt so jede Menge Authentizität in ihre Darstellung der damaligen Ereignisse.
Brüderlichkeit und Freiheit
Doch mit dem Mauerfall endet das Buch nicht. Es schlägt vielmehr eine Brücke bis in die Gegenwart, zum neuaufgeflammten Rechtspopulismus, ja Rechtsextremismus, dem grassierenden Fremdenhass, aber auch zum Bekenntnis für Europa, für Brüderlichkeit und eine grenzenlose Freiheit. Je länger ich in dem Buch vor und zurück gelesen habe, umso öfter wünschte ich mir, dass nicht nur Kinder dieses Buch lesen, sondern alle, die diese blöde blaue Partei wählen und anscheinend vergessen haben, was die Politik vor 80 Jahren und in den 40 Jahren der DDR-Geschichte angerichtet hat. Mögen die Kinder durch diese Lektüre ordentlich angeregt werden, in den eigenen Familien nachzufragen und die eigenen Familiengeschichten erkunden, ganz gleich, ob in Ost oder West.
Helen Endemann: Todesstreifen, Rowohlt, 2019, 256 Seiten, ab 13, 14 Euro Maike Dugaro/Anne-Ev Ustorf: Mauerpost, cbt, 2019, 336 Seiten, ab 13, 9,99 Euro Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand, Carlsen, 2019, 144 Seiten, ab 10, 12 Euro Juliane Breinl: Mein Mauerfall. Von der Teilung Deutschlands bis heute, arsEdition, 2019, 144 Seiten, ab 10, 15 Euro
Heute erscheint ein Buch, auf das ich mich lange gefreut habe – denn ich durfte als Lektorin daran mitwirken. Nun ist mit Fred bei den Wikingern das erste Print-Produkt im Berliner ultramar Verlag erschienen. Warum ich das hier so betone? Ganz einfach, ultramar und seine beiden Hauptakteure Birge Tetzner und Rupert Schellenberger haben bis jetzt nur CDs herausgebracht, nämlich die wunderbar Hörspiel-Reihe um die Hauptfigur Fred. Über die spannenden Zeitreise-Geschichten und die Robin-Hood-Variation habe ich hier bereits berichtet. Konnten archäologie-begeisterte Kids bis jetzt den insgesamt sieben Abenteuern von Fred und Opa Alfred nur lauschen, so können sie jetzt die Zeitreise zu den Wikingern auch nachlesen und sich von den stimmungsvollen Illustrationen von Karl Uhlenbrock in die Zeit des Nordvolkes vor ungefähr tausend Jahren entführen lassen.
Sturz durch die Zeit
Fred macht mit Opa Alfred ja bekanntermaßen Ferien in Dänemark. In Roskilde unternimmt der Junge eine Ruderpartie in einem originalgetreu nachgebauten Langboot der Wikinger – und geht über Bord. In dem aus den Hörspielen bereits bekannten Kniff fällt Fred durch die Zeit und findet sich bei den nordischen Kämpfern wieder. Fred landet genau in dem Moment in einem Wikinger-Dorf genau, als der herrschende Jarl in einer Seeschlacht gefallen ist. Nun ist die Frage, ob sich dessen Sohn Ivar als Nachfolger durchsetzen kann. Fred und Ivar freunden sich an. Fast ein Jahr verbringt Fred bei den Nordmännern und lernt durch Ivar und die Dorfbewohner das ganz normale Leben kennen, das die Menschen damals neben den Raubzügen führten. Er erfährt, was es mit Odin, Rán und Loki auf sich hat, welche Rolle die Seherin spielt … und muss schließlich einen Weg zurück in seine Zeit finden, um nicht auf ewig bei den Wikingern bleiben zu müssen.
Fundiert recherchiert
Und mit dem, was Fred so alles erfährt, lernt auch die Leserschaft. Denn genau wie die überaus akkurat und exzellent recherchierten Hörspiele ist auch diese gedruckte Ausgabe der Geschichte ein wahrer Schatz an fundiertem Wissen über die Wikinger. Neben der abenteuerlichen und packenden Geschichte ergänzen nämlich erklärende Sachtexte die Welt der Wikinger, ihre Lebensart, ihre Bestattungsriten, ihren Schiffbau, wie sie beispielsweise Taue, Segel und Waffen herstellten. Ein Glossar erläutert die wichtigsten Fachbegriffe sowie die Aussprache des Altnordischen und gibt Anregungen, welche Wikingerorte man in den nächsten Ferien besichtigen kann, um vor Ort diese Kultur weiter zu erforschen.
Liebevoll gemacht
So sorgsam, wie Birge Tetzner den Inhalt aufbereitet und verständlich gemacht hat, so liebevoll ist die Ausstattung dieses Buches: dickes champagnerfarbenes Papier, Hardcover mit Prägedruck, Lesebändchen. Dazu die zahlreichen Illustrationen von Karl Uhlenbrock. Die erzählenden Bilder sind in gedeckten, manchmal düsteren Farben gehalten, voller Dynamik, manchmal fast ein bisschen gruselig, mit wilden Kriegern. Sie allen füttern die Fantasie und machen die Geschichte noch lebendiger. Daneben gibt es zudem noch erklärende Illustrationen, die die Sachtexte begleiten und beispielsweise archäologische Fundstücke zeigen. Das Lesen und Schauen wird hier auf jeden Fall nicht langweilig.
Wem also das Hörspiel zu kurzweilig war, der kann hier ausgiebig weiterschmökern. Da wünscht man sich, dass auch die anderen sechs Fred-Abenteuer möglichst bald in Buchform vorliegen…
Birge Tetzner: Fred bei den Wikingern, Illustration: Karl Uhlenbrock, ultramar media, 2019, 208 Seiten, ab 9, 22 Euro
An diesem Wochenende wählen wir – Europa. Und hoffentlich nutzen viele, richtig viele das wichtige Grundrecht, ihre Stimme abzugeben. Denn gemeinsam können wir viel bewegen. Das ist auch der Tenor von einem italienischen Buch, dass ich euch heute vorstellen möchte, obwohl es noch nicht auf Deutsch erschienen ist. (Ich habe es vergangene Woche quasi druckfrisch aus Italien mitgebracht und weiß noch nicht, ob es überhaupt übersetzt wird – falls jemand Infos dazu hat, bitte melden.) Die sardische Autorin Michela Murgia, die hierzulande durch ihren Roman Accabadora dem erwachsenen Publikum bekannt geworden ist, hat in Noi Siamo Tempesta (wörtlich: Wir sind der Sturm) 16 Ereignisse der Weltgeschichte versammelt, in denen es keinen Einzelhelden gibt, sondern die Gemeinschaft Fundamentales bewegt hat.
Michela Murgia schreibt auch für Jugendliche
So erzählt sie für junge Leser_innen, aber auch für Erwachsene beispielsweise von der Entstehung von Wikipedia, in der das Weltwissen gesammelt wird, vom Fall der Berliner Mauer, aber auch von der historischen Schlacht bei den Thermopylen, in der 300 Spartaner gegen die übermächtigen Perser unter Xerxes antraten, oder von den Müttern auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die es nicht hinnehmen wollten, dass das Regime ihre Kinder verschlingt. Die Geschichte über die erste weibliche Fliegerstaffel der Sowjetunion, die „Hexen der Nacht“, lässt Murgia, die sich immer auch für Frauenrechte und gegen jeglichen Faschismus einsetzt, von Paolo Bacilieri in Form eines Comics erzählen. Von langweiliger Lektüre kann hier also nicht die Rede sein. Auch die Menschen, die die Geflüchteten im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten, würdigt Murgia. So nimmt sie die Leser_innen auf eine kurzweilige Reise durch Raum, Zeit und Medien mit. Erzählt jede Geschichte zuerst auf sehr persönliche Art und schließt sie jeweils mit einer Faktenseite ab, die kurz über die historischen und politischen Zusammenhänge aufklärt.
Gemeinschaft bewegt
Mit diesen kurzen Geschichten, die von dem Mailänder Grafikstudio The World of Dot (Mitgründer ist u.a. Iacopo Bruno) sehr modernistisch illustriert wurden, schärft sie ganz enorm das Bewusstsein der Lesenden, dass weltbewegenden Veränderungen, Umstürze oder Aktionen zumeist nicht auf das Konto eines einzelnen Menschen gehen. Es ist vielmehr der Zusammenschluss von Gleichgesinnten, der die Welt ändern … und vielleicht noch retten kann, was die Fridays-for-Future-Bewegung dieser Tage gerade zu beweisen bzw. anzuleiern versucht. Sollten sie Erfolg haben – was uns allen nur zu wünschen wäre – wird Michela Murgia sie sich in ihrer Fortsetzung erwähnen (nein, ich weiß nicht, ob es eine Fortsetzung geben wird, aber ich würde es mir wünschen.)
