Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Wer hat an der Uhr gedreht …

antonEin Leben ohne Uhr – wäre eigentlich überaus erstrebenswert, aber leider nicht sehr hilfreich. Das weiß man als Erwachsener, nur zu gut. Für Kinder ist die Zeit bis zu einem gewissen Alter ein Mysterium, zwischen Unendlichkeit und rum in null Komma nix. Davon erzählt das schnuckelige Buch Anton hat Zeit von Meike Haberstock.

Anton versteht sich normalerweise ziemlich gut mit seiner Mama. Nur an manchen Tagen läuft alles schief, wenn er wieder einmal etwas sehr gründlich gemacht hat, weil Mama das so wollte. Aber dann hat Mama auf einmal keine Zeit mehr und die beiden müssen die Treppen hinunterrennen, um pünktlich zu sein.
Dann fühlt sich Anton schrecklich, hat einen blöden Kugelfisch im Bauch und versteht die Welt nicht mehr. Mama kann zwar erstaunlich viele Dinge gleichzeitig machen und fragt sich doch ständig, wo die Zeit nur geblieben ist.
Aber Anton erkennt auch, dass nicht nur Mama ein Problem mit der Zeit hat, sondern scheinbar alle Erwachsenen, der Schulbusfahrer, die Betreuerin aus dem Hort, die schreckliche Mutter von Antons Freundin Marie. Nicht mal für ein Spontanbegräbnis eines Eichhörnchens bleibt ausreichend Zeit. Das ist alles überaus merkwürdig.
Hilfe liefert schließlich Antons Opa, der sich Zeit nimmt.

Liebevoll und voller Witz führt Meike Haberstock junge Leser an das Thema Zeit heran. Es geht nicht darum, die Uhr lesen zu lernen, sondern um das Bewusstsein, dass es so etwas wie Zeit gibt. Mit einem großen Augenzwinkern hält sie dabei den Erwachsenen den Spiegel vor, die aus welchen Gründen auch immer nie Zeit haben. Hier lernen folglich Groß und Klein etwas.
Damit bei der Lektüre keinem die Zeit zu lang wird, hat die Autorin die Geschichte gleich auch noch mit entzückenden Illustrationen und frechen Sprechblasen angereichert. Vor jedem Kapitel steht zudem, wie lange man für das Lesen brauchen wird, jedoch nicht in minütlichen Einheiten, sondern in Tätigkeiten, wie Rechenaufgaben lösen, Schokotorte in sich reinstopfen oder auf einen Apfelbaum klettern. Schon da fängt man an zu grübeln, warum man als Erwachsener alles in Stunden und Minuten abmessen und einteilen muss, anstatt der eigentlichen Tätigkeit den Zeitraum zu geben, den sie eben braucht. Könnte man mal drüber nachdenken …

Meike Haberstock: Anton hat Zeit – Aber keine Ahnung warum, Oetinger, 2015, 112 Seiten, ab 6, 12,99 Euro

Iiiiiiehhh … ähhh … wie cool!

ekligOkay, reden wir Tacheles: Das Leben steckt voll richtig ekliger Dinge wie Körperausscheidungen aller Art, Kriech- und Krabbeltieren, Nagern, Abfall und Abgasen … und gleichzeitig sind diese auch überaus faszinierend, so dass man sich mit einem wohligen Schauer immer wieder mit ihnen befasst.
In dem Sachbuch Voll eklig! von Bärbel Oftring kann man nach Lust und Laune den ekligsten Substanzen und Getieren auf den Grund gehen. Wie entstehen Pickel? Warum mögen wir weder Zecken noch Kakerlaken? Warum ekeln wir uns vor Kot, Kotze, Blut, Urin, Ohrenschmalz und Popeln? Wie wurde in früheren Zeiten gekackt, als es noch keine Wasserklosetts gab? Antworten liefert Oftring in kurzen, aber sehr aufschlussreichen Texten, so dass der Ekelfaktor nicht überstrapaziert wird. Quizfragen und Forscheraufgaben reizen dann das eigene Wissen heraus oder machen dem Leser bewusst, wie er mit einem dieser Ekelthemen umgeht.

Ekel ist kein angeborener Instinkt, sondern von Eltern, Familie und der Gesellschaft, in der wir leben, anerzogen. Dabei hat die Gefühlsmischung aus Abneigung und Widerwillen durchaus einen Sinn, schützt sie uns doch vor Gefahren und Krankheiten. Allerdings können wir bei gewissen ekligen Dingen den Ekel auch wieder verlernen, zum Beispiel mit Hilfe von Oftrings „Nicht-mehr-ekeln-Tipps“.

Das Schöne an Bärbel Oftrings Buch ist, dass es ohne Tabus daherkommt, die Dinge klar beim Namen nennt, um die im normalen Leben meist verschämt herumgeredet wird. Die Fotos und Illus entsprechen dieser Offenheit, so dass man sich zwar manchmal überwinden muss, gleichzeitig aber auch seinem Voyeurismus ungehemmt freien Lauf lassen kann. Durch die vielen Mitmachelemente – man kann ankreuzen, ausfüllen, rätseln, am Ende eine persönliche Ekel-Hitparade aufstellen – führt sie fast nebenbei das wissenschaftliche Prinzip des Hinterfragens und genau Ansehens ein. Den Kindern macht sie so klar, dass das Ekeln durchaus okay ist, aber dass man auch unangenehme Dinge hinterfragen kann und sollte. Dass die Kids – und die erwachsenen Leser ebenso – ganz nebenbei dazu noch eine Menge über Hygiene, andere Kulturen, Geschichte, Biologie und das menschliche Leben lernen, ist da fast nebensächlich. Und nach der Lektüre kann es durchaus passieren, dass manches auf einmal gar nicht mehr so eklig ist …

Bärbel Oftring: Voll eklig! 55 eklige Dinge und was dahinter steckt, Haupt, 2014, 129 Seiten, ab 8, 19,90 Euro

Happy Birthday, Pippi Langstrumpf!

pippiIn diesen Tag jährt sich nach all den Kriegende-Rückblicken noch ein Jahrestag: Vor 70 Jahren erblickte Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf das Licht der Buchwelt.

