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Nach meinem Post über italienische KJL in Deutschland habe ich mir ja vorgenommen, die Szene weiter zu beobachten – und nun gibt es bereits die Fortsetzung vom Markt- und Strandtag. Dieses Mal führen uns Susanna Mattiangeli und Vessela Nikolova durch ein Kunstmuseum. Ein namenloses Kind erzählt dabei, wie es in so einer ehrwürdigen Institution zugeht – angefangen bei den Schließfächern und der Ticketkasse. Sind diese unspektakulären Hürden jedoch erst einmal genommen, eröffnen sich den Besucher:innen die Schätze eines Museums, die alle in den Bann ziehen: Farben und Formen, Abbilder von Menschen, bekleidet, unbekleidet, naturalistisch oder abstrakt, als zweidimensionale Gemälde oder als dreidimensionale Statuen. Tierliebhaber finden Lämmer, Tauben, Hermeline oder tote Frösche, Gourmets erfreuen sich an opulenten Stillleben, die Hunger auf die mitgebrachten Butterbrote machen. Jeder Saal birgt neue Überraschungen.
Mehr Fragen als Antworten
Und ständig tauchen neue Fragen auf: Wieso schauen manche Personen auf den Bildern so ernst? Warum tragen sie so seltsame Kleidung? Wie bekommt man Hände so gut hin? Manchmal kann man die Antworten auf den Schildern an den Bildern finden, meistens jedoch muss man sie hinterher nachschlagen oder im Netz recherchieren. Und so wie jeder Saal im Museum wirft auch jede Seite in diesem Bilderbuch Fragen auf, die kleine Buchmenschen zu diversen Vermutungen anregen. Hier gibt es viel zu sehen – eben wie in einem Museum – aber auch viel zu lachen, wenn die Porträtierten schräg kucken oder die Besucher:innen fast mit den Bildern verschmelzen (wie in den #peoplematchingartworks-Fotos von Stefan Draschan). Natürlich können wir hier nicht um die Statuen herumgehen, aber die Lust steigt, bei nächster Gelegenheit, mal wieder ein Museum zu besuchen.
Anregung für junge Kunstliebhabende
Damit die Kunst im Museum für Kinder nicht langweilig wird, wenn die Aufmerksamkeitsspanne noch nicht so groß ist, bieten sich Ralleys oder thematische Fragestellungen an – das Gleiche gilt auch für dieses Buch. So könnten die Kinder hier nach bestimmten Farben suchen, Kopfbedeckungen oder Frisuren betrachten und dabei dem Mädchen im gelben Anorak folgen. Erwachsene Kunstkenner:innen finden hier so manch bekanntes Werk wieder (Da Vincis »Dame mit Hermelin« oder Jan van Eycks »Arnolfini-Hochzeit«) und können sich am Wiedererkennungseffekt freuen. Wenn dann – was nicht unwahrscheinlich ist – der Wunsch aufkommt, selbst kreativ zu werden und ein Kunstwerk zu schaffen, sollte man rasch Papier und Stifte bereithalten und dem Schaffensdrang Raum geben.
Malfreuden mit Carll Cneut
Sollten jedoch die Anregungen aus dem Museumstag dafür noch nicht ausreichen, bietet der belgische Künstler Carll Cneut in seinem neuen Malbuch Unter Wasser großartige Vorlagen und Ideen. Die Flora und Fauna der Meere hat er hier versammelt und auf ganz verschiedene Arten für Kinder zum Aus- und Abmalen aufbereitet. Da gibt es Muschelumrisse mit Bleistift und Kohle gezeichnet, aber auch bunte Fische, bei denen er nur Kopf und Schwanz detailgenau farbig gestaltet hat. Die restlichen Meeresbewohner harren der Vervollständigung durch Jungkünstler:innen. Hier darf gekritzelt, gezeichnet, gemalt und vor allem übergemalt werden. Cneuts Bilder animieren dazu, verschiedene Techniken auszuprobieren, also mit Bunt- oder Filzstiften, mit Kreiden, dicken oder dünnen Pinseln, mit Aquarellfarben oder Klebepapieren. Krumme Linien sind erwünscht, aber auch genaues Hinsehen und Nachmachen. Die Ergebnisse werden in jedem Fall einzigartig künstlerisch sein.
Susanna Mattiangeli: Ein Museumstag, Illus: Vessela Nikolova, Übersetzung: Lucia Zamolo, Bohem Press, 2021, ab 3, 15 Euro
Carll Cneut: Unter Wasser. Malen und Zeichnen, Bohem Press, 2021, ab 3, 17,95 Euro
Federvieh in der KJL hat momentan Hochkonjunktur. Neulich hatten wir hier das ultimative Hühnerbuch, jetzt gibt es gleich zwei Bücher mit entsprechenden Protagonisten. Bei Ulrich Hubs neuestem Werk meint man vielleicht in einem Treppenwitz gelandet zu sein, wenn man den Titel Lahme Ente, blindes Huhn betrachtet und die Assoziationen im Kopf schießen sofort ins Kraut. Doch die Lektüre offenbart bereits auf Seite eins eine der entzückendsten Fabeln über das Leben, versteckte Wünsche, die Macht der Fantasie und die Freundschaft.
Eine tierisch gute Kombination
In einem grauen Hinterhof lebt die lahme Ente, futtert Erdnüsschen und wünscht sich eigentlich jemanden, mit dem sie diesen Snack teilen könnte. Eines Tages schneit das laute und selbstbewusste blinde Huhn herein und lässt sich durch nichts beirren. Die beiden raufen sich zusammen und ziehen hinaus in die Welt. Das Huhn stützt, die Ente sieht. So geht es eine lange Straße entlang, durch einen dunklen Wald, über eine hohe Schlucht, den höchsten Berg hinauf bis zum goldenen Tor, hinter dem die verborgenen Wünsche erfüllt werden.
Perfekte Ergänzung und das Wesentliche
Natürlich geht so eine Reise nicht ohne Konflikte und Streitigkeiten ab. Doch der Weg verändert die beiden Held:innen. Sie lernen sich gegenseitig besser kennen, aber auch sich selbst – so entdeckt die Ente, dass Fliegen ja ganz leicht ist … Und sie finden heraus, auf was es im Leben wirklich ankommt. Ulrich Hub, Experte für allzu menschliche Tierstorys, erzählt dies mit so hintersinniger Leichtigkeit, dass auch Erwachsene an dieser Geschichte Gefallen finden werden. Denn hier spiegelt sich der Kern des Lebens in seinen Facetten: Wir sind alle nicht perfekt, gleichen uns jedoch in unseren grundsätzlichen Wünschen nach Gesehen-werden und Freundschaft. Das alles suchen wir manchmal an weit entfernten Orten, können gar nicht schnell genug vom Hof kommen … um dann festzustellen, dass so manches schon ganz nah ist. Allen Redewendungsassoziationen zum Trotz gleitet Ulrich Hub aber nie ins Banale oder Kitschige ab, sondern schafft es mit feiner Ironie und viel Humor, dass einem mit jeder Seite Huhn und Ente mehr ans Herz wachsen und man das Wesentliche unsere Existenz erkennt.
Love rules
Eine weitere ungewöhnliche Vogelpaarung findet sich in dem Bilderbuch Der Habicht und der Hahn von Käptn Peng und Melanie Garanin. Der Habicht, der normalerweise eine Gefahr für Hühner darstellt, mag in diesem Fall den Hahn. Und dieser erwidert die Gefühle, sehr zum Unverständnis von Bauer und Hühnerschar. Doch die beiden lassen sich von ihrer Umwelt nicht abhalten und verschmelzen zu einer Einheit.
Dynamisch in Musik und Strich
Der kurze Text stammt aus dem gleichnamigen Song von Käptn Peng, auch bekannt als Robert Gwisdek, Schauspieler, Musiker, Autor. Man kann sich das Buch also quasi vorsingen lassen und zwar in bester Liedermacherqualität, bei der die Stärke des Textes so richtig zu Geltung kommt. Doch auch die schwarzkonturierten, aber farbig-strahlenden Aquarelle von Melanie Garanin sind eine Wonne, die den Aufruhr im Hühnerstall um die beiden Liebenden dynamisch und verspielt zeigen. Da wird der Bauer fast zum Schwein und der Regenwurm schwingt die Rassel.
Liebe, wen du willst
Die Botschaft ist natürlich klar und ein Plädoyer für eine grenzenlose Liebe, jenseits von Geschlechtern oder sonstigen Schubladen. Das ist zum einen ein Buchtrend unserer Zeit, aber eben auch immer noch nicht selbstverständlich und daher wichtig, es auch den ganz jungen Menschen auf so charmante Weise klarzumachen. Nur mit solchen Geschichten wird es vielleicht mal Generationen geben, die um gleichgeschlechtliche Liebe und queere Lebensformen kein Gewese mehr machen werden.
Ulrich Hub: Lahme Ente, blindes Huhn, Illus: Jörg Mühle, Carlsen, 2021, ab 8, 13 Euro Käptn Peng: Der Habicht und der Hahn, Illus: Melanie Garanin, Huckepack, 2021, ab 5, 15 Euro
Das ist doch echt gemein: Herr Bert wird immer übersehen. Niemand grüßt ihn. Und in der Pizzeria nimmt ihn auch niemand wahr. Dabei ist der kleine Kerl ein echter Hingucker mit seinen strubbeligen schwarzen Haaren und verschieden farbigen Socken. Ebenso sein Hund Alfonso, ein prächtiger Dackel. Und »er hat doch extra einen bunten Anzug gekauft«. Die junge Schweizer Illustratorin Laura D’Arcangelo beginnt ihr zweites Bilderbuch Herr Bert und Alonso jagen einen Dieb mit einem Problem, das viele Kinder allzu gut kennen: Sie werden in der Welt der Großen übersehen. Erst als ganz viele Leute merken, dass sie bestohlen wurden, da erinnern sich plötzlich alle an den Jungen und seinen Hund. Und für sie ist klar: Herr Bert ist der Dieb.
Treppauf und über die Dächer, zwischen stoischen Tauben
Um seine Unschuld zu beweisen, bleibt ihm und Alfonso nur eins: »Wir müssen uns verstecken und den Dieb finden.« Wie jeder gute Detektiv oder Kriminalist sammelt er alle Beweisstücke und Indizien, pinnt sie an eine große Schautafel und versucht, mit einem rotem Faden dem Dieb auf die Schliche zu kommen. Aber selbst der große Sherlock Holmes konnte nicht jedes Rätsel nur in seinem klugen Kopf lösen. Manchmal muss man raus auf die Straße. Das geht auch dem schönen Benedict Cumberbatch als Sherlock so und in seinem ikonischen Mantel rennt er durch die Gassen Londons. Gut, dass Herr Bert Alfonso hat. Der ist zwar nicht ganz so unschuldig wie Herr Bert. Hat aber eine gute Schnüffelnase. Und außerdem muss er dringend raus und wieder pinkeln. Und schon ist man mittendrin in der schönsten Verfolgungsjagd, treppauf und über die Dächer, zwischen stoischen Tauben durch.
Auch Tischdecken aus der Pizzeria inspirieren
Inspiriert für ihre entzückende Detektivgeschichte wurde die aus Bern stammende Bilderbuchschaffende D’Arcangelo unter anderem von ihrem kleinen Bruder. Von Klassikern des Genres, von Sherlock Holmes bis Emil und die Detektive. Von Krimikomödien in Technicolor und Kinderabenteuerserien aus den 1960er Jahren. Und von Tischdecken aus der Pizzeria. Die waren unverkennbar Vorbild für Herrn Berts bunt karierten Anzug.
Bilder wie ein Trickfilm mit reichlich Slapstick
Laure D‘Arcangelos Bilder wirken sehr dynamisch, fast trickfilmartig und sind gespickt mit reichlich Slapstick: Alfonso zieht an der Leine, streckt sich lang zur geliebten Knoblauchwurstkette, Pizzas segeln vom Tablett, Hüte fliegen vom Kopf, Haare und Jackenzipfel flattern im Laufwind, Füße in langen, schwarzen Schuhen rasen übers Pflaster. Die Figuren sind mit gelbem Strich konturiert und kräftig bunt gouachiert sowie mit Farbstifttupfern akzentuiert. Nicht zu vergessen das rot-grüne Karomuster, fast ein Running Gag. Und die Erkenntnis, dass es manchmal ganz gut ist, unsichtbar zu sein. Herr Bert und Alfonso haben das Zeug zum modernen Klassiker.
Wenn auch kleine Leute immer längere Schatten werfen, der Tag sich dem Ende neigt, die Sonne fast untergegangen ist und nur noch ein paar letzte Strahlen über den Horizont glimmen, dann beginnt die Blaue Stunde. Die Illustratorin Isabelle Simler hat dieser besonderen Zeit ein betörend schönes Sachbuch gewidmet.
Von kaltklarem Eisblau bis samtigem Mitternachtsblau
Es ist ein Fest der Farbe Blau in allen Facetten. Schon auf dem Vorsatzpapier sind 32 Variationen von Blau zu sein, vom ganz hellen, kristallkaltem Eisblau bis zum fast schwarzen, samtweichen Mitternachtsblau. Es beginnt mit einer Landschaft in blauen Schattierungen, im Vordergrund die dunklen Konturen eines Nadelwaldes, die Hügellandschaft wie ein wogender Ozean dahinter. Eine Doppelseite weiter begegnen wir dem ersten Tier, dass die Farbe im Namen trägt, einem Blauhäher. »In der Kälte der Arktis streift ein Blaufuchs durch die verschneiten Ebenen« geht es weiter, das Bild ist ganz in Eisblau getaucht, mit Schneekristallen und Raureif wird die Kälte geradezu spürbar. Von den folgenden tropischen Blauen Pfeilgiftfröschen sollte man sich auch besser fernhalten und lieber dem Gezwitscher der Blaumeisen lauschen.
Von wegen, nachts sind alle Katzen grau
Isabelle Simler intensiviert zunehmend das Blau durch wenige andersfarbige Akzente, wie die puschelig gelben Bäuche der Blaumeisen, ein paar rote Beeren, lila Reflexionen der Abendröte im Gefieder der Blaureiher, den bernsteinfarbenen Augen der Diademmeerkatzen. Allmählich werden die Bilder dunkler, monochromer und ruhiger. »Stille legt sich über die Landschaft. Nur eine nachtblaue Katze schleicht durch das Gras.« Natalie Wollersheim übersetzt Simlers Texte mit einer lakonischen Poesie. »So verharren sie in der Stille …«, heißt es auf der letzten Doppelseite mit den Tieren wie Scherenschnitten im Gegenlicht des Vollmondes, unter dem Sternenhimmel, » … und erwarten den Einbruch der Nacht«. Ein grandioses Schlussbild für den Zauber dieser einzigartigen Zeit und ihrer namensgebenden, faszinierenden Farbe.
Laura D’Arcangelo: Herr Bert und Alfonso jagen einen Dieb, atlantis, 48 Seiten, 16 Euro, ab 6 Jahren
Isabelle Simler: Die Blaue Stunde, Übersetzung: Natalie Wollersheim, Magellan, 48 Seiten, 18 Euro, ab 6 Jahren
in italienischen Kinder- und Jugendbüchern in Deutschland
2018 habe ich hier zum ersten Mal einen Überblick über die italienische KJL in Deutschlang geliefert. Nun habe ich mich erneut gründlich umgesehen, was es denn so Italienisches für Kinder und Jugendlichen auf dem hiesigen Markt gibt – und ich muss sagen: Es hat sich so einiges getan. Hatte ich vor drei Jahren den Eindruck, dass die Bücher aus Italien noch irgendwie überschaubar sind, so präsentierte sich mir nun eine immense Vielfalt (vielleicht liegt das auch an einer besseren Recherche…). Nicht alles davon konnte ich im Detail lesen, doch die Tendenzen und Strömungen lassen sich auch so ganz gut erfassen. Auch hier gilt wieder, dass dieser Überblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, zu mannigfaltig sind die Publikationen, sodass ich vermute, dass ich auch weiterhin noch das eine oder andere übersehen habe.
Die gefundenen Publikationen habe ich nach gewissen Kategorien geordnet, um ein bisschen Ordnung zu schaffen. Dabei kam heraus, dass italienische Bücher nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind, sieht man mal von den italienischen Autor:innennamen ab. In den 1990er Jahren während meines Studiums der italienischen Literatur hatte einer meiner Professoren immer betont, dass italienische Autor:innen nur über Italien schreiben. Einen gewissen Zweifel hatte ich damals schon, doch nun, durch diesen Blick auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre, zeigt sich, dass diese Behauptung unhaltbar ist, selbst bei Kinder- und Jugendbüchern. Daher habe ich mich mal auf die Suche nach Italien und der Italianità, dem Italienischen an sich, in diesen Publikationen gemacht …
Den Auftakt machen aber auch dieses Mal die italienischen Klassiker. Denn quasi kein Herbst- oder Frühjahrsprogramm kommt ohne zumindest einen italienischen Autor aus: Carlo Collodi.