Geschichten ohne Helden
Nach all den Büchern über rebellische Girls und mutige Boys und die entsprechenden Nachfolgerprodukte, die wir in den Buchhandlungen finden, wäre das Buch von Michela Murgia eine wichtige Ergänzung und ein ganz wunderbarer Gegenpol zum Heldenmythos, den im Grunde niemand mehr braucht. Selbst die Avengers im Kino können nur gemeinsam die Welt vor dem Bösen retten. Und das will schon was heißen. Daher sollten wir eigentlich viel mehr von diesen gemeinschaftlichen Geschichten in unser Bewusstsein und unser Leben holen. Denn jeder kann bei solchen Aktionen mitmachen und etwas bewegen – am Sonntag bei der Wahl und immer wieder freitags für das Klima!
(Michela Murgias Buch würde ich jedenfalls sehr gern übersetzen, liebe Verlage, falls einer von euch sich die Rechte dafür gesichert hat. Anruf genügt.)
Michela Murgia: Noi siamo Tempesta. Storie senza eroe che hanno cambiato il mondo, Salani Editore, 2019, 128 Seiten, 16,90 Euro
Die kleine Maus kennt sich aus in der Welt. Sie liest Bücher über Luftfahrt, Tiefsee und Radsport. Doch als immer mehr Wurzeln in ihre gemütliche Lesehöhle wachsen, merkt sie, dass sie keine Ahnung hat von ihrer näheren Umgebung. »Ich brauche ein gutes Buch über die Natur«, denkt die Entdeckermaus, und kommt raus, um ihren Lebensraum zu erkunden und selbst eins zu schreiben. Mit diesem Plädoyer fürs Selberentdecken und gute Sachbücher beginnt sie sofort rund um ihren Mäusebau. Da gibt’s Larven und schlafende Spitzmäuse, die sich vom Kriechgetier ernähren. Weiter geht’s auf die Wiese, in den Wald, an den Teich und in den Garten. Die Maus hat leicht praktikable und tierschonende Tipps, um alles genau unter die Lupe nehmen zu können. Die Mini-Humboldt erkundet einen Ameisenbau und taucht mit Kaulquappen ab, wo sie sogar noch eine Artverwandte findet. Die Natur funktioniert als Nahrungskette aus Fressen und gefressen werden. Leicht makaber ist die Vorratshaltung der Maulwürfe: Um immer frische Regenwürmer zu haben, verstümmeln sie die lebendigen Kriechtiere. Tereza Vostradovská malt meist doppelseitige naturalistische Panoramen. Die getuschten Illustrationen von kleinen und großen Säuge- und Pelztieren, Vögeln und Fischen sind lebensecht und erinnern an Darstellungen klassischer Naturzeichnungen. Dazwischen tummelt sich die Entdeckermaus als Autorin. Sie ist ganz niedlich, aber nicht süßlich disneyhaft, mehr eine passende Gefährtin zu Zdeněk Milers kleinem Maulwurf.
Sympathisch aus der Zeit gefallen
Komm mit raus, Entdeckermaus ist sympathisch aus der Zeit gefallen. Kinder können heute kaum allein durch die Gegend stromern, es gibt keine verwilderten Grundstücke mehr wie in meiner Kindheit. Einen Garten haben zumindest die in der neuen Schrebergartengeneration. Der Wald aber ist fast ein fast exotisches Habitat, dass auch die meisten Erwachsenen mehr aus den Büchern Peter Wohllebens kennen als durch eigene Anschauung, und wenn, dann als ein eher unnatürlich bewirtschaftetes Stück Forst. Trotzdem ist es ein großes Vergnügen mit der Maus ihren Lebensraum zu entdecken.
Auch im Wald, allerdings dem wirklich exotischeren, bunteren Dschungel, tummelt sich Äffchen. Die Großen schließen ihn aus ihren Vergnügungen aus – weil er noch zu klein sei. Deshalb macht sich Äffchen auf zu einer Soloklettertour. Mutig und unbekümmert überquert er den Fluss, hangelt sich zu den leckeren Früchten herauf und erklimmt den höchsten Wipfel. Dabei ist er sich der wahren Gefahr nicht bewusst, typischer Effekt, wenn Kinder nicht für voll genommen werden. Das hätte auch grotesk schief gehen können, weil der von den älteren Affen getriezte Tiger sich durchaus an dem allein durch die Gegend stromernden Äffchen hätte rächen können. Stattdessen schwingt der Kleene sich zum krönenden Abschluss ausgerechnet am Schwanz der Raubkatze, den er für eine Liane hält, elegant vom höchsten Baum herab, direkt in die Arme der besorgten und liebenden Affenbande.
Äffchen wächst an seinem Abenteuer
Marta Altés erzählt in satten Farben mit subtilem Witz von der tierischen Exkursion. Dabei besticht auch wieder die hochwertige Ausstattung des Bilderbuchs aus dem Bohem Verlag: Die Titelseite in Leinen mit Prägedruck fühlt sich gut an, auf dem Vorsatzpapier schwingen grüne Palmwedel, wie ein elegantes Tapetenmuster. Altés Tiere haben Ausdruck und Charakter. Äffchens mit jedem überwundenen Hindernis größer werdende Freude und sein wachsendes Selbstbewusstsein stehen in schön illustriertem Kontrast zur immer schlechter werdenden Laune des ihn verfolgenden Tigers. Äffchen beweist seinen Mut, erobert für sich selbst den Dschungel und wächst an diesem Abenteuer. Auch durch den Perspektivwechsel: Vom Wipfel des Baumgiganten sehen nämlich die Welt und alle anderen ganz klein aus.
Die Perspektive wechselt auch zwischen den skurril verbundenen Helden Der Wolf, die Ente und die Maus von Marc Barnett und Jon Klassen. »Eines frühen Morgens traf eine Maus auf einen Wolf« (… umblättern…) »und wurde gleich verschlungen.« Einmal zu sehen und schon wieder verschwunden, und man denkt, arme Maus, böser Wolf. Aber die Maus lebt noch, das Phänomen tierischer Gier kennt man aus Rotkäppchen und Peter und der Wolf. »Oje! Ich bin gefangen im Bauch dieses Untiers. Gleich ist es aus mit mir.« Aber von wegen: Die Maus trifft die Ente, die es sich schon länger im Wolf gemütlich macht. »Als ich draußen war, hatte ich jeden Tag Angst, ein Wolf könnte mich verschlingen. Hier drin gibt es solche Sorgen nicht.« Und weil so Einiges im Wolf landet, können Maus und Ente es so richtig krachen lassen mit lecker Essen, Tanz und Musik. Davon bekommt der unfreiwillige Gastwirt schlimme Magenschmerzen, stöhnt und lockt einen Jäger an, dem er nicht entkommen kann.
Schau mir in die Augen, Kleines
Maus und Ente fürchten zu Recht das Schlimmste. Mutig und tollkühn verteidigen sie ihren Lebensraum und schlagen den Jäger in die Flucht. So retten sie dem Wolf das Leben. Zum Dank haben sie einen Wunsch frei … Armer Wolf, jetzt weiß man, warum er heult. Jon Klassens Tierbilder sind hinreißend und entzückend. Vor überwiegend in dunklen Farben gehaltenem Hintergrund, die Geschichte spielt im Wolf und bei Nacht, zeichnen sich die weiß umrandeten Figuren in Buntstift und Wachsmalkreide ab. Hell und höchst lebendig sind die Augen von Wolf, Ente und Maus: Die Pupillen sind die ganze Mimik und spiegeln alle Emotionen wider. Schau mir in die Augen, Kleines.
Tereza Vostradovská: Komm mit raus, Entdeckermaus!, Übersetzung: Jaromir Konecny, cbj, 2019, 56 Seiten, ab 4, 15 Euro
Marta Altés: Äffchen, Übersetzung: Gertrud Posch, Bohem Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro
Marc Barnett, Jon Klassen (Illustrationen): Der Wolf, die Ente & die Maus, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 5, 15 Euro
Zu meiner Zeit studierten Betriebswirtschaft nur die Langweiler, die mit Aluaktenkoffern zur Schule gegangen sind und wirklich glaubten, so gleich ins gehobene Management zu steigen. Cool war das nicht. Psychologie hatte durchaus seinen Reiz, aber als Beruf konnte man sich das auch nicht vorstellen. Eine Generation später ist Wirtschaftspsychologie so begehrt, dass viele es für viel Geld an privaten Universitäten studieren, hierzulande. Ob die alle Arbeit finden und die teure Ausbildung sich schließlich auszahlt, ist wiederum psychologisch ein interessantes Thema. Auf jeden Fall kann man sich schon in der Schule auf dieses reizvolle Fach einstimmen, mit den hervorragenden Büchern Kernfragen Wirtschaft und Kernfragen Psychologie von Marcus Weeks. Die beiden je 160 anregende Seiten dicken Bände sind der Auftakt einer Sachbuchreihe des Verlags Dorling Kindersley.