Aus diesem Anlass zeigt Arte am 24. Mai 2015 den Dokumentarfilm Astrid Lindgren der Schwedin Kristina Lindström.
Im Film taucht man ein in die Welt von Astrid Lindgren, die am 14. November 1907  in der Nähe von Vimmerby geboren wurde. In historischen Filmaufnahmen sieht man den Viehmarkt von Vimmerby und leicht unscharfe Aufnahmen von Astrid Ericsson, so ihr Mädchenname, mit großen weißen Schleifen im Haar. Filmemacherin Lindström rollt das Leben der Schriftstellerin auf, die bereits als Kind zu schreiben begann und schon früh als die „Selma Lagerlöf von Vimmerby“ bezeichnet wurde. Lindgren ist rebellisch, lässt sich als erste im Dorf einen Bubikopf schneiden, liebt das Kino und den Jazz. Sie macht ein Zeitungsvolontariat und wird mit 18 schwanger. Es ist keine Liebe. Heimlich bringt sie ihren Sohn Lars in Kopenhagen zur Welt und gibt ihn zu einer Pflegemutter – was sie ihr Leben lang bereuen wird, wie dieser Film sehr eindrücklich zeigt. Drei Jahre später holt sie den Sohn nach Schweden, doch erst 1931, als sie Sture Lindgren heiratet, kann sie sich richtig um ihn kümmern und Mutter sein. Die Jahre der Trennung vom Sohn haben Astrid Lindgren tief geprägt.

pippiNeben den Daten zu Astrid Lindgrens Biographie offenbart der Film zudem die Einflüsse, künstlerischer und familiärer Art, die in die Bücher der Schriftstellerin eingeflossen sind.
Es gibt hinreißende Ausschnitte aus dem Stummfilm „Through the Back Door“ von 1921, in dem Mary Pickford anfangs eine aufmüpfige 10-Jährige spielt. Lindgren liebte scheinbar die Filme von Pickford. Man sieht hier quasi eine frühe Version von Pippi, die auf Schrubberbürsten den Fußboden putzt und ein Pferd am Schwanz zieht.
Auch wie Lindgren die politischen Entwicklungen während des zweiten Weltkriegs allegorisch verarbeitet, macht der Film deutlich.

Das Schreiben hat Astrid Lindgren über ihren Schmerz geholfen. Wenn sie schrieb, ging es ihr gut, wird berichtet. Dann tauchte sie wieder ein in eine glückliche Kindheit. Ihre eigene endete, als sie schwanger wurde. Sie entwickelte aus ihren bitteren Erfahrungen als ledige junge Mutter den Respekt für die Kindern, der aus ihren Geschichten strahlt, und für den wir sie so lieben. So berichtete Oetinger-Verlegerin Silke Weitendorf im Gespräch nach der Filmvorführung, dass Lindgren sie in persönlichen Begegnungen nie mit lästigen Erwachsenenbemerkungen genervt hat, sondern sie immer fragte: „Bist du ein glückliches Kind?“
Das Glück der Kinder lag Lindgren am Herzen. Den Erwachsenen hat sie es in ihrer Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1978 noch einmal ganz deutlich und unmissverständlich gesagt: Niemals Gewalt gegen Kinder. Auch daran erinnert der Film.

Ursprünglich war dieser Film in der schwedischen Originalfassung drei Stunden lang. Für das deutsche Publikum wurde er auf 52 Minuten gekürzt – was ich sehr schade finde, den Astrid Lindgren ist so eine interessante Frau gewesen, dass man eigentlich nicht genug über sie erfahren kann …
Doch auch nach dieser kurzen Version ist man von Astrid Lindgren tief beeindruckt und liebt sie nun noch mehr. Ihre Bücher werde ich nun mit einem geweiteten Blick und diesem wichtigen Hintergrundwissen erneut lesen.

Astrid Lindgren. Ein Film von Kristina Lindström. Deutsche Fassung: Claudia Drexel, 2015, 52 Minuten. Zu sehen auf arte am 24.05.2015 um 22.15 h.

[Gastrezension] Buchstaben des Vergessens

perryPerry, die Protagonistin aus Kate de Goldis Roman Die Anarchie der Buchstaben, hat nicht nur ein exzentrisches Rhythmusgefühl. Perry ist eine brillante Beobachterin, stellt mit den richtigen Fragen die Dinge auf den Prüfstand und malt Bilder, die mehr erzählen als tausend Worte. Allerdings möchte ihre Mutter, eine Psychologin, das einzige Kind, am liebsten permanent beschäftigt wissen, um Perrys unkonventionelle Art im Zaum zu halten. Bis eines Tages der eng gestrickte Stundenplan eine Lücke bekommt – und Perry beschließt, jeden Donnerstag ihre Großmutter Honora Lee im Seniorenheim zu besuchen.
Die hat schon ziemlich viel vergessen, erkennt ihren Sohn, Perrys Vater, nicht mehr, und auch ihrer Enkelin mit dem Jungennamen begegnet sie fast jedes Mal neu. Um Konventionen schert sich die alte, agile Dame auch nicht mehr, plündert die Süßigkeitenschubladen und Kleiderschränke ihrer Mitbewohner und stößt mit ihrer sehr direkten, unverblümten Art andere häufig vor den Kopf. Früher war sie Lehrerin mit erfrischenden Unterrichtsmethoden und Inhalten, wie Perry bald herausfindet. Und so beginnt Perry für ihre Oma bei ihren Donnerstagsbesuchen ein ganz individuelles Alphabet zu malen.