Klassiker
Die unzähligen Ausgaben von Pinocchio zeichnen sich heute dadurch aus, dass es sich dabei nicht um Neuübersetzungen, sondern um Neugestaltungen bzw. Neuillustrationen handelt. So beispielsweise bei der Ausgabe aus dem Coppenrath Verlag, bei der das Designatelier MinaLima aus London holzschnittartige Illustrationen und aufwändige Extras geliefert hat. Da kann man ein Minitheater aufklappen, Fingerpuppen ausschneiden, Pinocchio als Hampelmann zappeln lassen und ihn mit neuen Kleidern bestücken. Diese filigranen und empfindlichen Kunstwerke veredeln die altbekannte Geschichte um den hölzernen Lausbuben und sind fast zu schade, um sie aus dem Buch zu trennen und zu bespielen. Die Übersetzung dieser Ausgabe stammt von Paula Goldschmidt. Sie stammt aus den 1960er Jahren – so habe ich es zumindest aus den Eintragungen in der Deutschen Nationalbibliothek entnommen. Da mich das nicht sehr befriedigt hat und ich über Paula Goldschmidt auch sonst noch keine weiteren Informationen gefunden habe, habe ich weiterrecherchiert. In diesem Zuge habe ich mir die verschiedenen Pinocchio-Übersetzungen etwas intensiver angesehen – quasi als berufsbedingte Übersetzerin-Fortbildung, weil ich einfach neugierig geworden bin. Das Ergebnis ist ein ellenlanger Riemen geworden, den ihr hier findet, und eine Fotoserie auf Instagram.
Die Beschäftigung mit Collodi spülte mir dann auch noch die Übersetzung seines Buches Pipì, der kleine rosarote Affe auf den Bildschirm. Hierin lässt Collodi einen kleinen Affenjungen pinocchieske Abenteuer erleben. Der neugierige Pipì verlässt seine Familie, erkundet die Welt, wird zum Kaiser einer verstrittenen Affenbande, verliert seinen Schwanz an ein hungriges Krokodil … den er von einer Fee zurückbekommt, wenn er denn seine Versprechen einhält. Das hört sich bekannt an, Collodi hat hier seine Ursprungsidee noch mal wiederverwertet, kommt aber an seinen echten Pinocchio natürlich nicht heran. Da helfen dann auch die Illustrationen von Axel Scheffler nicht wirklich. Zudem wurde Collodis Werk leider auf Grundlage eines englischen Textes ins Deutsche übersetzt, ist also ein Fall von Stiller Post, was eigentlich nicht üblich und keine guter Stil ist.
Als weiterer italienischer Kinderbuch-Klassiker ist eine kurze Geschichte von Gianni Rodari bei Eulenspiegel erschienen: Die Geschäfte des Mister Cat in der Übersetzung von Giulia Engler ist ein typischer Rodari, der in seinen Texten die absurden Gebaren unserer Wirtschaft und Gesellschaft aufs Korn nimmt. Da will nämlich Mister Cat reich werden und überlegt sich ein Geschäftsmodel – Mäuse in Dosen – und organisiert, besorgt Dosen, malt Plakate, stellt Verkäuferin und Lieferjunge an, nimmt Bestellungen entgegen, hat aber noch gar keine Mäuse für seine Dosen. Das kommt einem in Zeiten von Hypes um Produkte, seien es die neuesten Smartphones, Klopapier, Impfdosen und Schnelltests irgendwie bekannt vor. Die jungen Adressaten dieser entzückend illustrierten Geschichte erfahren hier so einiges über marktwirtschaftliches Denken bzw. die Abgründe desselben – und dass wir die Rechnung nie ohne den Wirt, besser gesagt die Mäuse machen sollten.
Die Italianità, also das typisch Italienische ist in diesen Klassikern nicht zu finden, sind sie doch eher universelle Märchen. Am ehesten spiegelt sich Italien in den erzählenden Jugendbüchern, so dachte ich es zunächst, doch auch in diesem Bereich lässt sich Erstaunliches entdecken.
erzählende Jugendbücher
Zwei aktuellere Jugendbücher – Der Sonne nach von Gabriele Clima und Alles ganz normal von Roberta Marasco – spielen ganz offensichtlich in Italien, auch wenn die Hauptorte nicht namentlich benannt werden. Italienische Figurennamen und das gesamte Setting der Real-Geschichten vermitteln einen Hauch Fremdheit, ohne dabei völlig exotisch zu wirken. Clima erzählt die Geschichte von Dario, der zur Strafe für sein respektloses Verhalten in der Schule, den spastisch gelähmten Andy betreuen muss. Irgendwann hat Dario es satt und haut zusammen mit Andy ab. Es beginnt ein intensiver Roadroman, übersetzt von Barbara Neeb und Katharina Schmidt, der die zwei unterschiedlichen Jungs immer näher bringt und so eine Lanze für Inklusion und Menschlichkeit bricht.
Roberta Marasco widmet sich in ihrem Roman dem Thema Menstruation, das bisher in Deutschland hauptsächlich in Sachbüchern behandelt wurde. Sie erzählt aus der Sicht der schüchternen Camila und der erfolgreichen Tiktokerin Luna. Haben die Mädchen anfangs nicht miteinander gemein, so werden sie durch schulische Umstände zu einem Team. Als dann durch eine fiese Gemeinheit ein ungeschicktes Video Camilas, in dem sie über ihre erste Regel spricht, viral geht, entwickelt sich zwischen den Mädchen ein ganz besonderer Teamgeist.
Italien paart sich in diesen beiden Geschichten mit universellen Themen, die für unsere Gesellschaft relevant sind und daher möglicherweise etwas länger in den Buchhandlungen und Bibliotheken zu finden sein werden.
Anders als die beiden Romane von Francesco Gungui, die mir erst jetzt untergekommen sind und beide vom Team Neeb/Schmidt übersetzt wurden. Ich mag dich wie du bist. Es passt … oder eben nicht (2011) und Ich mag dich immer noch, wie du bist. Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage (2012) sind zwei eher seichte Liebesromane für Jugendliche. Im ersten Teil macht die 16-jähre Alice gezwungenermaßen Campingurlaub in Apulien und kommuniziert via Netz mit ihrem Freund Luca, doch im zweiten Teil zieht dieser zum Studium nach San Francisco, womit sich der italienische Blick bereits weitet und international wird.
Alles andere als Italien hat Autor Davide Morosinotto im Sinn. In seinen Abenteuerbüchern, von denen mittlerweile drei auf Deutsch erschienen sind, alle übersetzt von Cornelia Panzacchi, erzählt er von fernen Zeiten und fremden Ländern. 2017 machte er mit seiner Mississippi-Bande in Deutschland Furore, war damit für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. In seinem Debüt entführte er die Lesenden in die USA des 19. Jahrhunderts. Nur ein Jahr später folgte Verloren in Eis und Schnee, worin es in den Kriegswinter 1941 in der UdSSR geht. Bezeichnend für Morosinottos Bücher sind die opulenten Illustrationen, die die Lesenden unterhalten, durch geografische Karten weiterbilden und die Lektüre zu einem kurzweiligen Vergnügen machen. So auch in dem aktuellen Buch Der Ruf des Schamanen, das im peruanischen Amazonasgebiet spielt. Morosinotto schickt seine kleinen Protagonisten stets auf »Reisen«, auf denen sie die diversesten Probleme überstehen müssen, um schließlich zu sich selbst zu finden. Das ist spannendes Lesefutter, bei dem die Leser:innen mitfiebern können, etwas lernen und jede Menge Spaß haben. Für den Oktober dieses Jahres ist bereits das nächste Buch angekündigt: Die Rebellen von Salento … scheinbar lässt er in seinem Erstlingswerk (das nun nach dem Erfolg auch veröffentlicht wird) die Geschichte in Italien spielen. Ich werde es herausfinden.
Pierdomenico Baccalario, bekannt für seine Ulysses-Moore-Reihe, veröffentliche 2015 die wahre und äußerst grausame Geschichte des afghanischen Jungen Hazrat in Dem Leben entgegen (Ü: Barbara Neeb und Katharina Schmidt). Hazrat erlebt in seinem Zuhause Schrecken und Gewalt, als sein Vater durchdreht und die Mutter sowie einige seiner Geschwister niedermetzelt. Hazrat kommt zunächst bei Verwandten unter, doch das bewahrt ihn nicht vor weiterer Gewalt. Er flieht und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und landet schließlich in einer Koranschule, in der er zum Selbstmordattentäter ausgebildet werden soll – was er jedoch nicht eindeutig erzählt. Ihm gelingt die Flucht. Nach einen jahrelangen Aufenthalt im Iran schlägt Hazrat sich schließlich nach Italien durch. Dieses Land spielt hier nur am Ende von Hazrats Geschichte eine Rolle, quasi als Rettung für den Jungen, der hier als Minderjähriger unproblematisch Aufnahme findet.
Kinderbücher
Bei den Kinderbüchern ist es mit der Italianità bereits wieder vorbei. Hier erzählen italienische Autor:innen universelle Geschichten, die zum Teil nicht einmal mehr in Italien spielen. So beispielsweise in der Reihe Ein Fall für Me, Mum & Mystery von Lucia Vaccarino, übersetzt von Bettina Dürr und Birgit Ulmer. Hier dreht sich alles um das Detektivbüro von Emily und ihrer Mutter Linda im englischen Kent, das die beiden von einem verstorbenen Onkel erben. In gerade einmal drei Bänden aus dem Jahr 2016 lösen Mutter und Tochter (harmlose) Kriminalfälle, wie sie für 9-jährige Mädchen eben geeignet sind. Die Bücher sind nur noch antiquarisch zu haben – oder stehen in den Stadtbibliotheken.
Vaccarino gehört, ebenso wie Morosinotto, zur Storytelling-Agentur Book on a Tree. 2014 gegründet von Vielschreiber Pierdomencio Baccalario, arbeitet hier ein großes Team aus mehr als 50 Autor:innen und mehr als 100 Illustrator:innen an unzähligen Geschichten, die international funktionieren. Im Grunde kann man hier von einer Geschichten-Fabrik sprechen, die allerdings ziemlich gut den Geschmack der breiten Masse treffen und unzählige Bücher auf den Markt werfen, von denen jedoch nur verhältnismäßig wenige ins Deutsche übersetzt werden.
Ans und ins Meer entführen aktuell Elisa Sabatinelli und Iacopo Bruno die Leserschaft in Emilio und das Meer. Der kleine Held Emilio will unbedingt Taucher werden wie sein Vater, denn er kann ohne das Meer nicht leben. In einem namenlosen Dorf erkundet er schließlich mit einem zusammengesuchten Taucheranzug – der eher an 20000 Meilen unter dem Meer von Jules Vernes erinnert, als an modernes Sporttauchen – die Unterwasserwelt. Als der Junge dort unten tatsächlich eine sagenumwobene Perle findet, nimmt auch an Land das Abenteuer seinen Lauf und er muss es mit einem ausgemachten Bösewicht aufnehmen. Illustriert hat diese Geschichte, in der es auch um den Respekt der Natur geht, Iacopo Bruno, ein Schwergewicht der Illustrator:innen-Szene (er hat die aktuellen deutschen Harry-Potter-Cover neu gestaltet). Seine maritimen Bilder besitzen eine antike Patina, die in die Welt von Seebären, Tauchern und fiesen Geschäftsmännern, aber auch in mystische Unterwasserwelten entführt. Sie sind wahrlich eine Augenweide.
Mit Die Kinder der verlorenen Bucht (Ü: Barbara Neeb/Katharina Schmidt) liefert Luca di Fulvio, der eigentlich für seine historischen Unterhaltungsromane bekannt ist, 2016 eine Fantasy-Abenteuergeschichte für junge Leser:innen. Darin müssen die Freunde Lily, Max und Red zusammen mit der Möwe Luigi eine Bucht erkunden, in der immer wieder Kinder verschwinden.
Bis auf die Namen einiger Figuren (Lehrer Tappabucchi) und Orten wie der Baia del Sole (Sonnenbucht) ist auch hier nicht viel Italianità zu finden. Das Bestehen von Abenteuern und der Kampf gegen fantastische Bösewichte ist einfach zu universell, um sie auf ein Land zu beschränken.
2018 brachte der Verlag Jacoby & Stuart Fulivo Tomizzas Kinderbuch Die Flöhe in der Oper neu heraus. Bereits 1997 war es in der Übersetzung von Edmund Jacoby im Gerstenberg Verlag erschienen. Quasi eine zeitliche Mogelpackung – oder vielleicht auch eher ein Klassiker, das Tomizza seine belletristischen Hauptwerke schon in den 1960er bis 1980er Jahren in Italien veröffentlichte. Seine Geschichte der Flohfamilie, die ein Opernhaus besucht und dort für Verwirrung sorgt, ist jedoch zeitlos lustig und entführen die jungen Leser:innen in diesen ganz speziellen Musikkosmos. Der Anhang »Alles über die Oper« erklärt dann die wichtigsten Begriffe, Komponisten und Werke. Illustriert hat Axel Scheffler, der Schöpfer des Grüffello.
Susanna Tamaro, die seit Ende der 1990er Jahre dem Buch Geh wohin dein Herz dich trägt bekannt ist, hat 2017 ein weiteres Kinderbuch veröffentlicht (schon in den 1990er Jahren sind ihre Kinderbücher ins Deutsche übersetzt worden). Mit Bart, das sprechende Huhn und der Hüter der Weisheit, übersetzt von Ingrid Ickler, nimmt sie die Technikgläubigkeit gewisser Eltern aufs Korn. Die Eltern von Bart haben viel zu tun und lassen ihren Sohn von den neuesten technischen Geräten überwachen. Als die Mutter seinen geliebten, aber hässlichen und nutzlosen Teddy wegwirft, bricht der Junge aus seiner überwachten Welt aus. Aufgrund der Leseprobe kann ich nur sagen, dass sich der Anfang durchaus witzig liest, aber auch mit einem moralischen Unterton daherkommt. Bei Gelegenheit werde ich die Geschichte zu Ende lesen.
Im vergangenen Herbst kam dann das Weihnachtsbuch Das Wunder von R. von Francesca Cavallo, in der Übersetzung von Daniela Papenberg, auf den Markt. Cavallo ist durch die Good Night Stories for Rebel Girls (s.u.) bekannt geworden. Wer dabei eine italienische Weihnachtsgeschichte erwartet, wird eher enttäuscht. Die Stadt R. könnte in jedem Land liegen, der Ort ist nicht wirklich wichtig. Das Besondere an diesem aufwändig illustrierten Buch ist die Familienkonstellation: Zwei Mütter ziehen mit ihren drei Kindern in die Stadt R., weil sie hier keine Repressalien wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe fürchten müssen. Diese Liebe erzählt Cavallo als etwas völlig Selbstverständliches und greift dann in die Fantasy-Kiste, um einen Weihnachtsabend zu schildern, bei dem die drei Kinder zusammen mit einer Horde Elfen dem Weihnachtsmann helfen, all die Geschenke für die Kinder der Welt zu packen. Die Illustrationen von Verena Wugeditsch machen zudem die Diversität der Figuren an ihren unterschiedlichen Hautfarben deutlich.
Bei meiner Recherche zu italienischen Kinderbüchern tauchte dann – seltsamerweiser – auch ein ganz schmales Bändchen von Elena Ferrante auf: Der Strand bei Nacht, übersetzt von Karin Krieger. Darin erzählt die Bestseller-Autorin aus der Sicht einer Puppe eine ziemlich beklemmende Geschichte. Die fünfjährige Mati bekommt von ihrem Vater ein Kätzchen geschenkt und vergisst daraufhin die heißgeliebte Puppe Celina am Strand. Der Grausame Strandwärter schiebt mit seinem Rechen am Abend all die vergessenen und verlorenen Dinge eines Strandtages zu einem Haufen zusammen und zündet ihn an. Der Puppe würde er gern ihre Worte entlocken und sie auf dem Puppenmarkt verkaufen. Puppe Celina fürchtet sich sehr, fängt schon fast Feuer, als eine Welle sie ins Meer spült, bis Matis Kätzchen sie am nächsten Tag zu dem Mädchen zurückbringt. Dieser psychologisch durchkomponierte Albtraum à la E.T.A Hoffmann, mit ebensolchen Illustrationen von Mara Cerri, ist eher nichts für kleine Leseratten, sondern nur etwas für Hardcore-Fans von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga um die beiden genialen Freundinnen Lila und Lenu.
Fantasy
Im Bereich der Fantasy-Roman gibt es von Silvana De Mari, der Autorin von Der letzte Elf, die neue Reihe Das Erbe des Magierkönigs, in der Übersetzung von Barbara Kleiner. Ehrlich gesagt, kann ich mich leider nicht zum Lesen dieser Bücher aufraffen, da Fantasy einfach nicht mein Genre ist. Viel interessanter, ja erschreckender fand ich die Schlagzeilen, die die Autorin 2018 machte. Die studierte Ärztin hatte sich wiederholt abschätzig und verunglimpfend gegenüber der LGBT*-Szene geäußert. De Mari meinte, dass »Homosexualität zu tolerieren sei wie Pädophilie zu akzeptieren«, zudem behauptete sie, »LGBT* wolle die Meinungsfreiheit unterdrücken und verbreite Pädophilie«. Sie wurde daraufhin zweimal zu seiner Geldstrafe verurteilt. Im Zuge der Diskussionen, wie sehr man Autor:innen von ihren Werken trennen sollte, dürfte das eigentlich keine Rolle spielen. Dennoch bleibt – bei mir – ein unguter Nachgeschmack.
Zum Fantasy-Genre muss man sicher auch die kurzen Geschichte um die Zombie-Protagonistin Mortina von Barbara Cantini rechnen. Erstleser:innen erleben die leicht gruseligen Abenteuer des kleinen Zombie-Mädchens, das so gern mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielen möchte. Ein wenig erinnert die Villa Decadente, in der Mortina mit ihrer Tante Dipartita lebt, an die Adams–Family. Die Bücher, bis dato sind vier Bände in der Übersetzung von Knut Krüger erschienen, bestechen durch ihre fantasievollen Illustrationen, die ebenfalls von der Autorin stammen.
