Nach dem Sommer ist vor der Schule. Jetzt sind ganz viele Kinder eingeschult worden. Da lernen sie rechnen, schreiben und lesen, Plutimikation (wie die Autodidaktin Pippi Langstrumpf sagt) und das ZYX. Hä? Na, das ABC rückwärts, klingt gleich viel interessanter. Mit ABC, die Katze läuft im Schnee kann man wirklich kein Kind mehr aus der aus der per Wärmepumpe fußbodenbeheizten Wohnung rauslocken.
Grummelige Gewitterwolke
Das weiß auch der Comickünstler Flix. Deshalb schickt er das ZYX statt ins Bett in ein furioses umgekehrtes ABC-Abenteuer. Das kleine rüsselnasige Wesen hat überhaupt keine Lust auf »Abmarsch ins Bett!«, ihm lüstet nach Spannung statt Schlafengehen. Genau wie seinem Schöpfer, was Flix am Ende in der Autorenkurzbiografie als Inspiration für seine Geschichten preisgibt. Die grummelige Gewitterwolke über dem ZYX auf dem Weg zum Zähneputzen gleich auf der ersten Seite spricht Bände.
Besser als arbeiten
Lesen lernen ist echt eine Sache, für die sich die Schule lohnt. Für unseren Blog letteraturen sind Lesende auch nicht ganz unwichtig. Die Autorin dieser Zeilen weiß die Schule deshalb auf jeden Fall für alle Zeit zu schätzen, ein bisschen auch, weil sie im Sportunterricht Kraulen gelernt hat. Sie gehört nämlich nicht zu den Überfliegern, die sich schon mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht haben. Später kam noch die Erkenntnis dazu, dass ein paar Stunden täglich in der Schule herumhängen deutlich weniger anstrengend sind, als Tag für Tag mindestens acht Stunden zu arbeiten, mit Leuten, mit denen man nur sehr selten befreundet sein kann. Soweit ein kleines, zugegebenermaßen seht persönliche Plädoyer für die Schule.
Vorteil exzessiven Teetrinkens
Zurück zum ZYX. Mit Schmackes und Witz geht es tollkühn durch Raum und Zeit, über die Planke eines Piratinnenschiffs und überbordende Inseln, durch den Magen von Riesen direkt in eine Zirkusmanege. Wir erleben den Vorteil exzessiven Teetrinkens, und Nachteil von Pizza und Pasta, nicht bis zum Abwinken, sondern ohne Ende. Gemeinsam mit dem umtriebigen Bettflüchter begegnen wir hungrigen Ottern und volatilen Krokodilen und schweben mit ihm durch rosa Himmel voller Donuts. Das alles erzählt Flix in kuriosen Reimen, die raffiniert das Alphabet rückwärts buchstabieren. Selten war Lesenlernen so ein Spaß. Der beginnt schon auf dem Vorsatzpapier. Besonders liebevoll gestaltete Bücher erkennt man daran, dass auch auf den vermeintlich nur dekorativen Seiten am Anfang und Ende der Geschichte ebenfalls eine Anekdote erzählt wird.
Affinität für einzigartige Wesen
Wer sich jetzt übrigens angesichts des knuffigen Helden ob meiner Begeisterung wundert, weil meine Abneigung gegen bekleidete Tiere bekannt ist: Das ZYX ist kein Tier, sonders etwas ganz Eigenes. Was, das weiß nur Flix, der eine Affinität zu außergewöhnlichen, einzigartigen Wesen hat. Schließlich durfte er auch als erster die belgische Comic-Serie Spirou weitererzählen und hat mit dem Humboldt-Tier sozusagen ein Prequel des Marsupilamis erschaffen.
Also, liebe Abenteurlustige, lernt das ZYX und lest!
Flix: Das ZYX, Kibitz Verlag, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4
Man kennt die die Kisten mit der Aufschrift »Zu verschenken«, die vor allem in Großstädten an den Straßen stehen. Darin findet sich manchmal Nützliches, häufig aussortierte Bücher, auch hübscher Kleinkram, oder einfach nur Müll. Ein Karton mit der Aufschrift Kind zu verschenken! ist allerdings außergewöhnlich. Wie auch das gleichnamige Kinderbuch von Hiroshi Ito. Das kleine Mädchen darin sucht eine neue Familie. Sie hat die Nase voll: »Vor drei Monaten habe ich einen kleinen Bruder bekommen. Er sah aus wie ein Äffchen. Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich.«
»Ich suche mir ein neues Zuhause« »Ja ja«
Trotzdem kümmert sich ihre Mutter nur um das Baby. Und überhaupt nicht um ihre Tochter. Also zieht das vernachlässigte, zornige Mädchen Konsequenzen: »Du brauchst mich wohl nicht mehr, Mama, oder?« »Ich haue ab, ich suche mir ein neues Zuhause!« Als auch auf diese Drohung nur ein geistesabwesendes »Ja, ja,« kommt, macht die Kleine ernst und sich auf in ein neues Leben. Sie findet einen leeren Pappkarton, schreibt in ihrer schönsten Schrift Kind zu verschenken drauf, wartet und träumt von einer neuen Familie. Einer mit großem Haus und Garten und Pool. Einer, in der sie das einzige Kind ist und mit Eltern, die nur sie liebhaben.
Minimalistisch und vielsagend
Diese Mischung aus Comic und Erstlesebuch ist eine entzückende Geschichte über ein Gefühl, das jedes Kind mit Geschwistern kennt, die Eifersucht. Die Zeichnungen in Schwarz-Weiß, mit nur wenigen roten Akzenten für die Wangen oder einer Schleife auf dem Kopf, sind minimalistisch und doch sehr vielsagend. Das Mädchen kann richtig böse gucken, ihre Wut und Enttäuschung ist offensichtlich. Ebenso ihre Stärke und ihr Eigensinn. Auch sprachlich ist es so puristisch wie ausdrucksstark. »Jetzt reichte es mir. In diesem Affenhaus wollte ich keine Minute länger bleiben«, sagt sie. Und brummelt »Pff, Mama ist pupsgemein.« Ursula Gräfe hat das Abenteuer pointiert und urkomisch übersetzt. Und genial und sehr witzig wird der Konflikt zum Schluss zum Schluss gelöst.
Ein Äffchen. Aber süß
Dazwischen rappelt es aber noch ordentlich im Karton, wenn es zur Variante der Bremer Stadtmusikanten wird. Ein verlaufender Hund, eine streunende Katze und eine ausgesetzte Schildkröte gesellen sich auf der Suche nach einem neuen Zuhause dazu. So kann Eifersucht richtig Spaß machen. Und manchmal ist ein kleiner Bruder wirklich ein Äffchen. Aber süß.
Jüngere Geschwister haben es auf der anderen Seite aber auch nicht immer leicht: »Angefangen hat alles mit dem Straßentrödel. Einfach mal das alte Spielzeug rausgestellt und ein bisschen Geld verdient. Da haben wir, ganz aus Versehen, unsere kleine Schwester verkauft.« Geld gewonnen und nebenher noch eine kleine Nervensäge losgeworden. Klassische Win-Win-Situation. Nur die Eltern sind sauer. »Meine Mama war ziemlich wütend und Papa hat geweint«, erzählt die geschäftstüchtige und überhaupt nicht zerknirschte Tochter. Der Vater schluchzt: «Die war doch ganz neu!«
Famose Kapitalismus Satire
Macht nix, kann man sich ja eine neue, höfliche und adrette gegenüber kaufen, inklusive einem Koffer mit Wintersachen. »Allerdings war sie nicht ganz billig. Deshalb mussten wir Oma verkaufen.« Die ist zwar kein scheckheftgepflegter Oldtimer und hat viele Gebrauchsspuren, geht aber an einen Liebhaber zum Liebhaberpreis weg. Und so wird munter die ganze Familie inklusive Katze versilbert, in Zahlung gegeben, im Internet angepriesen, nach dem Motto »Alles muss raus«. Nur die Mutter ist zu ramponiert und taugt nur noch für Bastler. Was als Flohmarktgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer famosen Kapitalismus-Satire, verpackt in einem witzigem Kindercomic. Als die gewiefte Göre erstmal auf den Geschmack des Geldes kommt, gibt’s zunächst kein Halten. Doch wenn alle Fast Food bestellt und auf dem Tablet alles durchgeglotzt ist, kann es auch ziemlich einsam werden. Also beschießt unsere übersättigte Erzählerin: »Ich glaub, ich geh einkaufen!« Was sie bei ihrer neuen Shoppingtour erwirbt, ist sehr überraschend und eine weitere tolle Lektion der freien Marktwirtschaft … und wird hier natürlich nicht verraten.