Ein Ritual war schon einmal die Initialzündung für eine Geschichte der neuseeländischen Autorin Kate de Goldi, in ihrem gefeierten, herzergreifenden Roman Abends um 10, im Original The ten o’clock question. Damals ging der sensible, sorgenvolle Frankie jeden Abend vor dem Schlafengehen zu seiner Mutter, um von ihr zuverlässig Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Und viel über seine ebenso schräge wie liebenswerte Familie zu erfahren.
Jetzt ist es Perry, die immer mehr über ihre Großmutter, die anderen Heimbewohner und die Betreuer, ihre Eltern, über Gedächtnis und Erinnerung herausfindet – über das Universum, das Leben und den ganzen Rest sozusagen. Dabei setzt die Neunjährige mit der orangen Brille Einiges in Bewegung: Sie kann ihren Vater mit seiner Mutter versöhnen, die er übrigens nie Mama, sondern immer nur Honora Lee genannt hat. Perrys Mutter wird gelassener und lernt ihre exzentrische Art zu schätzen.

Nebenbei wächst und gedeiht in verrückter Reihenfolge Honora Lees persönliches „ACB“. Zu lesen – und zu sehen auf den originellen Illustrationen Gregory O’Briens, die wie sehr dynamische Schaubilder wirken.
Die Anarchie der Buchstaben ist eines der charmantesten Bücher über Demenz und das Altern. Kongenial übersetzt von Ingo Herzke, der auch die zahlreichen Reime elegant ins Deutsche übertragen hat.

Der einzige Nachteil des ACB with Honora Lee (so der Originaltitel) ist, dass es so kurz ist, selbst für eine notorische Langsamleserin wie die Rezensentin. Aber das Alphabet hat nur mal nur 26 Buchstaben, egal wie anarchisch man diese durcheinander wirbelt. Trotzdem ist es immer wieder verblüffend, was man mit diesen wenigen kleinen Zeichen alles erzählen und erschaffen kann.

Elke von Berkholz

Kate de Goldi: Die Anarchie der Buchstaben, Illustrationen: Gregory O’Brien, Übersetzung: Ingo Herzke, Königskinder, 2014, 160 Seiten, ab 12, 13,90 Euro

Kreuz & quer durch Prag

pragGeschichten, in denen die Orte eine der Hauptrollen spielen, faszinieren mich irgendwie. Ganz besonders, wenn ich die Städte kenne. Ansatzweise kenne ich Prag – und war daher gespannt, was es mit der City-Crime-Reihe von Andreas Schlüter auf sich hat.

Dieses Mal hat Joanna, Finns Schwester, Karten für ein Popkonzert ihrer Lieblingsband in Prag gewonnen. Die Familie reist für ein Wochenende nach Tschechien und finden sich schon bald in dem Touristentrubel der Karlsbrücke wieder. Hochzeitspaare, Puppenspieler, Menschenmassen, kein Durchkommen. Während Joanna von einem gutaussehenden Marionettenspieler fasziniert ist, bemerkt Finn ein Ehepaar, das nach einem Portmonee sucht. Dabei vergessen sie eine Tüte mit einer Marionette auf der Brücke. Nun kommt eins zum anderen: Die Mutter verknackst sich den Fuß und muss zum Arzt, Joanna will Zeit mit dem Puppenspieler verbringen und Finn will die Marionette zurückgeben. Noch eher sie bis drei zählen können, stecken die Geschwister in einer verwickelten Drogen-Entführungs-Erpressungsgeschichte.

Schlüter gelingt hier das Kunststück, Krimi und Reiseführer in eins zu gießen. Die Helden erkunden nämlich die Stadt und kommen auf der Jagd nach den Bösewichten an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei. Die Infos über Prag werden dabei wie selbstverständlich in den Plot eingearbeitet – für junge Prag-Reisende ist das eine sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Art, sich über die Stadt zu informieren.
Auch die tschechische Sprache kommt nicht zu kurz. Originalsätze der Einheimischen geben einen klanglichen Eindruck, die Übersetzung des Tschechischen findet sich am Ende des Buches in einem kleinen Wortschatz, der das wichtigste Vokabular für den Kurztripp liefert.

Wer also mit seinen Kindern eine Städtereise nach Prag plant, sollte den Kids diese spannende Reiselektüre mit auf den Weg geben. Sie werden die Stadt mit ganz anderen Augen sehen.

Andreas Schlüter: City Crime – Puppentanz in Prag, Illustration: Daniel Napp, Tulipan, 2015, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

Spukgruselig & fußballfiebrig

max

Normalerweise versuche ich, meinen SUB schön der Reihe nach, kontinuierlich durchzulesen – doch es gibt Momente, in denen auch ich alles über den Haufen werfe und mich kopfüber in ein neues Buch ziehen lasse. Aktuell geschehen mit dem zweiten Band der Reihe Max und die Wilde Sieben von Lisa-Marie Dickreiter und Winfried Oelsner.

