Katzen sind keine Macher. Sie sind auch nichts für Machertypen (auch nicht solche, die sich einbilden, welche zu sein). Die Zukunft ist ihnen herzlich egal. Katzen leben im Hier und Jetzt. Und davon verschlafen sie die meiste Zeit (zum Thema Schlafen hier demnächst mehr). Katzen passen zu Menschen, die eher ambitionslos durchs Leben schlurfen, nach dem Motto Leben und leben lassen.
Normalzustand: dösen, entspannen, chillen, pennen
Wenn Katzen dann aber mal ausnahmsweise wach sind und nicht dösen, entspannen, pennen, chillen und auch nicht futtern – dann sind sie schlagartig sehr sehr wach und flippen total aus. Etwa so, wie wenn koffeinempfindliche Menschen sich ein Dutzend Espressi direkt in die linke Herzkammer kippen (um Helge Schneider und seine Paris-Impressionen zu zitieren). Und genau von diesen so wilden, verrückten und rätselhaften Momenten im Felinen-Leben erzählt Emily Joes furioses Bilderbuch Katzen können Geister sehen.
Plötzlich Springteufel im Zickzack
Eben noch liegt das dunkel getigerte Kätzchen entspannt ausgestreckt auf der Matte. Und im nächsten Moment steht es wie elektrisiert mit aufgerissenen Augen und Bürstenschwanz auf der Unterlage, die ebenso aufgewühlt wirkt. Und dann geht es los . Mit gesträubtem Fell rast die Katze los, Menschenkinder lesend hinterher. Sie lauert im Schrank. Wie ein Springteufel schießt sie aus dem Versteck. Macht Kung-Fu-Tritte in die Luft. Läuft im Zickzack durchs ganze Haus. Springt die Wände hoch. Und dann …
Totale Entspannung.
Emily Joe malt die irre Jagd in flächigen, überwiegend gedeckten Farben, schwarz, braun, graublau, verschattetes Gelb der Bettdecke, sanftes Ockerorange des reinscheinenden Tageslichts. Als kontrastierendes Element die knallgelben, weit aufgerissenen Augen der Katze, in deren Pupillen sich Gespensterumrisse spiegeln. Die neuseeländische Illustratorin Joe kennt Katzen wirklich: Faszinierend akkurat fängt sie die absurden Bewegungen und Positionen des tobenden Tieres ein.
Gerade fürs zweckfreie Verhalten geschätzt
In gereimten und von Jana Grohnert liebevoll und treffsicher übersetzten Texten erklärt Emily Joe absolut logisch dieses bei allen Katzen zu beobachtende Verhalten: Katzen können Geister sehen! Das ist es! Nach der furiosen Jagd putzt sich die Geisterjägerin. Und fordert Streicheleinheiten und einen Platz im Bett. »Ein kleiner Preis – den zahl‘ ich gern. Denn dafür hält sie die Geister fern.« Dieses mitreißende und außergewöhnliche Katzenbuch ist für alle, die ihre felligen Mitbewohner auch gerade für deren zweckfreies, irrationales Verhalten schätzen.
Emily Joe: Katzen können Geister sehen, Übersetzung: Jana Grohnert, aracari Verlag, 24 Seiten, ab 4, 15 Euro
Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.« So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?
Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen
Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«
Was die Menschen so umtreibt
Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten. Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist. Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.
Bilder, die zu Orten entstehen
Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort. Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten
Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick
Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt: »Erinnern sie sich an ihre Kindheit?« »Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?« »Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?« »Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.« »Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«
Erwachsene sind kein bisschen schlauer
Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert. Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.
Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14
So manches Mal stehe ich trotz langer Jahre Textarbeit mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß und habe nicht sehr viel Lust, mich eingehender damit zu befassen. Zu dröge sind die gängigen Grammatikbücher.
Auf der Frankfurter Buchmesse ist mir nun noch jedoch eine absolut sinnliche Variante in die Hände gefallen: Hunde im Futur der Geschwister Susanna und Johannes Rieder. Ohne allzu lange theoretischen Erklärungen geht es mit den Illustrationen von Arinda Crăciun gleich zur Sache. Haptischer Clou auf jeder Doppelseite ist die zweigeteilte rechte Seite, die ausgeklappt wird. Sie fungiert quasi als Titelseite für ein neues Thema und durch das Aufklappen gelangt mensch beispielsweise zum Subjekt, zu den Pronomen oder dem Tempus.
Ausklappen macht neugierig
Die Worte, Sätze, Erklärungen mäandern dann durch die bunten Seiten, machen Singular und Plural deutlich, stellen die passenden Fragen zum Genus, zeigen den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv. Und so blättert mensch sich durch die Seiten, stellt fest, dass die schmale Mittelseite beim Umklappen perfekt zur Illu der Vorseite passt. Der buchherstellerische Aufwand (Carsten Aermes hat die Gestaltung übernommen) ist durchweg zu spüren und auch die große Liebe, die hier dem eigentlich trockenen Thema entgegen gebracht wird.
Lerneffekt garantiert
Junge Lesende, die noch am Anfang ihres Grammatik-Lernpensums stehen, werden spielerisch mit den Fachbegriffen konfrontiert und bekommen eingängige Erläuterung oder Beispiele. Auch der Hinweis, dass mensch beim Lernen von neuen Sprachen gewisse Dinge einfach auswendiglernen sollte, fehlt genauso wenig, wie die Tatsache, dass Sprache sich ständig verändert und eigentlich nie fertig ist – so wird auf die aktuelle Genderdebatte und die sich wandelnden Ausdrucksformen verwiesen. Und auch Grammatik-Profis finden vielleicht noch die ein oder andere Neuigkeit. Für mich war es das wunderbare Wort »Wunschsatz« als Kategorie der Satzarten, der dann in Form eines Ausrufungszeichen mit Herz statt Punkt dargestellt wird.
Diversität in den Illustrationen
In den Illustrationen von Arinda Crăciun fällt aber nicht nur die anregende Verspieltheit auf, sondern auch die Diversität der Figuren. Da küssen sich zwei Männer, es gibt Menschen mit verschiedenen Hautfarben, mit und ohne Kopftuch, mit Kippa, alt und jung, alte Römer mit Hunden, eine Polizistin auf der Jagd nach Mister X. und Rosa Parks. Und natürlich Hunde aller Art, aber auch Hasen, Fische, Schmetterlinge und (Fleder-)mäuse. So mischen sich abstrakte Wissenseinheiten mit wimmelbildartigen Kunstwerken.
Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022
Zurecht war diese wunderbare Buch in diesem Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Und auch wenn es nicht gewonnen hat – der Preis für die Sparte Sachbuch ging an Der Duft der Kiefern vonBianca Schaalburg –, ist es ein Schatz, der das Zeug zum Dauerbrenner hat. Für Kids, die beim Thema Grammatik das Gesicht verziehen, ist dieses Buch möglicherweise eine Hilfe und Augenöffner.
Susanna Rieder/Johannes Rieder: Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern, Illustration Arinda Crăciun, Susanna Rieder Verlag, 2021, 128 Seiten, ab 8, 30 Euro
Ein etwas morsches Schloss in den karpatischen Bergen. Zum Frühstück serviert der Butler Ringo dem leicht kauzigen Schlossherrn Mr. Constantin Tee mit Milch, Scones und Orangenmarmelade. Die Konversation besteht aus freundlichem und anerkennendem Brummen. Ringo ist ein eleganter mittelgroßer Windhund, ein sogenannter Whippet. Das ist die grandiose Szenerie von Katja Spitzers Gruselgeschichte Ringo und die Vampirkaninchen. Die verheißungsvolle Mischung aus urbritischer Krimikonstellation und klassischem Vampirambiente entwickelt sich zum schaurig-schönem Vergnügen.
Anti-Aggressions-App leistet ganze Arbeit
Eines Tages bringt die Postbotin ein Paket mit Luftlöchern, raus hüpft ein flauschiges Kaninchen, das laut Begleitbrief den Namen Moffat trägt, aber nicht drauf hört. Fortan hat Mr. Constantin nur noch Augen für das Fellknäuel und verwöhnt es mit Leckereien, bettet es auf Seidenkissen, richtet ein plüschiges Zimmer mit Himmelbett und Schaukel ein, und sogar einem kleinen Whirlpool. Für Ringo bleibt da kein Streicheln, kein nettes Wort, nicht mal ein anerkennendes Brummen. Da muss die Anti-Aggressions-App auf seiner Fitnessuhr ganze Arbeit leisten. »Whippets hassten Kaninchen, und Ringo war ein reinrassiger Whippet.«
Spitze Zähne und bizarre Tänze
Tatsächlich hat der »Flauschbruder«, ein whippettypisches spezielles Schimpfwort für Kaninchen, es faustdick hinter seinen fluffigen Löffeln. Ringo beobachtet nachts im Garten bizarre Rituale und Tänze marodierender Kaninchenhorden. Im Dunkeln blitzen unheimlich zwei zusätzliche spitze Zähne in den überhaupt nicht niedlichen Mäulchen auf. Vampire, eindeutig! Immerhin sind wir doch mitten in den Karpaten. Und wer erinnert sich nicht an das kopfabbeißende Monster aus Monty Pythons Ritter der Kokosnuss?! Es ist aber nicht alles so, wie es scheint. Und wie Kochkunst, gepaart mit exzessiv viel Knoblauch eine überwältigende, nicht nur Vampirkaninchen den Appetit verderbende Wirkung entfaltet, das erzählt Illustratorin Katja Spitzer in ihrem ersten selbstgeschriebenen Kinderbuch. Dazu hat sie auf den ersten Blick kindlich-einfache Bilder gemalt, die bei genauerem Hinsehen aber eine Fülle von Details, Anspielungen und kuriosen Überraschungen beinhalten.
Bezaubernder Grusel in Orange und Lila
Absolut außergewöhnlich und faszinierend ist Spitzers Farbwahl: Dominierend sind Orange und Lila, gelegentlich kontrastiert von Schwarz. Das gibt den Illustrationen eine mal fast schon zu idyllisch-warme, dann wieder gewittrig-kippende Stimmung. Ganz eindeutig – es liegt was in der Luft. Mit einem so bezaubernden Vampirkrimi kann man dem eindimensionalem Halloweenkommerz perfekt Paroli bieten.
Katja Spitzer: Ringo und die Vampirkaninchen, mairisch, 56 Seiten, 18 Euro, ab 6
Oar, Leute! Aber sonst geht’s euch gut, ja?!« Kaum im Waldkrankenhaus angekommen und die frische Schusswunde selbst (mit dekorativem Kreuzstich) vernäht, rettet durch verrückten Zufall ein Kaninchen dem Wolf das Leben. Und jetzt muss sich der coole Einzelgänger auf der Suche nach sichereren Jagdgründen um das kleine Beutetier kümmern. »Frag nicht, Wolfskodex«.
Furioses Road-Comic
Mit dem Kaninchen hat der Wolf gleich noch einen Infusionsständer, einen Koffer mit Medikamenten und einen langen Therapieplan im Schlepptau, das Kaninchen hat nämlich Krebs und fünf Monate Chemo vor sich. Und so macht sich das kuriose Duo auf einen Trip mit Tropf, wie Josephine Marks furioses Road-Comic heißt.
Stiernackige Motorradrocker und gutmütige Bärin
Stilecht bewegen sich die beiden erst im Pickup, zwischendurch auf Motorrad mit Beiwagen und schließlich zu Fuß auf Schleichwegen durch Wälder, an Flüssen entlang und über verschneite Bergketten. Sie begegnen üblen, stiernackigen Motorradrockern, gutmütigen Touristen, freundlichen Wolfkumpeln und einer gutmütigen Bärin – immer den fiesen Jäger und seinen ebenso unerfreulichen Hund im Nacken. Als wäre das nicht schon genug, verliert das kranke Kaninchen sein Fell, kotzt sich die Seele aus dem Leib und leidet unter Nasenbluten.
»Born to be wild«
Aber manchmal genießt das ungleiche Paar Verschnaufpausen in schäbigen Motels und einsamen Hütten. Sie futtern Chips und gucken Filme im Fernsehen. Oder singen laut und lustvoll die Hymne aller Abenteurer und Roadtrips »Born to be wild«. Josephine Marks Comic ist ein actionreiches, mitreißendes Feuerwerk an brenzligen Situationen, krassen Unfällen und wundersamen Wendungen. Es vibriert von Zitaten und Anspielungen.
Genervt, skeptisch, kaltschnäuzig
Am liebsten zeichnet Mark Wölfe – und das sieht man. Erstaunlich, wie dieses schmale, einfach konturierte, graue Wesen so viele Stimmungen, Launen und Gefühle zeigt. Also vor allem wirkt er genervt, ungeduldig, skeptisch, fassungslos, wütend, kaltschnäuzig. Auch mal wild und ausgelassen. Aber immer verbirgt sich dahinter unerschütterliches Verantwortungsgefühl und zupackende Hilfsbereitschaft für das Häuflein Elend, das der Wolf konsequent »Nager« nennt. Und ja: echte Zuneigung. Die Sache mit dem Wolfskodex hat wahrscheinlich eine sehr lange Geschichte, wie nicht nur die Bärin Beate vermutet.
