[Jugendrezension] Seelenverwandte

sky

Du hast die Hälfte unserer Gaben, ich die andere …

Finding Sky ist der erste Band der Trilogie „Die Macht der Seelen“ von Joss Stirling. 2013 war das Buch für den Deutschen Jugendliteraturpreis der Jugendjury nominiert.

Hauptperson ist die 16-jährige Sky Bright. Als Kleinkind wurde sie auf einer Autobahn-Raststädte gefunden, ohne Erinnerungen, nicht einmal ihren Namen wusste sie. Sky hat ihre Vergangenheit zum größten Teil verdrängt – bis sie mit ihren Adoptiveltern nach Wrickenridge in Colorado zieht. Dort trifft sie auf Zed. Er ist das Gegenteil von der schüchternen Sky, ein richtiger „Bad Boy“, aber irgendwie fühlt sich Sky zu ihm hingezogen. Das wandelt sich jedoch in Furcht um, als sie plötzlich seine Stimme in ihrem Kopf hört …

Zunächst dachte ich, Finding Sky wäre ein Liebesroman. Beim Lesen stellte ich jedoch fest, dass es um mehr geht. Der Roman ist gut geschrieben, die Dialoge sind witzig und geistreich und die Sprache sehr lebendig. Joss Stirling schafft es, die Figuren zum Leben zu erwecken. Die schüchterne Sky, die freche Tina, der charmante Zed … alle haben etwas Liebenswertes an sich. Man begleitet Sky durch einen Teil ihres Lebens, freut sich und leidet mit ihr. Die Musik ist ein wichtiger Teil ins Zeds und Skys Leben, das hat mir als Hobbymusikerin natürlich gut gefallen.
Die Handlung ist spannend, besonders zum Ende gibt es einige überraschende Wendungen und die Geschichte nimmt noch einmal an Fahrt auf.

Finding Sky ist eine spannende, paranormale Liebesgeschichte mit bezaubernden Hauptpersonen. Es ist außerdem ein Buch, das Jugendliche und Erwachsene lesen können. Für jeden ist etwas dabei!

Juliane (14)

Joss Stirling: Die Macht der Seelen – Finding Sky, Übersetzung: Michaela Kolodziejcok,
Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2013, Kategorie: Preis der Jugendlichen.  DTV, 2012, 459 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Haustier-Chaos

drachenHaustiere machen glücklich, heißt es. Das kennt man von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Vögeln und durchaus auch Fischen. Aber kann man das auch von Drachen sagen?

Der etwa 9-jährige Edward in dem Roman Drachensitter von Josh Lacey hat da so seine Zweifel. Sein Onkel Morton hat seinen Drachen bei ihm abgegeben und ist in den Urlaub verschwunden. Eine „Pflegeanleitung“ hat er nicht dagelassen. Und nun benimmt sich das Urzeitvieh ziemlich rüpelhaft: Es frisst den Kühlschrank leer, brennt Löcher in Gardinen und Teppiche, hinterlässt Kackhäufchen in Schuhen. Alles ziemlich unschön.
In seiner Verzweiflung schreibt Edward seinem Onkel E-Mails und bittet um Hilfe. Doch Onkel Morton ist wie vom Erdboden verschluckt – und bis er sich nach gefühlten hundert Mails endlich meldet, geht es der Nachbarkatze an den Kragen, wird der Briefträger in die Flucht geschlagen und die Feuerwehr rückt an. Edwards Mutter sammelt derweil alle Quittungen der zerstörten Dinge, die sie sich von ihrem Bruder ersetzen lassen will. Dabei ist der Drache mit einem relativ einfachen Snack zu zähmen …

Josh Laceys kurzer Roman gehört zum Genre humoristische E-Mail-Geschichten, bei denen jede Mail mit einem frechen Schwarzweißbild von Gary Parsons illustriert ist. Die kurzen Mails lassen sich gut vorlesen, sind aber auch für Erstleser in der klaren, einfachen Übersetzung von Anu Stohner gut geeignet. Edwards Abenteuer mit seinem Drachen-Haustier sind kurzweilig, wundervoll lustig und ein ganz charmanter Leserspaß für Jungs.
Und wer dann noch nicht genug hat von Drachen und ihren Eigenarten: Teil zwei, Der Drachensitter hebt ab, kommt schon in den nächsten Tagen in die Buchläden und verspricht genauso vergnüglich zu werden …

Josh Lacey: Der Drachensitter, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrationen: Garry Parsons, Sauerländer, 2013, 64 Seiten,  ab 6, 9,99 Euro

Sichtbar machen


mobbing
Für den Menschen, der zur Spezies Homo Sociales gehört, ist eine der schlimmsten Pein vermutlich das Nicht-Gesehen-Werden. Mobbing-Opfer, die nirgendwo Hilfe finden gegen ihre Peiniger, werden im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. So jedenfalls geschieht es im Debütroman Operation Unsichtbar von Helen Endemann.

Eines Tages bemerkt der 12-jährige Nikolas, dass er für seine Umwelt unsichtbar geworden ist. Niemand sieht ihn mehr. Nicht die Schulkameraden, die ihn sonst in der Pause immer quälen, noch die Eltern, die vor allem mit der kleinen Schwester beschäftigt sind. Nikolas kann sich nicht erklären, wie es dazu gekommen ist. Vor allem, dass seine Eltern nicht über ihn reden, ihn nicht vermissen, nicht nach ihm suchen, wundert und bedrückt ihn ganz besonders. Zu Hause sieht ihn nur die kleine Schwester, die aber noch nicht reden kann. Nikolas fühlt sich dort überhaupt nicht mehr wohl. Er kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, die übrige Zeit verbringt er in der Schule. Dort ist wenigstens etwas los. Er besucht unterschiedliche Klassen und sucht sich die interessantesten Lehrer und Fächer heraus. Nachmittags geht er ins Kino – und genießt wenigstens für eine kurze Weile den Vorteil, nicht gesehen, also auch nicht kontrolliert zu werden.