Überaus lustig und mit Hintersinn kommt aktuell Fabrizio Sileis Orkobello daher. Er entführt die Leser:innen ins Monsterland, in dem alles hässlich, stinkend und fürchterlich ist. Je hässlicher, umso wohler fühlen sich die Monster, die Gestank und Müll lieben und um die gerechte Verteilung des Mülls streiten. Als der Bürgermeister Grollboll zum dritten Mal Vater wird und endlich der ersehnte Sohn geboren wird, bricht für ihn, den Hässlichsten und Stinkigsten von allen, jedoch eine Welt zusammen: Das Baby ist schön. Ganz wunderschön. Und der Junge Orkobello verhält sich in seinem weiteren Leben viel mehr wie die Menschen und verliebt sich schließlich sogar in ein Menschenmädchen. Orkobello ist ein herrlicher Spaß, um schlechten Geschmack, schlechte Manieren, Ekelkram und vor allem das Anderssein. Vorzüglich und mit Witz von Ingrid Ickler übersetzt.
Bilderbücher
Bei den Bilderbüchern findet sich eine wunderbare Vielfalt. So erzählt Marco Viale in Ich bin der König! mit wenigen Strichen und kaum Farbe von einem kleinen Angeber, der auf jeder Seite seine Grandezza herauspustet. Wie ein typischer Narzisst erklärt er, in der Übersetzung von Sebastian Hoch, was er alles hat, kann, macht. Er ist der Größte, der Beste, der Tollste. Sein Gegenüber kann immer nur mit »ich nicht« antworten, wenn der Angeber ihn fragt, ob er auch … Doch als es um die Dunkelheit geht, wendet sich das Blatt. Den ganz Kleinen wird hier fast spielerisch das Nachdenken über eigenes Verhalten näher gebracht, dass Angebertum eben nicht weiterhilft, wenn dann die Angst doch nicht beherrscht werden kann.
Farblich reduziert ist auch die Geschichte Schwarzer Kater, Weiße Katze von Silvia Borando, ebenfalls von Sebastian Hoch übersetzt. Hier werden die Gegensätze des Lebens thematisiert: schwarz, weiß, Kater, Katze, Tag, Nacht. Jede Facette im Leben und der Welt ist wichtig, jede hat ihre Funktion. Manches ist anders, manche macht einem vielleicht Angst. Doch dann zeigen Katze und Kater einander ihre Welten. Und so erkennen sie, dass sie sich gegenseitig ergänzen und das Leben erst dadurch rund und vollkommen wird.
Ein weiters Bilderbuch von Silvia Borando fällt unter die Kategorie »ohne Text« – gehört also eigentlich nicht in meine Kategorie der übersetzten Texte. Aber es ist eine entzückende Variante für ganz Kleine, genau hinzusehen: Ein Mädchen und ein Junge schauen aus dem Fenster und beobachten ein Vögelchen im Schnee, drei rosane Häschen, eine Katze und einen Bären. Die Action draußen ist cool, bis … ja, bis … der Bär Hunger bekommt. Als die Kinder nach draußen rennen, verändert sich die Lage. Und die Erwachsenen, die diese Geschichte vortragen, habe jede Menge Freiraum, die Bilder in eigene Worte zu fassen.
Tausendsassa Pierdomenico Baccalario hat in Zusammenarbeit mit Alessandro Gatti und den Bildern von Simona Mulazzani das Wendebuche Die Geschichte von Tropfen und Flocke herausgebracht (Ü: Elisa Collini). Jeweils aus der Sicht einer Schneeflocke und eine Tintentropfens wird die Sehnsucht geschildert, irgendwo anders zu sein. Der Wind spielt dann Schicksal und bringt die beiden schließlich zusammen. Mit zarten Cut-outs werden die Illus zunächst teilweise verdeckt, so dass nur die Farben durchschimmern und gerätselt werden kann, was sich hinter den durchbrochenen Seiten wohl befindet. Die Reisen, die Tropfen und Flocke machen, schüren die Neugierde und die Lust auf eigene Lebensreisen.
Wenn es um Italien in Bilderbüchern gibt, so findet sich das Land und seine Atmosphäre in den Alben Ein Strandtag und Ein Markttag von Susanna Mattiangeli und Vessela Nikolova, übersetzt von Lucia Zamolo, ganz besonders wider. Hier sind es namenlose Kinder, die alltägliche Situationen erleben und beobachten, sei es auf dem städtischen Wochenmarkt oder im Sommer am Meer. Da gibt es jede Menge Popos zu betrachten, Bäuche und Gesichter. Boote natürlich auch. Zwischen all den Füßen verliert man dann leicht den eigenen Sonnenschirm aus dem Blick. Auf dem Markt hingegen sind es die verschiedenen Stände mit den unzähligen Dingen, die sich dort erstehen lassen. In Italien sind das auf den Märkten aber eben nicht nur Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch, sondern auch Kleidungsstücke, Handschuhe, Stoffe, Schuhe, Haushaltswaren, Gürtel, Taschen, Strümpfe und Unterwäsche. Und in diesen fast etwas rotzig gemalten Quasi-Wimmelbildern steckt für mich die größte Nähe zu Italien, die meine Sehnsucht nach dem Land auf jeder Seite weckt. Eine Wonne, bei der ich schon das Stimmengewirr höre und die unterschiedlichen Düfte verspüre.
Ganz ohne Italien kommt die Mischung aus Kinder- und Bilderbuch Sie nannten uns die Müll-Kids von Davide Calì und Maurizio A. C. Quarello aus. In einem dystopischen Wüstenland leben Lizzy und ihre Freunde vom Müllsuchen und -verkaufen. Als sie eines Tages auf dem Müllberg Ararat ein ihnen unbekanntes Objekt finden, durchlaufen sie die ganze Kette von Käufern, bis sie zu einem Mann gelangen, der ihnen sagen kann, um was es sich dabei handelt … Bei dem italienischen Autor Calì liegt die Besonderheit, dass er die Originalausgabe dieses Buches auf Französisch erschienen ist. Die Übersetzung hat Verleger Edmund Jacoby selbst besorgt. Dieses Buch besticht neben der Geschichte, vor allem durch die Bilder einer postapokalyptischen Wüstenwelt. Die Menschen tragen fast zeitlose Wüstenkleidung, sie reiten auf seltsamen Tieren, die aus Star Wars entsprungen zu sein scheinen. Man erfährt nicht, was genau geschehen ist, nur von einem Blauen Blitz erzählt Lizzy, nachdem nichts mehr so war wie früher. Wer sich auf diese Geschichte einlässt, wird danach jedes Buch mit anderen Augen sehen.
Auch bei den Bilderbüchern gibt es natürlich solche, die sich mit fantastischen Inhalten auseinandersetzen. Besonders aufgefallen ist mir dabei das Kompendium von Frederica Magrin über Die schrecklichsten Monster & Geister der Welt (Ü: Britta Köhler). Wenn man bei diesem Titel an Vampire, Drakula, Frankenstein oder Trolle denkt, ist man richtig. Doch Magrin geht weit über europäische Sagenfiguren hinaus, indem sie eine monstermäßige Weltreise unternimmt und Schreckgestalten von allen Kontinenten präsentiert, deren Namen hier zumeist unbekannt sind, wie die Schlange Ogopogo aus British Columbia in Kanada, der japanische Karura, ein Mensch mit Vogelkopf oder der Bulle Kujata von der arabischen Halbinsel. Das ist beste Kulturkunde für junge Leser:innen.
Für Drachenfans hat Federica Magrin zudem ein Kompendium über diese fantastischen Wesen verfasst, übersetzt von Birgit Franz. Diese stammen beispielsweise aus Vietnam, so wie Con-Rong, aus Kambodscha wie Neak oder aus Frankreich wie Tarasque. Kulturkunde vermischt sich hier mit Geschichte, wenn sie von heldenhaften Drachentötern wie Herakles oder dem Gott Susanoo berichtet. Am Ende möchte man an die Existenz dieser wundersamen Kreaturen wirklich glauben …
Biografien
Ein Phänomen, das seit ein paar Jahren den Buchmarkt überrollt, sind die die Biografie-Sammlungen. Darin finden sich die unterschiedlichsten Kurzbiografien zu mal mehr, mal weniger berühmten Persönlichkeiten in mal mehr, mal weniger sinnvoller Fokussierung und Zusammenstellung.
Ausgangspunkt war das Buch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo – ja, die Autorin vom Das Wunder von R. –, das die beiden jedoch auf Englisch verfasst haben. 2017 erschien es in der Übersetzung von Birgit Kollmann und bedarf eigentlich keiner weiteren Worte. Der Erfolg dieser Compilation von rebellischen Frauen löste jedoch eine wahre Welle von Nachahmer-Sammlungen. So beispielsweise der großformatige Heldenatlas von Miralda Colombo, in der Übersetzung von Eva Baumgart-Catania und mir, in dem dann nicht nur Frauen versammelt sind, sondern in kurzen Textschnipseln auch bedeutende Männer. Renzo Barsotti lädt dann in seinem Kompendium die Leser:innnen dazu ein: Entdecke über 200 starke Frauen und wie sie die Welt verändert haben. Auch hier sind es nur kurze Texte, die jedoch mit zahlreichen Fakten gespickt sind. Meine Kolleginnen Katharina Schmidt, Barbara Neeb und ich haben beim Übersetzen gefühlt eigentlich mehr recherchiert als übersetzt.
Verschiedene Geschlechter sind auch in den Storys für Kinder, die die Welt retten wollen von Carola Benedetto und Luciana Ciliento vertreten (meine Ü). Hier jedoch liegt der Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz, den sechzehn Prominente sich auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die beiden Autorinnen stellen in relativ langen Kapiteln das Engagement von Menschen wie Leonardo Di Caprio, Emma Watson, Rigoberta Menchù, Greta Thunberg oder Sebastiaõ Salgado vor. Die Bandbreite der vorgestellten Persönlichkeiten und ihrer Schwerpunkte ist beeindruckend, denn es geht nicht nur um Gretas Klima-Anliegen, sondern auch um Wiederaufforstung, Menschenrechte, sauberes Wasser oder die Folgen der Fast-Fashion.
Überhaupt Greta: Die Klima-Aktivistin und Fridays-For-Future-Auslöserin hat selbst ein Reihe von Publikationen für junge Lesende inspiriert. Die Lebensgeschichte der jungen Frau wird darin in den bis dato bekannten Details erzählt, um Kinder und Jugendliche zum Nachahmen anzuregen. Warum dabei gerade italienische Autorinnen so zahlreich vertreten sind, wird wohl ein Rätsel bleiben.
Viviana Mazza hat dann auch gleich noch 13 weitere Jugendliche aus aller Welt recherchiert, die sich neben Greta fürs Klima einsetzen, und liefert deren Lebensläufe in kurzen Kapiteln in den Stories für Future, in der Übersetzung von Sophia Marzolff. Darin begehrt Emma Gonzalez gegen die US-amerikanische Waffenlobby auf, Nojoud Ali aus dem Jemen rebelliert gegen Zwangsverheiratungen oder Negin Khpalwak aus Afghanistan befasst sich mit Musik, was den Mädchen im Land eigentlich verwehrt ist. Hier zeigt sich, dass es viele Fronten gibt, an denen wir uns engagieren können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Federica Magrin, Stammautorin im White Star Verlag (s. Bilderbücher), liefert in Helden der Zeitgeschichte 20 Biografien von Menschen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, deren Zusammenstellung keine eindeutige Linie erkennen lässt. Hier kommt es mir eher so vor, als wollte der Verlag bei einem Trend mitmachen, ohne ein klares Profil zu bieten. Zu White Star folgen unten noch ein paar Worte.
Biografien sind generell auch in der KJL ein dankbares Genre, so hat der Arena Verlag schon in den Nuller Jahren allein eine ganze Reihe dazu herausgebracht (Ü: Anne Braun). Der Autor Luca Novelli widmet sich in etwa einhundert Seiten langen Monografien herausragenden Persönlichkeiten – zumeist Männer – der Wissenschaft.
Die Reihe Lebendige Biographien zeichnen sich dadurch aus, dass Novelli die Protagonisten aus der Ich-Perspektive von ihren Entdeckungen und Theorien erzählen lässt. Angereichert sind die einfach formulierten Texte mit Comiczeichnungen der Figuren und Sprechblasen – à la Gregs Tagebuch. Schwarzweiß abgedruckte Gemälde und Fotos vermitteln einen Hauch der vergangenen Atmosphäre. So kommen die großen Denker und Entdecker den Kids sehr nahe und vermitteln ihr Wissen auf eine verständliche Art. Novelli bekam dafür bereits 2004 in Italien den Andersen-Preis als bester populärwissenschaftlicher Autor. Dass Marie Curie als einzige Frau unter lauter Männern dargestellt wird, ist jedoch ein Mangel. 2020 ist in der Reihe zwar eine Biografie über Sophie Scholl, deren 100. Geburtstag gerade gedacht wurde, erschienen, jedoch nicht von Luca Novelli, und fällt damit nicht unter italienische Literatur.
Natur/Klima/Umwelt/Wissenschaft/Tiere
In den Bereichen von Wissenschaft, Natur, Umwelt, Klima und Tiere bietet sich mittlerweile eine enorme Bandbreite von Publikationen, die aus Italien kommen – aber natürlich Italien nicht zum Thema haben, sondern global gedacht sind.
Sowohl für Kinder als auch Jugendliche finden sich hier Sachbücher, die in kurzen Kapiteln Vorschläge machen oder Anregungen liefern, wie wir unser Leben nachhaltiger, klimafreundlicher und (umwelt-)gerechter gestalten können. So in Green Nation Revolution von Valentina Giannella und Lucia Esther Maruzzelli (meine Ü). Das literarische Multitalent Pierdomenico Baccalario spielt da gleich mit zwei Büchern mit: 50 Abenteuer für unter 12-Jährige und 50 kleine Revolutionen, mit denen du die Welt ein bisschen schöner machst, beide übersetzt von Sophia Marzloff.
Neben Umweltrevolutionen wie den eigenen CO2-Abdruck zu verringern, die Stadt vom Müll zu befreien oder sich eine Woche vegetarisch zu ernähren, gibt es aber auch so kuriose Anregungen, wie etwas ohne Wikipedia zu recherchieren, zehn Kilometer zu wandern oder ein altes Buch zu lesen. Baccalario und Mit-Autor Federico Taddia geht es dabei um fünf revolutionäre Anliegen: Aufmüpfigkeit, Umweltschutz, gute Taten, Verzicht und Neuentdeckungen. Eine bessere Ermunterung an die jungen Generationen unserer westlich verwöhnten Gesellschaft gibt es eigentlich kaum.
Um sich für die Weltverbesserung noch einen Überblick über unsere Erde ganz im allgemeinen zu verschaffen, gibt es diverse Atlanten, in denen junge Lesende sich vertiefen können: Ganz im Sinne von Stadt, Land, Stern …
Für den Atlas der Städte, quasi ein Wimmelbuch für Städtereisende, von Miralda Colombo und Ilaria Faccioli kann ich aus Übersetzerin-Sicht schildern, dass hier die Städte mit dem Fokus auf die Kinder, und was diese dort interessieren und unternehmen könnten, dargestellt werden. Wieder war es eine Fülle von Fakten und Infos, die das Übersetzen zeitweise mühsam gestaltet hat, aber das Ergebnis ist entzückend geworden.
Beim Space Atlas, in der Übersetzung von Dania D’Eramo, geht es dann in die unendlichen Weiten des Weltraums, zu den Sternen, Planeten und Galaxien. Technik-Afficionados und Sternenkucker:innen finden hier Interessantes über Raketen, Mondfahrzeuge, Satelliten und Raumanzüge. Im Herbst wird es dann bei Carlsen eine Übersetzung von mir zum Thema Weltall geben, mit einem ganz wunderbaren Fokus auf die Frauen in der Astrophysik. Mehr dazu dann beim Erscheinen …
Von Stadt und Land können wir dann den Blick auf unsere tierischen Mitbewohner auf der Erde richten. Auch in diesem Bereich haben italienische Autor:innen so einiges zu erzählen, was nicht nur für Italien interessant ist.
Absolut entzückend und entsprechend der aktuellen Mode, Hühner als Haustiere zu halten, haben Barbara Sandri, Francesco Giubbilini und Camilla Pintonato quasi ein Kompendium über unser liebstes Federvieh zusammengestellt: Ich wollt‘ ich wär‘ ein Huhn besticht durch mitreißende Illustrationen und kuriose Details. So beispielsweise die Doppelseite über die verschiedenen Kämme der Hähne und ihren Ursprung in bei den Dinosauriern. Eierkunde und Hühnerassen-Parade fehlen ebensowenig wie die Anatomie von Hühnern. Hühnerliebhaber:innen und -halter:innen kommen an diesem Sachbilderbuch also nicht vorbei.
In das Reich der Insekten und anderer Tiere können kleine Forscher:innen dann mit den Büchern 100 % Prozent Insekten in Lebensgröße – dort mag das mit der Lebensgröße noch hinkommen – und 100 % Tiere in Lebensgröße eintauchen. Bei der Ausgabe mit den Tieren wird es schon schwieriger, denn einen Tiger in Lebensgröße im Buch, nun ja … Hier werden jedoch verschiedene Körperteile wie Krallen oder Zungen in Lebensgröße gezeigt. Die filigranen Illustrationen von Isabella Grott sind hier das absolute Faszinosum.