Schönste und lebensbejahendste Antwort
Dazu passt auch die entzückende Schlussszene. Wolf und Kaninchen sitzen voll kitschig nebeneinander auf einem Findling auf einer Frühlingswiese und betrachten das gegenüberliegende Bergmassiv. Der Wolf macht einen vagen Vorschlag und stellt die Frage, die eigentlich in jeder Beziehung tabu ist und nur bei wirklicher Offenheit für jede Antwort gestellt werden sollte: »Was denkst du?«
Und das Kaninchen gibt die schönste, witzigste und absolut lebensbejahendste Antwort darauf, die man sich nur vorstellen kann. Aber die wird hier natürlich nicht verraten.
Josephine Mark: Trip mit Tropf, Kibitz, 192 Seiten, 20 Euro, ab 12
mmmmIiiiiiiihummmmmm, schlürschfütsch, zzzschschschsch, ksksksksksks … Spinne spielt Klavier. Es klingt vermutlich ganz anders, wenn ein achtbeiniges Tierchen sich an den schwarz-weißen Tasten versucht. So lautet aber der ulkige Titel von Benjamin Gottwalds einzigartigem Bilderbuch. Es ist voller schön bunter Bilder. Auf zwei Seiten sind Situationen oder Gegenstände in Gebrauch gegenübergestellt. Außerdem gibt es viele doppelseitige Panoramabilder: Herbstwind braust und fegt das Laub von den Bäumen. Wellen brechen sich an Felsen und Gischt spritzt. Ein Kind zieht einen Schlitten über die Schneedecke. Steine flitschen über den See.
Worte im Kopf fühlen
Doch es fehlen die Worte. Das ist bei echten Bilderbüchern für ganz junge, noch nicht des klassischen Lesens Kundige nicht ungewöhnlich. Die Worte und Geschichten zu den Bildern entstehen im Kopf. Bei Gottwalds fantasievoll gemalten Szenarios passiert jedoch etwas ganz anderes. Sie explodieren im Kopf. Man kann geradezu fühlen, wo: Da, wo der der Hörsinn sitzt. Man hört die Bilder. Und sofort und instinktiv versucht jeder, das Geräusch, das im Kopf beim Anblick der Bilder entsteht, nachzumachen: von knisterndem Feuer und leisem Geflüster, rauschenden Wasserfällen und speienden Vulkane, startender Rakete und im Wind steigenden Drachen, aus dem Reifen zischender Luft und züngelnder Schlange, Spaghetti schlürfen und zwei, die sich küssen.
Lautmalerei vom Feinsten
Das ist Lautmalerei im wortwörtlichen Sinne und vom Feinsten. Viel besser und origineller, als wenn Benjamin Gottwald versucht hätte, onomatopoetische, also lautmalerische Wörter zu formulieren. So wie es am Anfang dieses Textes eher unbeholfen imitiert wurde.
Pfütze und Zischen
Der Blick und auch das Gehör auf dieses vor allem in Comics wesentliche Element verändert sich. Häufig behelfen sich die Comictexter mit Verben: »schlürf, schlürf« etwa. Oder »schnüffel«, »tropf«, »flüster«, »murmel, murmel« – alles unpassende Verlegenheitslösungen. »Peng!« funktioniert ganz gut, »knall« dagegen gar nicht, weil ein Knall eben nicht wie »knall« klingt. Es gibt ein paar hübsche, lautmalerische Bezeichnungen, die das Geräusch dazu mittransportieren und illustrieren: Pfütze zum Beispiel, klingt ein bisschen so, wie wenn jemand in eine kleine Wasserlache tritt und der Matsch hochspritzt. Matsch ist auch ganz treffend. Oder »zischen«.
Zapperwusch
Der ungekrönte König der Onomatopoesie ist Don Martin, bekannt aus dem Satiremagazin Mad. Ein wahres Feuerwerk der Lautmalerei fackelte er zum Beispiel mal auf einer Seite ab, die ein Verkaufsgespräch in einem Laden für Steppschuhe zeigt. Die Schuhe springen, hüpfen, tanzen über Tresen, Wände und Decke mit »zapperwusch« und »klapperdoing« und »tickertacherklonk«. Am Schluss stehen sie wieder ganz brav parallel als Paar auf dem Tresen. Und der Kunde fragt: »Gibt’s die auch in braun?«
Zum Bilderbuch mit Geräuschen statt Worten passt ein Comic (fast) ohne Bilder. Dafür aber mit umso mehr Worten, genauer gesagt: Super witzigen und kuriosen Dialogen – im Dunkeln. Oder in der Unsichtbarkeit. Denn die Geschichte des Autorenduos aus Patrick Wirbeleit (bekannt für die Comicreihe Kiste) und Andrew Matthews spielt im unsichtbaren Raumschiff, der Invisibility 2. Wer sich jetzt fragt, wieso 2? Der ahnt vielleicht, wo das Problem auf solchen Raumschiffen liegt. Daraus ergibt sich für die vier Crewmitglieder, die auf dubiose Art für diese Mission gewonnen wurden, grandios absurde Situationen.
Man spricht Honk
Uwe Heidschötter hat dieses urkomische Abenteuer im Weltall raffiniert mit farbigen Sprechblasen in Szene gesetzt. Das beginnt schon auf dem Cover, wo der Titel schwarz auf schwarz eher haptisch zu lesen ist. Und das ist bereits ein gutes Stichwort: »Du bist doch ein haptischer Mensch?«, fragt Kapitän Bück, genannt Käpten, seinen technischen Offizier Honk. Doch dieser ist nun mal ein Honk, ein Wookiee-artiges Wesen. Und er spricht auch nur Honk. Ein Wort sagt manchmal mehr als tausend Worte. Oder um es mit Leutnant Bot, einem hochkomplexen Droiden, den es natürlich auf jedem ordentlichen Raumschiff gibt, zu sagen: »Ich verstehe Honk. Um Honk zu sprechen, müsste ich einen großen Teil meiner Denkfunktion kurzschließen.«
Hörspiel zum Lesen
In all dem Schlamassel schaltet sich auch noch Kapitän Bücks Erzfeind ein, um ihn zu vernichten. Und es ist nicht Marcus Beinschere aus der vierten Klasse. Aber die Crew der Invisibility 2 hat wirklich andere Probleme. Das unsichtbare Raumschiff funkelt vor Anspielungen und Zitaten. Dieser Ausflug ins All ist ein Hörspiel zum Lesen und ein überirdischer Spaß.