Eines Tages stellt Nikolas fest, dass es noch mehr unsichtbare Kinder an der Schule gibt. Vier von ihnen wohnen sogar dort im Keller. Er freundet sich mit Alice an, die bereits seit zwei Jahren unsichtbar ist. Sie wird immer schwächer, isst immer weniger, hat Schwierigkeiten schwere Türen zu öffnen. Manchmal taucht um die Unsichtbaren ein bedrohliches kaltes blaues Licht auf, und sie scheinen endgültig zu verschwinden. Die Jugendlichen sind ratlos, ob und wie sie wieder sichtbar werden können. Einer der Jungen hält es schließlich nicht mehr aus und stürzt sich vom Schuldach. Seine Leiche ist dann plötzlich für die Umwelt wieder sichtbar. Der Schock sitzt tief, bei den Unsichtbaren wie bei den Sichtbaren.

Mit der Zeit stellt Nikolas fest, dass immer wenn er starke Gefühle empfindet, er für empfindsame, aufmerksame Lehrer sichtbar wird. So bemerkt ihn schließlich die Religionslehrerin – und organisiert Hilfe.

Helen Endemann hat in ihrem Debüt das schwierige Thema Mobbing durch die Kombination mit dem fantastischen Element der Unsichtbarkeit zu einem richtig gehenden Page-Turner gemacht. Diese Unsichtbarkeit ist natürlich ein offensichtliches Symbol für die Folgen von Mobbing, doch es ist eingängig und überzeugend dargestellt, so dass sich das Fantastische fast wie selbstverständlich in einen realen Schulalltag fügt. Als Leser nimmt man Endemann diese großartige Idee sofort ab und verfolgt mit wachsender Spannung die Entwicklung von Nikolas und den anderen unsichtbaren Kindern.

Den Ausweg, den die Autorin liefert, orientiert sich an realen Konflikt-Lösungsstrategien, die an manchen deutschen Schulen tatsächlich schon durchgeführt werden. Neben der pädagogischen Absicht, Jugendliche für das Thema Mobbing zu sensibilisieren, sie davor zu schützen und sie davon abzuhalten, kommt somit auch für erwachsene Leser ein Lerneffekt hinzu. Man erfährt in Grundzügen, wie man Mobber möglicherweise ausschalten und den Mobbing-Opfern helfen kann. Dass die Mobber selbst zum Teil aus problembelasteten Familien kommen und auf eine andere Art selber leiden, vergisst Endemann dabei auch nicht.

Ein wichtiger Aspekt in diesem Roman ist zudem der Glaube. Nikolas glaubt an Gott und zieht aus Bibelgeschichten Hoffnung. Ihm gegenüber steht Alice, die trotz atheistischem Zweifel dennoch auf einen guten Ausgang der Geschichte hofft und die Zeit bis dahin mit Unterricht nutzt. Endemann flicht hier das Thema Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit des Menschen in Krisensituationen, geschickt in die Geschichte ein. Sie zeigt, dass sowohl der Glaube, als auch ein starkes Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche Wege sein können, Hindernisse im Leben zu meistern.

All diese vielen Schichten der Geschichte machen Operation Unsichtbar auch zu einer passenden Schullektüre, die den Lehrern eine spannende Geschichte an die Hand gibt, die die Schüler mit Sicherheit bis zur letzten Seite lesen werden. Diskussionsstoff gibt es danach jede Menge.
Der Höhepunkt des Romans ist zudem so anrührend und filmreif geschrieben, dass man heulen möchte … vor Glück.

Helen Endemann: Operation Unsichtbar, Brunnen-Verlag, 2013, 192 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Das Leben ist ein magisches Wunschkonzert

wünscheApril scheint ein ausgesprochener Büchermonat zu sein. Neulich sind die Warum?-Darum!-Bände in meiner Übersetzung erschienen, heute ist Welttag des Buches und morgen erscheint meine nächste Übersetzung, die ich im Rahmen der Aktion Blogger schenken Lesefreude vorstelle und verlose: 99 und (m)ein Wunsch von Erica Bertelegni.

Die 13-jährige Aurora wohnt in Rom, ist eine absolute Leseratte und entdeckt eines Tages, als sie auf der Suche nach neuer Lektüre ist, eine magische Buchhandlung. Damit sie das Geheimnis der magischen Parallelwelt nicht verrät, schlägt ihr die Herrscherin des Zauberreiches einen Handel vor: Für Auroras Schweigen erhält sie die Fähigkeit 100 Wünsche zu erfüllen. Wohlgemerkt, zu erfüllen – nicht erfüllt zu bekommen. Sie muss nur mit den Finger schnippen, sich auf den Wunsch, den jemand in ihrer Umgebung geäußert hat, konzentrieren, und schon geht er in Erfüllung. Nur den letzten der 100 Wünsche darf sie sich selbst erfüllen.

Nach anfänglicher Begeisterung merkt Aurora schnell, wie und was man sich im Laufe eines Tages alles wünschen kann. Ganz bewusst oder aus reiner Unachtsamkeit. Und so sind es nicht immer schöne und angenehme Wünsche, wie fliegen, tanzen, eine Klassenreise nach Paris, die sie erfüllen muss. Da fällt dann auch schon mal der Strom aus, ihr wachsen Hörner, eine Schulkameradin fällt in einen Brunnen oder der kleine Bruder nervt.
Doch bei all dem merkt Aurora immer mehr, was sie eigentlich vom Leben will, was ihr wichtig ist und wie schrecklich sie manchmal das Verhalten ihrer Freunde und Mitschüler findet. Und sie entdeckt die Liebe …

Das, was dieses Buch besonders macht, ist die Autorin. Die Italienerin Erica Bertelegni hat diese Geschichte als 13-Jährige geschrieben – und das ist eine Leistung. Sie selbst wohnt in Norditalien und hat sich die Geschichte nach einem Besuch in Rom ausgedacht. Dann hat sie sich hingesetzt und sie aufgeschrieben. Was für Erwachsene schon keine Selbstverständlichkeit ist, weil man für das Schreiben jede Menge Disziplin und Durchhaltevermögen braucht, ist für eine 13-Jährige umso beeindruckender. Konsequent und mit klaren Vorstellungen hat Erica Bertelegni ihr Konzept durchgezogen und zeigt dabei den ganz unverfälschten Blick eines Teenagers auf ihre Altersgenossen. Sie berichtet von vorpubertären Albernheiten, Wünschen, Träumen und Verwirrungen um die erste Liebe, spart aber auch nicht mit Kritik an angepassten und oberflächlichen Mitschülern.

99 und (m)ein Wunsch ist leichte, frische Unterhaltung für Mädchen ab 10, die eine Portion Magie enthält und den jungen Leserinnen zeigt, dass man nicht alles mitmachen muss, was die Schulkameraden toll finden. Das hat Erica Bertelegni mit ihren jungen Jahren erstaunlich hellsichtig erkannt und ganz reizend in diesem Roman umgesetzt.