Beide Bücher sind im White Star Verlag erschienen, der noch einen kurzen Exkurs wert ist. Dieser Verlag, der zu DeAgostini gehört und in Mailand und Novara sitzt, produziert eher für den Massenmarkt und zeichnet sich aber durch hochwertige Illustrationen und Fotografien aus. Die Übersetzungen werden, wenn ich recht informiert bin, über Agenturen vergeben und unterliegen dem italienischen Verlagsrecht, sind von den Konditionen her für hiesige Übersetzer:innen eher unattraktiv (verbessert mich, wenn es da neue Entwicklungen gibt). Die Bandbreite der Veröffentlichungen von White Star reicht von Feen- und Drachenbücher, über geschichtliche Themen wie Wikinger oder das alte Ägypten, die zum größten Teil von Autorin Federica Magrin stammen. Da ich nicht alle Publikationen aus diesem Verlag real lesen und begutachten konnte, ist es hier zum Teil schwierig, die Übesetzer:innen ausfindig zu machen, da diese zumeist nur im Impressum erwähnt werden und daher bei manchen Bibliografien in Online-Buchhandlungen oder Büchereien nicht aufgeführt sind. Das ist generell kein gutes Zeichen für Übersetzer:innen, weil es bedeutet, dass der Verlag die Übersetzenden nicht angemessen nennt.
Psychologie
Ein Bereich, den ich bis jetzt tatsächlich noch nicht mit italienischen Kinderbüchern in Verbindung gebracht habe, sind psychologische Bücher, die für therapeutisch Zwecke eingesetzt werden können. So thematisiert Davide Calì, der Autor der Müll-Kids, beispielsweise im Buch Boris und der Ruf des Wasser, in der Übersetzung von Christel Rech-Simon,Andersartigkeit, Herkunft und eigene Wurzeln. Adoptivkinder, die auf der Suche mit ihrer Herkunft hadern, finden hier Trost und erhellende Gedanken.
Der Glücksverkäufer Herr Taube hingegen verkauft das Glück in großen oder kleinen Dosen an seinen gefiederten Mitbewohner im Wald, an Frau Wachtel, Frau Zaunkönig oder Frau Kohlmeise. Doch erst Herr Maus findet schließlich heraus, was in den Glücksdosen eigentlich steckt… Von Davide Calì gibt es noch weitere Bilderbücher, die jedoch aus dem Französischen und Englischen übersetzt wurden, so Walfisch Wanda und So etwas tun Erwachsene nie.
In den Bereich der Psycho-Büchern gehört auch Wolkentage von Alice Brière-Haquet, das im Original auf Italienisch erschienen ist, obwohl die Autorin aus Frankreich stammt. Die kurzen Texte, in der Übersetzung von Christel Rech-Simon, drehen sich um Depression und werden von poetischen Illustrationen von Monica Barengo begleitet, die eine traurige Geigerin durch einen Tag begleiten. In der Reihe Carl-Auer Kids liefert die Herausgeberin und Übersetzerin Rech-Simon am Ende immer auch Hinweise für Eltern, Erziehende und Vorlesende, damit diese wichtigen Bücher auch ihre richtige Wirkung erzielen können.
Katholische Publikationen
Eine Kategorie von Büchern, die ich in meinem ersten Post über italienische KJL nicht berücksichtigt hatte, sind katholische Publikationen. Aktuell sind mir zwei passende Bücher untergekommen, die ich jedoch nur im Netz über Leseproben sichten konnte. In den Hamburger Bücherhallen sind sie nicht vorhanden – kein Wunder wohne ich doch im protestantisch geprägten Norden.
Bei Heilige Ritter, in der Übersetzung von Gabriele Stein, handelt es sich um eine Sammlung von kurz erzählten Legenden, um katholische Ritter wie der Hl. Georg oder der Hl. Martin. Clou ist im konfessionellen Kontext natürlich immer die Treue der Figuren zu Jesus und dem christlichen Glauben. Erstaunlich hier, dass der Verlag ausdrücklich »Für Jungen« in die Bibliografie schreibt. Ich erspare mir weitere Worte.
Für Kinder ab acht Jahren erzählt Theaterautor Marco Baliani, in der Übersetzung von Brigitte Korn-Wimmer, die Geschichte des Hl. Franziskus, der sich vom Sohn eines reichen Tuchhändlers zum Bettelmönch wandelte, die Nähe zur Natur suchte und den Franziskaner-Orden gründete. Zarte schwarzweiß Illustrationen von Brigitte Püls lockern die Lektüre auf. Beide Bücher könnten auch gut unter dem Abschnitt Biografien laufen, doch der katholische Fokus erscheint mir schon wichtig, da hier mehr dahintersteckt als reine Information über legendäre oder historische Persönlichkeiten, sondern wie Tyrolia schreibt die »Hervorhebung religiöser Motivation«.
Graphic Novels
Bei den Graphic Novels gibt es mindestens drei Neuentdeckungen…
Ins Italien der 1960er Jahre führt Davide Reviati die Leserschaft mit seiner brikettgroßen Graphic Novel Dreimal Spucken, übersetzt von Myriam Alfano. In ausdrucksstarken schwarz-weißen Zeichnungen erzählt Reviati von einer Jugendclique in der Gegend von Rimini. Guido, Grisù und ihre Freunde hängen ab, kiffen, fallen durch Prüfungen an der Berufsschule, suchen Zeitvertreib in den Clubs der Küste. Und sie treffen immer wieder auf das Roma-Mädchen Loretta, das sie fasziniert, aber auch abstößt. Es vermischen sich die verschiedenen Welten der Jugendlichen und nach und nach dringt der Horror des Holocaust in die Seiten ein, den die Roma-Familie nur wenige Jahre zuvor erleben musste. Ein dichtes und kompliziertes Werk, das Aufmerksamkeit und mehrmalige Lektüre verlangt, um es vollständig zu begreifen.
Mit Andrea Serios Rhapsodie in Blau, übersetzt von Resel Rebiersch, tauchen wir ins faschistische Italien von 1938 ein. Nach einem unbeschwerten Sommer erlässt Mussolini die Rassengesetze und für den jungen Juden Andrea und seine Freunde ändert sich alle. Andrea wandert in die USA aus, kehrt aber während des 2. Weltkriegs nach Italien zurück. Serio erzählt eine wahre Geschichte in hauptsächlich blau gestalteten Buntstiftbildern nach, die die Absurdität von Faschismus und Krieg deutlich macht.
Matteo Mastragostino und Alessandro Ranghiasci liefern mit Primo Levi, in der Übersetzung von Georg Fingerlos, ein besonderes Stück Italien. Sie würdigen den Autor und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, indem sie seine Geschichte während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust nachzeichnen. Levi besucht hier als alter Herr eine Schulklasse und erzählt einer zum Teil aufmüpfigen Klasse von 12-Jährigen sein Schicksal. Die Erinnerung an das das Vernichtungslager Auschwitz und der große Zufall, dass Levi den Horror überlebt hat, werden in eindrucksvollen Bildern lebendig. Die Tragik ist dem gezeichneten Levi ins Gesicht gezeichnet, die Wirkung, die sein Bericht auf die Kinder hat, ist in einem rührenden Wandel der Kinder beschrieben. Mastragostino und Ranghiasci ist eine wichtiges Stück Erinnerungsliteratur gelungen, die zeigt, wie sehr auch italienische Juden Opfer der Nazis geworden sind.
Gipi, vermutlich DER Graphic Novel-Künstler der Gegenwart, liefert aktuell mit Aldobrando, in der souveränen Übersetzung von Ulrich Pröfrock, eine Mittelaltergeschichte um den einfältigen Titelhelden, der von seinem Meister in die Welt hinausgeschickt wird. Mit seiner unbedarften, offenen Art gelingt es Aldobrando, einen tyrannischen König zu stürzen, ungerecht Verurteilte zu befreien und die Liebe zu finden. Die zumeist sepiagefärbten Tuschepanels von Luigi Critone entwickeln einen filmischen Sog in eine klassische Abenteuer- und Entwicklungsgeschichte mit zeitloser Message.
Bereits 2018 hat Gipi mit der Dystopie Die Welt der Söhne einen Mega-Erfolg in Italien abgeliefert. Die deutsche Übersetzung hat auch wieder Myriam Alfano geliefert, die die gebrochene und verlorene Sprache der Brüder gekonnt umsetzt. Die Brüder leben mit ihrem Vater in einem Holzhaus auf Stelen mitten in einer Lagune – man könnte an das Valle di Comacchio denken. Die Welt, wie wir sie kennen ist zerstört, nur wenige Menschen haben eine Katastrophe überlebt und zerfleischen sich jetzt bei Gelegenheit gegenseitig. Die Jungs können weder richtig reden, noch lesen und wundern sich daher immer, was der Vater in ein seltsames Heft kritzelt. Als dieser eines Tages an einem Herzinfarkt stirbt, machen sich die Brüder zu anderen Menschen auf, die ihnen sagen sollen, was es mit dem Gekritzel auf sich hat. Die Rohheit und die fehlende Menschlichkeit der »Überlebenden« sind teilweise nur schwer zu ertragen.
2015 erschien auf Deutsch, in der Übersetzung von Giovanni Peduto, MSGL – mein schlecht gezeichnete Leben, die Geschichte seiner Jugend zwischen Drogenkonsum, Gefängnis, Liebesexzessen und eine mysteriösen „Pimmelkrankheit“. Entgegen des Titels ist hier natürlich nichts schlecht gezeichnet, ganz im Gegenteil. Hier muss man einfach einen Faible für etwas durchgeknallte Jungsgeschichten haben und darf nicht zimperlich sein.
Die Bände von Manuel Fior, die ich bis jetzt noch nicht gelesen habe, sind Die Übertragung und Die Tage der Amsel. Beide sind schon etwas länger auf dem Markt, was aber den Geschichten natürlich nichts anhat. Faszinierend fand ich Die Übertragung, übersetzt von Claudia Sandberg, komplett in schwarzweiß gehalten, mit „Spezialeffekten“ von Anne-Lie Vernejoul, wie der Autor selbst erzählt. Diese Effekte lassen manche Zeichnungen wie fotografische Solarisationen wirken, die an die Werke von Man Ray erinnern. Der irren Geschichte von um Telepathie und außerirdische Phänomene kommt man tatsächlich erst nach und nach auf die Spur. Es gibt immer wieder leichte Irritationen, wenn es beispielsweise für normale Autos keine Ersatzteile mehr gibt oder von Unruhen die Rede ist. Wer die Hauptfiguren Dora und Rainiero verfolgt, wird sich in einem seltsam vertrauten Italien wiederfinden – die unübersetzten Schriftzüge im Stadt- und Straßenbild lassen keinen Zweifel an dem Land aufkommen.
In dem Erzählband Die Tage der Amsel, Übersetzung von Carola Köhler, hingegen finden wir uns in Berlin, Paris oder auch in Norwegen wieder. Hier zeigt sich die gesamt Bandbreite von Fior grafischem und zeichnerischem Können, denn jede Geschichte, manche sind nur zwei Seiten lang, sind unterschiedlich gestaltet – mit Ligne clair, aquarelliert oder mit Kohle gestaltet, Panels mit Rahmen oder ohne, dick oder dünn umrandet. Manuel Fior kann alles. Und wir begegnen in einer Geschichte Dora wieder und erleben auch dort bereits seltsame Phänomene in einem Marmorsteinbruch. Für Fans von Fior ist dieser Band natürlich ein Muss.
Damit endet – für den Moment – der Blick auf die übersetzten italienischen Kinder- und Jugendbücher. Italien ist, wie gesehen, eher selten zu finden, sieht man von den Graphic Novels mal ab. Das liegt natürlich auch daran, dass hauptsächlich die KJL-Autor:innen ins Deutsche übersetzt werden, die eben nicht so italienisch schreiben, nicht nur Italien und seine Charakteristika in den Mittelpunkt stellen, die bei hiesigen jungen Leser:innen eher Verwirrung als Unterhaltung stiften würden. Universelle Geschichten verkaufen sich eben besser. Wenn Italien 2024 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird, werden wir bis dahin sicher noch viele weitere italienische KJB auf Deutsch lesen können. Ich werde die Szene bis dahin weiter beobachten und wieder berichten …
Bibliografie
Klassiker
Carlo Collodi: Die Abenteuer des Pinocchio, Ü: Paula Goldschmidt, Illustration: MinaLima, Coppenrath, 2020, ab 10 Carlo Collodi: Pipì, der kleine rosarote Affe, Ü aus dem Englischen: Nicola T. Stuart, Illustration: Axel Scheffler, Jacoby & Stuart, 2018, ab 6 Gianni Rodari: Die Geschäfte des Mister Cat, Ü: Giulia Engler, Illustration: Karoline Grunske, Eulenspiegel, 2019, ab 8
erzählende Jugendbücher
Roberta Marasco: Alles ganz normal, Ü: Ulrike Schimming, Carlsen, 2021, ab 12 Gabriele Clima: Der Sonne nach, Ü: Barbara Neeb/Katharina Schmidt, dtv, 2020, ab 12 Francesco Gungui: Ich mag dich wie du bist. Es passt … oder eben nicht und: Ich mag dich immer noch, wie du bist. Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage, beideÜ: Barbara Neeb/Katharina Schmidt, Baumhaus Medien, 2012 , ab 14 Morosinotto, Davide: Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 10. Aufl. 2017, ab 10 Morosinotto, Davide: Der Ruf des Schamanen. Unsere abenteuerliche Reise in das Herz der Dunkelheit, Ü: Cornelia Panzacchi, Illus: Paolo Domeniconi, Thienemann, 2021, ab 12 Morosinotto, Davide: Verloren in Eis und Schnee Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow, Ü: Cornelia Panzacchi, Carlsen, 2020, ab 12 Pierdomenico Baccalario: Dem Leben entgegen. Eine wahre Geschichte, Ü: Barbara Neeb, Katharina Schmidt, cbt 2015, ab 12
Kinderbücher
Lucia Vaccarino: Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Elefanten schwindeln?, Mitarbeit: Carolin Liepins, Ü: Birgit Ulmer Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Geister Fahrrad fahren?, Mitarbeit: Carolin Liepins, Ü: Bettina Dürr Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Gänseblümchen sprechen?, Mitarbeit: Liepins, Carolin, Ü: Bettina Dürr, Schneiderbuch, 2016, ab 9 Luca Di Fulvio: Die Kinder der Verlorenen Bucht, Ü: Katharina Schmidt, Barbara Neeb, Boje, 2016, ab 9 Fulvio Tomizza: Die Flöhe in der Oper, Ü: Edmund Jacoby, Illustration: Axel Scheffler, Jacoby & Stuart, 2018, ab 8 Francesca Cavallo: Das Wunder von R. Ü: Papenberg, Daniela, Mentor Berlin, 2020 ab 8 Susanna Tamaro: Bart, das sprechende Huhn und der Hüter der Weisheit, Ü: Ingrid Ickler, lllus: Thomas M. Müller, Hanser, 2017, ab 10 Elena Ferrante: Der Strand bei Nacht, Ü: Karin Krieger, Illus: Mara Cerri, Insel Verlag, 2018
Fantasy
Barbara Cantini (Texte und Illus): Mortina – Wer klopft da an die Tür? Ü: Knut Krüger, dtv, 2020, ab 5 Mortina – Das große Verschwinden, Ü: Knut Krüger, dtv, 2020, ab 6 Mortina – Ein Mädchen voller Überraschungen, Ü: Knut Krüger, dtv, 2019, ab 5 Mortina – Schwindelei zur Ferienzeit, Ü: Knut Krüger, dtv, 2021, ab 5 Silvana De Mari: Das Erbe des Magierkönigs – Tochter des Lichts, Ü: Barbara Kleiner, cbt, 2018, ab 11 Das Erbe des Magierkönigs – Der Aufbruch, Ü: Barbara Kleiner, cbj, 2017, ab 11 Fabrizio Silei: Orkobello, Ü: Ingrid Ickler, Illustration: Fabrizio di Baldo, Knesebeck, 2020, ab 8 Federica Magrin: Die schrecklichsten Monster & Geister der Welt, Ü: Britta Köhler,Illus: Laura Brenlla, White Star, 2019, ab 8 Federica Magrin: Drachen. Eine faszinierende Reise durch die Welt der fantastischen Wesen, Ü: Birgit Franz, Illus: Anna Láng, ars edition, 2019, ab 8
Bilderbücher
Viale, Marco: Ich bin der König!, Ü: Sebastian Hoch, Illus: Marco Viale, Freies Geistesleben, 2020, ab 3 Pierdomenico Baccalario/Alessandro Gatti: Die Geschichte von Flocke und Tropfen, Ü: Elisa Collini, Illus: Simona Mulazzani, Bohem Press, 2014, ab 3 Silvia Borando: Schwarzer Kater, Weiße Katze, Ü: Sebastian Hoch, Freies Geistesleben, 2020, ab 2 Silvia Borando: Pass auf!, Freies Geistesleben, 2019, ab 3 Susanna Mattiangli: Ein Strandtag und Ein Markttag, Ü: Lucia Zamolo, Illustration: Vessela Nikolova, Bohem Press, 2020, ab 3 David Cali/Maurizio A. C. Quarello: Sie nannten uns die Müll-Kids, Ü: Eduard Jacoby, Jacoby & Stuart, 2020, ab 8
Biografien