Benjamin Gottwald: Spinne spielt Klavier, Carlsen, 160 Seiten, 18 Euro, ab 3
Patrick Wirbeleit, Andrew Matthews, Uwe Heidschötter (Illustrationen): Das unsichtbare Raumschiff, Kibitz, 80 Seiten, 15 Euro, ab 6
Superheldinnen und Superhelden, die mit sich hadern, gibt es einige. Man denke nur an Tobey Maguire als Spiderman nach seiner ersten Begegnung mit dem Sandman. Frustriert hockt er auf einem Dach, kippt Sand aus seinen Schuhen und fragt sich: »Wo kommen diese Typen immer her?« Verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: »Und warum muss ausgerechnet ich mich um alles kümmern?«
Identität aus Liebe versteckt
August Crimp hingegen versteckt seine Heldenidentität aus Liebe. Seine Frau fürchtet Superhelden seit ihre Eltern bei der Rettung Londons als Kollateralschaden getötet wurden. »Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zwei Menschen gegen eine ganze Stadt. Ein fairer Tausch, schätze ich«, sagt sie lakonisch. Aber dann geschieht eine Mordserie an Transvestiten. Und das Nachbarsmädchen, das den kleinen Sohn babysittet, bittet August um Hilfe, die Seelen ihrer Eltern wiederzufinden. Sie kennt nämlich sein Geheimnis.
Verhedderte Lebenslinie
Das ist der Auftakt für Steven Applebys brillanten, einzigartigen, autobiografischen und schonungslos ehrlichen Comic Dragman. Schon als Kind wollte August Crimp ein Mädchen sein und weibliche Kleidung tragen. Wer jetzt wissend und vielleicht sogar mittlerweile leicht gelangweilt denkt »Ah, Transgender« irrt. Es geht um so viel mehr in diesem lesens- und sehenswertem Bilder- und Bildungsroman. Schon auf dem Vorsatzpapier sehen wir August Crimps Selbstfindungsreise: Vom Baby am Anfang mäandert, schlängelt, verheddert, zerfasert, verknäuelt und verwirrt sich seine Lebenslinie und sprengt den Rahmen.
Superhelden-Genre durcheinandergewirbelt
August Crimp ist Dragman. Wenn er Frauenkleider trägt, entwickelt er Superkräfte und kann fliegen. Was Spitzenunterwäsche, Seidenstrümpfe, figurbetonte Kleider und Langhaarperücke mit ihm machen, entdeckt er durch Zufall. Schon die Ausgangssituation und die ersten Zeichnungen zeigen: Dies ist ein besonderer Superheldencomic. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Helden ganz zu schweigen. Raffiniert spielt Steven Appleby mit dem Genre und wirbelt es virtuos durcheinander. Es beginnt mit einem Comic im Comic, in nostalgischem Grauweiß gestaltet. Alle Rückblenden erinnern an alte Fotografien. Die Gegenwart wiederum ist in warmen Farben gehalten, aquarelliert von Applebys Frau Nicola Sherring, hauptberuflich übrigens wie August Crimps Liebste Schreinerin.
Seitenhieb auf Marvel-Universum
Kaum hat August seine Superkraft entdeckt, lernt er auch die straff organisierte Held:innenparallelwelt kennen. Ein schöner Einstieg ist die imposante Ahnengalerie. Und zu jedem gibt es eine eigene Comicserie – ein satirischer Seitenhieb auf das unendlich scheinende Marvel-Universum, das uns immer neue, mal mehr, mal weniger gelungene Spinoffs und Fortsetzungen beschert (Apropos: »Wo kommen die nur immer alle her?«). Doch kaum hat Dragman einigen abstürzenden Menschen und in Baumwipfeln verirrten Katzen das Leben gerettet, ist es auch schon wieder vorbei mit seiner Karriere.
Völlig intolerant oder einfach nur dumm
Auch unter Superhelden gibt’s Spießer und es grassieren Vorurteile, manche sind völlig intolerant und andere einfach nur dumm. Der angeberische, fiese Fist, eine Mischung aus Michelinmännchenkörper und Transformersfigur, mit sehr kleinem, nur angedeutetem Kopf und noch winzigerer, umso lächerlicherer Unterhose hält einen Mann in Frauenkleidern für pervers. Tatsächlich scheitert Augusts alias Dragmans Aufnahme in den Superheldenkosmos daran, dass er seine Kraft aus seiner Kleidung bezieht. Und das ist streng verboten – seit es einen tragischen Unfall gegeben hat. Wiederum eine entzückende Anspielung auf die sehr gelungene Parodie Die Unglaublichen, wo eindringlich vor weiten Umhängen gewarnt wird. Bei Dr. Strange wiederum entwickelt der Umhang ein Eigenleben um Benedict Cumberbatch herum. Aber das ist eine andere Geschichte.
Seelen als Ware und Heizmaterial
Bei Dragman geht es um Identität. Um die Suche danach und den harten Kampf, seine Identität zu zeigen, zu ihr zu stehen und sie zu leben. Und es geht um nichts geringeres als Seelen. Kaum wurden die menschliche Seele von einem ehrgeizigen Wissenschaftler entdeckt, ist sie auch schon kommerzialisiert. Alles hat seinen Preis. So entwickelt sich ein zynischer Handel mit Seelen. Menschen verkaufen ihre Seele, mal für einen Urlaub, mal, um ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Reiche Leute implantieren sich die Seelen schöner, intelligenter, kreativer Menschen. Alle durchschnittlichen landen beim Teufel als Heizmaterial in der Hölle. Die gibt’s nämlich auch, wie August und Supernase Dog Girl, seine treue Freundin aus Dragman-Tagen, im Laufe der spannenden und fantastischen Geschichte herausfinden.
Teuflische Konzerne und fragwürdige Unterhaltung
Der ganz reale Teufel aber ist ein Superkonzern, der von Versicherungen und Resourcen, Lebensmitteln und Dingen, die niemand braucht, bis zu den Medien und schon die Jüngsten indoktrinierenden und verblödenden Programmen alles beherrscht und verkauft. Eine bissige Groteske auf die Jeff Bezos, Elon Musks & Co. dieser Welt. Parallel beschreiben Textpassagen krasse Gewaltfantasien aus dem Kopf eines Serienkillers. Wer sich an hirnlosem Schund im Stile Fitzeks ergötzt, den schockt das wahrscheinlich nicht. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur perversen Massenware. Im Laufe der Geschichte erfährt man den ebenso schrecklichen wie nachvollziehbaren Grund dieser grausamen Abgründe: Der Killer hat keine Seele. So spießt Appleby nebenbei ein weiteres, fragwürdiges Phänomen unserer Zeit auf – der »Genuss« abscheulichster Gewaltdarstellung zur Unterhaltung.