Erica Bertelegni: 99 und (m)ein Wunsch, Übersetzung: Ulrike Schimming, Fischer KJB, 2013, 400 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

 

PS: Wer an der Verlosung von Erica Bertelegnis 99 und (m)ein Wunsch teilnehmen möchte, hinterlasse bitte bist zum 30. April, 12 Uhr, hier unten einen Kommentar. Vielleicht erzählt Ihr mir, welches Euer Lieblingsort in Rom ist?

PPS: Der Fischer Verlag unterstützt diese Aktion mit weiteren Exemplaren – ich werde also 5 x 99 und (m)ein Wunsch verlosen…

Entzückerstoff

zorgamazooEpen sind in unserer Zeit zu einer Seltenheit geworden. Außer man hegt eine Leidenschaft für die Klassiker und greift zur Ilias oder zur Odyssee. Doch es gibt Hoffnung für die Freunde von gereimten Geschichten: Robert Paul Weston hat mit Zorgamazoo ein modernes, frisch-freches Epos geschaffen, das Uwe-Michael Gutzschhahn in bewunderungswürdiger Weise ins Deutsche übertragen und nachgedichtet hat.

Zorgamazoo erzählt die Geschichte des Mädchens Katrina Katrell, die eines Tages auf den wuscheligen, aber liebenswürdigen Zorgel Mortimer Yorgel trifft. Ein Zorgel ist ein pelziges Fantasiewesen aus der Unterwelt. Morty arbeitet bei der Zorgel-Zeitung „Underwood Telegraph Rumor Review“ und soll das Verschwinden der Bewohner des Zorgel-Dorfes Zorgamazoo aufklären. Doch Morty ist alles andere als ein investigativer Reporter. Er hasst das Abenteuer und würde lieber nur  von den Zorgelball-Spielen berichten.

Katrina hingegen ist auf der Flucht vor ihrer fiesen Ziehmutter, die ihr am liebsten das Hirn herausoperieren lassen würde. Das Mädchen fasst Vertrauen zu dem netten Morty und macht sich mit ihm zusammen auf die Suche nach den verschwundenen Zorgeln. Schon nach kurzer Zeit finden die beiden heraus, dass alle fantastischen Wesen der Erde entführt wurden – und werden selbst auf den Mond verschleppt. Dahinter stecken die Bewohner des Planeten Grauballon-Vier. Auf diesem Planeten funktioniert alles mit Langweilerdampf. Doch der Rohstoff geht zu Ende und neue Quellen müssen her. Dafür soll die Langeweile auf der Erde erhöht und dann abgepumpt werden, also müssen dort erst mal alle Fantasiewesen verschwinden. Katrina jedoch gelingt es, die Wesen – Seejungfrauen, Trolle, Zorgel, Kobolde, Feen, Yetis und das Loch-Ness-Monster – zu befreien. Aus der Absaugermaschine für Langweilerdampf macht sie ein Gerät für die Produktion von kunterbunten Entzückerstoff-Gas und bringt alle wieder auf die Erde zurück.

Das Feuerwerk der Fantasie, das in diesem Epos abgebrannt wird, sucht seinesgleichen. Fantastische Welten und fantastische Wesen drängen in den grauen Alltag. Katrina als aufgeweckte, mutige Heldin nimmt ihrem schüchternen Zorgel-Freund die Ängste. Mit ihrer Liebe für alles Ungewöhnliche und Fantastische macht sie unmissverständlich klar, dass die Welt eine bessere und buntere ist, wenn auch andere Wesen in ihr leben dürfen.  Zorgamazoo ist ein klares Plädoyer für mehr Fantasie im Alltag. Daran mangelt es uns manchmal wirklich sehr, wenn man sich so umschaut. Gleichzeitig ist Zorgamazoo für mich in seinem Subtext ein Bekenntnis für Vielfalt und Diversity, quasi ein Appell für Multikulti und die Akzeptanz des Fremden. Auch daran mangelt es in diesem Land immer noch.

Verpackt ist diese an sich schon entzückende Geschichte in konsequent gereimte Verse. In seiner Nachdichtung bedient sich Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn bei den unterschiedlichsten Sprachregistern. Da wird schon mal ganz antiquiert „gewamst“ (geprügelt), aber auch ziemlich derbe geflucht oder vom „Lotto-Boss“, „Superhelden“ oder „Job“ gesprochen. Alte Sprache trifft hier auf neue; und was in anderen Texten nicht funktionieren würde, passt hier perfekt zusammen. So zeigt sich die Vielfalt und Buntheit auch in der Sprache und führt zu knuffigen Reimen in einem mitreißenden Rhythmus.

Graphisch ist der Text eine Augenweide: Verschiedenste Schrifttypen unterstreichen die Charaktere der Figuren, hüpfende und mäandernde Worte und Zeilen ziehen den Leser auf einer rasanten Achterbahnfahrt durch das Buch und machen jede Seite zu einem neuen, spannenden Leseerlebnis. Die Illustrationen des Spaniers Victor Rivas an den Kapitelanfängen runden alles zu einem höchst amüsanten Gesamtkunstwerk ab.

Am Ende der Lektüre bleibt ein wunderschöner Effekt zurück: Der Singsang der Reime begleitet einen durch den ganzen Tag – und die Welt wird bunt von diesem Entzückerstoff.

Doch so ein Entzückerstoff entsteht nicht von selbst – hinter der deutschsprachigen Variante von Zorgamazoo steckt unglaublich viel Arbeit, das Herzblut und die Disziplin des Übersetzers. Damit sich jeder Leser ein etwas genaueres Bild von dieser Leistung machen kann, habe ich Uwe-Michael Gutzschhahn zur Entstehung seines Textes befragt.

Herr Gutzschhahn, wie ist Ihre Nachdichtung entstanden: Haben Sie zuerst eine Rohfassung ohne Reime angefertigt? Oder haben Sie gleich in Reimform gearbeitet?
Nein, ich habe von der ersten bis zur letzten Zeile sofort gereimt, anders geht es nicht. Wenn ich erst den Inhalt übersetzt und dann versucht hätte, die Form zu finden, wäre ich nicht mehr frei gewesen, eine deutsche Reimfassung herzustellen. Ich hätte den ganzen Wust an Dingen, den Robert Paul Weston im Englischen leicht in einer Zeile unterbringt, in einem komplizierten deutschen Satz gehabt, der sich nicht mehr hätte schrumpfen lassen. Das heißt, man muss von Zeile zu Zeile spielen, wo eine Reimmöglichkeit auftaucht, und dann den Inhalt hineinsortieren.