Außergewöhnlich gut durch gutes Lektorat
Was macht sie so außergewöhnlich gut? Zum einen das gute Lektorat. Gleich sechs Leute stehen bei der Wirtschaft im Impressum, sogar sieben haben bei Psychologie Fakten überprüft, Themen gesetzt und eine stimmige Struktur entwickelt. Und Texte redigiert und in eine höchst lesenswerte Form gebracht. Das ist der große Vorzug dieser Sachbücher gegenüber zum Beispiel textlastigen Genreklassikern aus der Reihe Was ist was. Jeweils auf einer Doppelseite wird ein Aspekt wie zum Beispiel Wettbewerb, Genossenschaften oder ethisches Handeln im Wirtschaftsbuch knackig erläutert. Bei der Psychologie werden abstrakte Themen wie Wahrnehmung, Gedächtnis und Wissen neben Fragen, ob man verrückt ist und wie wir uns entscheiden auf zwei Seiten facettenreich beleuchtet. Vorangestellt ist ein Überblick über verschiedene Schwerpunkte, Spezialisten und Tätigkeitsbereiche des jeweiligen Fachgebiets, beide Bände schließen mit einem ausführlichen Personenregister und Glossar. Und dazwischen gibt’s geballtes Wissen: Von den Anfängen des Geldes, warum wir von »Banknoten« sprechen, über Aktiengesellschaften, Angebot und Nachfragen und Armut bis zu persönlichen Finanzen spannt sich in den Kernfragen der Wirtschaft der Bogen, alles anschaulich und praxisnah erklärt.
Verrückt oder Volkswirt
Übrigens ist »die Ökonomie keine exakte Wissenschaft, mit der sich Theorien eindeutig beweisen oder widerlegen lassen. Einige Ökonomen machen Vorschläge zur Regelung der Wirtschaft. Aber letztlich ist sie nicht vorhersehbar und sie können auch völlig falsch liegen.« So steht es ganz ehrlich in der Zusammenfassung des ersten Kapitels, nebenbei auch eine treffende Analyse der Finanzkrise von 2007/2008, der bisher schlimmsten seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Oder wie es der britische Ökonom Kenneth Boulding erfrischend ehrlich auf den Punkt bringt: »Wer glaubt, exponentielles Wachstum könne in einer begrenzten Welt immer weitergehen, ist entweder verrückt oder Volkswirt.« Das macht den Charme dieser Bücher neben den klugen Texten aus: die originellen Details, Einsprengsel und Anmerkungen, mal als Fingerzeig in einer Textblase oder als umkringelte Notiz, mal als kleiner Extrakasten. Hierzulande ist das Thema Wohnen und Eigentum brandaktuell. Bei unseren Nachbarn ist das kein Problem: »In den Niederlanden ist fast ein Drittel des Wohnraums im Besitz von Genossenschaften.« Und in Fernost, im Staat Bhutan, wurde 1972 statt des Bruttoinlandsprodukts ein Maß für das Buttoinlandsglück ins Leben gerufen – arm, aber glücklich. Seitdem veröffentlichen auch die Vereinten Nationen jedes Jahr den Weltglücksreport.
Grafiken, die wirklich informieren statt nur illustrieren
Und immer wieder wird deutlich, wie viel Psychologie in der Wirtschaft steckt. Damit sind wir bei dem sogar noch besseren der beiden Bände. Hier sind die Illustrationen nicht bloß illustrativ und lockern das Ganze hübsch auf. Sondern sie veranschaulichen und intensivieren die Informationen. Sie leiten den Blick und geben jeder Doppelseite eine besondere Dynamik. Sei es der Schneeballeffekt der Wissensbildung, der munter und immer größer werdend über die Seiten purzelt. Oder »Assoziationen, die typisch sind für das menschliche Bewusstsein«, dargestellt in einem Apfel. Es sind keine Infografiken im üblichen Sinn, also so typische wie langweilige Törtchen und Balkendiagramme mit mehr oder weniger sinnvollen Relationen. Die Raffinesse der Illustrationen kommt auch bei den zahlreichen Porträts einflussreicher Köpfe zum Ausdruck. Prägende Charakteristika oder Theorien werden mit einfachen Symbolen versehen – zum Beispiel, ob jemand sich mit Phantomgliedern, Hunden oder Träumen beschäftigt hat, ein Künstler oder viel in Afrika unterwegs war. Aus diesen individuellen Piktogrammen als grobe Pixel setzt sich das Gesicht der Psychologin oder Verhaltensforschers zusammen. „Dieser erstaunliche Wirrwarr im Kopf macht uns zu dem, was wir sind“ lautet ein Zitat des britischen Neurowissenschaftler Colin Blakemore (zu dem im Anhang nicht verschwiegen wird, dass er Tierversuche befürwortet). Diese Bücher vergrößern das Wirrwarr aufs Beste, , »weil um etwas wirklich lernen zu können, müssen wir es verstehen«, wie schon am Anfang beim Thema Entwicklungspsychologie steht. Man kann sich nur wünschen, dass auch alle Schulbücher so lesenswert und lehrreich wären.
Marcus Weeks: Kernfragen Psychologie, Übersetzung: Edigna Hackelsberger, und Kernfragen Wirtschaft, Übersetzung: Ute Mareik, Dorling Kindersley Verlag, 2019, je 160 Seiten, je 14,95 Euro
Karbolsäure darüberkippen, wegschneiden, verstümmeln, verteufeln, auf ein Loch reduzieren – was ist es, das über Jahrhunderte Männer, leider auch einflussreiche, so ängstigte, dass sie es mit martialischen Mitteln bekämpften? Es ist die Vulva, das äußere weibliche Geschlechtsorgan, vom Maler Gustave Courbet auf seinem im facebook-Zeitalter erneut skandalisierten Gemälde „Ursprung der Welt“ genannt.
Und so nennt auch die schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist ihr furioses Porträt der Vulva, das Katharina Erben ins Deutsche übersetzt hat. Auf dem Einband posiert sie selbst, breitbeinig auf einer Bank sitzend, wuschelige, dunkle Haare auf dem Kopf (die wie ein hübsches Zitat Courbets wirken, auf dessen Bild man vor allem ein dichtes, großes Büschel Schamhaare sieht, nebenbei der Beweis, dass das Gemälde aus einem anderen Jahrhundert stammt) und die Hände dreiecksförmig im Schoß gehalten. Neben Strömquist lehnt eine Maschinenpistole – das Cover ist die perfekte Einstimmung auf ihr Buch: Strömquist schießt scharf, absolut treffsicher, und in rasantem Stakkato geht es durch die Geschichte der Menschheit und unzählige Absurditäten.
Mit wunderbar schwarzem Humor und genügend Selbstironie erzählt sie von der Wahrnehmung weiblicher Sexualität im Laufe der Zeit. Dass die Vulva fast nie beim Namen genannt wird, wenn dann eher veralbert oder beleidigt, meist schamvoll verschwiegen wird und alles, was mit ihr zusammenhängt, als peinlich gilt, ist nur ein Teil des Problems.
Schwerwiegender war, dass es genügend Männer gab, die geradezu besessen von der Vulva waren und sie für Teufelszeug und den Ursprung allen Übels hielten. Im Mittelalter wurden Frauen angesichts einer vorhandenen Klitoris zweifelsfrei als Hexen identifiziert – faktisch konnte also jedes weibliche Wesen mit dem Segen der Kirche gefoltert und verbrannt werden.