Elena Favilli/ Francesca Cavallo: Good Night Stories for Rebel Girls.100 außergewöhnliche Frauen, Ü: Birgitt Kollmann, Hanser 2017, ab 10 Miralda Colombo: Helden-Atlas. 101 Frauen und Männer, die die Welt verändert haben, Ü: Eva-Baumgart-Catania, Ulrike Schimming, Illus: Ilaria Faccioli, Midas, 2019 , ab 6 Carola Benedetto/Luciana Ciliento: Storys für Kinder, die die Welt retten wollen, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Roberta Maddalena Bireau, Rowohlt, 2020, ab 9 Renzo Barsotti: Entdecke über 200 starke Frauen und wie sie die Welt verändert haben, Ü: Barbara Neeb, Ulrike Schimming, Katharina Schmidt, Ullmann Medien, 2020, ab 9 Viviana Mazza: Jeden Freitag die Welt bewegen – Gretas Geschichte, Ü: Christina Neiske, Illus: Elisa Macellari, DTV, 2019, ab 9 Valentina Camerini: Gretas Geschichte. Du bist nie zu klein, um etwas zu bewirken (Greta Thunberg), Ü: Thomas Albrecht, Heel Verlag, 2019, ab 6 Viviana Mazza: Stories for Future – 13 Jugendliche, die etwas bewegen, Ü: Sophia Marzolff, Illus: Paolo d’Altan, dtv, 2020, ab 12 Federica Magrin: Helden der Zeitgeschichte. Persönlichkeiten, die die Welt veränderten, Ü: Langue & Parole, Illus: Isabella Grott, White Star, 2019 ab 8 Arena Bibliothek des Wissens. Lebendige Biografien Luca Novelli (Text eund Illustrationen): Stephen Hawking und das Geheimnis der Schwarzen Löcher, Ü: Anne Braun, 2020, ab 11 Edison und die Erfindung des Lichts, Ü: Anne Braun 2006, ab 9 Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft, Ü: Anne Braun,ab 10 Galilei und der erste Krieg der Sterne, Ü: Anne Braun, 2005, ab 9 Archimedes und der Hebel der Welt, Ü: Anne Braun, 2006, ab 11 Newton und der Apfel der Erkenntnis, Ü: Anne Braun, 2009, ab 11 Einstein und die Zeitmaschinen, Übersetzung: Anne Braun, ab 9 Marie Curie und das Rätsel der Atome, Ü: Anne Braun, 2017, ab 11 Volta und die Seele der Roboter, Ü: Petra Kaiser, 2017, ab 9 Darwin und die wahre Geschichte der Dinosaurier, Ü: Anne Braun 2015, ab 11 Magellan und die Welt ohne Anfang und Ende, Ü: Anne Braun, 2015, ab 11 Mendel und die Antwort der Erbsen, Ü: Braun, Anne, 2. Aufl., ab 10
Natur/Klima/Umwelt/Wissenschaft/Tiere
Pierdomenico Baccalario/Federico Taddia: 50 kleine Revolutionen, mit denen du die Welt (ein bisschen) schöner machst, Ü: Sophia Marzolff, Illus: Anton Gionata Ferrari, DTV, 2019, ab 9 Pierdomenico Baccalario/Tommaso Percivale: 50 Abenteuer, die du erleben solltest, bis du 12 bist, Ü: Sophia Marzolff, dtv, 2017, ab 9 Valentina Giannella/Lucia Esther Maruzzelli: Green Nation Revolution. Klimajugend, grüne Ideen, New Economy, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Manuela Marazzi, Midas, 2020, ab 12 Mein großer Weltatlas. Die Vielfalt der Welt entdecken, Ü: Dania D’Eramo, Ullmann Medien, 2019, ab 7 Miralda Colombo: Atlas der Städte. Eine Reise um die Welt, Ü: Ulrike Schimming, Illustration: Ilaria Faccioli, Midas, 2020, ab 6 Mein großer Space Atlas. Sterne, Planeten, Galaxien, Ü: Dania D´Eramo, Ullmann Medien, 2020, ab 8 Fogato, Valter 100% Insekten in Lebensgröße, Ü: Annette Ostlaender, Illust: Isabella Grott, White Star, 2020, ab 7 Rita Mabel Schiavo: 100% Tiere in Lebensgröße, Ü: Annette Ostlaender, Illus: Isabella Grott, White Star, 2020, ab 7 Barbara Sandri/ Francesco Giubbilini: Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn Wissenswertes über unser liebstes Federvieh, Ü: Christina Gauglitz, Illus: Camilla Pintonato, Die Gestalten Verlag, 2020, ab 7
Whitestar Verlag
Federica Magrin: Die Wikinger Spiel- und Entdeckerspaß, Ü: ?, Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 5 Federica Magrin: Survival-Guide für Prinzessinnen, Ü: Annette Osterlaender,Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 7 Federica Magrin: Das Alte Ägypten. Spiel- und Entdeckerspaß, Ü: Syliva Winnewieser,Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 5 Federica Magrin: Die zauberhafte Welt der Feen, Ü: Annette Ostlaender, llus: Claudia Bordin, White Star, 2020, ab 6
Psychologie
Davide Calì: Boris und der Ruf des Wassers, Ü: Christel Rech-Simon, Illustration: Marco Soma, Carl-Auer 2018, ab 6 Davide Calì: Der Glücksverkäufer, Ü: Christel Rech-Simon, Illustration: Marco Somà, Carl-Auer, 2020, ab 4 Alice Brière-Haquet: Wolkentage, Ü: Christel Rech-Simon Illustration: Monica Barengo, Carl-Auer, 2016, ab 4 Sandro Natalini: Familie. Das alles sind wir – Bilderbuch über Zusammenhalt, Toleranz und Liebe Illustration: Sandro Natalini, Ü: Joshua Schulz, Loewe Verlag, 2020, ab 3
Katholische Publikationen
Alberto Benevelli: Heilige Ritter. Große Heilige und ihre Geschichten, für Jungen, Ü: Gabriele Stein, Illus: Loretto Serofilli, Tyrolia, 2017, ab 8 Marco Baliani/Felice Cappa: Franziskus steht Kopf. Das Leben des Franz von Assisi, Ü: Brigitte Korn-Wimmer, Illus: Brigitte Püls, Verlag Sankt Michaelsbund, 2016, ab 6
Graphic Novel
Davide Reviati: Dreimal spucken, Ü: Myriam Alfano, avant-verlag, 2020 Serio, Andrea: Rhapsodie in Blau, Zeichnungen: Andrea Serio, Schreiber & Leser, 2020 Matteo Mastragostino/Alessandro Ranghiasci: Primo Levi, Ü: Georg Fingerlos, bahoe books, 2017 Gipi/Luigi Critone: Aldobrando, Ü: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2021, 28 Euro Gipi: MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben, Ü: Giovanni Peduto, Reprodukt, 2015 Gipi: Die Welt der Söhne, Übersetzung: Myriam Alfano, avant-verlag, 2018 Manuele Fior: Die Tage der Amsel, Übersetzung: Carola Köhler, avant-verlag, 2018 Manuele Fior: Die Übertragung, Ü: Carola Köhler, avant-verlag, 2013
Ich weiß, wie es ist, klein zu sein in der großen Stadt. Keiner sieht dich und überall ist es furchtbar laut.« Und trotzdem begibt sich das Kind in Sydney Smiths Bilderbuch Unsichtbar in der großen Stadt mitten hinein. Über mehrere Seiten nähern sich die Bilder, gerahmt vom Fenster der Straßenbahn, diesem einschüchternden Ort aus Hochhäusern, Laternenmasten, Oberleitungen, Schienen, Schildern, Ampeln, Kränen, hupenden Autos, schrillenden Sirenen, dröhnenden Baustellen. Der kanadische Autor hat nicht vergessen, wie es sich anfühlt, klein zu sein. Mit kontrastierendem, schwarzen Tuschestrich und leuchtenden Farbakzenten, die Flächen vereinzelt winterlich zart koloriert, lässt er Taxis, Busse, Radfahrer und Fußgänger durcheinanderwuseln.
Sehen, was das Kind sieht
Aber die vielen großen Menschen sehen das Kind nicht, haben ihr Telefon direkt vor und ihr Ziel in der Ferne vor Augen. Sie sehen nicht, was das Kind sieht: Kahle Bäume, die ihre Äste wie Finger in den Himmel strecken. Rücklichter, die wie Augen aus der Dunkelheit leuchten. Die Reklame eines Optikers. Das Muster, das die Streben der Brücke auf den Weg malen. Radfahrer, die im Gegenlicht der tiefstehenden Wintersonne nur noch schwarze Schatten sind. Alles noch mal vervielfacht in der spiegelnden Fassade eines Wolkenkratzers.
Tipps für den unsichtbaren Gesprächspartner
Das Kind beginnt mit jemand Unsichtbaren zu sprechen. »Es ist immer die Hölle los. Aber ich kenne dich. Du findest dich schon zurecht. Wenn du willst, gebe ich dir ein paar Tipps.« Den wütenden Hunden hinter dem Zaun sollte der unsichtbare Gesprächspartner ausweichen. Der Walnussbaum eignet sich als Ruheplatz. Vor dem Lüftungsrohr der Reinigung kann man sich aufwärmen. Der nette Fischhändler spendiert Fisch und die Freundin auf der Parkbank Streicheleinheiten.
Jedes Bild eine ganze Filmszene
Es wird oft von Kopfkino gesprochen, angesichts lebendiger Bildsprache. Smiths neues Kinderbuch, nach Überall Blumen und Stadt am Meer erstmals auch selbst getextetes Werk, ist tatsächlich ein Film – ein Film aus lauter Filmstills, jedes eine ganze Szene beinhaltend. Es sind Bilder wie Fotografien, die mit Licht und Schatten, mit Stimmungen und Perspektiven spielen. Fast schon ikonografische Bilder dominanter Architektur, Motorisierung, Massenbewegung, die viel mehr als bloße Momentaufnahmen sind.
Verloren im undurchdringlichen Gestöber
Es ist ein Film aus der Sicht eines Kindes, das wiederum die Stadt aus der Perspektive eines anderen kleinen Wesens erlebt: einer vermissten Katze. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie verloren das Kind in dem immer undurchdringlicher werdenden Schneegestöber wirkt. Wie es sich selbst Mut macht, indem es sichere Plätze für das geliebte Tier ausmacht. Allein angesichts des Verkehrs wird einem als Erwachsenem schon ganz mulmig. Kälte und Ignoranz der vorbeilaufenden Großen tun ein Übriges. Und doch bleibt das Kind zuversichtlich, spricht mit seiner Katze auf Augenhöhe. Es respektiert, dass sie ein eigenes Leben hat. »Zuhause ist es friedlich und kuschelig. Da warten eine Schale Milch und eine warme Decke auf dich.« Und noch einmal vergewissert es sich: »Aber ich weiß, du findest dich schon zu recht.«
Überall Blumen
Unsichtbar in der großen Stadt ist zeitlos schön und wahr, weil es in bezaubernden, hinreißenden Bildern von Verlust erzählt, von Verantwortung für andere Lebewesen und von Vertrauen. Es passt aber auch perfekt ins Jetzt, in unsere Gegenwart. Nicht nur, weil zum Beginn des neuen Jahres der Winter Einzug hält. Weil derzeit vieles, das wir lieben, verschwindet. Weil wir es vermissen. Verhalten macht Sydney Smith sogar Mut, mit einem charmanten Selbstzitat. »Wenn du magst, komm doch zurück«, bittet das Kind. Und tatsächlich, an der Mauer des Hauses, in dem es wohnt, ragen in lebendigem Rot, überall Blumen aus der dichten Schneedecke. Und davor sieht man Pfotenspuren im Schnee.
Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt, Übersetzung: Bernadette Ott, Aladin, 40 Seiten, ab 4, 18 Euro
Der Horizont – die Begrenzungslinie zwischen Himmel und Erde – ist das Zentrum in Carolina Celas‘ grandiosen Bilderbuch Bis zum Horizont. Begleitet werden ihre raumgreifenden, wunderschön farbigen Illustrationen von wenigen hingetupften Zeilen pro Seite: »Du bist immer da. Da drüben. Oder dort hinten. Manchmal scheinst du weit weg. Dann wieder nah.« Der Horizont, der sowohl Grenzlinie als auch Gesichtskreis ist, ist nämlich nicht immer gleich. Manchmal ist er auch ganz eng. Oder sogar verschwunden. Zum Beispiel wenn man eingesperrt ist. Oder aus anderen Gründen die Sicht blockiert ist. Auch wenn man die Position und damit die Perspektive ändert: »Wenn ich mich hinlege, verschwindest du.« Stimmt, darauf muss man erstmal kommen. Wenn man sich hinlegt (zumindest im Freien) sieht man nur noch den grenzenlosen Himmel über sich.
Bezauberndes Gedicht über eine Linie
Es ist wie so oft und vieles eine Frage der Perspektive. Das veranschaulicht die portugiesische Illustratorin auch durch die horizontale Linie, die sich über alle Seiten durch das ganze Buch zieht. Sie ist nicht immer der Horizont. Manchmal ist sie auch ein Brückengeländer aus der Vogelperspektive, eine Dachkante, die Fußbodenleiste oder die Mittellinie eines Tennisplatzes. Oder der bildliche Durchschnitt einer Menschenmenge. Die Figuren sind bei Celas weich konturierte Kompositionen aus Farbflächen. Sie bieten Bezugspunkte, man sieht aus ihrer Perspektive, sie relativieren Weite, Ferne und Nähe. Mal gibt es Knicke in der Optik, etwa wenn ein Kind die parallelen Lamellen der Jalousie auseinanderzieht, um das Gesichtsfeld zu erweitern. Oder wenn die quere Weite durch runde Strukturen eingerahmt und fokussiert wird. Carolina Celas Bis zum Horizont ist ein Gedicht auf eine vermeintlich so klare, einfache und doch so wandelbare und vielfältige Linie.
In die Horizontale begeben sich auch die verschiedensten Tiere in Henriette Boerendans‘ Bilderbuch Auch Affen wollen schlafen. Ob tagaktiv oder Nachschwärmer, ob winzigmäuseklein oder riesengroß wie ein Wal – alle brauchen Schlaf und müssen mal abschalten. Wie unterschiedlich Tiere zur Ruhe kommen, beschreibt Boerendans in ebenso pointierten wie informativen Texten. Schimpansen bauen sich komfortable Hängematten, sicher hoch oben in den Baumwipfeln, aus zurechtgebogenen Ästen. Orang Utans toppen das ganze sogar noch mit einem Palmblattdach gegen Regen.
Schillernde Schönheit in vielen Schichten
Dachse kuscheln sich symbiotisch aneinander. Eichhörnchen bauen mehrere Behausungen, Kobel, und wechseln den Schlafplatz nach Gusto. Seeotter täuen sich mit Seegras fest, sodass sie nicht abtreiben. Wale müssen zwischendurch Luft holen und schlafen nur mit einer Hirnhälfte. Das mit der Horizontalen stimmt natürlich nicht für alle Tiere. Man kennt es von senkreicht kopfüber schlafenden Fledermäusen. Und auch Spechte hängen in ihren hölzernen Höhlen ab. Illustriert hat die Niederländerin die sympathischen Schläfer mit ihren faszinierenden, vielfach ausgezeichneten Holzschnitten. In mehreren Farbschichten gedruckt entstehen Kunstwerke, die die Fauna in ihrer schillernden Schönheit und Vielfalt zeigt.
Optisch ebenso bezaubernd ist das Alphabetbilderbuch Affe Bär Zebra, das Henriette Boerendans mit der Dichterin Bette Westera geschaffen hat. Schrift läuft in unserem Kulturkreis auch über die Horizontale. Und wenn man lesen kann, kann man auch ganz viel über die unterschiedlichsten Lebewesen erfahren. Die Tiere sind puristisch naturalistisch wiedergegeben, in opulente Farben getaucht und mit gewitzten dekorativen Details versehen. Das R illustriert ein Rotkehlweibchen, ihr Spiegelbild ist versehen mit einem anspielungsreihen Tapetenmuster. Das Besondere: Sie singt ebenso gut wie ein männliches Rotkehlchen.
Wissenswertes Zeile für Zeile
Das erfährt man unter anderem aus Westeras Versen. Manchmal etwas gestelzt (aber eigentlich ist es unmöglich, Lyrik zu übersetzen) erzählt sie Wissenswertes zu jedem einzelnen Tier und Buchstaben. Zum Beispiel Q wie Quetzal: »Wetten, du kannst nicht ermessen, was wir Quetzals meistens fressen? Lorbeerfrüchte, reif und grün.« Was diese merkwürdigen Früchte sind, wird im angehängten Index noch mal erklärt, eine kluge Form der Repetition.
Manchmal ist der Horizont auch zu weit: Wenn man Schiffbruch auf dem offenen Ozean erleidet und weit und breit nichts ist, um sich festzuhalten. Gerettet werden Vater, Tochter und Hund in Mark Janssens Ich bin eine Insel. Das klingt eigentlich egozentrisch, solitär und isoliert. Nicht umsonst wird sonst immer betont, dass niemand eine Insel sei und alle sozial interagierende Wesen sind. Hier ist das Inselhafte aber überlebenswichtig. Eine Insel zu sein bedeutet: Beschützen, behüten, altruistisch und geduldig zu sein. Das Buch des niederländischen Künstlers ist ein überwältigender Farbrausch. Es erinnert an Marc Chagalls Traumwelten mit fantastischen Elementen von Miró und Paul Klee. Vor allem ist es aber ein neues Bilderbuchkunstwerk von Mark Janssen. Das mit einer reizenden Überraschung und Belohnung für seine besondere Heldin endet.
Es gibt mehr von dieser Grenzlinie zwischen Himmel und Erde zu erzählen, als man sich träumen lässt.