Haben Sie sich auf das epische Format irgendwie vorbereitet, z.B. durch die Lektüre von anderen Epen?
Es gibt ja nicht viele neuere gereimte Romane. Und die alten Epen haben einen ganz anderen Rhythmus, eine ganz andere Metrik. Ich bin mit Balladen und allen anderen Arten von Gedichten vertraut, insofern war das eher der Zugang, nicht irgendeine romanlange gereimte Form. Das muss man einfach probieren, und dann braucht es ein musikalisches Gespür, einen Sinn dafür, wie sich Sätze in eine Form geben, wie sie klingen, ein Tempo bekommen, einen Rhythmus.

Zorgamazoo ist – für mich – kein Text, den man stundenlang runterschreiben kann. Wie sind Ihre Verse entstanden? Nur am Schreibtisch? Oder auch im Park, im Auto, unter der Dusche …
Um ehrlich zu sein, indem ich Tag für Tag stundenlang am Schreibtisch gesessen und sozusagen runtergeschrieben habe. Ohne diese Disziplin wäre es nicht gegangen, wäre ich wahrscheinlich immer noch bei den ersten zwanzig Seiten.

Wie sehr ist der Originaltext mit Wortspielen durchsetzt, die nicht übertragbar waren?
Jeder – auch ganz prosaische – literarische Text ist mit unübersetzbaren Wortspielen gespickt. In einem Buch wie Zorgamazoo hat man durch die strenge metrische Form sowieso den Zwang, auswählen zu müssen, welches die unverzichtbaren Teile des Textes sind und welches die entbehrlicheren. Denn die deutsche Sprache läuft länger, es gibt anders als im Englischen wenig einsilbige Wörter. Sie brauchen für jede Aussage des Originaltextes in der Übersetzung mehr Platz, also müssen Sie umgekehrt reduzieren, denn die Form einschließlich der Zeilenzahl pro Seite war ja vorgegeben und unverrückbar. Dass für ein Erzählgedicht, eine Ballade am ehesten ein vierhebiger Takt in Frage kommt, ist schon für das Tempo der Geschichte wichtig. All das muss man im Kopf haben und dann dort ein Wortspiel nutzen, wo es sich ergibt. Das ist vielleicht ein paar Verse später oder ein paar Verse früher als im Original, aber es muss funktionieren, darf nicht erzwungen wirken. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass man mehr Wort- oder auch Reimspiele findet als im Original stehen, dann habe ich mir die Freiheit erlaubt, das Spiel weiterzutreiben.

Wie frei haben Sie sich vom Original machen müssen, machen können?
Inhaltlich ist die Übersetzung natürlich identisch mit der Originalversion von Robert Paul Weston. Wie ich aber einen Weg finde, die Geschichte auf Deutsch zu erzählen, sodass sie glaubhaft in die gereimte Form passt, das ist immer eine Frage der Abwägung. Mein Bestreben ist es, so nah wie möglich am Originaltext zu bleiben. Jeder noch so kleine Eingriff muss begründet sein, muss sich gegenüber der Geschichte rechtfertigen lassen. Nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch gut passen würde, gehört es nicht in die Übersetzung hinein.

Im deutschen Text treffen die unterschiedlichsten Sprachregister aufeinander – alte Sprache trifft auf ganz aktuelle Ausdrücke, es wird derbe geflucht: War das im Original auch so oder ist das ein „Zugeständnis“ an die Reimform?
Nein, genau das meine ich, wenn ich sage, nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch passt, gehört es nicht in die Übersetzung. Die verschiedenen Sprachebenen sind auch im Englischen da. Und im Englischen kann man noch viel variantenreicher derb sein als im Deutschen.

Gab es außer den Reimen weitere Schwierigkeiten?
Die ganz üblichen, die man immer als Übersetzer hat. Vor allem, dass man im Deutschen vieles nicht so einfach und knapp formulieren kann wie im Englischen.

Wie lange haben Sie an der Übersetzung gearbeitet?
Vier Monate.

Wie viele Durchgänge haben Sie gebraucht, bis die Endfassung stand?
Acht Durchgänge plus zwei mit meinen Lektoren.

Wie sind Sie für den Text honoriert worden: pro Zeile, pro Strophe, pro Seite?
Pauschal und mit Hilfe einer Übersetzungsförderung durch das Canada Council for the Arts.

Haben Sie irgendwann in Reimen geträumt?
Nein.

Robert Paul Weston: Zorgamazoo, Nachgedichtet von Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Victor Rivas, Jacoby & Stuart,  2012, 285 Seiten, ab 10, 16,95 Euro

Die Bibel für Hobbitologen

Bildgewaltige Kinoerlebnisse werfen ihre Schatten voraus. Peter Jackson hat abgedreht, und am 13. Dezember dieses Jahres kommt der erste Teil seiner Hobbit-Verfilmung in unsere Kinos. Der Trailer im Netz verspricht bereits wieder großartige Unterhaltung.

Um sich die Zeit bis dahin entsprechend zu verkürzen und das Abenteuer von Bilbo Beutlin, den Zwergen, Gandalf und dem Drachen Smaug schon vorab zu lesen (falls man das noch nicht getan hat), kann man sich jetzt in die annotierte Fassung von John R.R. Tolkiens Der Hobbit vertiefen. Neben dem kompletten Text, in der Übersetzung von Wolfgang Krege, finden sich in dem opulent aufgemachten Buch alle wichtigen historischen Informationen zu dem Werk selbst.

Douglas Anderson, renommierter Tolkien-Forscher, referiert die Entstehungsgeschichte des Textes, er umreißt Tolkiens Biografie und zeigt auf, was davon in dem Text Eingang gefunden hat. Ebenso zeichnet er die Verlagsgeschichte des Buches nach, nennt Auflagenzahlen und verweist auf Rezensionen und Rezeption.