Da das Personal aus dem ersten Band mir noch lebhaft in Erinnerung war, war ich nach den ersten Sätzen sofort wieder auf Burg Geroldseck, dem Seniorenheim, in dem Max mit seiner Mutter lebt und wo er an Tisch Sieben in Vera, Kilian und Horst allerbeste Freunde gefunden hat. Danach war klar, dass ich das Buch nicht so schnell wieder aus der Hand legen würde. Denn die sympathische Generationsbande muss einen neuen Fall lösen: Vera wird des Nächtens von einer Geisterstimme terrorisiert und um den wichtigen Schlaf gebracht. Die Schauspielerin ist mit den Nerven am Ende und überlegt ernsthaft, das Angebot eines anderen Seniorenheims unten in der Stadt anzunehmen, um endlich wieder Ruhe zu haben.
Die drei „Jungs“ können das natürlich nicht zulassen und nehmen die Ermittlungen auf. Für Max kommt allerdings erschwerend hinzu, dass er in der Schule weiterhin von Ole gemobbt wird und prompt das Probetraining für die Schulfußballmannschaft versemmelt. Dabei ist Max ein echt guter Kicker. Das stellt Horst, der ehemalige Trainer, nach nur fünf Minuten fest.
Zu Maxens Leidwesen interveniert Horst in der Schule und als Ergebnis muss die Schulmannschaft gegen eine Alt-Knacki-Auswahl plus Max antreten. Es geht um die Ehre.
Max erlebt in mehrfacher Hinsicht ein Wechselbad der Gefühle. Die Geisterjagd setzt ihm zu und das mit dem Fußball, dem Mut und der Ehrlichkeit ist auch nicht so einfach zu meistern.

Die Autoren Dickreiter und Oelsner schaffen es erneut, den Leser von der ersten Seite in den Bann zu ziehen. Man freut sich, die alten Bekannten, ja, Freunde, wiederzulesen und fiebert mit Max und Konsorten mit und wird von den diversen Wendungen im Plot und den Wandlungen der Figuren dann doch immer wieder überrascht. Die Auflösungen der beiden Herausforderungen sind sehr lange Zeit nicht offensichtlich und auch nicht vorhersehbar, was ganz fein gemacht ist!
Max und die Wilde Sieben nimmt richtig Fahrt auf, lässt sich hervorragend vorlesen und wird die Leselust von Jungen und auch Mädchen mit Sicherheit befördern. Ein dritter Band ist auch schon angekündigt – mögen noch viele folgen, damit dieses Lesevergnügen noch lange fortdauert …

Lisa-Marie Dickreiter/Winfried Oelsner: Max und die Wilde Sieben – Die GeisterOma, Illustration: Ute Krause, Oetinger, 2015, 272 Seiten,  ab 8, 12 Euro

Demokratisch von klein auf

demokratieEin Freund sagte neulich zu mir: „Mit Demokratie kann man sich auch den Abend verderben.“ Ja, möchte man manchmal seufzen – aber was wären die Alternativen zur Demokratie? Mir fällte keine ernstzunehmende ein. Und so anstrengend Demokratie also sein mag, so wichtig ist sie.

Dass man die Grundprinzipien von freien Wahlen,  Mehrheitsvotum und Volksvertretung auch schon den ganz jungen Menschen beibringen kann, zeigt Juli Zeh in ihrem Kinderbuch Jetzt bestimme ich, ich, ich!
Anhand der vierköpfigen Familie Wiefels spielt sie verschiedenen Formen von Entscheidungsfindung durch, damit es nicht immer so viel Streit am Abendbrottisch gibt. Angefangen beim „Bestimmer-Karussell“, in dem immer einer dem nächsten sagt, was er zu tun hat, über das Auslosen, wer was im Haushalt machen soll, bis hin zur Bildung eigener Mini-Reiche im Haus, wo jeder machen kann, was er will.
Doch nichts bringt die Familie wirklich weiter. Entweder ist durch das Bestimmer-Karussell nur grüner Salat zum Abendbrot da, oder alle verziehen sich in ihre Mini-Reiche und leben nicht mehr wirklich miteinander, sondern aneinander vorbei. Auch die einfachen Abstimmungsverfahren bringen die Wiefels nicht richtig weiter, da es zu oft unentschieden steht.
Erst als eine „Regierung“ gewählt wird, nach einem aufregenden Wahlkampf mit Luftballons und Wahlplakaten, kehrt die Zufriedenheit in der Familie ein.

Juli Zeh kommt in dieser Geschichte ohne schwieriges Polit-Vokabular aus und macht es jungen Lesern damit leicht, die Grundprinzipien unserer Staatsform zu verstehen. So wie heute der Umgang mit technischem Gerät wie Smartphones und Tabletts für kleine Menschen schon fast selbstverständlich ist, kann mit dieser Lektüre auch das Bewusstsein für demokratisches Verhalten früh geweckt werden. Denn das, was für einen selbstverständlich zum Leben dazu gehört, lässt man sich auch nicht so leicht nehmen. Anderen undemokratischen Strömungen und Tendenzen wird damit von Anfang an der Nährboden entzogen – zumindest hoffe ich das. Daraus folgt eigentlich die Empfehlung, dass dieses kleine, aber ganz feine Buch in keiner Familie mit kleinen Kindern und in keinem Kindergarten fehlen darf.