»Can’t buy me love«
Zu Martin Baltscheits herrlich schnoddrigem Ton passen Thomas Wellmanns karikatureske Illustrationen perfekt. Die originellen Familienmitglieder werden charmant frotzelnd charakterisiert. Die Verlockungen des Reichtums in knallig überladenen Bildern ausgemalt. Und das Besondere von Familienbanden, nicht nur der eigenen Kleinfamilie, bunt und vielfältig gefeiert. »Can’t buy me love«, sangen schon die Beatles (was man Kindern nicht früh genug vorspielen kann). Wir lernen: Mit Geld kann man nicht kuscheln, und verrückte Gutenachtgeschichten wie Oma zu verkaufen liest es auch nicht vor.
Hiroshi Ito: Kind zu verschenken, Übersetzung: Ursula Gräfe, Moritz Verlag, 120 Seiten, ab 6, 14 Euro
Martin Baltscheit, : Oma zu verkaufen, Illustrator: Thomas Wellmann, Kibitz, 32 Seiten, ab 6, 15 Euro
In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.
Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.
Andere Zeiten, andere Geschichten
Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.
Neues Kleid für Capy
Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.
Ähnliche Geschichte
Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht. Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…
Wasserschweine mit Botschaft
Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.
So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …
Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.
Zurück zur Natur
In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück. Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.
Bedrohter Lebensraum
Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.
Das unübersetzte Capybara
Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).
Mehr Capybara sein
Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.
Wasserschweine im Selbstverlag
Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.
Bitte mehr Wasserschweingeschichten
Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.
Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro
Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro
Hans ist ein netter Kerl. Aber zum Haareschneiden hat er kein Talent, wie Øyvind Torseter auf der ersten Seite seines neues Kinderbuchs Hans sticht in See sehr lustig zeigt, wochenlange bad hair days garantiert. Also verliert der sanftmütige Schlacks mit dem freundlichen Gesicht, einer Mischung aus Mumin und Elchkopf, gleich wieder seinen ersten Job. Kurz darauf ist auch noch seine Wohnung weg, seine Habe weggeschlossen und nur gegen 70.000 Kronen auslösbar. »Ich brauchte etwas Starkes«, denkt Hans und geht in die Hafenkneipe, wo er sonst nie hinkommt. »Was Starkes« sind Chilinüsse – aber die sind aus! Hans hat ziemliches Pech. In der sozialen Realität von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot beginnt der norwegische Autor und Zeichner Torseter seine charmante Neuerzählung von Hans im Glück. Seinen Hans, schüchtern und sanftmütig, kennt man von seiner Neuinterpretation der norwegischen Sage Der siebente Bruder. Vom Äußeren her erinnert er auch an sein niederländisches Pendant Krawinkel, bester Freund des Hundes Eckstein. Weil Hans wirklich nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich von einem großspurigen Millionär anheuern, das größte Auge der Welt für dessen außergewöhnliche Sammlung zu suchen.
Keine Graphic Novel – hier wird über die Bilder erzählt
Auf einer stimmig kolorierten Doppelseite zeigt Torseter mit viel Liebe zum Detail zahlreiche Kuriositäten. So vielfältig und einfallsreich wie die Geschichte, die sich zu einer Odyssee und Liebesgeschichte entwickelt, sind auch die Bilder, mit denen der mehrfach ausgezeichnete Autor erzählt. Mal sind es nur ganz reduzierte Schwarzweißzeichnungen, gerade mal die Konturen mit leicht verwackeltem Strich angedeutet, dann malt er Tableaus von Kneipeninterieurs, Stadtansichten, Schiffsquerschnitten und Tiefseewelten. Dabei setzt Torseter Farbe dezent und meist flächig ein, um Stimmungen zu erzeugen. Als Innenarchitekt wäre er wohl auch sehr überzeugend. Obwohl andere es so nennen, Hans sticht in See ist keine Graphic Novel, und zwar nicht nur, weil der Text deutlich unterliegt. Es ist die perfekte Mischung aus Comic und Kinderbuch, hier wird über die Bilder erzählt, Dialoge stehen in klassischen Sprechblasen.
Synthetischer Seemannspulli und Gin Tonic
Witzig ist die Mischung aus Märchen und Anspielungen an das Hier und Jetzt. Seinen Seemannspulli verschenkt Hans an einen frierenden Delfin, der sich sehr darüber freut, »obwohl es nur Synthetikwolle ist«. Gegen Skorbut auf große Fahrt mitgenommene Zitronen verschwinden im Gin Tonic, mit dem sich die blinde Passagierin unter Deck über Wasser hält. Es tauchen mythische Figuren auf wie ein sehr wütender Wal und ein gefährlicher Zyklop, wuschelig weiche Reisebegleiter spielen ebenso eine Rolle wie ein verlorenes Medaillon. Manchmal hat man das Glück direkt vor der (weichen, großen) Nase – und findet es aber erst nach langer Irrfahrt. Hans sticht in See ist ein wunderbares Comic mit allem, was richtig gute Bildergeschichten brauchen.
Ein sprachlich und optisch höchst unterhaltsames Vergnügen ist der erste Band der neuen Comicreihe Atom Agency. Die Juwelen der Begum basieren auf einem dreisten Blitzüberfall 1949 an der Côte Azur, bei dem historisch verbürgt der Begum, Frau des Aga Khans, Schmuck im Wert von zwei Millionen Mark geraubt wurden. Der junge Atom, armenischstämmiger Sohn eines Polizeikommissars in Paris, wittert seine große Chance als Privatdetektiv. Gemeinsam mit Freundin und Assistentin Mimi sowie dem ehemaligen Catcher Jojo versucht er den Schmuck zu finden.
In der Tradition belgischer Comickünstler
So wohlbekannt das Genre, so klassisch sind auch die Zeichnungen. Olivier Schwartz ist ein Vertreter der Nouvelle Ligne claire, in der Tradition der großen belgischen Comickünstler wie Hergé und André Franquin, letzterer bekannt für Spirou und Fantasio. Deren Abenteuer setzt Schwartz gemeinsam mit dem Szenaristen Yann seit einigen Jahren fort. Und jetzt hat dieses kongeniale Duo ein schlaues und schlagkräftiges Trio ins Leben gerufen. Schwartz‘ Bilder leben von der Detailtreue: in einer Autowerkstatt sind mehrere Michelinmännchen zu sehen, an der Wand hängt ein Plakat des Autorennens in Monaco von 1937. Das Bistro wird dekoriert mit Martini-Reklame, auf den Tisch kommt Ricard. Auf dem Boulevard wirbt ein Plakat für Orson Welles Der dritte Mann, Straßenkreuzer bekannter Automarken rauschen vorbei, historische Neonschriftzüge blinken an Fassaden.