Carolina Celas: Bis zum Horizont, Übersetzung: Claudia Stein, Verlag Kleine Gestalten, 2020, 40 Seiten, ab 3, 14,90 Euro
Henriette Boerendans (Text und Illustration): AuchAffen wollen schlafen, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 40 Seiten, ab 4, 17 Euro
Bette Westera, Henriette Boerendans (Illus.): Affe Bär Zebra, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 64 Seiten, ab 4, 18 Euro
Mark Janssen: Ich bin eine Insel, Übersetzung: Eva Schweikart, Fischer Sauerländer, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
200 Sachen – als Erwachsener kann man davon nur träumen. Damit ist nicht die Geschwindigkeit gemeint, mit der man über die Autobahn kacheln könnte, wenn man einen geeigneten und möglichst stilvollen, fahrbaren Untersatz hat. Die junge Grafikerin Magdalena Skala, Jahrgang 1994, hat mit Sachen – Mein 200-Bilder-Buch das perfekte Abbild der kindlichen Realität gestaltet. 200 farbige, klar konturierte Bilder von Alltagsgegenständen und Lebensmitteln finden sich auf zehn stabilen Papp-Doppelseiten.
Auf zehn Doppelseiten durch Lebensräume
Da geht es von der Garderobe mit Mantel, Schirm, Schuhen, Geldbörse und Smartphone gleich ins Kinderzimmer zu Schaukelpferd und Xylophon. Vor allem das Xylophon sticht ins Auge: Dieses einfache Instrument mit den bunten Metallplättchen findet sich doch tatsächlich bis heute magischerweise fast immer beim Spielzeug. Wenn es auch nur ansatzweise so viele ausgewachsenen Percussion- und Vibraphonisten gäbe, würde die Welt ganz anders, rhythmischer und auch schöner klingen. Auf den nächsten Doppelseiten streift der Betrachter durchs Wohnzimmer mit Sessel, Wandschrank und Flachbildschirm in die Küche. Und mitten rein in den Kühlschrank, ins Bad, runter in den Keller und raus in den Garten. Wobei im eigentlichen Sinn keine Zimmer zu sehen sind, aber die Dinge, die man den einzelnen Räumen zuordnet.
Alltag in sattem Orange, Rot, Geld und Dunkelblau
In sattem Orange, Rot, Gelb und Dunkelblau entfaltet Skala alles, was die Alltagswelt eines Kindes prägt. Nichts fehlt, und kein Teil ist zu viel. Die idealen 200 Sachen halt, bei denen die Entrümplungsexpertin Marie Kondo garantiert nichts zum Ausmisten fände. Und auch keinen Anlass für den von ihr selbst absurderweise zum Verkauf angebotenen Krimskrams und Nippes, der Freude schenken soll, oder wie sie es sagt: „Spark joy.“
Kein Teil zu viel, nichts zu tun für die Entrümplungsexpertin
Dagegen wirkt Magdalena Skalas Wohnraumgestaltung wie pures Bauhausdesign, kein Schnickschnack, kein Firlefanz, kein überflüssiges Dekor. Für dieses Bilderbuch wurde Skala jetzt auch mit dem Meefisch (Fränkisch für Mainfisch – man kann als Erwachsener immer noch etwas lernen), einem in Markheidenfeld verliehenen Preis für Bilderbuchillustrationen ausgezeichnet. »Wie ein gutes italienisches Nudelgericht: einfach, klar, übersichtlich und vor allem wohlschmeckend«, so begründete der Illustrator und Hochschuldozent Marco Wagner den Juryentscheid. Das ist zwar, insbesondere für einen Illustrator, ein etwas schräges Bild. Aber man versteht beim Betrachten von Skalas aufgeräumten, köstlich anzusehenden und Appetit auf mehr machenden Seiten was er meint.
Heißt es Pfannenwender? Sagt man Vierkantreibe?
Die Namen der Gegenstände sind ein Abbild der Wirklichkeit, sagt grob vereinfacht der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten, später weitestgehend revidierten Frühwerk Tractatus logico-philosophicus. Magdalena Skala schafft mit ihren Illustrationen ein besonders gelungenes Abbild der kindlichen Realität. Das Tolle an diesem Buch ist, dass sie nichts benennt, nirgendwo steht »Stuhl«, »Waschmaschine« oder »Schubkarre«. Die Kinder lernen, den Sachen selbst Namen zu geben, vielleicht auch Dinge zu umschreiben. Und bei manchem Küchenutensil kommt der erwachsene Betrachter ins Grübeln, heißt es Pfannenwender? Sagt man Vierkantreibe?
Kondo kannste knicken
Gleichzeitig lernen Kinder Zusammenhänge, Funktionen und Themenkomplexe kennen: Im Bad findet sich nichts zu essen und Werkzeug eignet sich nicht zum Kochen. Der Entdeckergeist wird zusätzlich durch einen Marienkäfer auf jeder Seite geweckt, der mal über ein Regal krabbelt, mal auf einem Flaschenetikett sitzt. Sachen ist ein klasse Bilderbuch – und kluger Einrichtungshelfer, da kann man jeden Kondo-Ratgeber knicken.
Magdalena Skala: Sachen – Mein 200-Bilder-Buch, Arena, 2020, 22 Seiten, ab 12 Monaten, 13 Euro
Seit nun mehr einem guten Jahr mahnt Greta Thunberg uns immer wieder und völlig zu Recht: »Unser Haus steht in Flammen.« Das Bild des Hauses für unseren Planeten Erde haben die Macher des großformatigen Sach-Bilderbuches So geht Planet! sehr genial aufgegriffen. In 17 Kapiteln, die jeweils eine Doppelseite umfassen, erklärt Emmanuelle Figueras, wie die Erde entstanden, aufgebaut, bewohnt, bewässert, bewirtschaftet, aber auch von uns zerstört wird.
Unser Planet – eine Bestandsaufnahme
Das Haus Erde verfügt in dieser Darstellung unter anderem über ein Untergeschoss – das Erdinnere –, über Etagen und Dach – die Berge –, eine Küche – unsere Nahrungsressourcen –, Badezimmer und Toilette – die Weltmeere –, eine Werkstatt voller Bodenschätze, sowie über menschliche und tierische Mitbewohner. Zu jedem Lebensbereich des Hauses und seiner Umgebung – also dem Weltall – gibt es grundlegende Fakten und Zahlen, die erstaunen, aber auch erschrecken können.
Beeindruckende Zahlen
So erstaunt der Bau des Hauses Erde durch die langen Jahren bis zu seinem heutigen Aussehen. Die Vorstellung von Million oder gar Milliarden Jahren ist nicht einfach zu realisieren, ebensowenig Mengenangaben in Trilliarden – ich würde beim Aufschreiben der Nullen rettungslos durcheinander kommen. Doch genau diese immensen, quasi unfassbaren Zahlen setzen unser Hier und Jetzt in ein Verhältnis – vor allem, wenn es um die Zerstörung dieses Hauses geht, dessen Bau so ewig gedauert hat und das wir, die Mitbewohner, nun quasi in Null Komma Nix wieder einreißen.
Erschreckende Zahlen
Denn sobald es in die Werkstatt unseres Hauses geht, wird es erschreckend: Hier lagern die Bodenschätze und die Regale sind zum Teil schon verdammt leer. Kupfer, Zink und Blei dürften in etwa 25 Jahren erschöpft sein, Erdöl, Erdgas und Kohle in etwa 50 Jahren. Ja, könnte man sagen, das ist alles längst bekannt – doch bleibt es meist abstrakt und eine Umkehr im Denken, vor allem in der Wirtschaft und der Politik, scheint es nicht zu geben. Betrachtet man jedoch diese letzten Reste in den hier gezeichneten Regalen, kommt man ziemlich ins Grübeln.
Zusammenhänge erkennen
Man grübelt jedoch nicht nur hier, sondern auch bei solchen Infos wie der, dass ein Schaf nur etwa vier Kilogramm Wolle pro Jahr liefert. Das erscheint nicht viel, wenn man an die steigende Weltbevölkerung und den Bedarf an Kleidung denkt. Plastikkleidung scheint keine gute Lösung zu sein, denn die Herstellung verschmutzt Luft und Wasser viel zu sehr. Ähnlich ergeht es einem im Wintergarten des Hauses, in dem die Lebensräume und Vegetation erklärt werden. Dort heißt es, dass in jeder Sekunde auf der Welt 32 Bäume gepflanzt werden. Im ersten Moment freut man sich vielleicht, doch dann liefert der nächste Kasten darunter die Information, dass in jeder Sekunde auch ein halbes Fußballfeld an Vegetation auf der Welt verschwindet. Was das dann für den wenigen Raum heißt, der auf der Erde überhaupt mit Bäumen und Pflanzen bedeckt ist, kann sich wirklich jedes Kind ausrechnen.
Hoffnung inklusive
Damit es jedoch nicht völlig frustrierend wird, liefern Figueras & Co. immer auch Lösungsvorschläge, wie wir das Haus Erde noch retten können. Sei es, dass man die Kleidung öfter trägt oder mehr Second-Hand-Klamotten kauft, sei es, dass man Wertstoffe recycelt oder neue Energien nutzt. Diese Kombination aus Zahlen, Fakten und Handlungshinweisen erscheint mir ein sehr gelungenes Konzept, um das Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unser eigenes Verhalten noch weiter zu schärfen.
Graphisch klar und aktuell
Zusätzlich trägt das optische Layout und die Illustrationen zu einem gelungenen Lese- und Schmökererlebnis bei. Verschieden große Kästen, in perfekt abgestimmten, gedeckten Farben liefern moderne flächige Illus, die in ihren Details viel zum Entdecken bieten. Da sitzt dann auch schon mal der Hipster mit einem Panda auf dem Sofa oder die überschwappende Badewanne bekommt Besuch vom Pinguin.
Nicht nur für Kinder interessant
Und wenn man am Ende der Lektüre erfährt, dass es mit dem Zweitwohnsitz auf Mond, Mars oder Jupiter eher schwierig werden dürfte, wird jedem doppelt klar, dass wir nur dieses eine Haus haben. Wir sollten es sorgsam behandeln, die Feuer löschen, unser eigenes Verhalten überdenken und verändern und uns so mehr um den Erhalt unseres Planeten kümmern. Es wären gute Vorsätze für das neue Jahr.
Emmanuelle Figueras: So geht Planet! Wissenswertes für junge Erdbewohner, Illustration: Alexandre Verhille und Sarah Tavernier, Übersetzung: Frederik Kugler, Kleine Gestalten, 2019, 45 Seiten, ab 8, 22,90 Euro
Spätestens seit dem wunderbarsten Weihnachtsfilm aller Zeiten, love actually, wissen wir, dass nicht nur Esel und Schaf im Stall von Bethlehem standen. Legendär der Dialog von Emma Thompson mit ihrer Tochter: »Erster Hummer? Es war also mehr als ein Hummer bei Jesus‘ Geburt dabei?« Hummer in Ehren, ruhige Charaktere mit beträchtlicher Altersweisheit, wenn sie nicht vorher im Kochtopf landen. Wer aber definitiv dabei sein sollte, sind NEINhorn und KEINpferd. Marc-Uwe Kling gesellt seinem anarchistischem Känguru jetzt ein sich genauso wenig um Konventionen scherendes Tier für jüngere Leser dazu. Dieses kleine Einhorn ist bestimmt nicht niedlich (eigentlich schon, wie es so wütend, mit verstrubbelter Mähne vom Cover starrt, aber sagen Sie ihm das bloß nicht!).
Gezuckerter Glücksklee und Knuddel-Engel? Nein, Nein, nochmals Nein
Auf jeden Fall fühlt es sich nicht wohl in seinem superflauschigem Fell, »es hatte oft das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Darum sagte es meist nichts, und wenn doch, dann sagte es NEIN.« Waschen, Essen, Schule, Sport, und noch schlimmer, gezuckerter Glücksklee, weiche Knuddel-Engel, »im duftenden Blütenstaub der Wunderpflanzen / Ballett für die niedlichen Gnome tanzen« und was es sonst noch so an lilalaunefunkelglitzer Klischeebeschäftigungen für Einhörner gibt – Nein, Nein und nochmals Nein! »Das geht mir total auf den Keks«, sagt der kleine Revoluzzer sehr deutlich – und immerhin ziemlich höflich.
Auf subtile Art sich dem Mainstream und Erwartungen verweigern
Also macht es sich auf den Weg, die Welt auf seine Art zu erkunden, badet im Schlamm, isst angedatschte Äpfel, bis ihm schlecht wird, jagt »irre niedliche Katzenbabies« auf Bäume. Und lernt Leute kennen, die sich ebenfalls auf subtile Art dem Mainstream und den Erwartungen verweigern: Einem Waschbär mit selektiver Schwerhörigkeit, also einem WASbär, einem durch nichts aus der Ruhe zu bringenden, »Na und?« fragenden Hund, also NahUnd, und einer trotzköpfigen KönigsDochter, die sie gemeinsam aus einem Turm befreien. »Mein Vater hat mich hier eingesperrt, weil ich immer Widerworte gegeben habe.« Da schwant dem NEINhorn, dass es doch vergleichsweise tolerante und eigentlich ganz nette Verwandte hat. Gelegentlich besucht das bockige Quartett sogar die Einhorn-Familie und isst ein wenig Glücksklee.
Wider den Reimzwang
Diese Fabelwesengeschichte ist brillant gegen den Strich gebürstet. Astrid Henn findet für ihre farbenfrohen Illustrationen genau die richtige Mischung aus niedlich-rundlich-bunt und kluger Karikatur, die alle Klischees in die Pfanne haut. Und fügt zum Schluss noch ein sehr witziges Bestarium aus Schmatze, Reichhörnchen, Egaal, Schnarcheoperteryx und weiteren klugen Kalauer-Kreaturen hinzu. Nicht zuletzt räumt Marc-Uwe Kling mit dem immer noch in Kinderbüchern verbreitetem Reimzwang auf. »Und mich nervt auch, dass sich jeder Satz hier immer reimen muss«, sagt das zornige Fohlen zum Abschied. Wo schlechte Reime hinführen, weiß man auch vom Pumuckl, noch ein Punk aus dem Kinderzimmer, genauer der Werkstatt des Meister Eder: »Denn was sich reimt, ist gut«, argumentiert der Feuerkopf gern – und dann enden seine Aktionen oft richtig übel. Dem neugeborenen Jesus hätte ich auf jeden Fall einen selbstbewussten Nein-Sager zur Seite und zum Vorbild gewünscht.
Und ein so überirdisch schönes Fantasiewiesen, wie aus Marcy Campbells und Corinna Luykens Adrian hat KEIN Pferd. Die Erzählerin in diesem Buch regt sich auch ganz schön auf. Weil sie glaubt, dass der Junge aus ihrer Klasse lügt. Und das sagt sie auch allen so. »Adrian wohnt in einem Haus, das sehr klein ist. Er bringt immer ein Butterbrot mit in die Schule, weil er kein Geld hat, um sich was zu kaufen. Und seine Schuhe haben Löcher«, stellt sie fest. Sie versteht, Adrian ist arm. Und weiß, dass ein Pferd ein teures Vergnügen ist.
Adrian scheint arm und ist doch sehr reich
Was sie aber nicht begreift, ist dass Adrian gleichzeitig sehr reich ist – an Fantasie. Für ihn gibt es dieses Pferd mit der goldenen Mähne und den braunsten Augen der Welt wirklich. Und schließlich gelingt es ihr doch, auch durch ihre sehr bodenständige Mutter, die Welt mit Adrians Augen zu sehen. Corinna Luyken hat zu Marcy Campbells erfrischend klar und stringent erzählter Geschichte fantastische Bilder mit Buntstift und Aquarell gemalt, die immer farbenreicher, vielschichtiger, verschlungener werden. Das KEINpferd erscheint mal wie ein Fata Morgana, ein Wunschwesen, und wird mit dem wachsenden Verständnis der Erzählerin wahrhaftiger.
Tierische Begleiter, die man sich an jede Krippe wünscht
Auch die zahlreichen anderen Charaktere, liebevoll gezeichnete Nebendarsteller, wie die Mutter, die konzentriert während der empörten Tirade ihrer Tochter im Garten ein Fahrrad repariert, das großzügige, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, die direkte Konfrontation der Kinder im Profil mit ebenso minimalistischer wie ausdrucksstarker Mimik – Corinna Luykens Illustrationen sind absolute Hingucker, die einen von der Kraft der Fantasie überzeugen. Also, Ja zum furiosen NEINhorn und zum fabelhaften KEINpferd, tierische Begleiter, die man sich an jede Krippe wünscht.
Marc-Uwe Kling (Text), Astrid Henn (Illustration): Das NEINhorn, Carlsen 2019, 48 Seiten, ab 3, 13 Euro
Marcy Campell (Text), Corinna Luyken (Illustration): Adrian hat gar KEIN Pferd, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, cbj Verlag 2019, 40 Seiten, ab 5, 15 Euro
All lost in the supermarket – der knubbelige Held in Barrouxs Bin doch kein Angsthase verläuft sich zwischen gigantischen Regalwänden, irgendwo zwischen Süßigkeiten und Waschmittel. Eigentlich eine klassische Paniksituation für kleine Kinder. »Aber Angst? Ich doch nicht. Bin doch kein Angsthase! Hab‘ ja mein Kuscheltier dabei.« Egal, ob ein Unwetter ums Haus tobt, er vom Dreimeterbrett springt oder nachts gruselige Schatten über die Wände huschen – der namenlose Held mit dem großen, kugeligen, an Charlie Brown erinnernden Kopf ist ein richtiger Muthase. Barroux zeigt starke Szenen und üppige Panoramen in schwarzgrau und weiß, akzentuiert nur mit zwei Farben, einem kräftig klaren Gelb und Rot. Manchmal verirrt sich ein orangener Gummientenschnabel dazwischen.