Es braucht Superkräfte, sich nicht mehr zu verkleiden
Dragman ist Steven Applebys eigene Geschichte, wortwörtlich. Appleby ist Autor, Cartoonist, Ehemann, Vater. Und er kleidet sich als Frau. Nicht mehr heimlich. Sondern offen und ausschließlich. Manchmal braucht man Superkräfte, um sich eben nicht mehr zu verkleiden und seine Identität zu leben. Appleby erzählt davon in seinem wunderbar witzigen und vielfältigen, philosophischen und gesellschaftskritischen, schlicht genialen Comic.
Steven Appleby: Dragman, Übersetzung: Ruth Keen, Schaltzeit Verlag, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16
Nachdem ich vor zwei Jahren die Erinnerungen der Schwestern Andra und Tatiana Bucci, Wir, Mädchen in Auschwitz, übersetzt habe, begleitet mich das Thema der Kinder im Holocaust. Diese Kinder, die heute alle über 80 Jahre alt sind, bilden die letzte Generation der Zeitzeugen und sollten mehr denn je gehört werden.
Im vorliegenden Band erzählen die Illustrator:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar die Erinnerungen von vier solcher Kinder in eindrucksvollen Graphic Novels. So widmet sich Barbara Yelin dem Schickal von Emmie Arbel, die als Vierjährige aus den Niederlanden nach Ravensbrück verschleppt wurde.
Der Schrecken der Lager
Wir lernen Emmie als alte rauchende, Auto fahrende, Solitär spielende Frau in Israel kennen, die weiß, dass sie stark ist. Doch diese Stärke ist durchzogen von Rissen, in denen die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit immer wieder durchscheinen, sei es in der Angewohnheit, im Café dicht an der Tür sitzen zu müssen, oder den unguten Gefühlen, wenn ihr Jugendliche mit kurz rasierten Haaren begegnen. Gleichzeitig ist da auch immer wieder der Satz »Ich erinnere mich nicht«. Dafür ist das, was Emmie erinnert umso eindrücklicher und spiegelt wie all die Zeitzeugengeschichten aus den Konzentrationslagern den Horror des Holocaust. Yelin setzt diese Erinnerungsbrocken in graublau-düstere Bilder um, die eigentlich mehr andeuten, als dass sie zeigen. Das jedoch reicht bereits, um Schrecken und Tod offensichtlich zu machen.
Der Holocaust in Transnistrien
Miriam Libicki stellt mit der Geschichte von David Schaffer ein weniger bekanntes Kapitel im Holocaust dar, den in Transnistrien. Jüdische Familien wurden aus ihren Häusern auf dem Land vertrieben, in Ghettos zusammengepfercht und später quasi ziellos durch die Gegend getrieben. Die rumänischen Verbündeten machten für die Deutschen die Drecksarbeit. Es herrschte ein heilloses Durcheinander – in dem sich die Familie von David nicht an Regeln hielt, sondern sich von den anderen Deportierten absetzen und im Wald untertauchen konnte. Dort schließt sie sich mit einer anderen Familie zusammen und gemeinsam gelingt es ihnen, die harten Kriegsjahre 1942/43 zu überstehen, bis Transnistrien von den Sowjets befreit wird. Die Ereignisse in Transnistrien sind verwirrend, doch das Leiden des jungen David wird in den fast knallbunten Illus von Miriam Libicki spürbar. Eine Flasche Speiseöl wird im Hungerwinter zu einem fast heiligen Objekt, der Stacheldraht, mit dem David sich die Lumpen um die Füße bindet, tut beim bloßen Anblick weh. Die ausgemergelten Figuren mit den großen leidenden Augen bleiben haften.
Verstecken in den Niederlanden
Beige-blau reduzierter schildert Gilad Seliktar die Geschichte der Brüder Nico und Rolf Kamp, die sich als Kinder in den Niederlanden vor der Deutschen versteckten – getrennt von ihren Eltern. Sie versteckten sich jedoch nicht einmal, sondern mussten immer wieder weiter. 13 Mal insgesamt. Die beiden Brüder schildern ihre unterschiedlichen Sichtweisen, den Wunsch des Kleineren dazugehören und den Davidstern tragen zu wollen, das Spiel mit den Kaninchen, die irgendwann auf dem Teller landen, die Übernachtungen in einem Hühnerstall. Sie geraten in ein deutsche Patrouille, überstehen knapp eine Schießerei. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert, nur die Mutter überlebt.
Aufschlussreicher Anhang
Den drei Graphic Novels folgt ein Anhang, in dem die Entstehung dieses Buches ebenfalls in einer Graphic Novel erzählt wird. Die Zeitzeugen kommen noch einmal in Textform zu Wort und schildern, wie ihr Leben weiterging. Abschließend werden die historischen Hintergründe noch etwas genauer beleuchtet und die Berichte somit genauer eingeordnet, was bei den eher unbekannten Ereignissen in Transnistrien besonders wichtig und erhellend ist. Auf der Website holocaustgraphicnovels.org/ gibt es zudem Filme, die die Zeitzeugen in Gesprächen mit ihrer jeweiligen Illustrator:in zeigen sowie weitere Hintergrundinformationen und Workshop-Termine.
Diese drei Geschichten bereichern die bereits bekannten Zeitzeugenberichte um weitere Nuancen. Sie zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist. Sie mahnen, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen – was sich in den heutigen Tagen fast zynisch anhört, dafür aber umso wichtiger ist. Gerade auch diese gelungene visuell-graphische Aufarbeitung von Historie könnte Jugendliche anregen, selbst Großeltern oder ältere Menschen über ihre Vergangenheit zu befragen, und so zu Zweitzeugen zu werden, die deren Geschichten bewahren und weitertragen.
Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar: Aber ich lebe, Übersetzung: Rita Seuß, hg. Carlotte Schallié, C.H. Beck, 2022, 176 Seiten, 25 Euro
Dieser Tage habe ich eine literarische Zeitreise in meine Studienzeit gemacht, als ich vor mehr als 30 Jahren im germanistischen Seminar in Hamburg E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann analysiert habe. Das gelbe Reclam-Heftchen mit meinen Anmerkungen und Anstreichungen ist fast ein kleines Kunstwerk. Auslöser für diese Wiederlektüre ist die Neuerzählung der romantischen Geschichte durch Anna Kindermann, passend zum 200. Todestag des Schriftstellers am 25. Juni. In ihrem gleichnamigen Verlag wird seit Jahren Weltliteratur für Kinder aufs Schönste aufbereitet. Beim Sandmann allerdings habe ich mich anfangs erstaunt gefragt, ob so eine düster-gruselige Geschichte für Kids überhaupt sinnvoll ist.