Tolkiens Text begleiten dann unzählige Anmerkungen, farblich in petrolblau abgesetzt, die über Hobbitkunde, den berühmten ersten Satz („In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“), das genaue Aussehen des kleinen Helden, Tolkiens Skizzen und Bezüge zu Der Herr der Ringe informieren. Zeichnungen, Stiche, Illustrationen und Faksimiles aus anderen internationalen Übersetzungen bereichern die Lektüre. Im Innenteil finden sich die farbigen Cover der deutschen Hobbit-Ausgaben.

Die Übersetzerin und Editorin der Anmerkungen, Lisa Kuppler, hat zudem einen Abriss über die Verlagsgeschichte des Hobbits in Deutschland beigesteuert. Hierin erfährt man auch, wie Tolkien auf den von ihm, für eine geplante deutsche Ausgabe 1938, geforderten Arier-Nachweis reagiert hat – nämlich brillant und scharfzüngig. Es ist eine wahre Genugtuung, dass dieser Brief, der nie nach Deutschland geschickt wurde, so endlich auch der breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde.

Das Buch ist folglich ein aufschlussreiches und gelungenes Muss für alle Hobbitologen und Fans von Bilbo, Smaug und Gandalf.

Lisa Kuppler, begeisterter Tolkien-Fan, hat mir ein paar Fragen zu diesem umfangreichen und kleinteiligen Übersetzungsprojekt beantwortet.

Wie sind Sie zum Hobbit gekommen? Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen?

Wie wahrscheinlich die meisten, habe ich den Hobbit mit 12, 13 Jahren gelesen, Mitte der 70er Jahre. Ich bin über den Herrn der Ringe zu Tolkien gekommen, und als ich die drei Bände durch hatte, habe ich alles verschlungen, was es sonst noch aus der Welt von Mittelerde zu lesen gab. Der Hobbit war mein zweites Tolkien-Buch.

Was macht für Sie die Faszination der Hobbit-Geschichte aus?

Als jugendliche Leserin war der Hobbit für mich immer die Vorgeschichte zu den Ereignissen des Herrn der Ringe: Wer ist dieser Bilbo Beutlin? Wie ist er zu dem Einen Ring gekommen, den nach ihm Frodo trägt? Was hat der Ring mit ihm gemacht? Das waren die Fragen, die mich interessierten. Wenn ich den Hobbit heute lese, fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie wir Leser mit Bilbo auf diese seltsame Reise gehen, zusammen mit der kuriosen Truppe an Zwergen und Gandalf. Heute kann ich den Humor des Hobbits viel mehr schätzen. Und die große moralische Entscheidung, die Bilbo am Ende des Buches treffen muss, wenn er Bard und dem Elbenkönig den Arkenstein bringt, um Frieden zwischen den Menschen und den Zwergen zu erzwingen.

Ist der Hobbit eigentlich immer noch ein Kinderbuch? Oder liegt hier ein ewiges Missverständnis vor?

Ja, der Hobbit ist immer noch ein Kinderbuch. Dass man ihn auch mit 30, mit 40 und wahrscheinlich auch noch mit 70 Jahren mit Freude immer wieder lesen kann, und dabei etwas Neues daran entdecken – das ist es, was den Hobbit zu einem Klassiker macht.

Das Missverständnis, der Hobbit sei „eigentlich“ ein Buch für Erwachsene, kommt daher, dass man in Deutschland von Kinderbüchern einerseits eine deutlich erzieherische Botschaft erwartet, andererseits Kinder vor so genannten Erwachsenenthemen „schützen“ will. Kinderbücher werden hierzulande als eine spezielle Art von Literatur gesehen. Tolkien betrachtete seine Bücher als Märchen, als „fairy tales“, die er für Leser jeden Alters schrieb, die Geschichten liebten und sich auf das Eintauchen in eine Fantasiewelt einlassen wollten. Er steht damit in der Tradition von Lewis Carrolls Alice im Wunderland oder auch Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden. Ihm ging es um das Spielerische – vor allem mit Sprache und literarischen Traditionen – und das Fantasieren im „Experimentalraum Buch“, was für Tolkien kein Eskapismus war, sondern ein für jeden Menschen notwendiger Freiraum.

Worin lagen die Schwierigkeiten, diese z.T. sehr kleinteiligen Annotationen zu übersetzen?

Eine Herausforderung bei der Übersetzung waren die vielen unterschiedlichen Textformen der Anmerkungen, die Douglas Anderson akribisch zusammengetragen hat: Das Große Hobbit-Buch enthält Lexika-Einträge, Zitate aus Sekundärliteratur, Biografien und den Briefen Tolkiens, Werbe- und Rezensionstexte, mittelalterliche Gedichte, isländische Märchen, Romanauszüge, Passagen aus etymologischen und linguistischen Abhandlungen usw. usw. Als Übersetzerin war es meine Aufgabe, die verschiedenen Stile und Textformen überzeugend ins Deutsche zu übertragen.

Im Großen Hobbit-Buch werden einige Romane und Märchen zitiert, die Tolkien beeinflussten – das in Deutschland weitgehend unbekannte Märchen Puss-cat Mew oder E. A. Wyke-Smiths The Marvellous Land of Snergs – die noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Hier konnte ich also auf keine publizierten Übersetzungen zurückgreifen.

Darüber hinaus sind im Großen Hobbit-Buch Gedichte von Tolkien abgedruckt, die zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht werden. Der Verlag hatte sich entschlossen, diese Gedichte sowohl im englischen Original als auch in einer Prosaübersetzung (also nur dem Inhalt nach, nicht in Gedichtform) abzudrucken. Ich war für die Prosaübersetzungen verantwortlich, was sehr aufregend war.

Eine andere Herausforderung lag darin, dass es im Deutschen zwei Übersetzungen des Hobbit gibt, die eine davon zudem noch in zwei recht unterschiedlichen Fassungen. Da die meisten Leser den Hobbit nur auf Deutsch kennen, war es mir ein Anliegen, auch auf Unterschiede oder Kuriositäten in den Übersetzungen hinzuweisen. So wurden zum Beispiel die Orks in der ersten Hobbit-Übersetzung noch „Kobolde“ genannt, und die Sackheim-Beutlins, Bilbos missgünstige Verwandten, hießen dort noch „Beutelstadt-Baggins“.

Spannend zu übersetzen waren für mich alle Anmerkungen, in denen auf die englischen Wortursprünge und Worthintergründe eingegangen wird. Dort habe ich versucht, zusätzlich deutsche Entsprechungen und Ergänzungen zu finden, speziell auch beim Rätselspiel zwischen Bilbo und Gollum. Ich war überrascht, wie viele deutsche Rätselsammlungen es gibt, in denen Worträtsel zu finden sind, die denen, die Tolkien im Hobbit verwendet, sehr ähnlich sind.