Urvertrauen in die Welt
Es ist vermeintlich nur ein Stoffhase, der dem Kleinen Mut macht. Am besten gefällt mir die Szene im Zoo. »Auf einmal brüllt mich ein Löwe an«, das Maul der Raubkatze ist furchterregend, die dünnen Gitterstäbe sind ein Witz. Da kann einem schon mal vor Schreck die Mütze vom Kopf fliegen. Toll sind dann die folgenden Seiten, wenn wirklich alle, das Kind, die anderen Tiere im Zoo und sogar der Kuschelhase, richtig wütend und auch angsteinflößend den Löwen anstarren. Das Stofftier steht für ein Urvertrauen des Kindes in die Welt, »weil Menschen, die mich lieb haben, immer für mich da sind, wenn ich sie brauche«. Große Wahrheiten, gelassen gezeichnet vom französischen Autor Barroux, der übrigens in einem weiteren Buch der für Kinder schlafraubend interessanten Frage nachgeht, Was machen Eltern nachts?
Sanfter Superheld der Kuscheltiere
Diese Frage kann Ricardo Liniers zwar nicht beantworten. Aber was Kuscheltiere nachts so treiben, zeigt der Argentinier in seinem Comic Gute Nacht, Sternchen. Das staksige Wesen Sternchen erinnert aufgrund seiner Flecken an ein Rehkitz auf zwei Beinen. Auf jeden Fall ist es kein Angsthase, mehr ein diskreter Superheld der Kuscheltiere. Tagsüber versteckt es seine Superfähigkeiten. Unterwegs mit einem Mädchen wirkt es wie die unanimierte, schlaffe Version des Tigers Hobbs aus den Abenteuern mit Calvin. In zart kolorierten Bildern wird durch Herbstlaub getobt und auf einer Doppelseite in kleinformatigen Bilderfolgen die Abendroutine aus offensichtlich nicht leckerem Abendessen, Zähneputzen und zu Bett gehen gezeigt. Gute Nacht, Sternchen, wünscht das Kind in aller Unschuld (nicht »Schlaf gut«!) – und das Abenteuer beginnt.
Einfach mal machen
Mutig stürzt sich das immer noch stofftierartige, aber gar nicht mehr schlaffe Wesen die Treppe herunter – und fällt, erschreckt von einem Geräusch, anmutig in Ohnmacht. Sternchen ist anfangs einmal nervös, aber die Nacht ist noch jung. Sternchen lässt sich vom Hund des Hauses durchschütteln, genießt den wohligen Schwindel, und futtert Kekse mit ihm. Dann gilt es eine angeberische Maus zu beeindrucken. Mut ist bekanntlich nicht die Abwesenheit, sondern die Überwindung von Angst – einfach mal nicht lange, zu lange nachdenken – und machen. Sternchen greift nach den Sternen. Liniers entzückender Comic ist eine leise, liebenswerte Variante von Winsor McCays Little Nemo in Slumberland. Es erzählt vom Zauber der Nacht und von Abenteuerlust. Und von Mut, der auch Sanftmut und Gelassenheit sein kann.
Barroux (Text und Illustrationen): Bin doch kein Angsthase, Übersetzung: Andreas Illmann, Schaltzeit Verlag, 2019, 28 Seiten, ab 4, 16 Euro
Ricardo Liniers (Text und Illustrationen): Gute Nacht, Sternchen, Übersetzung: Paula Peretti, Sauerländer, 2019, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Kleine Kinder können ziemliche Spießer sein. Das Leben ist noch zu komplex für ihren unerfahrenen Verstand. Um nicht die Orientierung zu verlieren, beharren sie auf das möglichst immer Gleiche und Wiedererkennbare. Man kann also gar nicht früh genug anfangen, den kindlichen Horizont zu erweitern. Da kommt Peter, Kater auf zwei Beinen genau richtig. Phil findet den schwarz-weißen Vierbeiner herzzerreißend miauend vor der Tür in einem kleinen Karton, auf dem ein Name steht: Peter. Schnell öffnet er die Kiste. »Jetzt, wo er endlich frei war, stellte sich Peter, der Kater, gleich auf seine Hinterbeine. Phil hatte noch nie einen Kater auf zwei Beinen gesehen. Aber egal – er hatte schon immer davon geträumt, eine Katze zu haben! So kam es, dass er Peter gleich bei sich aufnahm.«
Mäusejagd auf dem Skateboard
Dieses »Aber egal« macht das Bilderbuch der Autorin Nadine Robert und des Illustrators Jean Jullien sofort absolut liebenswert. Peter ist nämlich absolut kein typischer Kater und entspricht keinem Klischee, das Phils Schulfreundin Pam von Katzen hat. Anstatt Mäuse zu jagen, verfolgt der Kater sie lieber mit dem Skateboard. Statt mit Wollknäueln zu spielen, serviert er gelegentlich Tee.
Wollknäuel sind langweilig!
Grandios zeigt Jullien mit aufs Wesentliche reduzierten, farbigen Bildern, wie abwegig es dem Kater erscheint, eine freundliche, ebenfalls auf zwei Beinen stehende Maus zu jagen. Noch besser ist der höchst gelangweilte Gesichtsausdruck angesichts der Vorstellung, mit einem Wollknäuel rumzualbern. Eher schenkt er schön blasiert wie die Karikatur eines altehrwürdigen Butlers Tee ein. Leicht irre und sehr witzig wird Peters Blick bei der Idee, nach seinem eigenen Schwanz zu schnappen. Wo er den doch viel geschickter nutzen kann, um damit ein Tässchen anzuheben.
Vielfalt des Lebens charmant gefeiert
Phil nimmt Peter so wie er ist. »Peter ist ein Kater auf zwei Beinen, und er ist sehr besonders. Aber am allerbesten finde ich …, dass er mein Freund ist.« Schöner und charmanter kann man die Vielfalt des Lebens und aller Lebewesen nicht zeigen und als absolute Bereicherung feiern. Was als Diversity gefordert wird, leben Phil, Peter und bald auch ihre jungen Leser ganz selbstverständlich.
Harry bleibt lieber drinnen – eigentlich
Seinen Horizont erweitert, wenn auch zunächst unfreiwillig, der gemütliche Siamkater Harry im Bilderbuch von Leo Timmers. Harry hat zwar keine Schmetterlinge im Bauch. Aber einen vor der Nase. Und der fragt ihn, ob sie fangen spielen wollen. »Harry hatte noch nie draußen gespielt. Er bleibt lieber drinnen. Aber fangen spielen ist sicher sehr schön.« Und so verlässt Harry ungewohnt mutig die bekannten vier Wände, folgt dem Schmetterling – und findet nicht mehr nach Hause. Er sieht, dass es ganz andere Häuser als seins gibt – kleine, hohe und niedrige. Traurig und ganz allein probiert er alles aus. Doch es gibt kein Haus für Harry bis er in einer stinkenden Mülltonne landet und dort andere, straßenschlaue und freundliche Katzen trifft.
Eine Art schnodderiger Aristocats
Der Niederländer Leo Timmers zeichnet den knuffigen Harry und die Katzenbande mit ihren großen Augen und knubbeligen Fellkörpern auf zarten Pfoten wie eine Art schnodderiger Aristocats. Dazu zitiert er fotorealistisch Elemente und Ausschnitte von verwirrenden Straßenschildern und Wegweisern. Gleich zu Anfang läuft Harry an einer Litfaßsäule vorbei, auf der gleichzeitig das Musical Cats und die Oper Madame Butterfly plakatiert sind.
Auf den Geschmack gekommen
Herrlich ist auch das bronzene Denkmal eines versonnen lächelnden Löwen, auf dessen Hinterteil selbstbewusst eine obligatorische Taube hockt. Timmers besonderer Stil macht Lust auf weitere Abenteuer. Harry findet zwar schließlich nach Hause, wo er schon sehnsüchtig von einem Kind erwartet wird. Aber der Kater hat die Welt draußen entdeckt und ist auf den Geschmack gekommen: »Morgen komme ich wieder raus zum Spielen!«
Nadine Robert, Jean Jullien (Illustrationen): Peter, Kater auf zwei Beinen, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2019, 56 Seiten, ab 3, 16 Euro
Leo Timmers: Ein Haus für Harry, Übersetzung: Rolf Erdorf, aracari 2019, 56 Seiten, ab 3, 14 Euro
Will man ein Buch lesen, dass den Namen Donald Trump im Titel trägt? Ich war ja anfangs skeptisch, dachte, nee, will ich nicht. Doch dann hat Sam, der Held aus dem Bilderbuch Hallo Donald Trump von Sophie Siers und Anne Villeneuve, mich ganz schnell um seinen Finger gewickelt.
Eine Mauer muss her
Sam teilt sich sein Zimmer mit seinem großen Bruder. Und dieser namenlose Bruder entspricht so ganz der Trump’schen Beschreibung einer »unerwünschten Person«. Er nervt, er daddelt abends immer auf dem Smartphone rum, sodass Sam bei dem Licht nicht schlafen kann, er wirft die frische Wäsche immer vor Sams Bett und nimmt sich einfach dessen Star-Wars-Destroyer. Sam hat die Nase voll, eine Mauer muss her, so wie er es von Donald Trump im Fernsehen gehört hat. Diesen Beschluss diskutiert Sam mit seiner Familie und schreibt davon auch Donald Trump. So erfährt Mr President, dass Sam die Idee mit der Mauer gut findet – nur eben Sams Familie nicht. Tagelang reden sie über die unterschiedlichsten Mauern, die chinesische, eine in Zimbabwe, den Hadrianswall und natürlich die Berliner Mauer, die aber wieder abgerissen wurde.
Reden hilft
Sam baut zur Probe schon mal eine Mauer aus Steinen und Sand durch den Teich im Garten und nimmt sich vor, als Astronaut später die chinesische Mauer aus dem All zu bewundern. Aber nach und nach merkt er durch die Gespräche mit der Familie, dass eine Mauer keine Lösung sein kann. Sein Bruder wird einsichtig, legt die Wäsche ordentlich hin, verkriecht sich zum Smartphone-Daddeln unter die Bettdecke und fragt, ob er sich etwas von Sam ausleihen darf. Harmonie zieht ein. Und so begreift Sam schließlich, dass miteinander reden viel besser ist, als trennende Mauern hochzuziehen. Er fühlt sich zwar blöd, dass er seine Meinung ändert – auch dies schreibt er Trump. Doch Mamas Worte, dass sie Männer bewundert, »die es zugeben, wenn sie sich geirrt haben«, beruhigen ihn wieder.
Die Tolle von Trump
Die Texte von Sophie Siers, in der gelungenen Übersetzung von Steffi Kress, werden von zumeist blau-gelb aquarellierten Federzeichnungen von Anne Villeneuve illustriert. Sie zeigt auf der linken Seite immer Sam in seinem Zuhause, mit Hund und Familie, dem üblichen Spielzeug und dem Hochbett. Eine Szenerie, wie sie heute in Familien gängig ist und daher wunderbar identifikatorisch wirkt. Rechts jedoch gibt es in kleineren Illus Post-Übergabe-Szenen in Washington zu bewundern. Ein Postbote, eine Angestellte, der Personaltrainer oder die Politberater übergeben Donald Trump jedes Mal einen gelben Umschlag mit Sams Briefen. Von Mr President sieht man Arme & Beine und hauptsächlich seine unsäglich gelbe Haartolle, während er Burger verschlingt, aus Bauklötzen auf dem Schreibtisch eine Mauer baut, über den Golfplatz heizt oder in der Badewanne im Schaum abtaucht. Sein Gesicht sieht man nie. Und das ist auch gut. So ist die Distanz gewahrt, und jeder Betrachter kann sich die Reaktionen von Donald selbst ausmalen.
Es ist kinderleicht
In dieser vorzüglichen Kombination aus Text und Bild wird auf äußerst charmante Weise klar gemacht, wie zum einen der Familienfrieden wieder hergestellt werden kann, wenn Geschwister sich ein Zimmer teilen, aber auch, dass machtgeile, twitternde Ego-Politiker sich von der Diskussionsfreude und dem Miteinanderreden in Familien eine große Scheibe abschneiden können. Es besteht zwar nur wenig Hoffnung, dass Donald Trump – oder auch andere Rechtspopulisten – dieses Bilderbuch je zu Gesicht bekommen und es dann auch noch verstehen würden. Aber der Gedanke ist einfach tröstlich, dass es im Grunde kinderleicht ist, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und sich das Zusammenleben gegenseitig zu erleichtern. Und dass selbst Kinder verstehen, dass Mauern und Grenzen nie eine Lösung sein können. Doch wenn diese Erkenntnis mit diesem Bilderbuch nun bei den Politikern der kommenden Generationen verankert wird, dann gibt es immer noch Hoffnung, dass diese Welt eines Tages ohne solche Gebilde auskommen kann.
Sophie Siers: Hallo Donald Trump, Illustrationen: Anne Villeneuve, Übersetzung: Steffi Kress, Esslinger, 2019, 32 Seiten, ab 5, 13 Euro
Heute wird Eric Carle 90 Jahre alt. Eric Carle ist der »Vater« der Raupe Nimmersatt – die bereits im Frühjahr ihr 50. Jubiläum hatte und überall ausgiebig gefeiert wurde. Ich dachte, ich gratuliere Eric Carle heute zu beiden: Happy, happy birthday, dear Eric Carle, and thanks for the lovely caterpillar that enriched and enchanted my own childhood!
Happy Birthday, Eric Carle!
Zu diesem Anlass habe ich auch meine alte Ausgabe der hungrigen Raupe von 1969 wieder aus dem Regal gezogen und dabei eine interessante? merkwürdige? typische? ungewöhnliche? Feststellung machen müssen. Denn mittlerweile gibt es in meinem Haushalt auch ein neues Exemplar. Jacke wie Hose, dachte ich, fing aber trotzdem an zu blättern. Und staunte.
Die beiden Ausgaben sind nicht nur unterschiedlich groß – das eine durchaus gängige Veränderung bei Neuauflagen – und haben unterschiedliche Hintergrundfarben auf dem Cover samt anderer Schrifttype, auch drinnen finden sich diverse Unterschiede. Seht selbst und schaut mal genau hin. Oben liegt immer die aktuelle Ausgabe aus dem Gerstenberg Verlag, darunter meine alte Lizenzausgabe aus dem Gerhard Stalling Verlag in Oldenburg für die Europäische Bildungsgemeinschaft.
Wie viele Unterschiede sind auf den Bildern?
Was ist da passiert?, fragt man sich ganz automatisch. Hat Carle vielleicht mehrere Versionen seiner Bilder hergestellt? Hat er die alten Bilder vielleicht »neu bearbeitet«, so wie wir Übersetzerinnen das manchmal mit alten Texten machen dürfen? Musste die Sonne hier neu gemacht werden, weil ihr Blick in der alten Ausgabe leicht fies wirkt?
Auf jeder Seite finden sich Unterschiede, die selbst auf diesen eher schlichten Fotos gut zu erkennen sind. Und es sind nicht nur Unterschiede, die durch das dünne, glattere, weißere Papier der neuen Ausgabe und den angegilbten Seiten der alten zu erklären sind. Wieso zeigt das Blatt der Pflaume auf einmal nach links? Wieso sind die Sonnenstrahlen anders?
Wurst- und Gurkenzipfel differieren, der Muffin hat unten abgespeckt, das Früchtebrot ist verrutscht … Sind im Verlaufe von 50 Jahren Verlags- und Buchgeschichte Druckdaten verloren gegangen? Musste alles noch mal gemacht werden? Gibt es jemanden, der diese Fragen, diese Unterschiede erklären kann? War meine Lizenzausgabe gar nicht die echte? Welche Raupe ist denn nun das Original? Weiß jemand etwas genaueres darüber?
Aber ganz gleich, warum das so ist. Ich liebe die kleine hungrige Raupe immer noch und werde meine alte Ausgabe nun noch mehr hüten wie einen ganz besonderen Schatz (ich sollte den zerrissenen Buchrücken mal reparieren lassen, zur Feier des Tages).
Lebensfragen
Vielleicht passen aber diese Mysterien um Carles berühmtestes Buch auch genau zu seinem langen Leben, über das ihr an anderen Stellen ausführliche Infos findet (von dem talentierten Werber, der zum Kinderbuchautor wurde etc.) – und in dessen Biografie sich für mich doch Fragen auftun: Wieso kehrten Carles Eltern mit den Kindern 1935 aus den USA nach Nazi-Deutschland zurück? Wikipedia spricht da nur von »Heimweh«, Deutschlandfunk schrieb vor zehn Jahren sie kamen »voller Hoffnung auf Hitlers Versprechen nach wirtschaftlichem Aufschwung«, Carle selbst nennt die Zeit, die er in Deutschland verbrachte »düster«. Man kann nur ahnen, was es alles bei einem Sechsjährigen auslöste, die Heimat zu verlassen und in ein Land zurückzukehren, dass zwar das der Eltern, aber doch irgendwie nicht seins war – und dann die geistige Enge, die HJ und den Krieg ganz nah miterleben zu müssen, wenn man eigentlich schon in Freiheit und Sicherheit lebte. Aber auch hier ist es wieder ganz gleich, ob sich die Hoffnungen seiner Eltern erfüllten oder ob sie noch andere Beweggründe für die Rückkehr hatten, es berührt mich einfach, dass Eric Carle den Großteil seiner Kindheit in Nazideutschland verbringen musste. Zum Glück waren die frühen Jahre seines Lebens wohl doch die prägenden, sodass er später wieder in seine Heimat USA zurückging. Der Rest ist Geschichte.