Tiefenpsychologische Romantik
Im Sandmann kämpft die Hauptfigur Nathanael nämlich im Grunde gegen eine frühkindliche Traumatisierung, verliebt sich in einen Automatenfrau und wird von unerklärlichen Figuren in seinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Die Sache geht bekanntermaßen nicht gut aus. Kindermann schafft es jedoch, die komplexe Geschichte, an der sich Heerscharen von Literaturwissenschaftler ihre grauen Interpretationshirnzellen zermartern, in eine rasant lesbare Story zu bringen, deren Knalleffekte und Twists fast mehr an großes Actionkino erinnern, denn an ein tiefenpsychologisches Drama. Überspitzt gesagt.
Unzählige Deutungsmöglichkeiten
Natürlich ist der Sandmann zutiefst psychologisch und überaus rätselhaft: Sind die Figuren vom Advokaten Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola identisch? Gibt es den Sandmann vielleicht doch wirklich? Warum spielen die Augen so eine große Rolle? Warum liebt Nathanael Olimpia mehr als Clara? Und wieso merkt er nicht, dass Olimpia ein Automat ist? Letzteres lässt mich heute aus Frauenperspektive aufhorchen: Männer mögen wortkarge Frauen also lieber, die ihren Kerlen aufmerksam zuhören, ohne zu stricken oder mit dem Schoßhündchen zu spielen, und nur mit »Ach, ach!« antworten. Die handfeste, hellsichtige Clara mit ihrer klaren Deutung von Nathanaels Zuständen ist schon damals (in Hoffmanns Original) viel zu selbstbewusst, um den tragischen Helden dauerhaft an sich binden zu können. Ziemlich hellsichtig, dieser E. T. A., schon vor mehr als 200 Jahren.
Kindgerecht neuerzählt
Kindermann lässt plot-technisch nichts aus, doch sie glättet gar zu gruselige Szenen – beispielsweise wenn die alte Kinderfrau im Original, den Sandmann, der so gar nichts mit dem TV-Sandmännchen zu tun hat, drastisch schildert: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Die in Kindermanns genutzten Originalzitate sind kursiv gedruckt und in diesem Fall endet es nach den »Händevoll Sand in die Augen«. Das macht die Lektüre für junge Leser ab zehn Jahren erträglich – und trotzdem gruselig-spannend.
Heimelige Illus
Zu dem Wohlfühl-Gruseln tragen dann die Illustrationen von Dorota Wünsch ihren Teil bei: Sie sind farblich eher abgetönt und erdig gehalten, versprühen also nicht gerade Fröhlichkeit, verstören aber auch nicht. Frackschöße und Krinolinenkleider versetzen das Publikum viel mehr in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, als Alchemie und Automaten der letzte Schrei waren, aber auch damals schon der Kampf ums Urheberrecht (wer ist der eigentliche Schöpfer von Olimpia: Coppola oder Spalanzani?) im Gang war.
Verführung zur Weltliteratur
Okay, die Interpretationsansätze für den Sandmann sind vielfältig, und jede:r von uns wird sich bei der Lektüre etwas Eigenes denken. Für lesebegeisterte Kinder ist die Version von Anna Kindermann ein gelungener Einstieg in die Gruselliteratur der schwarzen Romantik und regt so vielleicht die Neugierde auf die Klassiker der Weltliteratur.
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, neu erzählt von Anna Kindermann, Illustrationen: Dorota Wünsch, Kindermann Verlag, 2022, 40 Seiten, 18 Euro
Ein Mann auf einem Fahrrad ist ein Mann auf einem Fahrrad. Eine Frau auf einem Fahrrad symbolisiert, auch wenn sich Frauen heutzutage dessen kaum bewusst sind, Unabhängigkeit, Selbstbehauptung, Freiheit. Revolution auf zwei Rädern. Hannah Ross zitiert am Anfang von Revolutions, ihrer mitreißenden und beeindruckenden Geschichte von Frauen und Fahrrädern, die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony: »Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen als irgendetwas anderes auf der Welt«, erkennt die Aktivistin und Sozialreformerin bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Als das Fahrrad in den 1880er Jahren aufkam, veränderte es das Leben der Menschen. Mit ihm konnten relativ einfach große Entfernungen überwunden und weit entfernte Orte erreicht werden. 1885 brachte die Firma Starley & Sutton aus Coventry (nicht nur Fußball hat seinen Ursprung in England) das Rover Safety auf den Markt – Vorbild für das Rad wie wir es heute kennen. Kein Laufrad, kein artistisches Hochrad, das immerhin das erste mit Pedalantrieb war.
Körperliche und geistige Bewegung
Der Name Safety für dieses Gefährt mit zwei gleich und normal großen Felgen ist Programm. Revolutionär ist der Kettenantrieb, mit dem das Hinterrad angetrieben wird. So einfach wie genial. Und als John Dunlop, ein schottischer Tierarzt, auch noch luftgefüllte Reifen erfindet, ist der Siegeszug des Fortbewegungsmittels kaum zu bremsen. Auf dem Safety kann man sogar in langen Röcken und Petticoats aufsatteln. Und so entdecken auch Frauen, zunächst angesichts des Anschaffungspreises die bessergestellten, das Radfahren für sich. Statt im Haus festzusitzen und depressiv zu werden (früher nannte man das hysterisch, ein Zustand, der gewöhnlich mit einer Ruhekur »therapiert« wurde), beginnen sie, sich zu bewegen, körperlich und geistig, und die Welt zu erfahren.
Der Anfang der Freiheitsmaschine
Zwar warnten Ärzte und sogenannte Wissenschaftler vor den gesundheitlichen Schäden, die das Fahrradfahren angeblich auf den weiblichen Körper habe. Es führe zu Unfruchtbarkeit und Promiskuität. Zum Glück waren nicht alle so bekloppt oder verbohrt oder auf den Erhalt der eingefahrenen Hierarchien und Rollenverteilung bedacht. Heute ist bekannt, wie gut Bewegung dem Körper und auch der Psyche tut. Das war erst der Anfang der »Freiheitsmaschine«, wie Susan Anthony das Fahrrad nannte. Die Suffragetten, die für gleiche Rechte, Wahlrecht und Zugang zu Universitäten für Frauen kämpften, konnten per Pedalkraft viel mehr Frauen erreichen. In ihren Fahrradkörben transportierten sie nicht nur Flugblätter. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, setzten einige Briefkästen und sogar leerstehende Häuser in Brand. Und konnten auf dem Fahrrad schnell entkommen.