Vielmehr ein Paradigmenwechsel
Yann setzt alles stimmig und spannend in Szene. Seine Dialoge sprühen vor Wortwitz, besonders die sehr selbstbewusste, kluge und unabhängige Mimi nimmt kein Blatt vor den Mund. Jojo, der die Ermittlungen finanziert, stellt klar: »Ich spiele auf keinen Fall den Muskelprotz, den Idioten mit ´ner Erbse im Schädel, der die Türen eintritt, den Frontmann, der die Bösen verhaut und den Strohkopf, der die Koffer schleppt! Nee! Njet! Nichts da!« Und schlägt »vielmehr einen Paradigmenwechsel vor«. Ganz klassisch, ganz ohne Klischees. Nebenbei lernt der Leser einiges über die Résistance. Aus sehr unterschiedlichen Menschen mit diversen Motiven setzte sich die französische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer während des zweiten Weltkriegs zusammen. Kommunisten, aufrechte Franzosen, politisch Verfolgte und echte Gangster kämpften gemeinsam für ein freies Frankreich und die Demokratie. Alte Netzwerke und merkwürdige Konstellationen blieben bis weit in die Nachkriegszeit bestehen.
Résistance und Armenier, Geschichte und Familienkonflikt
Man erfährt zudem etwas über Armenier in Frankreich, von denen der als guter Bekannter von Atoms Vater genannte Aznavourian der bekannteste ist, der Chansonier und Schauspieler Charles Aznavour. Atom ist ein traditionell armenischer Vorname, den sein Vater ihm zu Schadenfreude seiner ihm wohlgesonnenen Onkel verpasst hat, zusammen mit der Forderung, ein »anständiges armenisches Mädchen« zu heiraten. Also auf keinen Fall eine wie die emanzipierte und freiheitsliebende Mimi. Hier vermischt sich sehr raffiniert Geschichte mit Fiktion, wahre Verbrechen mit Krimistory, Familienkonflikt mit Zeitkolorit. Ein toller Auftakt, der große Lust auf Fortsetzung macht.
Spiderman – A New Universe ist das, wie mehrfach auf den ersten Seiten betont wird, offizielle Buch zum Film. Also das Buch zum Film, der das Anime zum Spielfilm zum Comic ist – Comic auf der Metaebene. Und ein Band aus der Sachbuchreihe für Erstleser aus dem Dorling-Kindersley-Verlag. Jetzt können ganz junge Superheldenfans das neue Universum des Spinnenmanns erkunden. Aber was heißt ein Universum oder Spinnenmann?! Viel besser, auch Marvel erweitert sein Weltbild. Seit dem Animationsfilm von 2018 wissen wir: Es gibt nicht nur einen Spiderman. Sondern ganz viele. Es sind Frauen und Mädchen, junge Schwarze und düstere Typen vom alten Schlag, und Spider-Ham, in dessen Universum es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, dass Schweine Superhelden sind.
Helden und Schurken gibt es so viele wie Parallelwelten
Es gibt so viele Helden wie es denkbare Parallelwelten gibt. Und jede braucht Leute, die gegen das Böse antreten. Denn auch die gibt es weiterhin massenweise, da bleibt Marvel konservativ. Oder wie Toby Maguire in einer meiner Lieblingsszenen sagt, wenn er sich nach dem Kampf mit dem Sandmann auf einem Hochhaus sitzend den Sand aus den Schuhen kippt: »Wo kommen diese Typen nur alle her?« Dieses Sachbuch erweitert auf originelle Weise das Weltbild ganz junger Leser_innen und lässt erfahrenere Leser (und Filmliebhaber_innen) die früher etwas eindimensionalen Superheldengeschichten mit neuen Augen sehen.
Drei Bücher, die zeigen, wie vielfältig und klug, erfrischend und lebendig das Comicgenre ist.
Øyvind Torseter: Hans sticht in See – Die Irrfahrt eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg 2019, 160 Seiten, ab 12, 26 Euro
Yann, Olivier Schwartz: Atom Agency – Band 1 Die Juwelen der Begum, Übersetzung: Marcel Le Comte, Carlsen 2019, 56 Seiten, ab 12, 12 Euro
Marvel: Spiderman – A New Universe. Das offizielle Buch zum Film, aus der Reihe Sach-Geschichten für Erstleser, Dorling Kindersley, 95 Seiten, ab 6, 7,95 Euro
Kinderbücher über Smartphone, Internet und so können eine ziemlich öde und eindimensionale Angelegenheit werden. Wenn sie nämlich die modernen Medien pauschal verteufeln und stattdessen ein längst vergangenes, eigentlich nie wirklich existierendes Bullerbü-Kinderglück propagieren. Und damit in die Kerbe Manfred Spitzers schlagen, der polemisch polternde Prediger und Psychiater, der Computer plus Kinder und Jugendliche mit „Sucht“ gleichsetzt, von „Zivilisationskrankheit“ raunt und Volksverdummung sowie eine komplett depressive, vereinsamte und abgestumpfte Generation junger Menschen prophezeit.
Umso erfrischender sind Marc-Uwe Klings Der Tag, an dem Oma das Internet kaputt gemacht hat und der neue Band aus der Sachbuchreihe Carlotta, Henri und das Leben: Mama ist offline und nix geht mehr. Beide Bücher kommen ohne mahnenden Zeigefinger aus, machen dafür einiges bewusst. Wobei auffällt, dass Frauen in diesen wirklich gelungenen Geschichten für die jüngsten Digital Natives anscheinend eine größere Internetaffinität haben.
Die Mama der Zwillinge Henri und Carlotta ist „echt cool. Sie hat über achthundert Freunde auf Facebook, ist in mindestens siebenunddreißig WhatsApp-Gruppen, schaut alle halbe Stunde, was auf Twitter passiert, skypt mit ihren Freundinnen und seit neuestem hat sie sogar Snapchat.“ Und natürlich hat sie immer das neueste Smartphone. In ihrem Job als Graphikerin läuft alles digital, sie ist auf permanenten Zugang zum Internet angewiesen. Nur Papa ist eher der analoge Typ. Jetzt sind Ferien, Papa „hat sich extra freigenommen, damit alle etwas unternehmen können“, also Wellenreiten statt im Netz surfen, draußen neue Eindrücke gewinnen statt Bilder posten, Konzerte besuchen statt Spotify-Listen anhören …
Dann spielt Henris Ungeschick Papa in die Hände: Henri fällt Mamas Smartphone ins Klo, das Teil ist kaputt, Reparatur dauert eine Woche, Mama ist offline und nix geht mehr. Katastrophe! Selbst Papa leidet und ist sauer, weil die Kaffee-App streikt und nicht wie gewohnt morgens frisch gebrühtes Wachmachergetränk kredenzt. Dann wettet er mit seiner Familie: Werden Mama, Carlotta und Henri es eine Woche offline aushalten? Ohne E-Mail, Videos, Onlinespiele, Messanger-Gruppe … arrgghh!
Unprätentiös und entspannt erzählt die Autorin und studierte Kommunikationsdesignerin Anette Beckmann von den kurzen, unfreiwilligen Ferien vom Internet. Da sieht man die Welt mit anderen Augen, die Familie entdeckt ein altes Schloss mit Flohmarkt statt des anvisierten Badesees, Musik kommt aus dem Autoradio oder vom Plattenspieler (gut, wenn man seine Schallplatten noch hat, obwohl, wichtiger Hinweis, „können schnell verkratzen“). Und merkt nebenbei, wie sehr mittlerweile Smartphones das Leben bestimmen, wenn zum Beispiel in der Pizzeria alle Gäste, egal welchen Alters, autistisch auf ihr Gerät starren, statt sich zu unterhalten. Oder die eigentlich coole, 15-jährige Cousine Ida zu Besuch kommt und total schlecht gelaunt ist, weil ein peinliches Foto von ihr gepostet worden ist. So lernt man, dass „Privates und Internet nicht zusammenpassen, weil alles auf ewig gespeichert wird und Dinge, die du heute lustig findest, in fünf Jahren vielleicht nicht mehr so lustig findest …“ Eine sehr charmante Geschichte mit absolut wissenswerten Erklärungen über ebenso selbstverständlich wie ahnungslos verwendete Begriffe, knappen Sachtexten sowie klugen Tipps zum gewinnbringenden Umgang mit digitalen Medien. Marion Goedelt hat sie cartoonesk mit vielen witzigen Details und lebhaften Einsprengseln illustriert, man hat fast einen richtigen Trickfilm vor Augen, soviel Bewegung ist in den Bildern.