Juli Zeh: Jetzt bestimme ich, ich, ich! Illustration: Dunja Schnabel, Carlsen, 2015, 48 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

[Jugendrezension] Caesars Leibwächter

römerSelbst die beste Technik hat ihre Fehler. Ein Beispiel dafür gibt das Buch Albert Zweisteins Zeitkanone – Bei den Römern von Heiko Wolz.

Albert hat eine Lichtgeschwindigkeitskapsel gebaut, für die er in Physik eine Eins mit Stern bekommen hat. Doch schon beim ersten Flug geht etwas schief. Eigentlich will Albert nur zum Baumarkt und einen Silizium-Halbleiter kaufen, doch dann landet er im Jahr 49 v. Chr., besser gesagt: Er landet nicht, sondern stößt im Flug gegen ein Pferd.
Die zwei Personen aus dem Wagen, den das Pferd gezogen hat, sind zwar erst wütend, aber als Albert dann klar wird, dass es sich um Römer handelt, und nachdem er sich mit ihnen anzufreunden versucht, sind auch sie gleich netter zu ihm.

Da sie kein Pferd mehr haben, bitten sie Albert, ihren Auftrag zu übernehmen:  Er soll eine Botschaft zu Caesar nach Ravenna bringen. Bis dorthin sei es nicht mehr so weit. Albert sieht aber zu spät im Mini-Computer des Rat-Packs (auch eine seiner Erfindungen) seiner Ratte nach: Es ist doch sehr weit. Trotzdem kommt er nach Ravenna und wird schnell als Leibwächter Caesars eingespannt. Ihm gefällt das römische Leben sehr: die Thermen, in denen er mit Caesar war, das Essen und überhaupt alles. Er muss jetzt Caesar überallhin begleiten, doch Albert versucht, ihn mit raffinierten Tricks aufzuhalten, so zum Beispiel hält er ihn bei einer Eroberung einer Stadt auf: Man solle sie lieber tagsüber einnehmen, um einen besseren Überblick über die Soldaten zu haben.
Er tut das, weil die beiden Römer, die er am Anfang getroffen hat, ihm nämlich seine Kapsel hinterherschicken wollen. Aber das geht aber nur recht langsam. Ob es Albert gelingt, dass sie ihn einholt? Und ob er seiner Leibwächter-Rolle entkommt?

Das Buch eröffnet dem Leser eine andere Möglichkeit, Geschichte kennenzulernen, als in Geschichtsbüchern. Es ist sehr witzig aus Alberts Perspektive geschrieben. Man hat Einsichten in alles, was er denkt, und das macht die Geschichte sehr lebendig. Man kann sich gut vorstellen, dass diese Geschichte passiert sein könnte. Die Fakten und das Geschehen um Caesar werden ziemlich genau wiedergegeben, obwohl natürlich etwas dazuerfunden ist.

Das Buch würde ich ab etwa acht Jahren empfehlen. Ich denke, dass das Buch für eher Jüngere sehr unterhaltsam und lehrreich ist, Ältere es aber kindisch finden könnten.

lector03 (12 Jahre)

Zusatz von lector06 (9 Jahre):

Ich fand das Buch gut, weil es nicht langweilig ist, sondern spannend. Außerdem spricht Albert wie Schüler heutzutage. Ich habe mehr über Caesar und die römische Geschichte gelernt. Auch über das Leben der Römer, z.B. über ihre Villen, habe ich Neues erfahren.

Heiko Wolz: Albert Zweisteins Zeitkanone – Bei den RömernIllustration: Lisa Hänsch, Oetinger, 2015, 144 Seiten, ab 9, 12 Euro

[Jugendrezension] Jagd auf T-Kex

dinoDas Ungeheuer von Loch Ness ist kein Einzelfall. Seit Jahrhunderten suchen die Menschen mit allen Mitteln nach solchen Tieren. So ist es auch in dem Buch Napoleon & T-Kex von Annika Langa.

Der rücksichtslose, geldgierige Stefan Bolinder, der mit seinem Gefährten Sirob eine Firma namens „Monsterjäger“ gegründet hat, jagt Monster auf der ganzen Welt. In Schwedens fünftgrößtem See, dem Storsjön, wird er fündig. Er hat mit aufwendiger Technik herausgefunden, dass es ein Muttertier und ein Jungtier gibt. Das Kleine will er haben, weil ihm dafür viel Geld gezahlt wird. Um es zu bekommen, erschießt er die Mutter, doch trotzdem entwischt ihm das Jungtier. Unerwarteterweise hat es Flügel, mit denen es bis zu dem Fluss fliegt.
Dort finden es Nappe und seine Freunde durch Zufall und halten es für ein Robbenbaby. Keiner denkt auch nur im Entferntesten daran, dass es das Ungeheuer aus dem Storsjön sein könnte.  Sie bringen es zu ihrem Freund Boris, der praktischerweise direkt am Fluss wohnt. Boris entdeckt, dass es keine Robbe ist, doch auch er hat erst einmal keine Ahnung, was es sein könnte. Aber sie finden schnell heraus, dass das Dinosaurierbaby alias Robbenbaby gerne Kekse mag. Deshalb gibt Nappe ihm seinen Namen: T-Kex, was aus T-Rex und Keks zusammengesetzt ist.
Keiner weiß, dass das Tier von den Monsterjägern gesucht wird. Da es kein besseres Versteck gibt und Nappe ein großer Tierfreund ist, versteckt er T-Kex unter seinem Bett. Doch seine Eltern sind nicht die einzige Gefahr: Die Monsterjäger schrecken auch nicht vor einem Einbruch zurück. Die Lage wird immer gefährlicher …

Napoleon & T-Kex ist sehr schön, lebendig geschrieben, abwechslungsreich erzählt. Man kann das Abenteuer richtig miterleben. Es ist für Dinosaurier- und Tierfreunde und für Menschen, die gerne einfach spannende Geschichten lesen, geeignet. Es ist leicht verständlich und daher für 10-Jährige geeignet.