Symbol und Instrument des Widerstands
Im zweiten Weltkrieg wurde das Fahrrad vor allem in den Niederlanden zum Symbol und Instrument des Widerstands. Auch die junge Audrey Hepburn schmuggelte in ihrer Heimatstadt Arnheim Nachrichten und Munition. Und in Frankreich lernte eine Ikone der Frauenbewegung, Simone de Beauvoir, erst als junge Erwachsene das Radfahren und dann die Freiheit, die man damit erfährt, kennen. Die Londoner Autorin und Verlagsmitarbeiterin Hannah Ross, selbst eine leidenschaftliche Radlerin, hat spannende, bewegende und manchmal unglaubliche, trotzdem wahre Geschichten um Frauen und das Radfahren zusammengetragen. Überzeugend stellt sie Zusammenhänge der Frauenbewegung und der Mobilität auf zwei Rädern her.
Den Konkurrentinnen alle Schläuche und Reifen geklaut
In Revolutions vereint sie mehr als hundert Porträts von Pionierinnen, Abenteuerinnen, Aktivistinnen und Rennradfahrerinnen. An letzteren lässt sich sehr anschaulich und geradezu tragikomisch erzählen, dass es nicht nur in sportlicher Hinsicht bis zur Gleichberechtigung noch ein langer Weg ist. 1958 gab es das erste Straßenrennen für Frauen – schlappe 65 Jahre nach dem ersten Rennen für Männer. Wenn Frauen mal mitfahren durften, manchmal aus kriegsbedingtem Fahrermangel, manchmal wegen des Spektakels, kamen die Frauen den Männern so nahe, dass diese sich einmal nicht anders zu helfen wussten, als alle Ersatzschläuche und -reifen ihrer Konkurrentinnen zu stehlen.
Mutige Abenteuerinnen und leuchtende Vorbilder
Bis heute ist das Fahrrad wichtig für die Freiheit. Um rauszukommen, zur Schule und an Bildung zu gelangen, sich zu bewegen, Gleichgesinnte zu treffen. Nicht nur in Afghanistan, das 2018 noch als das für Frauen zweischlimmste und zweitgefährlichste Land (nach Indien) eingestuft wurde. Die Taliban haben es jetzt zielsicher auf Platz eins terrorisiert. In Saudi Arabien dürfen Frauen erst seit 2013 Fahrrad fahren, unter den strengen Augen der Sittenwächter. Ross gibt Fahrradkurse für geflüchtete Frauen, die so selbstbewusster und unabhängiger werden. Leuchtende Vorbilder für alle Radfahrerinnen sind die extrem mutigen Abenteuerinnen, die bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Fahrrad weit entfernte Länder bereisten oder sogar allein die ganze Welt umrundeten.
Zeit für weitere Revolutionen
Anlässlich der faszinierenden und bewegenden Geschichte der Irin Dervla Murphy, die ausgerechnet im eiskalten Winter 1963 auf einem ganz schlichten Rad zu einer Reise über 5000 Kilometer nach Indien aufbricht, spricht Ross ein wichtiges Thema an: Alleinreisende Frauen. Als Leserin fühlt man sich sofort ertappt. Denn es ist immer noch in den Köpfen: Frauen, die allein reisen, sind leichtsinnig. Männer abenteuerlustig. Frauen müssen sich für den vermeintlichen Leichtsinn rechtfertigen, persönliche Krisen und Selbstfindung müssen es schon mindestens sein, um so etwas Unverantwortliches wie eine Weltreise allein auf dem Rad zu machen. Es ist eindeutig Zeit für ein weitere Revolutionen. Das ist nur ein sehr interessanter Aspekt, den Hannah Ross in ihrem klugen, wissensreichen und inspirierendem Buch anspricht. Ein auch sehr hübsch gestaltetes und vom mairisch Verlagschef Daniel Beskos angenehm unaufgeregt übersetztes Buch. Tatsächlich ist eine Frau auf einem Fahrrad sehr viel mehr als eine Frau auf einem Fahrrad.
P.S.: Apropos einem Rad. Nicht nur Hannah Ross verbringt viel Zeit damit, über das nächste Fahrrad nachzudenken, das sie »wirklich« braucht. P.P.S.: Am 3. Juni ist Weltfahrradtag. Aber eigentlich ist jeder Tag Tag des Fahrrads.
Hannah Ross: Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2022, 320 Seiten, 24 Euro
In diesen zwei exzellenten Bilderbüchern geht es um Gefühle, mit denen ich mich sehr gut auskenne: Wut und schlechte Laune. In der Kinderliteratur wurden diese Emotionen bisher sträflich vernachlässigt und wenn, dann eher negativ dargestellt. Oder zumindest als etwas, was nicht ausgelebt und möglichst vermieden werden sollte. Wie bei dem hochexplosiven Mädchen in Stefanie Höflers Helsin, Apelsin und der Spinner. Oder ausgelagert und stellvertretend eingesetzt in Manfred Mais Der Zornickel.
Ein Fest furioser Wut
Ganz anders bei Britta Teckentrup. Wütend ist ein Fest der grundlosen, furiosen Wut. Ein Mädchen sieht rot. Und feuerrot lodert es um sie herum. Es ist erst der Anfang eines tosenden Sturms, Orkans, gewaltigen Unwetters. Das Kind entfesselt Naturgewalten, der Himmel schwärzer als schwarz, Blitze, Donnerkrachen, alles umhauende Riesenwellen. Alles von Teckentrup überwältigend und mitreißend in Szene gesetzt in vielschichtigen, computeranimierten Collagen aus kräftigem Pinselstrich, plastischem Farbauftrag, die Seiten sprengend.