Eine ganz unerwartete Dynamik bekommt auch der Tag, an dem Oma das Internet kaputt gemacht hat. Eine Doppelklick zu viel, und es hat sich was mit chatten, streamen und so. Die Großeltern sind da, weil Ferien sind und die Eltern arbeiten müssen. Jetzt hat aber Tiffany, die jüngste der drei Geschwister ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie doch auf Oma aufpassen sollte und dann zerstört die das weltweite Netz. Die älteren Geschwister Max, der liegend chattet und ballert, und Luisa, Punkerin mit grünen Haaren, die sich laut ihres Vater in „einer politischen Phase“ befindet, können zwar kaum glauben, dass ausgerechnet ihre Großmutter alles lahm gelegt haben soll. Aber als der Pizzabote bei ihnen strandet, weil sein Navi nicht funktioniert, die Eltern früher, auf Umwegen, nach Hause kommen, weil arbeiten nicht mehr möglich ist, und sogar die alte E-Gitarre vom Dachboden wieder zur Geltung kommt, ist das auch egal.
Gewohnt ironisch und mit sanftem, politischem Witz inszeniert der Känguru-Chroniken-Autor ein freundliches, eintägiges, aber durchaus wiederholenswertes Chaos. Bei der Gelegenheit erklärt zum Beispiel Max der kleinen Schwester, was das Internet ist. „Kacknazis“, Kapitalismuskritik, Punkmusik und Teletext kommen auch kindgerecht zur Sprache, bunt und leicht karikaturesk bebildert von Astrid Henn. Und der mehrfach wiederholte Doppelklick ist wie eine augenzwinkernde Hommage an den Klassiker „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt: „klick, klick“. So ein Tag offline hat durchaus seinen Reiz.
Marc-Uwe Kling, Astrid Henn (Illustrationen): Der Tag, an dem Oma das Internet kaputt gemacht hat, Carlsen 2018, 72 Seiten, ab 6, 12 Euro
Anette Beckmann, Marion Goedelt (Illustrationen): Carlotta, Henri und das Leben – Mama ist offline und nix geht mehr, Tulipan 2018, 64 Seiten, ab 7, 15 Euro
Es gibt Spiele die sind zeitlos gut, so das klassische Ich packe meinen Koffer. Die Autorin Regina Schwarz hat mit der Illustratorin Julia Dürr daraus ein sehr hübsches Bilderbuch gestaltet, das zusammen mit der kostenlos herunterladbaren App vor allem als Anregung zu verstehen ist. „Komm wir wollen Urlaub machen und packen alle Siebensachen …“ und schon geht es los. Was Erwachsene und Eltern meistens eher als anstrengend und lästig empfinden, steigert bei Kindern die Vorfreude auf die Ferien. Besonders wenn nicht unbedingt Vernünftiges in den Koffer wandert, sondern Sachen, deren Einsatz Spaß verheißt, unter anderem Picknickgabeln, Luftmatratze und Leuchtraketen.
Das wird aber, hübsch bunt und collageartig bebildert, den kindlichen Zuhörern nicht einfach so vor den Latz geknallt, sondern als zu erratender Reim. So lässt sich einiges anderes ins Gepäck hineinfantasieren: Warum nicht eine Picknickparabel und eine aufblasbare Fratze einpacken? Auf jeden Fall würde ich mit dem schönen, roten Taschenmesser auch einen Zombiefresser mitnehmen, den kann man immer brauchen (obwohl ich vor anderen lebenden Untoten sehr viel mehr Angst habe, aber das kommt beim nächsten Mal). Natürlich ist der Koffer viel zu klein, und Julia Dürrs lustiges und lebendiges Sammelsurium ergießt sich explosionsartig über mehrere Seiten … auf ein Neues! Ich packe meinen Koffer …
Der freundliche Herr Hoi hat in Pardon Bonbons auch mit Kindern zu tun, die etwas einstecken. Ihm gehört ein kleines Geschäft für Süßigkeiten, wo sich regelmäßig ein paar Kinder Bonbons nehmen, ohne zu bezahlen. Die junge Illustratorin Malin Neumann (1995 geboren) hat zu Marjaleena Lembckes Erzählung teils schwelgerische, doppelseitige Bilder gemalt, mit ungewöhnlichen Perspektiven. Dabei setzt sie nicht auf Bonbonfarben, sondern nimmt ein schönes gedecktes Blau als Grundton, der dem Ganzen etwas Gelassenes und zeitlos Elegantes gibt. Der aus Thailand stammende Herr Hoi glaubt einfach unerschütterlich an das Gute im Menschen. Er ist ein glücklicher Mensch, egal ob eine Kundin ihn ermahnt, „aufzupassen, dass die Kinder Ihnen nicht auf der Nase herumtanzen“ und sein Sohn sich über die Großzügigkeit des Vaters ärgert. „Pardon Bonbons“ sind seine Spezialität und die haben es in sich. Zwar wirbt der Bohem Verlag für das besondere Bilderbuch mit der Erkenntnis, „dass es nie zu spät ist, Entschuldigung zu sagen“, vor allem aber erzählt es von einer Lebenseinstellung, von der wir uns alle mehr als nur ein Stückchen einstecken sollten.
Zeitlose Wahrheiten entdeckt auch Emilia im Geheimnis der gelben Tapete. Andrea Schomburg erzählt in der Tulipan-Reihe Kleiner Roman, erneut sympathisch illustriert von Dorothee Mahnkopf, in zwei Zeitebenen von Freundschaft, Gruppendynamik und Außenseitern. Anscheinend hat es schon immer diese Typen oder – wie hier – biestige Mädchen gegeben, die als cool gelten und andere manipulieren können – bis man in den meisten Fällen merkt, dass es nur langweilige, oberflächliche Hohlbirnen sind.
Das ist harmlos und flott erzählt, ein bisschen im leicht betulichen Stil von Kinderbüchern aus den 50er Jahren, in denen das Geheimnis angesiedelt ist. Eindrückliche Sprachbilder wie in ihrer Erzählung Lisa und das Fluff findet Schomburg diesmal nicht. Doch abgesehen von der klugen Erkenntnis über das Wesen wahrer Freundschaft ist dieser Band Anlass für Erstleser, andere Kleine Romane zu entdecken.
Regina Schwarz: Ich packe meinen Koffer, Illustration: Julia Dürr, Tulipan, 2018, 36 Seiten, ab 4,18 Euro
Marjaleena Lembcke: Pardon Bonbons, Illustration: Malin Neumann, Bohem 2017, 42 Seiten, ab 3, 16,95 Euro
Andrea Schomburg, : Das Geheimnis der gelben Tapete, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2017, 64 Seiten, ab 7, 10 Euro
Gerade fallen wieder alle Blätter von den Bäumen, die Laubbläser nerven, und die Wolken nässen nun noch öfter vom Himmel als sonst schon. Es ist die Zeit, in der Mützen, Schals, lange Unterhosen und Wollsocken rausgekramt werden und man wieder dem Zwiebellock frönt. Hauptsache nicht verkühlen.
Das passt Pauli und seinen Freunden im neuen Kurzroman von Melanie Laibl so gar nicht. Darin überlegen die cleveren Grundschüler sich, wie sie das ganze Wollzeugs und die Unterwäsche des Grauens wieder los werden. Da man gemeinsam stärker ist als allein und auch zusammen mehr bewegt, gründen sie den Verein Verkühl dich täglich.
Und dann geht es los: In ihrem Vereinslokal, der Terrasse des Eissalons Titanic, treffen sich die Kids und entledigen sich der kratzenden Wärmeschicht. „Kalt? Uns? Niiie!“ wird ihr Schlachtruf und toben leicht bekleidet durch den Park und die Straßen.