Lector03 (12)

Annika Langa: Napoleon und TKex, Illustration: Felix Wallbaum,  Kosmos, 2014, 256 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

Schrift stellen

wörterKonstantin – bei diesem Namen denke ich unwillkürlich an den römischen Kaiser und seinen imposanten Kopf, der in den Kapitolinischen Museen in Rom steht. Jeder hat diesen Kopf schon mal gesehen. Ganz sicher.
Doch mit dieser Assoziation liege ich bei diesem Buch von Martin Heckmanns völlig falsch.

Heckmanns Konstantin ist schmächtig, hat abstehende Ohren und stottert. Außer, wenn er liest. Oder schreibt. Denn „wer in einem Buch lebt, der hat ein Leben mehr“, denkt sich der Junge und schreibt eine Geschichte, die ihn aus seinem normalen Alltag entführt.
Als er eines Tages einen mädchenhaften Gesang hört, macht er sich auf den Weg. Er durchquert einen Bach, gelangt in einen Wald, begegnet einer sprechenden Eintagsfliege, einer Blindschleiche, die nur so lala sehen kann, und befreit ein schönes Mädchen aus den Fängen eines Untiers.

Konstantins Geschichte möchte ich hier nicht genauer ausführen, denn den Reiz, den dieser Text beim Lesen entfaltet, den kann ich hier auch nicht ansatzweise nachbilden. So bedauernswert Konstantin einem zunächst vorkommt, so sehr bewundert man ihn am Ende und möchte selbst mehr Konstantin sein.
Denn so viel sei darüber gesagt: Wie in einem szenisch inszenierten Märchen übersteht Konstantin sein in Zügen kafkaeskes Abenteuer, wächst daran und lernt das stotterfreie Reden. Verpackt hat Heckmanns all dies in poetische Sprachspiele, Reime, Alliterationen, die geradezu danach schreien laut vorgelesen, vorgetragen, deklamiert zu werden. Darin erkennt man den Theaterautor – und das macht ungemeinen Spaß. (Ich werde in nächster Zeit vermehrt darauf achten, ob in Hamburg Stücke von Heckmanns gespielt werden, die mir bis jetzt immer noch entgangen sind … auch das eine Folge dieser Lektüre …) Jedenfalls sensibilisiert sein Text, sein Umgang mit Sprache und mit dem Spiel derselben genau dafür: Spielt, spielt mit der Sprache, sucht die Wörter in den Wörtern, werdet zu denen, die Schrift stellen.

Flankiert wird Konstantins Geschichte von den Illustrationen von Stefanie Harjes. Sie kommt dabei mit den schneewittchengleichen Farben schwarz, weiß und rot aus, zeigt aber durch die Collage-Kombination aus Zeichnung, Text, Zahlen, Fotos was wiederum im Bereich Bild alles möglich ist. Heckmanns‘ Spiel der Sprache setzt Harjes im Spiel der Bilder weiter fort. Sie werden zum Bühnenbild für den Text und laden zum genauen Schauen und Entdecken ein.

Auch wenn zehnjährige Leser die Anspielungen an Sirenen, Unterweltflüsse, verschlossene Eingänge, Frauen mit O-Namen nicht werden einordnen können (ich habe mit Sicherheit auch nicht alle entdeckt …), so werden sie doch in eben diese fantastische Bücher- und Theaterwelt entführt, die ihre Helden auf eine Reise schickt und sie (oftmals) zu besseren Menschen macht. Zu Menschen, die den Wert und die Kraft von Wörtern schätzen und lieben lernen.

Die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 in der Sparte Kinderbuch ist da nur folgerichtig.

Martin Heckmanns: Konstantin im WörterwaldIllustration: Stefanie Harjes,  mixtvision, 2014, 80 Seiten, ab 10, 17,90 Euro

Eine Hörwonne

pastewka

Ich muss ganz dringend etwas nachreichen: das Neueste vom Neuesten in Sachen Pünktchen und Anton. Kästner habe ich ja in schöner Regelmäßigkeit hier auf dem Blog, aber meine Lektüre dieser Berlingeschichte ist auch schon wieder über drei Jahre her.

Doch nun fühle ich mich ein weiteres Mal in meine Kindheit zurückversetzt, denn endlich kann ich mir Kästners Geschichte wieder vorlesen lassen. Es ist herrlich. Schauspieler Bastian Pastewka hat den Roman  eingelesen und zwar ungekürzt. Nicht wie bei dem Kinderhörspiel von 1963, dem ich vor vielen Jahren bei meiner Großmutter gelauscht habe. Gerade eben habe ich sogar eine Audioversion auf You-Tube gefunden – und bin nach ein paar Minuten wieder ausgestiegen. Die schnarrende Art des ehemaligen Erzählers ist man einfach nicht mehr so richtig gewöhnt.