Wie rechercheaufwendig war die Arbeit an der Übersetzung?

Das Große Hobbit-Buch war von vornherein nicht nur als bloße Übersetzung von Douglas Andersons Buch geplant, sondern es sollte auch speziell für die deutsche Leserschaft editiert werden. Deshalb ist in diese Übersetzung einiges mehr an Recherche geflossen als üblich.

Eine Besonderheit des Großen Hobbit-Buches sind die vielen Hobbit-Illustrationen, die das Buch bebildern. Douglas Anderson hat Kurzbiografien der Tolkien-Illustratoren zusammengetragen, und dabei ihre im englischen Sprachraum wichtigsten Werke aufgeführt. Die meisten dieser englischen Ausgaben sind nie ins Deutsche übersetzt worden. Wo immer möglich habe ich nun Andersons Angaben ergänzt um deutsche Titel, die ebenfalls von den jeweiligen Illustratoren bebildert wurden. Allein schon diese Ergänzungen waren mit sehr viel Recherchearbeit verbunden.

In der Mitte des Großen Hobbit-Buches befindet sich ein Bildteil, der in der deutschen Ausgabe um elf Cover von deutschen Hobbit-Ausgaben erweitert wurde. An die Cover der zum Teil nur noch teuer antiquarisch zu erstehenden Ausgaben bin ich nur durch die Mithilfe des Projekts Deutsche Tolkien-Bibliographie, einer Gruppe von Fans und Buchliebhabern, gekommen, die alle jemals in Deutschland erschienene Hobbit-Ausgaben sammeln.

Einiges an Recherche war auch für das Nachwort nötig, in dem ich die Veröffentlichungsgeschichte des Hobbits in Deutschland skizziert habe. Ich habe drei Interviews geführt, vor allem um die Hintergründe der Ost-West Doppel-Edition des Hobbit von 1971 herauszubekommen, die so vorher noch nicht bekannt waren.

Welche Annotation oder Anekdote im Buch ist Ihre liebste?

Ich kann mich kaum für eine Lieblings-Anmerkung entscheiden. Alles ist interessant. Doch besonders faszinieren mich die Anmerkungen zum Kapitel 5 „Rätsel im Dunkeln“, in denen Douglas genau die Änderungen nachvollzieht, die Tolkien erst 1951 im Text des Hobbit korrigierte. Die Erstausgabe des Hobbit von 1937 war, in Bezug auf Gollum und die Ereignisse von Kapitel 5, noch anders als die Fassung, die wir heute lesen. Tolkien selbst hat hier 14 Jahre nach dem Erscheinen des Hobbit Revisionen vorgenommen, weil er inzwischen am Herr der Ringe schrieb, und die Handlung angleichen wollte. Mich fasziniert dabei, wie sich die Geschichte im Buch in der Publikationsgeschichte spiegelt: Die Erstfassung des Hobbit von 1937 entspricht der nicht ganz wahrheitsgetreuen Geschichte Bilbos, die er zuerst den Zwergen auf die Nase bindet; die Fassung des Hobbit von 1951 entspricht der Geschichte vom Ringfund, wie er sich wirklich zugetragen hat. Heute wären solche Änderungen an einem schon längst erschienen Buch einfach nicht mehr möglich.

Eine Anekdote, die in einer Fußnote der Einführung erzählt wird, hat mich sehr beeindruckt. Sie vermittelt schlaglichtartig etwas vom Alltagsleben des Autors Tolkien, der immer mit Geldsorgen zu kämpfen hatte. 1938 erhielt Tolkien einen Kinderbuch-Preis, der von der New York Herald Tribune gestiftet wurde und mit 250 US-Dollar dotiert war. Das Preisgeld wurde ihm per Brief geschickt, und seine Kinder John und Priscilla erinnern sich noch eindrücklich daran, wie Tolkien das Geld aus dem Brief nahm, um es seiner Frau Edith zu reichen, die damit eine ausstehende Arztrechnung begleichen konnte.

Auf welche Anmerkungen hätten Sie gern verzichtet?

Es gibt keine einzige Anmerkung, die ich gerne gestrichen hätte; im Gegenteil: Manche editorische Notiz Douglas‘ – also Hinweise auf rein sprachliche Korrekturen in den englischsprachigen Ausgaben – hätte ich am liebsten auch noch mit ins Große Hobbit-Buch aufgenommen, obwohl das für deutsche Leser vielleicht langweilig gewesen wäre oder aus Platzgründen unmöglich. Immer, wenn in solchen Notizen Inhaltliches eine Rolle spielte, habe ich sie übersetzt. So zum Beispiel Anmerkung 9 im Kapitel 1, wo Douglas berichtet, dass in der Erstausgabe des Hobbit noch von bösen Gerüchten die Rede war, der eine oder andere Tuk hätte vor Urzeiten einmal in eine Ork-Familie eingeheiratet. In der Ausgabe von 1966 wurde dieser Satz gestrichen, es blieb das Gerücht, ein Vorfahre der Tuks müsse wohl einmal eine Elbin geheiratet haben.

Welche fehlt Ihrer Meinung nach?

Wenn Weihnachten 2013 beide Verfilmungen des Hobbit in den Kinos laufen, könnte man natürlich auch die Film-Interpretation und Informationen zur filmischen Adaption in den Anmerkungsapparat zum Hobbit einbauen. Es ist also definitiv noch Material da für Überarbeitungen und Ergänzungen des Großen Hobbit-Buchs.

War es nicht manchmal auch ein bisschen dröge nur die Anmerkungen einzudeutschen? Hätten Sie nicht viel lieber den Hobbit selbst neu übersetzt?

Ganz ehrlich: nein. Es gibt zwei Hobbit-Übersetzung, die unterschiedlich sind, aber beide auf ihre Art sehr gut. Es braucht keine neue, dritte Hobbit-Übersetzung, und wenn, dann erst in fünfzehn, zwanzig Jahren.