Dass die Erwachsenen sofort mit Gegenmaßnahmen – heißes Bad, Hokuspokus-Grippekügelchen, Lebertran und Hühnersuppe – kontern, stachelt den Ehrgeiz der Vereinsmitglieder noch zusätzlich an. Nun heißt die Herausforderung, den Erwachsenen zu zeigen, dass man sich auch ohne Wollzeugs nicht erkältet. Zum Beweis messen Pauli & Co täglich Fieber und wollen mit ihrem Verein berühmt werden. Dafür machen sie sogar einen Ausflug in die Supermarkttiefkühltruhen, was in der Lokalpresse Erwähnung findet.
Nur die Heiße Hilde vom Imbissstand hält die Kinder nicht auf, sondern unterstützt sie mit einer Thermoskanne voller Wundertrank …
Melanie Laibl ist hier ein kleiner feiner und wunderbar anarchischer Roman gelungen, der jedem Erwachsenen die Haar zu Berge stehen lassen wird. So wage ich als Tante es kaum, diese Geschichte meinem Neffen vorzulesen, der ein würdiges Mitglied im Verein Verkühl dich täglich wäre, läuft er doch selbst zu dieser nassen Jahreszeit am liebsten noch in kurzen Hosen rum und reißt sich beständig die Mütze vom Kopf. Diesem Widerstandsgeist auch noch Vorschub zu leisten, damit tue ich mich schwer.
Aber dennoch ist es genau das, was so großartig an diesem Buch ist: Kinder, die sich nicht so leicht von Eltern und Großeltern einschüchtern lassen, die kreativen Widerstand leisten und der Überbesorgnis der Erwachsenen ein Schnippchen schlagen, schließe ich sofort ins Herz und jubele über diese wunderbare Chupze.
Und genau aus diesem Grund werde ich damit die nächste Vorleserunde bei Nichte und Neffe einleiten und einen kleinen rebellischen Samen bei ihnen aussäen.
Laibls klare Sprache gepaart mit einem trockenen Humor und die beständige Auflockerung des Textes durch die knuffigen Illustrationen von Susanne Göhlich bieten auch Erstlesern einen Anreiz, sich selbst in dieses Leseabenteuer zu stürzen.
Die Folgen sind dann nur noch eine Frage der Abhärtung.
Melanie Laibl: Verkühl dich täglich, Illustration: Susanne Göhlich, mixtvision, 2017, 80 Seiten, ab 7, 12,90 Euro
In diesen Tagen gehen in allen Bundesländern die Sommerferien zu Ende, die nächste Generation von Leser_innen betritt die Schulen, und meteorologisch hat auch der Herbst bereits Einzug gehalten. Da passt die Lektüre des reizenden Erstlesebuchs Finn und Frida halten den Herbst auf von Martin Klein und Kerstin Meyer bestens ins Programm.
An einem Sonntagmorgen stellen darin die beiden Helden erstaunt fest, dass es auf einmal richtig kalt geworden ist und die nackten Zehen plötzlich wehtun. Die Zähne klappern, und um warm zu werden müssen die beiden sich gegenseitig durch den Garten jagen. Und auch den Herbst wollen die Geschwister nicht einfach so hinnehmen. Sie veranstalten einen Sonnentanz mit Poolnudel und Taucherbrille um das Planschbecken herum.
Aber statt Sonnenschein schickt der Himmel Regen auf die Erde, und auch die Blätter hält es nicht mehr an den Bäumen. Aber Finn ist ein schlaues Kerlchen und überredet Frida, den Herbst wieder rückgängig zu machen.
Gerade nach den letzten warmen Sommertagen kann man Finn und Frida so richtig gut verstehen, man möchte all die schönen Dingen des Sommers, das Baden, die Sonnenstrahlen, das kühlende Eis, das Geplansche, die nackten Füße und die wenigen Kleidungsstücke am Leib nicht einfach so von einem Tag auf den anderen aufgeben. Der Übergang fällt schwer, Socken und Pulli engen ein, das Haus oder die Wohnung sind auf einmal viel zu klein. Jede Verlängerung des Sommers wäre also wirklich sehr willkommen!
Und so können Finn und Frida als sehr coole Vorbilder dienen, die sich auch von Unausweichlichem nicht so einfach unterkriegen lassen, die dieser neuen Situation mit kreativen Ideen begegnen und so spielerisch Übergangsrituale erfinden, die das Vergangene würdigen und das Neue wahrnehmen. Auch dies ist eine Art, wie man kann die kommende Jahreszeit schätzen und begrüßen kann.
Dieses Erstlesebuch macht es Leseanfängern zudem einfach, einen Übergang vom Bilderbuch zum längeren Roman zu finden. Die Illustrationen von Kerstin Meyer, die in einer Kombination aus bunten Sommerblumen und warmen Herbstfarben strahlen, bieten genügend Pausen im Text. Sie laden zum Schauen ein und kitzeln die eigenen Erinnerungen an den vergangenen Sommer hoch.
Der Text von Martin Klein wiederum besticht durch verständliche, nicht zu lange Sätzen, in denen aber durchaus ungewöhnliche Worte zu finden sind wie „Sommerregentropfen“ oder „Nordsee-Anfang-Juni-Temperatur“. Langweilig wird das sicher nicht.
Und ich bin ganz neidisch, dass die Schulanfänger von heute mit so coolen und kreativen Geschichten lesen lernen!
Martin Klein: Finn und Frieda halten den Herbst auf, Illustratorin: Kerstin Meyer, Tulipan, 2017, 48 Seiten, ab 7, 8,95 Euro
„Jetzt fängt das wieder an mit dem Stress“, dachte ich. „Der schüttet mich zu wie Sand, in dem ich versinke. Und ich strampele und strampele und versuche mich rauszuwühlen und den Kopf oben zu behalten, und ich schaffe es nicht. Jeden und jeden einzelnen Tag.“
Das schreibt keine ausgebrannte Spitzenmanagerin in der Therapie, sondern die Grundschülerin Lisa. Wie und mit wessen Hilfe das Mädchen aus dem Treibsand unserer beschleunigten Welt herausfindet, erzählt Andrea Schomburg plastisch und phantasievoll in Lisa und das Fluff. Es ist der fünfte Band aus der Reihe Kleiner Romane, die der Münchner Tulipan-Verlag 2015 mit Antje Damms Kleines Afrika gestartet hat.
Lisas Alltag ist streng durchgetaktet: Ballett, Klavier- und Schwimmunterricht, Reiten, Nachhilfestunden. Da bleibt keine freie Zeit für Freunde oder sich phantastische Geschichten auszudenken. Und so stolpert die vielleicht Acht-, höchstens Neunjährige durch ihr Leben, hechelt immer der Zeit hinterher, die ihr davonrennt, weil ihre Eltern doch nur ihr Bestes und sie deshalb perfekt auf die Anforderungen der modernen Welt vorbereiten wollen. Das Kind als weiteres Statussymbol, superoptimiert und stromlinienförmiger als der protzige SUV.
Schomburg findet pointierte Bilder, wie Lisa das erlebt und empfindet: Ihre Mutter erscheint ihr morgens im schwarzen Business-Kostüm mit weißer Bluse wie ein als Pinguin verkleideter General, der sie befehligt. Beim Ballettunterricht fühlt sie sich, als tanze sie mit einem Kartoffelsack auf dem Rücken. Doch sie will ihre Eltern nicht enttäuschen, denn dann würden „Papa und Mama weinen und weinen, bis sie ganz flüssig wären. Das ganze Haus würde schwarz werden von ihrer Traurigkeit, und dann würde es auf ihren Tränen davonschwimmen wie ein schwarzes Schiff.“
Im Vergleich mit ihrem älteren Bruders, der alles mit Bravour meistert und den sie deshalb nie zu Gesicht bekommt, hat sie das Gefühl, nicht in diese Familie zu passen und bei der Geburt vertauscht worden zu sein. „Vielleicht gehöre ich in eine Familie, wo alle rund und gemütlich sind und sich langsam bewegen wie große Fische, die in Zeitlupe durchs Meer flappen.“ Angesichts solcher bezaubernder Sätze ist die einmalige Formulierung mit dem „lieben Gott“ verziehen. Sagen Kinder heute so etwas noch?