Umso feiner ist die Les-Art von Pastewka: Unaufgeregt in den Erzählpassagen, berlinernd, wenn die Dicke Berta auftritt, herrlich blasiert als Fräulein Andacht, frech als Pünktchen, hinterschleimig als Robert der Teufel. Kästners Figuren erwachen hier zu ganz frischem Leben, befreit von jeglichem Akustikstaub, so dass man die drei CDs in einem Rutsch durchhören kann. Viel zu schnell vergehen die 225 Minuten.
Das mag neben Pastewkas fesselnder Performance auch an den Musikstücken zwischen den Kapiteln liegen. Pfiffig, schmissig und ein bisschen schräg umrahmen sie Kästners Geschichte und vermitteln einen Hauch von einem Berlin der 20er, 30er Jahre, ohne altbacken oder nostalgisch zu erscheinen. Sie passen perfekt.

Die einzigen, leichten Textänderungen, die die CD-Macher vorgenommen haben, betreffen die Stellen, an denen Kästner seine Leser direkt anspricht und auf das Lesen bzw. Überlesen der Nachdenkereien hinweist. Hier wird in der Logik des Mediums von „hören“ und „überspringen“ gesprochen. Verwirrung bei jungen Zuhörern wird so vermieden, die Konzentration auf die Erlebnisse von Anton und Pünktchen befördert.
Für mich ist diese Audio-Version durch all diese liebevollen Bearbeitungen zu einem überaus gelungenen Gesamtkunstwerk geworden.

Erich Kästner: Pünktchen und Anton, 3 Audio-CDs, ungekürzte Lesung mit Musik, 225 Min., Komposition: Marc Schubring/Carsten Gerlitz, Illustration: Walter Trier, Gesprochen von Bastian Pastewka, Oetinger audio,  2015,  ab 8, 19,99 Euro

[Jugendrezension] Die Geschichte der Berliner Mauer

mauerViele Menschen besuchen jedes Jahr die Überreste der Berliner Mauer, vor allem die Eastside Gallery und den Checkpoint Charlie, wo als Grenzsoldaten verkleidete Menschen den Touristen Bescheinigungen ausstellen und sich fotografieren lassen. Doch was steckt eigentlich wirklich hinter der Berliner Mauer?

Das Buch Wie war das mit der Mauer? von Verena Glanos gibt Antwort auf diese Frage. Es beschreibt chronologisch die Ereignisse von der Teilung Deutschlands bis zur Wiedervereinigung. Zwei fiktive Personen, Peter und Paul, sind die Beispielfiguren des Buches. Einer der beiden lebt in Ost-Berlin, der andere in West-Berlin. Das, was sie erleben, steht am Anfang jedes Kapitels. Diese Geschehnisse werden dann ausführlich erklärt. Die Texte sind sachlich, ohne große Ausschmückungen geschrieben und sehr informativ. Sie gehen ziemlich stark ins Detail, sind aber trotzdem kompakt. Durch Zwischenüberschriften ist der Fließtext gut gegliedert und sie erleichtern sehr das Überfliegen, wenn man etwas Bestimmtes sucht. Außerdem gibt es neben dem Text noch Infokästen, Steckbriefe und Fragen von Kindern, die in einem Kasten beantwortet werden. Auf jeder Seite finden sich es Bilder, teilweise Fotos, teilweise Zeichnungen. Die Zeichnungen beziehen sich auf das Kapitel, sie fassen sehr kurz noch einmal zusammen, was dort steht. Das Layout der Seite ist also sehr gut: Es ist aufgelockert und erscheint nicht so textlastig. Trotzdem ist das Buch nicht besonders gut zum Hintereinanderweglesen geeignet, denn im Text sind Querverweise auf andere Seiten enthalten. Wenn man ihnen folgt, muss man viel blättern, wenn nicht, dann irritieren sie einen noch.

Wie war das mit der Mauer? ist sehr informativ. Es erklärt die Geschichte so, dass man sie verstehen muss, und man lernt beim Lesen viel. Besonders spannend fand ich die Zeitzeugenberichte, die immer wieder auftauchen.

Ich kann das Buch für jeden interessierten Menschen empfehlen, aber unter neun Jahren ist es wahrscheinlich noch sehr kompliziert.

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Verena Glanos: Wie war das mit der Mauer? logo! erklärt, wie Deutschland geteilt und wieder vereint wurde. logo! ZDF tivi, Boje Verlag, 2. Aufl. 2014, 143 Seiten, ab 9, 9,99 Euro

Kinder an den Herd

kochenErinnert sich noch jemand an Lirum, larum, Löffelstiel? Ja? Doch, bestimmt das ältere Semster hier … Lirum, larum, Löffelstiel war der Kinderkochkurs im ZDF in den 70er Jahren. Schon damals stand TV-Kochen hoch im Kurs. Und ich habe es geliebt. Die Kinder Doris, Heidi und Axel in ihren gelben Schürzen mit den roten Herzen drauf fand ich irgendwie cool, was man damals noch nicht sagte und Axel mit seiner Brille eigentlich immer etwas strebermäßig aussah. Irgendwann bekam ich auch das Buch zur Serie, ob ich daraus gekocht habe, weiß ich nicht mehr. Das Buch habe ich aber immer noch. Und die schlichten Rezepte sind zwar zeitlos – aber auch nicht mehr unbedingt zeitgemäß.