Strömquist hat Haarsträubendes, Gruseliges und schlicht Unglaubliches recherchiert und in wunderbar reduzierte schwarz-weiße Comicstrips umgesetzt. Zum Beispiel sendet die NASA Nachrichten an eventuelle außerirdische Lebensformen ins All und zeigt ein Paar, von dem einer am Penis zweifelsfrei als Mann zu identifizieren ist. Daneben steht ein merkwürdig asexuelles Wesen, gegen das eine Schaufensterpuppe voll Porno wirkt. Ursprünglich gab es in der Schamgegend noch eine angedeutete Linie. Doch auch die wurde eliminiert. Mit messerscharfem Witz denkt Strömquist die Botschaft der NASA zu Ende: Klassisch comiceske Außerirdische in Amöbenform mit mehreren Stielaugen und diversen Tentakeln wenden sich beim Anblick einer auch nur angedeuteten Vulva angewidert ab: „Igitt, darauf antworten wir nicht!“
Die Menschen hatten nicht immer so groteske Wahrnehmungsstörungen und Berührungsängste mit der Vulva: In der Steinzeit gab es hübsch explizite und verehrte Darstellungen in Form üppiger Fruchtbarkeitsgöttinnen. Und vor nicht allzu langer Zeit glaubte man, Frauen müssten einen Orgasmus haben, um überhaupt Kinder kriegen zu können. Weibliche Lust wurde also nicht als Bedrohung empfunden, sondern im Gegenteil geschätzt. Übrigens ist das mit dem Orgasmus und der Befruchtung gar nicht so falsch, durch die Kontraktionen von Beckenboden und Scheidenmuskulatur werden Spermien schneller Richtung Eizelle transportiert. Ärzte rieten damals instinktiv richtig bei Kinderwunsch zur Klitorisstimulation.
„Aber im späten 18. Jahrhunderts änderte das Bild der menschlichen Sexualität sich RADIKAL“, fährt Strömquist fort. Seitdem werden vor allem die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betont, ein perfides Instrument, um Frauen zu benachteiligen. Die Vulva, bestehend aus großen und kleinen Schamlippen, Klitoris, Harnröhrenmündung, Damm und Vagina wurde maximal auf letztere reduziert – ein Loch, das gefüllt werden muss. Selbst das Magazin „Der Spiegel“ schreibt in einer euphorischen Buchkritik, „Strömquist erzählt von der Vagina“. Oft ist auch nur von „Untenrum“ die Rede und ich habe auch schon modern und aufgeklärt wirkende Mütter mit ihren Töchtern über „Sand in der Mumu“ reden hören – ein Ausdruck, den Elyas M’Barek im fahrlässig unterschätzten Film „Fack ju Göhte“ ungläubig mit „das hast du jetzt nicht wirklich gesagt“ kommentiert.
Irgendwie setzt sich dieses krude Denken auch in unseren weiblichen Köpfen fort, besonders beim Thema Menstruation. Strömquist wurde übelst beschimpft wegen eines roten Flecks auf einer hübschen Plakatillustration. Der befand sich auf der Unterhose einer Eiskunstläuferin, die lächelnd mit hochgestrecktem Bein dahingleitet.
Die Hälfte der Bevölkerung menstruiert monatlich, es sollte also das Normalste der Welt sein. Trotzdem wäre uns zum Beispiel ein kleiner Blutfleck auf dem Sofa des Gastgebers tausendmal peinlicher als verschütteter Rotwein. Ein sehr anschaulich illustriertes Beispiel, mit dem Strömquist unser verqueres Verhältnis zum eigenen Körper entlarvt. Auch dass so genannte Hygieneartikel vor allem mit „Frische“ werben, als wäre die Monatsblutung schon mal per se unhygienisch und müsse mit einer Extraportion Frische vertuscht werden. Sehr verwunderlich – und absolut umwerfend – wie Strömquist uns mit wenigen Bildern die Augen öffnet.
Aberwitzig ist auch der ausnahmsweise farbig illustrierte Monolog Evas, nachdem sie von der Frucht der Erkenntnis gegessen hat und sich fortan schämt, für das, was sie ist: also für ihre Periode, zu große Schamlippen (würden Männer sich den Penis operativ verkleinern lassen? Bestimmt nicht! Außer vielleicht Dirk Diggler nach Ende seiner Karriere als Pornofilmstar), zu feucht zu werden …
Wie das exzellente Aufklärungsbuch „Sex“ sollte auch jeder Liv Strömquists außerordentlich kluges und brillantes Biologiebuch „Der Ursprung der Welt“ lesen und darüber reden: Vulvadialoge statt Vaginamonologe.
Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt, Übersetzung: Katharina Erben, avant Verlag, 140 Seiten, ab 14, 19,95 Euro
Laut einer aktuellen Studie im Auftrag der Krankenkasse AOK sind Arbeitnehmer, die ihre Arbeit als sinnvoll empfinden, nur halb so viele Tage im Jahr krank. Wobei sinnvoll bedeutet, dass man mit den Kollegen gut klarkommt und sich vom Arbeitgeber wertgeschätzt fühlt. Es heißt auch, dass man sich nicht jeden Arbeitstag fragt, warum man überhaupt hingeht und das Gehalt bestenfalls als Schmerzensgeld empfindet. Arbeit ist nicht nur für den Lebensunterhalt da. Sie kann auch krank machen; wesentlich häufiger, als dass sie glücklich macht.
Vor allem nimmt Arbeit aber einen Großteil unseres Lebens ein. Sie bestimmt unseren Alltag, unseren Lebensrhythmus, unser Umfeld. Grund genug für das Kollektiv Spring, sich in der neuen, jährlich im Sommer veröffentlichten Ausgabe ihrer gleichnamigen Anthologie-Reihe mit dem Thema Arbeit zu beschäftigen. Es gelingt den an diesem Magazin beteiligten 13 Zeichnerinnen, Illustratorinnen, Grafikerinnen und Comickünstlerinnen ganz famos, Arbeit in all seinen Spielarten und Facetten – und mit sämtlichen Nebenwirkungen – darzustellen. Wobei die Endung *innen diesmal nicht einfach nur politisch korrekt ist, sondern das 2004 in Hamburg gegründete Kollektiv tatsächlich nur aus Frauen besteht und inzwischen ein stabiles Netzwerk bildet.
Das ist wichtig und sinnvoll: Sei es, weil Frauen immer noch für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer. Und in Bereichen arbeiten, die die meisten Männer nicht mal mit der Kneifzange anfassen würden, weil sie viel zu wenig Geld einbringen. Dass Erzieherinnen oder Pflegerinnen viel mehr Geld verdienen (und das wortwörtlich) müssten, zeigt Carolin Löbbert in ihrer Strecke „Der Lohn der Arbeit: „Zeit, die ein deutscher Profifußballer ca. arbeiten muss, um sich einen VW Golf kaufen zu können: 1 Tag. Zeit, die eine Hebamme in Deutschland ca. arbeiten muss, um sich einen VW Gold kaufen zu können: 850 Tage.“ Eine sehr eingängige Verbildlichung des sogenannten „Gender Pay Gap“.
Überhaupt hängt mit Arbeit viel Ungerechtigkeit zusammen: Das zeigt der Spaziergang einer Comizeichnerin mit ihren eigenen Figuren durch den Hamburger Hafen. Der Reichtum der Stadt und westlichen Welt fußt auf Kolonialismus, Raub, Ausbeutung und Versklavung. Ironischerweise macht die auch nicht vor den selbstentworfenen Charakteren halt: Als die Comichelden auf Arbeitsrechte pochen, werden sie umgehend zensiert und sprechblasentot gemacht. Emsige, diskussionsfreudige Bienen finden sich in der Anthologie ebenso wie eine komplett wortlose Geschichte über den Alltag in Schlachthöfen, das Töten am Fließband und unsere verkorkste Tierliebe. Sehr überzeugend und umfassend, in eingängigen Plakaten zeigt Stephanie Wunderlich die Arbeit im Wandel der Zeit, von ora et labora über Karl Marx bis zum Generationenvertrag und der Automatisierung der Arbeit. Witzig zugespitzt setzt Katharina Geschwendtner lächerlich euphemistische Termini der modernen Arbeitswelt wie „Projektleiter“, „Influencer“, „Nehmerqualitäten“ und „Produktbindung“ in Szene. Gleich im Anschluss träumt Moki einen ebenso seifenblasengeschwängerten wie desillusionierenden Traum vom Tellerwäscher.
Katrin Stangl erzählt ein sehr erfrischendes Märchen vom Recht auf Faulheit. Dass aber selbst die raffinierteste Müßiggängerin irgendwann der Arbeit nicht entkommt, deutet das Schlussbild an, das gleichzeitig nebenbei einiges über Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern erzählt. Es illustriert auch hervorragend, wie vielsagend Zeichnungen sind, ganz ohne Worte. Und dass der Beruf der Illustratorin und Grafikerin soviel mehr beinhaltet, wie in Birgit Weyhes Selbstreflexion zum Titelthema: „Wie andere meine Arbeit sehen. (Mutter holt Tochter von der Schule ab.) Tochter: Heute sollten wir etwas über eure Arbeit schreiben. Ich habe geschrieben, dass du keine Arbeit hast, sondern nur zeichnest.“ Oder: „Sie sind Illustratorin? Wie nett, dann ist also Ihr Hobby Ihr Beruf.“ Kein Gedanke an den schwer zu bemessenden Wert von Inspiration und künstlerischer Arbeit, entsprechend schwierigen Honorarverhandlungen, die Unsicherheiten der Selbstständigkeit, Ansprüche von außen und an sich selbst.