Das macht den einnehmenden Charme dieser Erzählung der Entschleunigung aus, die besondere Sprache und schönen Metaphern. Lisas Welt besteht aus Begriffen wie „Disziplin“ und „Zeitfenster“, das eigentlich geschlossen gehören und sich wundersamer Weise für sie zum Positiven öffnet. Gemüse-Smoothies zum Frühstück und Salat mittags in der Schulkantine, weil so schnell und effizient gesunde Nahrung zugeführt wird. Sie bekommt Totschlagsätze an den Kopf geknallt wie „Du musst Mathe üben, die letzte Arbeit war nur eine Drei. So kommst du nie aufs Gymnasium“ und „was man einmal angefangen hat, zieht man auch durch“. Trotzdem bewahrt sie sich ihren eigenen Kopf und schafft sich Freiräume, wortwörtlich, für ihre Phantasie. Nach einem dramatischen Finale werden ihre Eltern vielleicht ein bisschen zu einfach „vernünftig“, wie es Lisas Freundin formuliert. „Man muss seinen Eltern auch mal eine Chance geben.“ Umso schöner, wenn diese die auch nutzen und schließlich verstehen, dass sie bislang ihre Tochter als Individuum und Kind gar nicht wirklich gesehen haben.
Dorothee Mahnkopfs überwiegend ganzseitige Illustrationen akzentuieren die Geschichte kongenial und sprechen für sich selbst, eine untermalende Mini-Graphic-Novel, wie in jedem Kleinen Roman.
Und „nu mal langsam“: Lasst uns die Langsamkeit wiederentdecken, und Momos grauen Männern die Macht entreißen. Die regieren nämlich längst unsere Gesellschaft, und die meisten unterwerfen sich freiwillig.
Elke von Berkholz
Andrea Schomburg: Lisa und das Fluff, Illustrationen: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2017, 60 Seiten, ab 7, 10 Euro
„Es gibt eine größere Offenheit, die Literatur ist vorwitziger und frecher, weil man die Kinder ernst nimmt, sie auch zum Nachdenken bringen will, denn das gehört zum Aufwachsen.“ So beschreibt der Autor Bart Moeyart das Besondere der niederländischen und flämischen Kinder- und Jugendliteratur. Der Flame ist künstlerischer Leiter der Ehrengast-Präsentation bei der Frankfurter Buchmesse. Und das, obwohl er „nur“ Kinder- und Jugendbuchautor ist. Dass Literatur für junge Leser bei unseren Nachbarn einen besonderen Stellenwert genießt und im flämischen Sprachraum brillante Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben werden, zeigt auch diese Auswahl.
Jede dritte Ehe scheitert, das ist bedauerlich, aber alltäglich und banal, Menschen verlieben und entlieben sich. Schlimm wird es nur, wenn Kinder involviert sind: Denen fehlen ein paar Jahrzehnte ernüchternde Erfahrungen, es kann ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen und fortan müssen sie sich nicht nur mit „Hin- und Her-Taschen“ abschleppen zwischen getrennten Wohnungen und Leben. Da helfen auch oberschlaue Ratgeber wie „Glücklich verheiratet, glücklich getrennt“ nichts, die nur das schlechte Gewissen der Eltern beruhigen.
Die zwölfjährige Felicia, die fortan Fitz genannt werden will, ist vor allem wahnsinnig wütend. Auch noch, als ihr Vater und ihre jüngere Schwester Bente einen Unfall haben und die ganze Familie in der Notaufnahme zusammentrifft. Fitz ist aber auch eine scharfsinnige Beobachterin, ein ungeheuer waches, kluges und einfühlsames Mädchen, das man sofort ins Herz schließt. Kein Wunder, dass in den Weiten des großen Krankenhauses der höchst attraktive, lakonische Adam und die schräg-witzige Primula sofort auf sie anspringen und die drei im Laufe des Tages gleich mehrere Herzen entflammen, nicht nur die eigenen.
Anna Woltz hat bereits mit ihrer sehr modernen Familiengeschichte „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ zwei liebenswerte Charaktere geschaffen, die draufgängerische Tess und den sensiblen Samuel. Ihre Heldin Fitz ist einfach grandios: Sie rettet vielleicht nicht die ganze Welt, auch die Ehe ihrer Eltern nicht, die kann man halt nicht wieder zusammennähen wie Bentes verletzen Finger. Aber mit ihrem Charme, ihrer Direktheit und ihren klugen Erkenntnissen kann sie die Welt auf jeden Fall lebenswerter machen. Weil dieses Mädchen abgeklärte Leser wieder an so etwas wie Liebe glauben lässt. Das liegt auch an den erwachsenen, ebenso lebendig wie vielschichtig beschriebenen Nebenfiguren. Spätestens wenn Fitz, nach ihrer Tour de Force über mehrere Stockwerke und Stationen der Klinik, nicht länger „lieber in einen Vulkan springen will, als jemals zu heiraten“. Man will dieses absolut hinreißende Mädchen am Ende der Geschichte und des Tages nie mehr loslassen. Aber mit etwas Glück hat Adam ja recht: „Vielleicht ist morgen dann wieder heute“ – in neuer Tag voller verrückter Emotionen, Begegnungen und Erfahrungen.
Nur schade, dass der Carlsen Verlag diese unter die Haut gehende Geschichte hinter einem nichtssagenden Einband versteckt. So don’t judge a book by looking at it’s cover.
Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte; Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen 2016, 176 Seiten, ab 10 Jahren, 10,99 Euro
Kalle ist ein Macher, der lieber einen Gedanken zu wenig denkt, als sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Bei Helicoptereltern hätte solch ein tatendurstiger kleiner Kerl keine Chance (übrigens spielt ein Hubschrauber später auch noch eine Rolle, aber mehr wird hier nicht verraten!). Selbst für weniger behütende und gerade auch sehr müde Erziehungsberechtige ist es ganz gut, wenn sie nicht so genau wissen, was Kalle vorhat, wenn er sagt, er geht weg: Der Achtjährige springt mit Nachbarhund Max und Meerschweinchen Hektor in sein kleines Motorboot und nimmt Kurs Richtung großen Fluss – eine ebenso spannende und witzige wie haarsträubend gewagte Bootstour. Anke Kranendonks Geschichte ist pädagogisch völlig wertlos – im besten Sinn. So wie vor wartenden Kindern bei Rot über die Ampel zu gehen. Weil es Kinder zu selbstständigem Denken und Eigenverantwortung motiviert.
Charmant zitiert die niederländische Kinder- und Jugendbuchautorin Tomi Ungerers „Kein Kuss für Mutter“ und beerbt anarchistisch-autarke Helden wie Pippi Langstrumpf oder Michel. Sympathisch persifliert sie in den etwas einseitigen Dialogen Kalles mit Vierbeiner Max wie Eltern mit ihrem Nachwuchs reden: ein wenig herablassend ob des vermeintlich geringeren Verstands, auch mal ganz schön genervt, doch letztlich immer voller Zuneigung, gelegentlich zerknirscht.
Noch schöner wird die von Sylke Hachmeister erfrischend übersetzte Geschichte durch Annemarie van Haeringens in kräftigen Farben colorierte und an Quentin Blake (bekannt aus Roald Dahls Büchern) erinnernde Illustrationen. Kalles Selbstbewusstsein und Abenteuerlust sind umwerfend, niemand sollte solch tollkühne Kinder stoppen dürfen!