Für die zeitgemäße Heranführung von Kindern ans Kochen – was meines Wissens momentan im TV nicht passiert (klärt mich bitte auf, wenn es auf den Kinderkanälen irgendetwas in der Art gibt …) – gibt es aktuell das herzallerliebste Wimmel-Kochbuch von Rotraut Susanne Berner und der Ernährungsexpertin Dagmar von Cramm.
Entsprechend den Jahreszeiten zeigen die Wimmlinger den Lesern, was man so alles saisonal zubereiten kann, Frühlingssammelsalat beispielweise, mit selbstgepflückten Kräutern aus Wald und von der Wiese. Die botanisch exakten Zeichnungen von Berner klären auf, um was für Gewächse es sich dabei handelt.
In diesem Kochbuch wimmelt es auf jeder Seite. Nicht so sehr mit Zeichnungen wie in den großen Wimmelbüchern, sondern mit vielen größeren und kleineren Texten. Und die haben ein Informationsgewimmel in sich. Denn es gibt hier nicht nur Rezepte, sondern jede Menge Hinweise und Erklärungen zum Kochen, zur Ernährung, zur Herkunft von Nahrungsmitteln und was man alles selber anbauen und ziehen kann. Sicherheitshinweise und Techniken, wie was zu behandeln ist, fehlen natürlich auch nicht.

Die Rezepte selbst sind nicht immer kinderleicht, sondern „normal“ wie von Cramm in ihrem Vorwort erläutert – und so soll es sein. Sicher wird ein vierjähriges Kind nicht gleich indisches Biryani kochen, doch Plätzchen-Ausstechen geht allemal. Spielerisch kochen lernen und dabei den Wert von Lebensmitteln zu erfahren sind hier quasi die Nebeneffekte von abwechslungsreichen, internationalen, leckeren Gerichten. Und die schmecken nicht nur Kindern.
Ich jedenfalls werde diese Kochbuch neben meine anderen stellen und mich immer wieder von dem Gewimmel inspirieren lassen.

Rotraut Susanne Berner/Dagmar von Cramm: Das große Wimmel-Kochbuch. Mit Rezepten für alle Jahreszeiten, Gerstenberg Verlag, 2014,  144 Seiten,  ab 4, 19,95 Euro

[Jugendrezension] Zwei Schwestern

vogelherzSummer und Bird aus dem Buch Vogelherz von Katherine Catmull sind Schwestern. Bird ist klein, hat viel Fantasie und liebt Geschichten. Summer verlässt sich eher auf Tatsachen und ist sehr schlau.

Als die beiden Mädchen eines Morgens aufwachen, sind ihre Eltern spurlos verschwunden. Nur einen rätselhaften Bilderbrief haben sie hinterlassen. Summer versucht, die Botschaft zu deuten. Sie kommt zum Entschluss, dass sie ihre Eltern suchen müssen und zwar dort, wo sich die Mutter meistens aufhält: im Wald.

Im Wald treffen sie auf einen Vogel mit einem seltsamen Gefieder. Er singt ein Lied, und Bird versteht dieses Lied. Sie prägt es sich ein, denn der Vogel verkündete ihr: Das Lied ist euer Weg. Der Weg nach unten. Aber Summer glaubt Bird nicht. Schließlich finden die beiden doch den Weg nach unten in eine andere magische Welt. Aber die Geschwister verlieren sich aus den Augen.

Summer lernt Ben, einen alten Mann kennen, und erfährt von der grausamen Puppenspielerin. Währenddessen entdeckt Bird eine große, graue Schwanenburg. Neugierig betritt sie die Burg. Es ist die Residenz der Puppenspielerin. Die Puppenspielerin verlangt von Bird, dass sie ihr die Vogelsprache beibringt. Sie erzählt ihr, dass Bird etwas Besonderes sei. Dass sie als Vogel geschaffen ist. Für Bird geht ein Traum in Erfüllung.

Sie hört, dass ihre Mutter die Vogelkönigin ist, aber ihr Volk im Stich gelassen hat. Dass sie das nur für ihren Mann und ihre Kinder Summer und Bird gemacht hat, weiß Bird nicht. Durch die Puppenspielerin verwandelt sich Bird in einen anderen Menschen. Sie tut grausame Dinge, weil es die Puppenspielerin auch tut. Sie lacht mit ihr, obwohl sie sich dafür schämt. Irgendwann beherrscht die Puppenspielerin Bird. Bird wird immer machthungriger, sie will die neue Vogelkönigin sein. Doch damit würde der Plan der Puppenspielerin in Erfüllung gehen: Bird würde sie sich von ihr leiten lassen, und die Puppenspielerin wäre die eigentliche Herrscherin.

Inzwischen trifft Summer ihre Vogelfreundin, ihr Seelentier. Von ihr erfährt Summer die wahre Geschichte ihrer Eltern. Plötzlich wird ihr klar, dass auch sie die neue Vogelkönigin werden könnte. Soll sie gegen die eigene Schwester antreten?
Bleiben die Geschwister nur Figuren im schändlichen Spiel der Puppenspielerin oder können sie ihre Pläne durchkreuzen?

Ich war als Erstes ein bisschen skeptisch, als ich Vogelherz von Katherine Catmull las. Mir kamen viele Ereignisse und Beschreibungen unlogisch vor. Aber nach und nach setzten sich alle Puzzleteile zusammen, bis selbst die merkwürdigste Sache einen logischen Sinn hatte.
Interessant fand ich die Entwicklung der beiden Schwestern, nachdem sie sich aus den Augen verloren hatten. Und wie sich Birds Charakter unter dem Einfluss der Puppenspielerin veränderte. Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen. Ich würde es für das Lesealter ab 10 Jahren empfehlen.

Katharina (12)

Katherine Catmull: Vogelherz, Übersetzung: Katja Behrens, FISCHER Sauerländer,  2014, 448 Seiten,  ab 10, 16,99 Euro