Möge nun also die kleine 50-jährige Raupe auch die kommenden Generationen weiter zum Futtern und Flügelausbreiten anregen – ihre Botschaft ist und bleibt trotz all meiner Fragen universell und zeitlos.
Eric Carle: Die kleine Raupe Nimmersatt, Gerstenberg Verlag, 2019, 36 Seiten, ab 2, 10 Euro
PS vom 27. Juni 2019:
Gerade bekam ich eine Mail vom Gerstenberg Verlag, der mir eine Erklärung für die zwei Versionen liefert. Ich zitiere:
»Eric Carle hat die Collagen tatsächlich vor einiger Zeit neu gestaltet, denn die Originale mussten für die neuen und später digitalen Drucktechniken neu eingescannt werden. Die Bilder von 1969 waren dafür nicht mehr geeignet. Der Kleber hatte die Farben zu stark verändert. Sehr schön sieht man das übrigens in der Ausstellung im Museum Wilhelm Busch. Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover, wo die erste und die neueste Version und über 150 weitere Bilder und Exponate aus dem Atelier noch bis zum 8. September 2019 zu bestaunen sind. www.karikatur-museum.de«
Also, wer Zeit hat und in der Nähe von Hannover ist: Schaut Euch die Originale an. Das ist bestimmt sehr eindrucksvoll und bereichernd.
Danke, liebe Frau Deyerling-Baier, für diese Erläuterungen!
Hans ist ein netter Kerl. Aber zum Haareschneiden hat er kein Talent, wie Øyvind Torseter auf der ersten Seite seines neues Kinderbuchs Hans sticht in See sehr lustig zeigt, wochenlange bad hair days garantiert. Also verliert der sanftmütige Schlacks mit dem freundlichen Gesicht, einer Mischung aus Mumin und Elchkopf, gleich wieder seinen ersten Job. Kurz darauf ist auch noch seine Wohnung weg, seine Habe weggeschlossen und nur gegen 70.000 Kronen auslösbar. »Ich brauchte etwas Starkes«, denkt Hans und geht in die Hafenkneipe, wo er sonst nie hinkommt. »Was Starkes« sind Chilinüsse – aber die sind aus! Hans hat ziemliches Pech. In der sozialen Realität von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot beginnt der norwegische Autor und Zeichner Torseter seine charmante Neuerzählung von Hans im Glück. Seinen Hans, schüchtern und sanftmütig, kennt man von seiner Neuinterpretation der norwegischen Sage Der siebente Bruder. Vom Äußeren her erinnert er auch an sein niederländisches Pendant Krawinkel, bester Freund des Hundes Eckstein. Weil Hans wirklich nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich von einem großspurigen Millionär anheuern, das größte Auge der Welt für dessen außergewöhnliche Sammlung zu suchen.
Keine Graphic Novel – hier wird über die Bilder erzählt
Auf einer stimmig kolorierten Doppelseite zeigt Torseter mit viel Liebe zum Detail zahlreiche Kuriositäten. So vielfältig und einfallsreich wie die Geschichte, die sich zu einer Odyssee und Liebesgeschichte entwickelt, sind auch die Bilder, mit denen der mehrfach ausgezeichnete Autor erzählt. Mal sind es nur ganz reduzierte Schwarzweißzeichnungen, gerade mal die Konturen mit leicht verwackeltem Strich angedeutet, dann malt er Tableaus von Kneipeninterieurs, Stadtansichten, Schiffsquerschnitten und Tiefseewelten. Dabei setzt Torseter Farbe dezent und meist flächig ein, um Stimmungen zu erzeugen. Als Innenarchitekt wäre er wohl auch sehr überzeugend. Obwohl andere es so nennen, Hans sticht in See ist keine Graphic Novel, und zwar nicht nur, weil der Text deutlich unterliegt. Es ist die perfekte Mischung aus Comic und Kinderbuch, hier wird über die Bilder erzählt, Dialoge stehen in klassischen Sprechblasen.
Synthetischer Seemannspulli und Gin Tonic
Witzig ist die Mischung aus Märchen und Anspielungen an das Hier und Jetzt. Seinen Seemannspulli verschenkt Hans an einen frierenden Delfin, der sich sehr darüber freut, »obwohl es nur Synthetikwolle ist«. Gegen Skorbut auf große Fahrt mitgenommene Zitronen verschwinden im Gin Tonic, mit dem sich die blinde Passagierin unter Deck über Wasser hält. Es tauchen mythische Figuren auf wie ein sehr wütender Wal und ein gefährlicher Zyklop, wuschelig weiche Reisebegleiter spielen ebenso eine Rolle wie ein verlorenes Medaillon. Manchmal hat man das Glück direkt vor der (weichen, großen) Nase – und findet es aber erst nach langer Irrfahrt. Hans sticht in See ist ein wunderbares Comic mit allem, was richtig gute Bildergeschichten brauchen.
Ein sprachlich und optisch höchst unterhaltsames Vergnügen ist der erste Band der neuen Comicreihe Atom Agency. Die Juwelen der Begum basieren auf einem dreisten Blitzüberfall 1949 an der Côte Azur, bei dem historisch verbürgt der Begum, Frau des Aga Khans, Schmuck im Wert von zwei Millionen Mark geraubt wurden. Der junge Atom, armenischstämmiger Sohn eines Polizeikommissars in Paris, wittert seine große Chance als Privatdetektiv. Gemeinsam mit Freundin und Assistentin Mimi sowie dem ehemaligen Catcher Jojo versucht er den Schmuck zu finden.
In der Tradition belgischer Comickünstler
So wohlbekannt das Genre, so klassisch sind auch die Zeichnungen. Olivier Schwartz ist ein Vertreter der Nouvelle Ligne claire, in der Tradition der großen belgischen Comickünstler wie Hergé und André Franquin, letzterer bekannt für Spirou und Fantasio. Deren Abenteuer setzt Schwartz gemeinsam mit dem Szenaristen Yann seit einigen Jahren fort. Und jetzt hat dieses kongeniale Duo ein schlaues und schlagkräftiges Trio ins Leben gerufen. Schwartz‘ Bilder leben von der Detailtreue: in einer Autowerkstatt sind mehrere Michelinmännchen zu sehen, an der Wand hängt ein Plakat des Autorennens in Monaco von 1937. Das Bistro wird dekoriert mit Martini-Reklame, auf den Tisch kommt Ricard. Auf dem Boulevard wirbt ein Plakat für Orson Welles Der dritte Mann, Straßenkreuzer bekannter Automarken rauschen vorbei, historische Neonschriftzüge blinken an Fassaden.
Vielmehr ein Paradigmenwechsel
Yann setzt alles stimmig und spannend in Szene. Seine Dialoge sprühen vor Wortwitz, besonders die sehr selbstbewusste, kluge und unabhängige Mimi nimmt kein Blatt vor den Mund. Jojo, der die Ermittlungen finanziert, stellt klar: »Ich spiele auf keinen Fall den Muskelprotz, den Idioten mit ´ner Erbse im Schädel, der die Türen eintritt, den Frontmann, der die Bösen verhaut und den Strohkopf, der die Koffer schleppt! Nee! Njet! Nichts da!« Und schlägt »vielmehr einen Paradigmenwechsel vor«. Ganz klassisch, ganz ohne Klischees. Nebenbei lernt der Leser einiges über die Résistance. Aus sehr unterschiedlichen Menschen mit diversen Motiven setzte sich die französische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer während des zweiten Weltkriegs zusammen. Kommunisten, aufrechte Franzosen, politisch Verfolgte und echte Gangster kämpften gemeinsam für ein freies Frankreich und die Demokratie. Alte Netzwerke und merkwürdige Konstellationen blieben bis weit in die Nachkriegszeit bestehen.
Résistance und Armenier, Geschichte und Familienkonflikt
Man erfährt zudem etwas über Armenier in Frankreich, von denen der als guter Bekannter von Atoms Vater genannte Aznavourian der bekannteste ist, der Chansonier und Schauspieler Charles Aznavour. Atom ist ein traditionell armenischer Vorname, den sein Vater ihm zu Schadenfreude seiner ihm wohlgesonnenen Onkel verpasst hat, zusammen mit der Forderung, ein »anständiges armenisches Mädchen« zu heiraten. Also auf keinen Fall eine wie die emanzipierte und freiheitsliebende Mimi. Hier vermischt sich sehr raffiniert Geschichte mit Fiktion, wahre Verbrechen mit Krimistory, Familienkonflikt mit Zeitkolorit. Ein toller Auftakt, der große Lust auf Fortsetzung macht.
Spiderman – A New Universe ist das, wie mehrfach auf den ersten Seiten betont wird, offizielle Buch zum Film. Also das Buch zum Film, der das Anime zum Spielfilm zum Comic ist – Comic auf der Metaebene. Und ein Band aus der Sachbuchreihe für Erstleser aus dem Dorling-Kindersley-Verlag. Jetzt können ganz junge Superheldenfans das neue Universum des Spinnenmanns erkunden. Aber was heißt ein Universum oder Spinnenmann?! Viel besser, auch Marvel erweitert sein Weltbild. Seit dem Animationsfilm von 2018 wissen wir: Es gibt nicht nur einen Spiderman. Sondern ganz viele. Es sind Frauen und Mädchen, junge Schwarze und düstere Typen vom alten Schlag, und Spider-Ham, in dessen Universum es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, dass Schweine Superhelden sind.
Helden und Schurken gibt es so viele wie Parallelwelten
Es gibt so viele Helden wie es denkbare Parallelwelten gibt. Und jede braucht Leute, die gegen das Böse antreten. Denn auch die gibt es weiterhin massenweise, da bleibt Marvel konservativ. Oder wie Toby Maguire in einer meiner Lieblingsszenen sagt, wenn er sich nach dem Kampf mit dem Sandmann auf einem Hochhaus sitzend den Sand aus den Schuhen kippt: »Wo kommen diese Typen nur alle her?« Dieses Sachbuch erweitert auf originelle Weise das Weltbild ganz junger Leser_innen und lässt erfahrenere Leser (und Filmliebhaber_innen) die früher etwas eindimensionalen Superheldengeschichten mit neuen Augen sehen.
Drei Bücher, die zeigen, wie vielfältig und klug, erfrischend und lebendig das Comicgenre ist.
Øyvind Torseter: Hans sticht in See – Die Irrfahrt eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg 2019, 160 Seiten, ab 12, 26 Euro
Yann, Olivier Schwartz: Atom Agency – Band 1 Die Juwelen der Begum, Übersetzung: Marcel Le Comte, Carlsen 2019, 56 Seiten, ab 12, 12 Euro
Marvel: Spiderman – A New Universe. Das offizielle Buch zum Film, aus der Reihe Sach-Geschichten für Erstleser, Dorling Kindersley, 95 Seiten, ab 6, 7,95 Euro
Die kleine Maus kennt sich aus in der Welt. Sie liest Bücher über Luftfahrt, Tiefsee und Radsport. Doch als immer mehr Wurzeln in ihre gemütliche Lesehöhle wachsen, merkt sie, dass sie keine Ahnung hat von ihrer näheren Umgebung. »Ich brauche ein gutes Buch über die Natur«, denkt die Entdeckermaus, und kommt raus, um ihren Lebensraum zu erkunden und selbst eins zu schreiben. Mit diesem Plädoyer fürs Selberentdecken und gute Sachbücher beginnt sie sofort rund um ihren Mäusebau. Da gibt’s Larven und schlafende Spitzmäuse, die sich vom Kriechgetier ernähren. Weiter geht’s auf die Wiese, in den Wald, an den Teich und in den Garten. Die Maus hat leicht praktikable und tierschonende Tipps, um alles genau unter die Lupe nehmen zu können. Die Mini-Humboldt erkundet einen Ameisenbau und taucht mit Kaulquappen ab, wo sie sogar noch eine Artverwandte findet. Die Natur funktioniert als Nahrungskette aus Fressen und gefressen werden. Leicht makaber ist die Vorratshaltung der Maulwürfe: Um immer frische Regenwürmer zu haben, verstümmeln sie die lebendigen Kriechtiere. Tereza Vostradovská malt meist doppelseitige naturalistische Panoramen. Die getuschten Illustrationen von kleinen und großen Säuge- und Pelztieren, Vögeln und Fischen sind lebensecht und erinnern an Darstellungen klassischer Naturzeichnungen. Dazwischen tummelt sich die Entdeckermaus als Autorin. Sie ist ganz niedlich, aber nicht süßlich disneyhaft, mehr eine passende Gefährtin zu Zdeněk Milers kleinem Maulwurf.
Sympathisch aus der Zeit gefallen
Komm mit raus, Entdeckermaus ist sympathisch aus der Zeit gefallen. Kinder können heute kaum allein durch die Gegend stromern, es gibt keine verwilderten Grundstücke mehr wie in meiner Kindheit. Einen Garten haben zumindest die in der neuen Schrebergartengeneration. Der Wald aber ist fast ein fast exotisches Habitat, dass auch die meisten Erwachsenen mehr aus den Büchern Peter Wohllebens kennen als durch eigene Anschauung, und wenn, dann als ein eher unnatürlich bewirtschaftetes Stück Forst. Trotzdem ist es ein großes Vergnügen mit der Maus ihren Lebensraum zu entdecken.
Auch im Wald, allerdings dem wirklich exotischeren, bunteren Dschungel, tummelt sich Äffchen. Die Großen schließen ihn aus ihren Vergnügungen aus – weil er noch zu klein sei. Deshalb macht sich Äffchen auf zu einer Soloklettertour. Mutig und unbekümmert überquert er den Fluss, hangelt sich zu den leckeren Früchten herauf und erklimmt den höchsten Wipfel. Dabei ist er sich der wahren Gefahr nicht bewusst, typischer Effekt, wenn Kinder nicht für voll genommen werden. Das hätte auch grotesk schief gehen können, weil der von den älteren Affen getriezte Tiger sich durchaus an dem allein durch die Gegend stromernden Äffchen hätte rächen können. Stattdessen schwingt der Kleene sich zum krönenden Abschluss ausgerechnet am Schwanz der Raubkatze, den er für eine Liane hält, elegant vom höchsten Baum herab, direkt in die Arme der besorgten und liebenden Affenbande.
Äffchen wächst an seinem Abenteuer
Marta Altés erzählt in satten Farben mit subtilem Witz von der tierischen Exkursion. Dabei besticht auch wieder die hochwertige Ausstattung des Bilderbuchs aus dem Bohem Verlag: Die Titelseite in Leinen mit Prägedruck fühlt sich gut an, auf dem Vorsatzpapier schwingen grüne Palmwedel, wie ein elegantes Tapetenmuster. Altés Tiere haben Ausdruck und Charakter. Äffchens mit jedem überwundenen Hindernis größer werdende Freude und sein wachsendes Selbstbewusstsein stehen in schön illustriertem Kontrast zur immer schlechter werdenden Laune des ihn verfolgenden Tigers. Äffchen beweist seinen Mut, erobert für sich selbst den Dschungel und wächst an diesem Abenteuer. Auch durch den Perspektivwechsel: Vom Wipfel des Baumgiganten sehen nämlich die Welt und alle anderen ganz klein aus.
Die Perspektive wechselt auch zwischen den skurril verbundenen Helden Der Wolf, die Ente und die Maus von Marc Barnett und Jon Klassen. »Eines frühen Morgens traf eine Maus auf einen Wolf« (… umblättern…) »und wurde gleich verschlungen.« Einmal zu sehen und schon wieder verschwunden, und man denkt, arme Maus, böser Wolf. Aber die Maus lebt noch, das Phänomen tierischer Gier kennt man aus Rotkäppchen und Peter und der Wolf. »Oje! Ich bin gefangen im Bauch dieses Untiers. Gleich ist es aus mit mir.« Aber von wegen: Die Maus trifft die Ente, die es sich schon länger im Wolf gemütlich macht. »Als ich draußen war, hatte ich jeden Tag Angst, ein Wolf könnte mich verschlingen. Hier drin gibt es solche Sorgen nicht.« Und weil so Einiges im Wolf landet, können Maus und Ente es so richtig krachen lassen mit lecker Essen, Tanz und Musik. Davon bekommt der unfreiwillige Gastwirt schlimme Magenschmerzen, stöhnt und lockt einen Jäger an, dem er nicht entkommen kann.
Schau mir in die Augen, Kleines
Maus und Ente fürchten zu Recht das Schlimmste. Mutig und tollkühn verteidigen sie ihren Lebensraum und schlagen den Jäger in die Flucht. So retten sie dem Wolf das Leben. Zum Dank haben sie einen Wunsch frei … Armer Wolf, jetzt weiß man, warum er heult. Jon Klassens Tierbilder sind hinreißend und entzückend. Vor überwiegend in dunklen Farben gehaltenem Hintergrund, die Geschichte spielt im Wolf und bei Nacht, zeichnen sich die weiß umrandeten Figuren in Buntstift und Wachsmalkreide ab. Hell und höchst lebendig sind die Augen von Wolf, Ente und Maus: Die Pupillen sind die ganze Mimik und spiegeln alle Emotionen wider. Schau mir in die Augen, Kleines.
Tereza Vostradovská: Komm mit raus, Entdeckermaus!, Übersetzung: Jaromir Konecny, cbj, 2019, 56 Seiten, ab 4, 15 Euro
Marta Altés: Äffchen, Übersetzung: Gertrud Posch, Bohem Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro
Marc Barnett, Jon Klassen (Illustrationen): Der Wolf, die Ente & die Maus, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2019, 40 Seiten, ab 5, 15 Euro