Anke Kranendonk: Käpt’n Kalle; Illustrationen: Annemarie van Haeringen, Übersetzung: Sylke Hachmeister, Carlsen 2016, 152 Seiten, ab 8 Jahren, 9,99 Euro
„One ist the loneliest number“ wissen wir aus der Popmusik. Jetzt erweitert die niederländische Illustratorin Henriette Boerendans unser Zahlenwissen mit „Die Null ist eine seltsame Zahl“. Mit kunstvollen Holzschnitten verknüpft sie die Ziffern eins bis zehn sowie fünfzig und hundert mit spannenden Informationen für kleine Kinder: Ein kleiner Elefant braucht zwei Jahre, bis er geboren wird. Tiger haben an den Vorderpfoten fünf Zehen und an den Hinterpfoten vier. Wie viele hat das Kind? Eine Schildkröte legt zehn Eier. Sie selbst kann bis zu 188 Jahre alt werden. Aber Muscheln werden noch viel älter. Und kleine Kaninchen sehen ihre Mutter nur fünf Minuten täglich.
In der Farbgebung erinnern die Drucke an Andy Warhols Siebdruckserien. Von der Anmutung haben sie etwas klassisch Asiatisches. Boerendans entwickelt eine ganz eigene Bildsprache und macht so abstrakte Größen lebendig und begreifbar. Für Vorleser ist dieses Buch auf jeden Fall ein optischer Genuss. Und warum ist die Null seltsam? Weil sie das Nichts beschreibt, eine Lücke – so wie die Dodos, die es nicht mehr gibt, die ausgestorben sind, weil ihre Eier aufgefressen wurden.
Henriette Boerendans: Die Null ist eine seltsame Zahl, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag 2016, 32 Seiten, ab 3 Jahren, 14,90 Euro
Erstlesebücher finde ich ja ziemlich speziell und schwierig einzuschätzen. Das ändert sich vielleicht, wenn meine Nichte in zwei Jahren in die Schule kommt und ich dann mal aus der Nähe mitbekomme, wie heute das Lesen unterrichtet wird. Bis dahin muss ich mich auf mein eigenes Gespür verlassen. Es hat dieser Tage positiv reagiert, als mir die Reihe Leseforscher von Kathrin Köller in die Hände gefallen ist.
Köller hat diese Reihe für die jüngsten Leser konzipiert und dabei Neugierde mit Lesetraining verbunden. Unterteilt in drei Lesestufen (A, B und C) richten sich die schmalen Sachbücher an Leseanfänger, geübtere und fortgeschrittenere Leser.
Frisch herausgekommen ist für die Anfänger gerade der Band Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, in dem der Fuchs Filu – der sich als kleiner Forscher duch alle Bände zieht – Ausflüge zu eben jenen Regionen der Welt und ans Meer unternimmt. Die naturwissenschaftlichen Infos zu den einzelnen Themen sind in kurzen Kapiteln kindgerecht verpackt. Filu unterhält sich mit einem Wüstenfuchs, einem Höhlenbewohner und allen möglichen anderen Tieren, wobei die Dialoge in Sprechblasen verpackt sind und fast wie ein Comic daherkommen. Einfache Sätze, lockere Umgangssprache und große Schrift machen das Lesen für Anfänger – oder Kinder, die nicht sehr geschickt darin sind – einfach. Für fremde Namen werden Aussprachehilfen geliefert (Grän Känjen). Die vermittelten Themen halten zudem kuriose Infos bereit, die man selbst als Erwachsener nicht unbedingt weiß.
Spielerisch lenkt Köller hier zudem den Blick auf den Naturschutz und entwickelt bei den kleinen Lesern ein Gespür für Umweltbewusstsein und Artenschutz.
Die geübteren Leser können sich im Band Vollgas! über die Geschichte der Fortbewegungsmittel der Menschen informieren. Hier werden die Sprechblasen weniger, die Kapitel, Texte und die Sätze länger. Auch der Umfang des Buches wächst.
Inhaltlich können sich kleine Trecker-, Bagger- oder Rennfahrer schlau machen, wie der erste dampfgetriebene Wagen der Welt – ein Fünf-Tonnen-Monster – aussah, warum die Wuppertaler Schwebebahn eigentlich eine Hängebahn ist oder wie schnell die Wikinger-Schiffe waren.
Zu allen Bänden der Leseforscher hat die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ je ein Forscher-Experiment zum Nachmachen geliefert. So können in diesen beiden Ausgaben beispielsweise Tropfsteine oder ein Raketenantrieb nachgemacht werden.
Den Abschluss der Bücher bildet jeweils ein Quiz, in dem das Gelesene auf spielerische Art rekapituliert werden kann. Und am Ende des Leseabenteuers gibt es eine Urkunde für den echten Experten oder fleißigen Leseforscher.
Die Mischung aus den liebenswert-charmanten Illustrationen von Julia Dürr, Fotos und gut verständlichen Texten ist eine der Stärken dieser Reihe. Es gibt für die Leseanfänger viel zu schauen und zu entdecken – das Lesen passiert dann quasi von allein, wenn man verstehen will, wie beispielsweise eine Dampfmaschine funktioniert. Langeweile ist hier also nicht angesagt, Überforderung auch nicht, denn in diesen kleinen Büchern stecken Unmengen von Informationen, bei denen die Kinder nach der Lektüre bestimmt öfter sagen: „Papa, weißt du …?“
Ein Leben ohne Uhr – wäre eigentlich überaus erstrebenswert, aber leider nicht sehr hilfreich. Das weiß man als Erwachsener, nur zu gut. Für Kinder ist die Zeit bis zu einem gewissen Alter ein Mysterium, zwischen Unendlichkeit und rum in null Komma nix. Davon erzählt das schnuckelige Buch Anton hat Zeit von Meike Haberstock.
Anton versteht sich normalerweise ziemlich gut mit seiner Mama. Nur an manchen Tagen läuft alles schief, wenn er wieder einmal etwas sehr gründlich gemacht hat, weil Mama das so wollte. Aber dann hat Mama auf einmal keine Zeit mehr und die beiden müssen die Treppen hinunterrennen, um pünktlich zu sein.
Dann fühlt sich Anton schrecklich, hat einen blöden Kugelfisch im Bauch und versteht die Welt nicht mehr. Mama kann zwar erstaunlich viele Dinge gleichzeitig machen und fragt sich doch ständig, wo die Zeit nur geblieben ist.
Aber Anton erkennt auch, dass nicht nur Mama ein Problem mit der Zeit hat, sondern scheinbar alle Erwachsenen, der Schulbusfahrer, die Betreuerin aus dem Hort, die schreckliche Mutter von Antons Freundin Marie. Nicht mal für ein Spontanbegräbnis eines Eichhörnchens bleibt ausreichend Zeit. Das ist alles überaus merkwürdig.
Hilfe liefert schließlich Antons Opa, der sich Zeit nimmt.
Liebevoll und voller Witz führt Meike Haberstock junge Leser an das Thema Zeit heran. Es geht nicht darum, die Uhr lesen zu lernen, sondern um das Bewusstsein, dass es so etwas wie Zeit gibt. Mit einem großen Augenzwinkern hält sie dabei den Erwachsenen den Spiegel vor, die aus welchen Gründen auch immer nie Zeit haben. Hier lernen folglich Groß und Klein etwas.
Damit bei der Lektüre keinem die Zeit zu lang wird, hat die Autorin die Geschichte gleich auch noch mit entzückenden Illustrationen und frechen Sprechblasen angereichert. Vor jedem Kapitel steht zudem, wie lange man für das Lesen brauchen wird, jedoch nicht in minütlichen Einheiten, sondern in Tätigkeiten, wie Rechenaufgaben lösen, Schokotorte in sich reinstopfen oder auf einen Apfelbaum klettern. Schon da fängt man an zu grübeln, warum man als Erwachsener alles in Stunden und Minuten abmessen und einteilen muss, anstatt der eigentlichen Tätigkeit den Zeitraum zu geben, den sie eben braucht. Könnte man mal drüber nachdenken …
Trennungen sind ätzend. Sei es im Guten, wie im Schlechten. Der kleine Nuno in Saskia Hulas Buch Nuno geteilt durch zwei kann ein Lied davon singen. Von nun an muss er jeden Samstag umziehen, von Mama zu Papa, eine Woche später wieder von Papa zu Mama. In den sieben Tagen soll er sich wohlfühlen, sagt sein Papa. Kein Wunder, dass Nuno beim ersten Mal all seine Sachen einpackt, inklusive Ski, Schlauchboot und Kater Vincent.