Diese Ansprüche beschäftigen auch Larissa Bertonasco in ihrem Beitrag, der der letzte dieser Anthologie und der Höhepunkt ist. Bertonasco ist für ihre eher pastellfarbenen, gefälligen Illustrationen, vor allem von Kochbüchern, bekannt. Auffallend und den Stimmungswechsel versinnbildlichend ändern sich die Farben: Das zuvor vom Kollektiv abgesprochene, ins Auge springende Farbschema dieser Ausgabe aus leuchtendem Rot, Schwarz und Weiß wirkt wie unter einem Grauschleier liegend. Extrem reduziert und pointiert erzählt die aus Schwaben stammende Bertonasco vom Burnout. Ihr Leben schien geradezu perfekt zu sein: „… ich machte als Diplom ein Buch, welches sofort verlegt wurde und dessen erste Auflage in einem Monat ausverkauft war. (…) Es wurde eine ganze Küchenkollektion mit meinen Bildmotiven entworfen. (…) Ich bekam viele Aufträge, verkaufte Bilder, wurde eingeladen, zu Ausstellungen, Vorträgen, gab Interviews für Zeitschriften.“ Dazu noch zwei tolle Kinder und einen Vertrag mit einem „super Verlag, der mir alle künstlerischen Freiheiten ließ.“
Trotzdem Angst: „Ich bekam Schiss. Würde nun auffliegen, dass ich in Wirklichkeit absolut untalentiert und ohne Plan bin?“ Dieser Gedanke ist typisch weiblich, nur wenige Männer zweifeln an sich selbst, an ihrer „Performance“ – noch so ein sehr bezeichnender Neologismus.
Und dann der totale Zusammenbruch, nichts geht mehr: „Ein innerer Widerstand, gegen den Druck, den ich mir selbst andauernd machte, wurde immer größer. Eine grenzenlose Erschöpfung und unendliche Müdigkeit legte sich bleischwer über meinen Körper.“ Das ganze Programm: Konzentrationsstörungen, nächtlich Heulkrämpfe, unfähig, die einfachsten Sachen zu machen, den Alltag zu bewältigen, Selbsthass.
Ihren Burnout, die völlige Selbstzerstörung und den langen, quälenden Weg zurück ins Leben, das illustriert Larissa Bertonasco bewundernswert persönlich, schmerzhaft intensiv und schonungslos ehrlich.
Dieser „Comicstrip“ hilft mehr als jedes markige Lebensratgeberbuch. Und macht sehr deutlich, dass der Platz, den Arbeit in unserem Leben einnimmt, und der Nimbus, den sie in unserer Gesellschaft hat, viel zu groß ist.
Wie singt Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen sehr wahr und wunderbar lakonisch: „Arbeit ist ein Sechsbuchstabenwort“. Wenn es richtig gut läuft, dann kann Arbeit, wie Anne Vagt im Vorwort schreibt, eine armour fou sein. Aber das ist wirklich nur den wenigsten vergönnt und sollte man auch nicht erwarten.
Spring Nr. 15: Arbeit, Mairisch Verlag 2018, 228 Seiten, 20 Euro
In Zeiten, in denen politisch rechte Bewegungen mit dem Wort „Identität“ Stimmung machen, in Zeiten, in denen Genderfragen zum Wahn erklärt und Menschen mit unterschiedlicher Geschlechtsidentität im Netz mit Hasskommentaren überzogen werden, ist es dringend nötig, Aufklärung zu betreiben, die über das rein biologische Geschlecht hinausgeht.
Genau dies macht Philosoph Jörg Bernardy in seinem aktuellen Buch Mann Frau Mensch – Was macht mich aus? Dabei stellt er nicht die bei Philosophen klassische Frage: Wer bin ich? – sondern wandelt sie ab in: Wer kann ich sein? Und damit holt er die Leserschaft auf das riesige Feld von Identitäten und Rollen, die man als Mensch so annehmen kann. Denn der Mensch ist ein wandelbares Wesen, was allein schon durch seine verschiedenen Lebensabschnitte deutlich wird – doch auch in der vermeintlich so eindeutigen Frage des Geschlechtes gibt es weit mehr als nur das biologische. So muss das biologische oder soziale Geschlecht nicht notwendigerweise mit der eigenen Geschlechtsidentität übereinstimmen. Bernardy legt – für meine Begriffe feinfühlig (dies sage ich hier, weil ich als Cis-Frau momentan jeden Tag in Sachen trans etwas dazulerne und nicht sicher bin, wie trans Menschen dieses Buch finden würden) – die Facetten der Transgeschlechtlichkeit dar und sensibilisiert dafür, wie schwierig es ist, wenn das biologische Geschlecht nicht mit der eigenen Geschlechtswahrnehmung übereinstimmt, und das dies dann noch lange nichts mit sexueller Orientierung zu tun hat.
Männlich und weiblich werden so zu fließenden Begriffen, manchmal auch zu Etiketten, die das Umfeld einem aufdrückt, und mit denen man/frau sich womöglich gar nicht identifiziert. Und doch braucht jeder Mensch eine Identität, zu der er/sie/xier stehen kann. Und die einem Zugang zu bestimmten Gruppen ermöglicht. Denn der Mensch ist ein Herdentier und nicht gern allein.
Allerdings ist der Mensch auch von Furcht geprägt und versucht, sich von dem abzugrenzen, was ihm Angst macht. Zur Recht oder zu Unrecht. Was dann wiederum zu so widerwärtigen Szenen wie in Chemnitz führt, wo Menschen anderen Aussehens gejagt werden. Bei Bernardy heißt es: „Wer andere stigmatisiert, bestätigt seine eigene Normalität.“ Nur was ist denn normal? Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, als Selbstbestätigung und Selbstliebe, zu glauben, dass das, was einen selbst ausmacht, „normal“ ist, also die Norm, und somit auf alle anderen zutreffen muss. Was für ein Irrtum.
Bernadys Buch, das neben seinen Texten auch künstlerische Innenansichten – Fotos, Comic, Poetry Slam, Überlegungen – von anderen Autor_innen und Künstler_innen liefert, ist eine Fundgrube für das Nachdenken über uns selbst und die Art, wie wir in dieser Gesellschaft mit anderen zusammenleben wollen. So erörtert er auch die Gleichberechtigung und die Unzulänglichkeit der deutschen Sprache, die – bislang – nur zwei Geschlechter kennt und die individuelle Geschlechtsidentität nicht kennt.
So ist Mann Frau Mensch ein Plädoyer für die menschliche Vielfalt, die uns wahrscheinlich alle extrem bereichern würde, wenn wir nur nicht so kleingeistig an überkommenen Kategorien hängen würden.
Damit das in den kommenden Generationen weniger passiert hat Beltz & Gelberg, bei dem auch Bernardys Buch erschienen ist, bereits vergangenes Jahr das Kindersachbuch Ich so Du so – Alles super normal des Labor Ateliergemeinschaft herausgebracht. Zehn Künstler_innen und Autor_innen haben darin in Wort und Bild ihre Ideen versammelt, was die Vielfalt des Lebens als Mensch ausmacht. Und was „normal“ eigentlich bedeuten soll.
Da werden Sitten und Gebräuche hinterfragt (Warum ein Osterhase und keine Osterziege? Warum geben wir uns die Hand zur Begrüßung und greifen uns nicht an die Nasen?), ein Normal-o-Meter hilft bei der Beurteilung des eigenen Lebens (Wie normal ist … mein Humor/meine Familie/mein Verhalten etc.). Unzählige Bildergeschichten u.a. von Philip Waechter und Anke Kuhl zeigen die Unterschiede zwischen Kindern, Freunden, Eltern, Großeltern, Menschen aus vergangenen Zeiten oder aus anderen Ländern. Sie offenbaren Stereotypen und Klischees (Jungenfarbe/Mädchenfarbe), lassen Märchen anders enden, erzählen von Menschen mit Behinderungen, von Kurzsichtigkeit und Körpergröße.
Zudem kommen Kinder aus der ganzen Welt zu Wort, die von ihrem Alltag berichten. So eröffnen sich den jungen Leser_innen andere Welten, in denen sie aber durchaus Ähnlichkeiten mit ihrem eigenen Leben finden können – nämlich wie wichtig Familie und Freunde überall auf der Welt sind, ganz egal, wie viel man hat oder was man so is(s)t.