Ich habe mit viel Begeisterung die Einführung und die Anmerkungen übersetzt. Aber bei jedem Originalgedicht Tolkiens, für das ich eine Prosaübersetzung angefertigte, hätte ich mir ein paar Tolkienkenner zur Seite gewünscht, mit denen ich Wortwahl und Bedeutung diskutieren hätte können. Ich habe riesigen Respekt für Tolkiens Lyrik-Übersetzer, allen voran Ebba-Margareta von Freymann, die die Gedichte im Herrn der Ringe übersetzte. Da nie alle Gedichte des Hobbit vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, hat der Verlag für das Große Hobbit-Buch Joachim Kalka beauftragt, der noch fehlenden Strophen wundervoll ins Deutsche übertragen hat.

Gibt es ein weiteres Tolkien-Projekt auf Ihrem Schreibtisch?

In enger Zusammenarbeit mit dem Lektor Stephan Askani vom Klett-Cotta Verlag habe ich gerade die Übersetzung des Herrn der Ringe von Wolfgang Krege auf Fehler durchgesehen und behutsam korrigiert. Das war ein äußerst spannendes Projekt, weil wir zwar Fehler beseitigen, aber den besonderen und eigenwilligen Ton und Stil Kreges erhalten wollten. Die Neuausgabe wird im Herbst erscheinen.

John R. R. Tolkien: Das große Hobbit-Buch. Der komplette Text mit Kommentaren und Bildern. Herausgegeben von Douglas Anderson, Übersetzung: Wolfgang Krege, Übersetzung und Edition der Anmerkungen: Lisa Kuppler, Klett-Cotta, 2012, 418 Seiten, 29,95 Euro

Mohnschnecke ahoi!

die wilden PiroggenpiratenWenn man so darüber nachdenkt, wie die Helden und Protagonisten in Romanen beschaffen sind, so sind es doch in der Mehrzahl Menschen, die die unterschiedlichsten Abenteuer erleben. Manchmal gehören die Figuren zu fantastischen Spezies wie Feen, Vampiren, Hobbits oder Engeln. Treten Tiere als Akteure auf, sprach man früher von Fabeln. Doch spätestens seit Lewis Carrols Alice im Wunderland oder Rudyard Kiplings Dschungelbuch können Tiere auch jenseits von belehrender Absicht Geschichten erzählen.

Ganz selten findet man Gemüse und Obst als Romanhelden. Gianni Rodari brachte 1951 Le Avventure di cipollino (Zwiebelchen) heraus, in dem ein Zwiebeljunge seinen Zwiebelvater aus dem Gefängnis befreien will und sich gegen die Ungerechtigkeiten der Welt auflehnt.

Bei meiner Recherche stieß ich dann noch auf Philippe Bertrands Der Krieg der Gemüse, in dem sich das Grünzeug die Köpfe einschlägt. Falls es weitere Romane mit essbaren Helden gibt, bitte ich um Aufklärung, aber mir ist beim Grübeln über dieses Thema schließlich nur noch Bernd das Brot eingefallen. Aber der ist TV-Star und kein Romanheld.

Mit diesem Exkurs möchte ich auf ein wirklich einzigartiges Buch aufmerksam machen, deren Protagonisten zur Gattung des Backwerks gehören. Ja, richtig gelesen: Backwerk. Also Krapfen, Laib Brot, Mohnstrudel, Honigkuchen, Eclair, Empanada, Wan Tan, Piroggen, Pelmen, Pumpernickel, Zwieback und was die Backstube noch so hergibt. Der lettische Autor Maris Putnins muss eine große Leidenschaft für Gebäck hegen, denn er lässt diese Leckerbissen in einer absolut wahnwitzigen Abenteuergeschichte agieren, in: Die wilden Piroggenpiraten.

Mohnschnecke Eloise aus Murseille, Tochter von Mohnstrudel und einer Wiener Mohnpotitze, ist eine gute Partie. Der Angestellte des Vaters, Eclair, ist rettungslos in sie verliebt. Doch eines Tages funkt das arrogante Hörnchen in Eclairs Liebesbemühungen und lädt Mohnschnecke auf seine Yacht ein. Diese wird von Piroggenpiraten geentert, Mohnschnecke entführt, Hörnchen über die Planke geschickt. Glücklicherweise landet der Schnösel in Eclais Ruderboot und kommt noch mal davon.

Was nun folgt, ist eine verwickelt komische Rettungsaktion: Eclair macht sich umgehend auf die Suche nach der Geliebten, schließt sich dafür sogar den erfolglosen Pelmen an und lässt nichts unversucht. Hörnchen wird von seinem geschäftstüchtigen Vater ausgeschickt, um die Mohntochter, die vermutlich auf dem Sklavenmarkt von Djadida verkauft werden wird, einfach zurückzukaufen und einen ordentlichen Gewinn zu machen.

Und das arme Opfer? Frauen an Bord bringen Unglück, hieß es früher in Seefahrerkreisen. Die Piroggenpiraten würden das möglicherweise ähnlich sehen, denn Mohnschnecke ist alles andere als das fügsame Opfer. Auf der Brigg ‚Speckkugel’ findet sie Gefallen an dem wilden Piratenleben mit der fetten Beute, und so stellt sie im Laufe der Geschichte das Leben der ungehobelten Piroggen gehörig auf den Kopf: Mohnschnecke zieht in die Kapitänskajüte, führt an Bord die ‚Hügjene’ ein, legt die damenhaften Kleider ab und schlüpft in Piratenklamotten. Dann übernimmt sie das Kommando …

Die unzähligen Irrungen und Wirrungen dieser drei Erzählstränge kann ich hier jetzt natürlich nicht aufführen oder gar verraten. Nur so viel muss gesagt werden: Das Backwerk bleibt nicht unter sich, denn es tummeln sich in diesen über 600 Seiten auch noch stinkiges Käsegebäck in Tschiesburg, kriegerische Blutwürste, die viel zu schnell ihre Füllung verlieren, und der Große Konditor, der alles geschaffen hat. Am Himmel strahlen der Große und der Kleine Bäckerwagen. Auf der Erde zeigen Groß- und Kleingebäck, was für eine Füllung in ihnen steckt (mein Favorit: Hippopotamusspeck). Und die Piraten schießen mit unreifen Pfirsichen, Dörrpflaumen oder grünen Kartoffeln aus allen Rohren.