Doch trotz seiner ganzen Sachen, die er in seinem neuen, leeren Zimmer verteilt, ist die Woche bei Papa nur halb gut. Hier hat er noch kein richtiges Bett, Papa kümmert sich nicht so richtig darum, dass Nuno Hausaufgaben macht, er bringt ihn nicht zum Fußballtraining und hat überhaupt kein Werkzeug, um Bilder aufzuhängen oder die gerissene Saite von Nunos Gitarre zu reparieren.
Auch bei Mama ist die folgende Woche nicht so besonders: Nuno darf am Mittwoch nicht Fußball im Fernsehen schauen, obwohl seine Lieblingsmannschaft spielt, Mama kann ihm nicht den verstauchten Fuß verbinden, sondern macht ein Drama daraus und bringt Nuno ins Krankenhaus.
Schließlich bringt Papas alte Nachbarin, Aloisia zusammen mit ihrer Katze Anandani, Nuno auf andere Gedanken. Sie leiht ihm Hammer und Nägel, er macht ihr dafür die Katzenfutterdosen auf, die sie mit ihren alten Händen nicht mehr schafft, und hilft ihr, die Vorhänge abzunehmen. Die Freundschaft zwischen Jung und Alt bringt Farbe in Nunos Leben und ihm schließlich die Idee, wie der die guten Seiten von beiden Elternteilen in einer Woche unter einen Hut bringen kann.
Liebevoll und einfühlsam zeigt Saskia Hula, wie junge Kinder lernen können, mit der Trennung der Eltern umzugehen. Dass diese Situation für kein Kind schön ist, bezweifelt sicher niemand, doch dass ein Kind mit ein bisschen Grips und Kreativität das Beste aus der Lage machen kann, findet man in Hulas Erzählung Nuno geteilt durch zwei. Denn was die Eltern sich ausdenken, wenn es um die „Aufteilung“ des Kindes und die „Übergabe“ geht, ist nicht immer optimal. Hula macht Trennungskindern Mut, darüber nachzudenken, welche positiven Seiten jedes Elternteil besitzt – und welche Schwächen. Mit ein bisschen Fantasie lassen sich all diese Facetten dann möglicherweise in ein zweigeteiltes Leben einfügen. So können sich zwar weiterhin zwei streiten, aber der dritte muss dann nicht ganz so viel leiden.
Ergänzt wird die Geschichte von Nuno durch Illustrationen von Eva Muszynski. Die sind so knuffig und treffend, dass man den Blondschopf Nuno sofort ins Herz schließt. Das Vorlesen wird so zu einem bunten Vergnügen, und Leseanfänger können immer wieder mal pausieren und die Bilder erkunden.
Erstlesebücher hat es bisher auf diesem Blog noch nicht so oft gegeben. Sicherlich ein Mangel. Doch nun habe ich eines in die Finger bekommen, das mein Herz im Sturm erobert hat. Tafiti, das Erdmännchen, und sein Freund Pinsel, erleben ihr zweites Abenteuer in Julia Boehmes Buch Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein.
Nachdem die beiden sich in Band eins kennen- und schätzen gelernt haben, zieht Pinsel nun zu den Erdmännchen, obwohl Opapa das gar nicht lustig findet. Gerade als Tafiti von Pinsel gemalt wird, entführt der Adler Mister Gogo das Erdmännchen. Tafiti glaubt, dass sein letztes Stündchen geschlagen hat, doch dann überrascht Mister Gogo ihn mit dem Geständnis, dass er Vegetarier ist. Statt Tafiti zu verspeisen, verdonnert er ihn zum Aufräumen des Adlerhorstes.
Währenddessen schmiedet Pinsel hochfliegende Pläne, um den Freund zu retten. Denn Erdmännchen-Opapa hat ein Buch, in dem ein Heißluftballon abgebildet ist. Zusammen mit den Vögeln der Savanne baut Pinsel einen Korb und lässt sich von seinen Vogelfreunden in die Lüfte heben. Tafiti wird zwar gerettet, aber Mister Gogo lässt sich so leicht nicht abschütteln.
Wie schon in Band eins beweisen Tafiti und Pinsel auch hier wieder, dass Freundschaft jede Menge Schwierigkeiten überwinden kann. Allerdings müssen sie auch feststellen, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass es Kreaturen gibt, die nicht ihrer vermeintlichen Natur entsprechen. Julia Boehme zeigt den Kindern so auf sehr knuffige und sehr kluge Art, was Toleranz, Mut und Zusammenhalt bedeuten.
Flankiert wird die Freundschaftsgeschichte von den entzückenden Illustrationen von Julia Ginsbach. Tafiti mit runden Segelohren, pfiffigem Blick und rotem Halstuch schließt man sofort ins Herz. Pinsel mit seiner grünen Baskenmütze ist ganz eindeutig Künstler und Erfinder. Und das Chaos in Mister Gogos Adlerhorst ist eine Wonne. Beim Vorlesen und Selberlesen gibt es somit jede Menge Spaß bei den Entdeckungen, die man in den Illustrationen machen kann.
Diesen zweiten Band der Tafiti-Reihe kann man gut ohne das Wissen aus Band eins lesen. Die Geschichte steht auch für sich. Die klaren Sätze, die einfachen Wörter stellen auch für Leseanfänger keine großen Hürden da, so dass der Spaß am Lesen und Entdecken auf jeden Fall gegeben sind.
Haustiere machen glücklich, heißt es. Das kennt man von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Vögeln und durchaus auch Fischen. Aber kann man das auch von Drachen sagen?
Der etwa 9-jährige Edward in dem Roman Drachensitter von Josh Lacey hat da so seine Zweifel. Sein Onkel Morton hat seinen Drachen bei ihm abgegeben und ist in den Urlaub verschwunden. Eine „Pflegeanleitung“ hat er nicht dagelassen. Und nun benimmt sich das Urzeitvieh ziemlich rüpelhaft: Es frisst den Kühlschrank leer, brennt Löcher in Gardinen und Teppiche, hinterlässt Kackhäufchen in Schuhen. Alles ziemlich unschön.
In seiner Verzweiflung schreibt Edward seinem Onkel E-Mails und bittet um Hilfe. Doch Onkel Morton ist wie vom Erdboden verschluckt – und bis er sich nach gefühlten hundert Mails endlich meldet, geht es der Nachbarkatze an den Kragen, wird der Briefträger in die Flucht geschlagen und die Feuerwehr rückt an. Edwards Mutter sammelt derweil alle Quittungen der zerstörten Dinge, die sie sich von ihrem Bruder ersetzen lassen will. Dabei ist der Drache mit einem relativ einfachen Snack zu zähmen …
Josh Laceys kurzer Roman gehört zum Genre humoristische E-Mail-Geschichten, bei denen jede Mail mit einem frechen Schwarzweißbild von Gary Parsons illustriert ist. Die kurzen Mails lassen sich gut vorlesen, sind aber auch für Erstleser in der klaren, einfachen Übersetzung von Anu Stohner gut geeignet. Edwards Abenteuer mit seinem Drachen-Haustier sind kurzweilig, wundervoll lustig und ein ganz charmanter Leserspaß für Jungs.
Und wer dann noch nicht genug hat von Drachen und ihren Eigenarten: Teil zwei, Der Drachensitter hebt ab, kommt schon in den nächsten Tagen in die Buchläden und verspricht genauso vergnüglich zu werden …
Josh Lacey: Der Drachensitter, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrationen: Garry Parsons, Sauerländer,2013, 64 Seiten, ab 6, 9,99 Euro