In diesem quietschbunten Sammelsurium lässt es sich hervorragend blättern, immer bleibt man an irgendetwas Neuem und Interessanten hängen. Und sieht schließlich die eigene Umgebung und die Menschen darin mit ganz neuen Augen. Zu Recht ist dieses Buch daher für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 in der Sparte Sachbuch nominiert.
Die Vielfalt, die hier und bei Bernardy gefeiert wird, dürften hoffentlich so nachhaltig wirken, dass von denen, die diese Bücher lesen, niemand auf so seltsame Gedanken kommen wird, wie sie von rechten Populisten gerade viel zu laut verbreitet werden.
Jörg Bernardy: Mann Frau Mensch – Was macht mich aus?, Beltz & Gelberg, 2018, 160 Seiten, ab 14, 16,95 Euro
Labor Ateliergemeinschaft: Ich so Du so – alles super normal, Beltz & Gelberg, 2017, 176 Seiten, ab 9, 16,95 Euro
„Über Sex, genau, dieses Thema: SEX, SEX, SEX … Es wird Zeit, die Dinge endlich beim Namen zu nennen.“ Genau das tut die spanische Bloggerin Chusita Fashion Fever in ihrem Buch Sex – was du schon immer wissen wolltest – klar, direkt, unverblümt, schamlos, lustvoll und erfrischend. Gleich zu Anfang stellt sie klar: „Lass die Finger von diesem Buch, wenn du keine Lust hast, über Sex zu reden.“
Genau darum geht’s: Über alles reden, was irgendwie mit Sexualität zu tun hat. Es ist schon erstaunlich: Heute scheint alles übersexualisiert – und ebenso prüde. Körper sollen nicht nur perfekt geformt sein. Das gängige Schönheitsideal ist auch irritierend asexuell und kindlich androgyn: komplett haarlos, absolut reine Haut, geruchsfrei, zyklusunabhängig und nicht menstruierend oder andere Flüssigkeiten absondernd, athletisch, symmetrisch, straff, fest, allzeit bereit.
Nur offen und ehrlich miteinander über Sex zu reden, Unwissen und Ängste zu offenbaren, das traut sich im Alltag kaum einer. Das ist nur uncool und peinlich. Was man selbst die besten Freunde nicht zu fragen wagt, das schafft man in der Anonymität des Internets. Chusita hat angefangen mit einem YouTube-Kanal über Mode. Aber ihre Abonnenten, über 270.000 mittlerweile, wollten vor allem Ratschläge über Sex und Gefühle,
So entstand ursprünglich die Rubrik „Ich an deiner Stelle“ und jetzt dieses Buch: mit viel Knallorange, illustriert im Mangastil, unterteilt in kompakte Kapitel wie zum Beispiel „Lust“, „Flirten“, „Orgasmus“, „Und noch mehr Küsse“, „Oralsex“, aufgelockert mit endlich mal sinnvollen Tests zur Selbsteinschätzung, Dialogfenstern, poppigen Einschüben, kennzeichnenden Emojis, akzentuierten Textfeldern. So sind beispielsweise „nette Nebeneffekte der Selbstbefriedigung“: „Baut Spannungen und Ängste ab, verbessert Wohlbefinden und Laune, vermindert Menstruationsbeschwerden“. In der Rubrik „Lügenmärchen“ räumt Chusita mit Mythen auf, zu Penisgröße, Jungfräulichkeit, Traumprinzen und Idealbeziehungen, Homosexualität oder auch „beim Sex muss man laut schreien“: „Im Kino vielleicht. Ob jemand laut stöhnt oder schreit oder nicht, ist etwas, was sich von selbst ergibt“.
Chusita macht klar: Sex ist soviel mehr als Penetration. Sex soll sich gut anfühlen. Alles, was Lust bereitet und niemandem schadet ist okay. Sex ist bei jedem, mit jedem und jedes Mal anders. Und vor allem: „Fall nicht auf Pornos rein. Sex im realen Leben ist etwas völlig anderes als der, den du im Fernsehen und in Filmchen siehst, weil dort alles total übertrieben ist! Vergleich dich bloß nicht damit!“ Ebenso hilfreich und wissenswert ist, was man beim Sex bitte niemals tun sollte: „Über deine Fehler oder die deines Partners sprechen, ein Selfie machen, während man miteinander schläft, schmutzige Wörter mit Schimpfwörtern verwechseln.“ Chusita lässt nichts aus und nennt alles beim Namen: Vulva, Vagina, Klitoris, Penis, Eichel, Hoden, ohne Albernheiten und Euphemismen. Es ist auch immer nur einfach und quasi geschlechtsneutral vom „Partner“ die Rede, egal ob Mädchen und Junge, Mädchen und Mädchen, Junge und Junge. Das hat sich selbst der Verlag in seiner Ankündigung nicht getraut, wo von „***innen“ die Rede ist.
Und Ilona Einwohlt hat es geradezu kongenial ins Deutsche übersetzt, so dass es wirklich nie peinlich ist, sondern immer total interessant und spannend. Man kann der Autorin, bürgerlich Maria Jesus Carna Anton, nur zustimmen: Hätte man dieses Buch bloß schon als Teenie gehabt! Umso besser für diejenigen, die jetzt Teenies sind und „Dies ist kein Sexbuch“, so der Originaltitel, lesen können. „Kein Sexbuch“, weil es jedes Klischee umgeht, mutig und selbstbewusst macht – und einfach totalen Spaß bereitet, also wie Sex sein sollte.
So sehr Ilona Einwohlt als Übersetzerin brilliert, so wenig überzeugt sie als Autorin. Dabei ist die Ausgangssituation ihres Buchs für Leser ab elf Jahren Gucken verboten! Das (fast) geheime Aufklärungsbuch ganz reizvoll. Paul und Pia, beide elfeinhalb, sind allerbeste Freunde, obwohl Mädchen und Jungen das angeblich nicht sein können. Und sie können auch wirklich über alles reden, nicht so direkt … Paul kommt durch seine große Schwester auf die Idee eines gemeinsamen Tagebuchs, in das sie wechselseitig reinschreiben, über nervende Penis- und Brustgrößenvergleiche schimpfen, von ersten Masturbationsversuchen erzählen, über Pickel, Schamhaare und Geruch räsonieren, Kondome ausprobieren, ersten Samenerguss und erste Menstruation beschreiben, also alles, was Fast-Teenager zwangsläufig so beschäftigt in dem Alter. Katharina Vöhringers bunte Illustrationen zum Thema sind überwiegend sehr nett und witzig.
Aber sprachlich überzeugt dieser Dialog, eigentlich eine Art Briefroman, leider nicht. So reden und schreiben Jugendliche in dem Alter nicht, selbst, wenn sie mutig genug sind, sich so zu offenbaren. Besonders deutlich wird dies ziemlich am Anfang, als Pia versucht Paul zu erklären, was ein Orgasmus ist, nachdem sie es sich selbst angelesen hat in einem hinten im Bücherregal versteckten Buch eines Sexforschers: „Ich schreib es mal mit meinen Worten auf, wie ich es verstanden habe. Wenn zwei Menschen sich ganz dolle lieb haben …“ Bei „dolle“ hört es bei mir schon auf. Das sagen höchstens Kinder in den Elbvororten oder München Grünwald, und die heißen nicht Paul und Pia sondern Karl-Ludwig und Helene-Charlotte und selbst die meinen es ironisch! Wie charmant dagegen bei Chusita, anschaulich übersetzt von Einwohlt: „Woran du einen Orgasmus erkennst: Du bekommst ein unglaublich intensives Gefühl im Genitalbereich, alles zuckt und bebt … Atmung und Herzschlag werden schneller …“
Einwohlt kann sich in ihrem Aufklärungsbuch nicht entscheiden, ob es eher klassisch aufklärt, also vor allem über Sexualität im Allgemeinen, Entwicklung, Geschlechtsreife, Verhütung schreiben will, dazu passt auch die parallele Schwangerschaft von Pauls Au-pair Matilda und einige lehrbuchmäßige Darstellungen. Oder ob es eben ein Sexbuch sein soll, wo Fortpflanzung eher nebensächlich ist und es um alles das geht, was nicht im Anatomieatlas und Physiologiebuch steht. Wahrscheinlich weil Einwohlt fürchtet, ihr noch sehr junges Publikum zu überfordern und sie vor allem kritische und besorgte Eltern nicht vor den Kopf stoßen will, greift sie auch sprachlich daneben: Das inflationär verwendete Wort „Pimmel“ zum Beispiel klingt nur unreif und albern. Ein Highlight gibt’s trotzdem: „Kotzgurke“ kann man durchaus in den eigenen Wortschatz übernehmen. Insgesamt ist dieses Aufklärungsbuch zu textlastig geraten.