Wie gesagt, etwas Vergleichbares ist mir noch nicht untergekommen. Dieses Buch ist ein Riesenspaß, eine Explosion der Fantasie. Die Wortschöpfungen von Übersetzer Matthias Knoll sind die humoristischen Sahnehäubchen in diesem Back- und Piratenuniversum. Dabei wirken die Analogien zur realen Welt in all der Leichtigkeit trotzdem wie ein kritischer Spiegel unserer Gesellschaft – und bringen den Leser im nächsten Moment gleich wieder zum Grinsen. Und was Mohnschneckes Durchgreifen und Erfindungsgeist angeht: Jack Sparrow kann einpacken.

Maris Putnins: Die wilden Piroggenpiraten. Ein tollkühnes Abenteuer um eine entführte Mohnschnecke und ihre furchtlosen Retter, Übersetzung: Matthias Knoll, Illustrationen: Karsten Teich, Fischer Schatzinsel, 2012, 652 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Steampunk – oder vom Schreiben mit der Hand

Col Porpentine soll Karriere machen – jedenfalls wenn es nach dem Willen seines Großvaters geht. In ein paar Jahren soll der Junge das Kommando über den Juggernaut Worldshaker übernehmen. Auf diesem Riesen-Eisenkoloss, der sich auf Rollen über die Kontinente und durch die Meere wälzt, lebt die Viktorianische Elite auf den Oberdecks im absoluten Luxus. Col gehört dazu und muss sich eigentlich keine Sorgen machen – bis eines Tages die junge Riff auftaucht. Das Mädchen gehört zu den so genannten Dreckigen, die im Bauch des Schiffes unter unmenschlichen Bedingungen malochen. Riff ist die Anführerin der Aufständischen aus den Unterdecks und führt Col in die düstere Seite seiner Heimat ein. Der Junge schließt sich den Revolutionären an und verliebt sich in Riff…

Der australische Autor Richard Harland hat 15 Jahre an seiner extrem mitreißenden Steampunk-Geschichte gearbeitet und alles mit der Hand geschrieben. Warum, das hat er mir im Interview verraten …

Mr Harland, was fasziniert Sie daran, über eine viktorianische Alternativ-Gesellschaft auf einer Art Dampfschiff zu schreiben? Warum haben Sie sich für Steampunk und nicht für einen “normalen” historischen Roman entschieden?
Ich wuchs in einer Zeit auf, als modern sein sehr wichtig war. Alles sollte glatt, stromlinienförmig und verchromt sein. Dreckige, sonderbare, alte Maschinen gehörten der Vergangenheit an, einer schlimmen Vergangenheit. Heutzutage wirkt Verchromtes selbst schon völlig überholt. Aber was ist so schlimm an Dreckigem und Sonderbarem? Sonderbar ist schön! Ich glaube, dass sonderbare Dinge, wie alte Maschinen, Charakter haben – und das ist weitaus interessanter als Farblose, Glattes und Langweiliges. Anders als im historischen Roman kann ich bei Steampunk diese sonderbar-schönen Qualitäten einer Umgebung und einer Atmosphäre viel stärker betonen. Maschinen aus dem 19. Jahrhundert können darin noch viel mehr dampfen und qualmen, noch viel rußgeschwärzter und messinggelber aussehen, als sie es wirklich waren. Und sie können natürlich 100 Mal größer sein. Die Juggernauts in der Welt des Worldshakers sind drei Kilometer lang, sie bewegen sich auf Rollen über Land und durch das Meer. Historische Dampfschiffe sind damit nicht zu vergleichen!

Hat Jules Vernes Ihr Schreiben beeinflusst?
Nein. Da gibt es nicht den Hauch von Jules-Vernesschem Einfluss. Seine Bücher habe ich erst vor kurzem gelesen. Mich haben alte Maschinen und industrielle Szenerien einfach schon immer fasziniert. Wer mich dabei wirklich beeinflusst hat, war mein Cousin in England. Er war mein bester Freund, als ich zehn Jahre alt war, und er interessierte sich viel mehr für Mechanik als ich. Als Kinder bauten wir hinten im Garten große U-Boote, Flugzeuge und irgendwelche mechanischen Gebilde. Aber alles ganz nach unserer Fantasie. Dafür nahmen wir dann Zinkwannen, Gummischläuche, Holzplanken, verrostete Eisenstücke, Kartons und allen möglichen Abfall. Wir zeichneten Pläne von unseren eigenen Flugzeugen und Super-Vehikeln in unsere Schulhefte. Bei so einer Kindheit musste ich einfach Steampunk-Autor werden!

Sie schreiben Ihre Geschichten mit der Hand. Warum das? Was halten Sie von modernen Technologien?
Ich schreibe mit der Hand, weil ich dann nicht darüber nachdenken muss. Wenn ich auf einer Tastatur tippe, kann ich nicht so gut in meine Welt und meine Geschichte eintauchen. Die Tastatur lenkt mich ab und erinnert mich ständig an meine direkte Umgebung. Dabei habe ich nichts gegen Tastatur und Computer. Die Rechner haben mein schriftstellerisches Leben gerettet. Denn vor Erfindung der Computer schreckten die Schreibmaschinen einen richtig ab, irgendetwas zu Ende zu bringen. Alles musste beim ersten Mal richtig sein, ansonsten musste man die ganze Seite neu abtippen. Ich litt deshalb 25 Jahre unter einer Schreibblockade. Ohne die neuen Technologien könnte ich nicht mehr leben.

Könnten Sie sich vorstellen, auf Ihrem Juggernauten zu leben?
Aber sicher! Das ist ja meine Aufgabe als Fantasy-Autor – ich denke mir Dinge aus, die es nicht gibt, um sie dann so darzustellen, als ob es sie gibt. Viele Leser von Worldshaker berichten mir, dass sie beim Lesen den Eindruck bekommen, tatsächlich in diesen endlosen Korridoren, den engen Kabinen und zwischen den Spundwänden herumzulaufen – und in der höllischen Unterwelt, wo die Dreckigen zwischen Kesseln und Turbinen schuften.

Wie würden Sie das finden?
Das wäre eine schrecklich klaustrofobische und erdrückende Welt. Ich selbst würde das hassen! Aber wenn ich zu der Elite auf den Oberdecks gehören würde, wie Col, tja, dann würde ich mir keine Gedanken darüber machen, denn ich hätte ja nie etwas anderes kennengelernt.

Richard Harland: Worldshaker und Liberator, Verlagshaus Jacoby & Stuart, Übersetzung: Werner Leonhard,  je 16,95 Euro.

Ab Januar 2013 auch als Taschenbuch bei dtv, für 8,95 Euro.


Worldshaker

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