In Sex steht tatsächlich drin, „was du schon immer wissen wolltest“. In Einwohlts Aufklärungsbuch leider nicht, dafür von einigem Uninteressantem und nicht wirklich Neuem eindeutig zu viel.
Chusita Fashion Fever: Sex – was du schon immer wissen wolltest, Übersetzung: Ilona Einwohlt, cjb, 2018, 160 Seiten, ab 14, 15 Euro
Ilona Einwohlt: Gucken verboten! Das (fast) geheime Aufklärungsbuch, Illustrationen: Katharina Vöhringer ()Sauerländer, 2017, 120 Seiten, ab 11, 15 Euro
Wie Illustrator und Autor Dieter Braun wohne auch ich im Flachland, bin mit weitem Horizont und Sandstrand unter den Füßen aufgewachsen. Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – faszinieren mich die Berge. Einmal im Jahr muss ich in die Berge fahren, um diese Sehnsucht zu stillen. Dann reicht es mir aber auch wieder.
Dieter Braun hingegen hat sich so lange und so intensiv mit den Bergen auseinandergesetzt, dass nun ein wunderschönes Sach-Bilderbuch dabei herausgekommen ist.
Dieter Braun ist bekannt für seine einzigartigen geometrisch geprägten Illustrationen – z.B. in den Büchern Die Welt der wilden Tiere– im Süden und im Norden. Aus Kreisen, Drei- und Vielecken, den Vektoren im Programm Illustrator, kreiert Braun Tiere, Landschaften, Gegenstände. Ausführlich hat er im Juni über seine Arbeit auf der Facebook-Seite „Was mit Kinderbüchern“ von Stefanie Leo berichtet und aus seinem Alltag als Illustrator berichtet, der hauptsächlich am Computer arbeitet.
Das mag im ersten Moment sehr unsinnlich klingen, doch das, was bei Braun dann herauskommt ist so betörend, dass man sich seinem Werk kaum noch entziehen kann.
In Die Welt der Berge streift er zusammen mit dem Betrachter durch die Alpen, erklärt die Höhenstufen der dortigen Vegetation, zeigt die Tiere, die in den verschiedenen Gebirgen der Welt leben, z.B. das Dallschaf in Alaska oder das Guanako in Südamerika. Er erklärt, wie die Gebirge entstanden sind und warum es keinen Berg höher als 9000 Meter auf der Erde geben kann.
Neben den ganz natürlichen Zuständen der Berge verweist Braun jedoch auch auf den Einfluss des Menschen und wie sehr dieser über die Jahrhunderte die Berge geformt und gestaltet hat.
Braun hält sich dabei thematisch nicht an ein vorgegebenes Schema oder eine Chronologie, von den Alpen geht es zu den Sandbergen der Wüste, vom Uluru in Australien blättert man um und landet bei Pinguinen und Eisbären. Kleine Leser_innen brauchen da vielleicht ein bisschen Unterstützung in der geografischen Einordnung, doch macht gerade diese Abwechslung das Buch zu einer wahren Wundertüte der Berggeschichten, sodass man automatisch anfängt vor- und zurückzublättern. Man liest sich an den kurzen Texten und den Info-Kästen fest und staunt.
Man staunt sowohl dabei über die Inhalte, als auch über die farblich so harmonisch abgestimmten und wohlkomponierten Illustrationen, die sich zumeist über die gesamte querformatigen Doppelseite erstrecken und quasi ein Cinema-Scope-Panoramabild liefern, in dem man schon fast meditativ versinken kann (okay, das ist jetzt die Erwachsenen-Begeisterung!).
Das junge Publikum bekommt auf jeden Fall ein aufschlussreiches Sammelsurium über Flora und Fauna der Bergwelten, lernt fremde Orte auf unserem Planeten kennen, erfährt aber auch Handfestes über die Skiausrüstung und das Alpinklettern. Denn auch wenn die Berge faszinieren, können sie zu einem gefährlichen Terrain werden – wenn man sich eben nicht auskennt und nicht den gehörigen Respekt gegenüber der Natur und ihren Gewalten aufbringt. Das steht in diesem Buch, das von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher 2018 gekürt wurde, zwar nicht im Vordergrund, sickert aber mit jedem Lesen und Schauen weiter ins Bewusstsein.
Und abgesehen davon, dass man Die Welt der Berge nicht mehr aus der Hand legen möchte, weckt es die Reiselust – in die Berge.
Dieter Braun: Die Welt der Berge, Knesebeck, 2018, 94 Seiten, ab 8, 20 Euro
Vergangene Woche wurden auf der Leipziger Buchmesse die Nominierungen für den diesjährigen Jugendliteraturpreis bekanntgegeben. Für mich ist es nach 2016 nun zum zweiten Mal eine Freude mit einer Übersetzung aus dem Italienischen nominiert zu sein. Der Dominoeffekt von Gianumberto Accinelli, mit den wunderschönen Illustrationen von Serena Viola, hat es auf die Shortlist der Sparte Sachbuch geschafft.
Da ich den Dominoeffekt im vergangenen Jahr hier gar nicht vorgestellt habe, hole ich das nun kurz nach. In 18 Kapiteln erzählt der italienische Insektenforscher kuriose und eindrucksvolle Geschichten über das Zusammenspiel von Mensch und Natur. Anschaulich beschreibt Accinelli die umfassenden und nachhaltigen Auswirkungen, die entstehen, wenn der Mensch in die Natur eingreift.
Dabei geht es nicht nur um heutige Eingriffe, sondern vor allem auch um solche, die zum Teil hunderte von Jahren zurückliegen, und deren Auswirkungen die Bewohner Australiens beispielsweise heute noch spüren.
Faktenreich erzählt Accinelli von unterschiedlichsten Spezies: da gibt es die giftigen Frösche in Panama, die unkontrollierbaren Kaninchen in Australien, die Malariamücken auf Borneo, die überfischten Kabeljaubestände im Nordatlantik, schlaue Tauben und falsche Perserkatzen.
Viel kann man hier lernen, vor allem jedoch bekommen große und kleine Leser_innen ein Gespür dafür, wie sehr auf unserer Erde alles miteinander verknüpft ist. Genau dies besagt auch der Untertitel, der die wörtliche Übersetzung des italienischen Originaltitels ist: Die unsichtbaren Fäden der Natur. In diesem Sinne ist das Buch von Accinelli ein Augenöffner, das zeigt, dass Globalisierung nicht nur im Bereich der Wirtschaft (nicht) funktioniert, sondern auch die Ökosysteme so heikel austariert sind, dass der unwissende Mensch mit seinen oftmals merkwürdigen, weil egozentrischen Ideen unglaublich viel Schaden anrichten kann. Im Grunde wünscht man sich, dass dieses Buch die kommenden Generationen zu mehr Achtsamkeit, Zurückhaltung und Respekt im Umgang mit Tieren, Pflanzen und ihrem und unserem Lebensraum anleitet. Es wäre ein Buch, dass im besten Fall die Welt tatsächlich verändern könnte.
Für mich als Übersetzerin war die Arbeit an diesen Geschichten eine große Bereicherung, denn auch ich war mir über viele Zusammenhänge und Auswirkungen so nicht im Klaren. Rein arbeitstechnisch bedeutete das Übersetzen hier aber auch jede Menge Recherche. Zum einen, um die Fakten noch mal genau zu checken und auch um die richtigen Ausdrücke, Namen und Zusammenhänge zu finden. Und sie dann in eine gut lesbare Sprache zu bringen.
Umso mehr freue ich mich jetzt natürlich, dass all diese Arbeit von Gianumberto Accinelli, Serena Viola, die ganz wunderbar leichte, künstlerische Illustrationen und durchlaufende Fäden beigesteuert hat, und mir nun mit der Nominierung für den Jugendliteraturpreis gewürdigt wird.
Neben dem Dominoeffekt sind noch 28 weitere Bücher nominiert, die ihr hier nachschauen könnt. Ich möchte in diesem Rahmen nur noch kurz darauf hinweisen, dass Elke von Berkholz und ich so einige von den Nominierten im Laufe des vergangenen Jahres hier vorgestellt haben. Nämlich aus der Sparte Bilderbuch:
Grododo von Michael Escoffier und Kris di Giacomo, übersetzt von Anna Taube.
Aus der Sparte Jugendbuch fand sich auf LETTERATUREN Angie Thomas mit The Hate U Give, in der Übersetzung von Henriette Zeltner, das dieses Mal auch von der Jugendjury nominiert wurde.
Sachbuchtechnisch haben wir zudem das Werk von Katharina von der Gathen und Anke Kuhl, Das Liebesleben der Tiere, empfohlen.
Was mich dann immer besonders freut, sind die Nominierungen der Jugendjury. Hier gab es allein drei Bücher, die auch wir hier präsentiert haben. Wie gesagt, Angie Thomas, dazu Der Junge auf dem Berg von John Boyne.
Und schließlich noch Johannes Herwigs Bis die Sterne zittern – auch wenn ich da einige Kritik anzubringen hatte.
Die übrigen Nominierten werden wir hier im Laufe des Sommers, bis zur Verleihung der Preise auf der Frankfurter Buchmesse vielleicht noch vorstellen.
Allen Nominierten ganz herzliche Glückwünsche! Es wird ein Fest im Oktober!
Gianumberto Accinelli: Der Dominoeffekt oder Die unsichtbaren Fäden der Natur, Illustrationen: Serena Viola, Übersetzung: Ulrike Schimming, Sauerländer, 2017, 128 Seiten, ab 10, 19,99 Euro
Heute vor 75 Jahren wurden Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst im Gefängnis Stadelheim in München hingerichtet, nachdem sie vier Tage zuvor verhaftet und innerhalb kürzester Zeit in einem Schauprozess zum Tode verurteilt worden waren. Sophie war da gerade einmal 22 Jahre alt, Hans war 25 und Christoph 24. Junge, kluge Menschen. Und wahrscheinlich ist es gerade auch das, was uns neben ihren Texten und Aktionen heute noch immer so beeindruckt und berührt. Denn trotz ihrer Jugend waren die drei, die mit ihren weiteren Freunden zur Widerstandsbewegung Die weiße Rose gehörten, sehr viel klarer und entschlossener in ihrem Willen, etwas gegen das Unrechtsregime der Nazis zu tun, als vermeintliche Erwachsene. Innerhalb kürzester Zeit, vom Sommer 1942 bis Frühjahr 1943, taten sie in sechs Flugblättern ihren Abscheu gegen das Regime kund, riefen zu passivem Widerstand und Sabotage auf, klagten den Massenmord an den Juden an und erkannten, dass ein föderales Staatssystem für Deutschland das einzig richtige wäre. Während die Widerständler der Wehrmacht um Graf Stauffenberg noch zögerten, klagte die Jugend aus München an und ging „grad und frei durchs Leben“, im vollen Bewusstsein der tödlichen Konsequenzen, die ihr Handeln haben könnte und schließlich hatte. So sind sie auch ein Dreiviertel Jahrhundert nach ihrem Tod immer noch Vorbild und Mahner.
Ich habe mit 14 die sechs Flugblätter der Weißen Rose zum ersten Mal gelesen, in dem Buch der Scholl-Schwester Inge, das zu den Klassikern in Bezug auf die Veröffentlichungen zur Widerstandsgruppe gehört und Anfang der 1950er Jahre herauskam. Mag man heute der 1998 verstorbenen Inge Scholl auch Befangenheit vorwerfen, so ist für mich ihre Nähe zu den Geschwistern doch ein wichtiger Aspekt und ihr Text ein Dokument, das durch die zeitliche Nähe an den damaligen Geschehnissen auch heute noch besticht.
Für einen differenzierteren Blick auf Sophie eignet sich ein weiterer Klassiker, das preisgekrönte Jugendsachbuch Das kurze Leben der Sophie Scholl von Hermann Vinke, ausgezeichnet mit den Jugendliteraturpreis. 1980 hat er Inge Scholl und Fritz Hartnagel, Sophies Freund, zum Interview getroffen, dazu Weggefährten wie Traude Lafrenz, Otl Aicher und andere. Er lässt sie alle zu Wort kommen und zitiert aus den Tagebüchern von Sophie und Willi Graf. So entsteht ein vielschichtiger Bericht von Sophies Kindheit und Jugend, von ihrer künstlerischen Begabung, ihrer Lebensfreude – und wie sich im Laufe weniger Jahre aus einem BDM-Mädel ein kritischer Geist entwickelte.
Wer sich auf bildlicher Ebene der Vorzeigefigur der Weißen Rose nähern will, kann seit 2015 auch zur Graphic Novel von Heiner Lünstedt und Ingrid Sabisch greifen. Auf wenigen Seiten zeigen Autor und Illustratorin die prägenden Momente in Sophie Scholls Leben und legen für die Darstellung ihres Charakters vor allem ihre Briefe an Fritz Hartnagel zugrunde.
Sophies unnachgiebige Haltung setzen Lünstedt und Sabisch überzeugend in Szene, sodass Jugendliche, die vielleicht nicht ganz so gerne dicke Bücher lesen, hier zumindest einen elementaren Einstieg in das Thema der Weißen Rose findet.
Bei der Masse der Publikationen, die seit Jahren auf dem Markt sind, bleiben diese drei Empfehlungen natürlich nur eine kleine Auswahl. Erstaunlich finde ich, dass mir bis jetzt noch kein Roman über die Weiße Rose untergekommen ist. Mag sein, dass ich ihn übersehen habe (bitte klärt mich auf, falls es einen Roman gibt), doch außer den Verfilmungen (Die Weiße Rose, 1982, und Sophie Scholl – Die letzten Tage, 2005, es gibt noch ein paar andere, die ich jedoch nicht kenne) fehlt mir eigentlich eine romanhafte Erzählung, die über eine sachliche Biografie hinausgeht.
Was es jedoch in Sachen Widerstand der Jugend im NS-Regime momentan gibt, ist der Debütroman Bis die Stern zittern von Johannes Herwig. Darin geht es um die sogenannten Meuten von Leipzig, lockere Jugendgruppen, die sich gegen die staatlich aufgezwungenen Organisationen wie HJ und BDM stellen.
Held von Herwigs Roman ist der 16-jährige Harro, der im heute so coolen Stadtteil Connewitz lebt und mit eben diesen HJ-Leuten nicht klar kommt. Viel lieber hängt er mit der Swing-Jugend ab, die Lederhosen, weiße Kniestrümpfe und Karo-Hemden tragen, und bei der auch die Mädchen mal in kurzen Hosen auftauchen. Die Clique fällt auf und eckt an. Doch sie lassen sich erst einmal nicht abschrecken, prügeln sich mit den Regimetreuen und hängen schließlich sogar eine Glosse gegen die Nazis in Schaukästen auf.
Herwigs Verdienst ist es, dass er mit diesem Buch den Fokus auf eine bis heute ziemlich unbekannte Widerstandsbewegung lenkt. Das ist unzweifelhaft wichtig.
Persönlich hat mir bei der Lektüre dieses Erstlingswerk ein bisschen das Lektorat gefehlt, gibt es doch ziemlich viele schräge Vergleiche („Ich klappte den Mund auf und zu wie ein Wolf.“, S. 121, „Sein Blick stach wie ein Bajonett.“, S. 122) und unstimmige Bilder. Diese wirken mir zu gewollt literarisch und gleiten dann manchmal ins unfreiwillig Komische ab, vor allem, wenn sich die Körperteile verselbständigen („Meine Innereien rannten nach oben, nach unten, zur Seite.“, S. 100, „Meine Augen folgten den Ohren.“, S. 127). Hier musste ich mich etwas zusammenreißen, das Buch nicht gleich wieder wegzulegen – denn es packt einen doch und die Erinnerung an die Meuten ist einfach ein zu wichtiges Puzzleteil im Komplex des jugendlichen Widerstands, zu dem auch die Kölner Edelweißpiraten gehören.
Bleibt zu hoffen, dass die heutige Jugend früh genug mit den verschiedenen Formen des Widerstands bekannt gemacht wird, um selbst eine Haltung zu beziehen. Denn wir können leider nicht mehr sagen: „Wehret den Anfängen!“ – dazu sind die Rechtspopulisten und -radikalen schon wieder viel zu salonfähig geworden. Vielmehr sollte es heute wieder heißen: „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen; die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!“
Inge Scholl: Die Weiße Rose, Fischer Verlag, 16. Auflage 2013 (1952), 208 Seiten, 7,95 Euro
Hermann Vinke: Das kurze Leben der Sophie Scholl, Ravensburger, 20. Auflage 2017 (1980), 219 Seiten, ab 14, 7,99 Euro
Heiner Lünstedt: Sophie Scholl. Die Comic-Biografie, Illustration: Ingrid Sabisch, Knesebeck, 2015, 56 Seiten, 29,95 Euro
Johannes Herwig: Bis die Sterne zittern, Gerstenberg Verlag, 2017, 240 Seiten, ab 14, 14,95 Euro