Typographie außer Rand und Band
Dazu tanzen die Verse wie verrückt über die Seiten, auch die Typographie ist außer Rand und Band: »Ich donnere, blitze, schreie blase. / Wüte, wirble, heule, rase! / Ich sause und brause. Tobe und krache. / Ich fauche und fluche. Wie ein wütender Drache!« Schließlich klart der Himmel auf, die Farben werden blasser, die Wut hat gewirkt: »Jetzt ist alles raus. Ich fühle mich frei / Ich atme tief aus. Der Sturm ist vorbei. / Meine Reise geht weiter, und nimmt ihren Lauf / Der Weg beginnt hier, die Tür steht nun auf.«
Wut ist ein Anfang
Britta Teckentrup zeigt in Wütend nicht nur einen beeindruckenden Wutanfall, unbegründet, wie ein reinigendes Gewitter. Die Wut ist ein Anfang, sie eröffnet Möglichkeiten und Wege. Durch die Wut wird das Kind sich seiner Kraft zu Veränderung bewusst. So ist das nachgestellt Zitat der Schweizer Menschenrechts-Aktivistin und Flüchtlingshelferin Anni Lanz nur logisch: »Man muss eine Wut so umsetzen, dass sie Veränderung bewirkt.«
Ihre grundsätzlich schlechte Laune bewirkt bei Motzemieze leider keine Veränderung und bewegt auch nichts. Außer vielleicht die verstörte andere kleine Katze, die die flauschige Meckerliese mehrmals ohne Not von deren Schlafplatz vertreibt. Die Sonne ist zu hell, das Futter zu trocken, die Katzenminze zu anregend und der Staubsauger monstermäßig laut.
Glückliche sind einfach nur langweilig
Da nützt es auch nichts, dass ein Eichhörnchen der verwöhnten Kitty den Kopf wäscht und erklärt, wie gut sie es eigentlich hat. Motzemieze ist grundsätzlich schlecht gelaunt und tut das gelegentlich auch laut und sehr ausdauernd miauend seitenweise kund. Die Literaturkritikerin und -liebhaberin Elke Heidenreich hat zwar jüngst betont, dass nur die Unzufriedenen die Welt verändern und vor allem interessante literarische Figuren abgeben. Die Glücklichen sind in ihrem Glück zufrieden und einfach nur langweilig.
Amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen gelegt
Die Welt wird Motzemieze bestimmt nicht verbessern. Interessant ist das missgelaunte Fellknäuel auf jeden Fall. Jory John legt ihr höchst amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen, von Andreas Steinhöfel herrlich nölig übersetzt. Und Lane Smith zeichnet den zeternden Ministubentiger unwiderstehlich niedlich. Und damit lässt man dem Kätzchen einiges durchgehen, was sich sonst keiner leisten kann. Auf keinen Fall kommt ein Erwachsener mit so dekonstruktiver und misanthropisch mieser Laune durch. Außer man ist die famose Fran Lebowitz. Die exzentrische New Yorkerin und Schriftstellerin mit bereits jahrzehntelanger Schreibblockade ist einzigartig. Vor allem in Sachen Wut und schlechte Laune ist sie die ungekrönte Königin.
Britta Teckentrup: Wütend, Prestel, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre
Jory John, Lane Smith (Illustr.): Motzemieze, Übersetzung: Andreas Steinhöfel, Carlsen, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre
Manchmal erscheinen Bücher zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt auf erschreckende Weise zu dem aktuellen Tagesgeschehen passt. Dazwischen: Wir von Julya Rabinowich ist so ein Beispiel. In der Fortsetzung von Dazwischen: Ich von 2016 erzählt die Wiener Autorin die Geschichte von Madina weiter, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und in einer Kleinstadt Zuflucht gefunden hat.
Mittlerweile wohnt Madina mit Mutter, Tante und Bruder Rami bei ihrer besten Freundin Laura, im ehemaligen Büro deren Vaters. Madinas Vater ist wieder in seine Heimat zurückgegangen, um zu kämpfen. Wieder belässt Rabinowich es im Unklaren, woher die Familie geflüchtet ist, es ist weiterhin unerheblich. Nun wartet die 15-Jährige täglich auf Nachricht von ihm.
Ein fast normales Teenager-Leben
Doch Madina, die wieder Tagebuch schreibt, berichtet auch von ihrem neuen Alltag, in dem sie in der Schule immer besser wird – auch durch die gnadenlose Förderung und Forderung der Klassenlehrerin King. Mit Laura und ihrem Bruder Markus erlebt sie so manches emotionale Hoch und Tief, träumt von einer Jeans und Reisen, möchte einfach nur dazugehören und hat eigentlich ein neues Zuhause gefunden. Im Grunde liefert sie das Bild eines ganz normalen Teenagermädchens. Wären da nicht die fremdenfeindlichen Typen im Ort, die sich irgendwann immer Donnerstags vor dem Café treffen und gegen Migranten pöbeln. Zunächst duckt Madina sich noch weg, macht einen Bogen um diese Ansammlung. Als Hassparolen an den Hauswänden auftauchen, gründen Madina und Laura eine Gang, die diese Schmierereien einfach selbst übersprayen. Nach und nach entwickelt Madina immer mehr Mut, macht sich grade, wie sie sagt, bis sie schließlich den Pöblern entgegentritt …
Beunruhigende Aktualität
Vieles in dieser Geschichte ist von einer beunruhigenden Aktualität, die mich durch die Seiten getrieben hat. Man kommt als Leser:in nicht umhin, eine Parallele zu den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine zu ziehen, deren Männer und Väter in der Heimat kämpfen. Konnte man Dazwischen: Ich als Spiegel auf die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten 2015 lesen, so gleicht Teil 2, der sich inhaltlich nahtlos an den ersten Band anschließt (aber auch ohne ihn gut verständlich ist), wie ein Kommentar zu den jetzigen Ereignissen. Viele Geflüchtete kommen momentan glücklicherweise privat unter, und wir können nur hoffen, dass sie hier weiterhin viele positive Erfahrungen machen.
Doch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, die aus unserer Gesellschaft ja nicht verschwunden sind, lauern da draußen quasi schon. So hat mich (als alte Leserin) der fremdenfeindliche Aufmarsch vor Madinas Haus unwillkürlich an die Anschläge von Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erinnert. Ich verbiete mir jetzt aber, diesen Gedanken weiterzudenken, und setze darauf, dass sich doch etwas bei uns geändert hat.
Hoffnungsfigur Madina
Die Figur Madina jedenfalls zeigt mit ihrer liebenswerten und lebensfrohen Art, mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Wut die universellen menschlichen Eigenschaften, die es so völlig unerheblich machen, woher ein Mensch stammt. Ihr Mut macht deutlich, dass Geflüchtete sich nicht alles gefallen lassen müssen, sondern ein Recht haben, sich zu wehren – im Großen wie im Kleinen. Die Solidarität, die Madina erlebt, schürt die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Bücher wie Dazwischen: Wir bringen die Saat dafür aus, die in den jugendlichen Leser:innen hoffentlich aufgeht.
Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir, Hanser, 2022, 256 Seiten, ab 14, 17 Euro
In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.
Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.
Andere Zeiten, andere Geschichten
Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.
Neues Kleid für Capy
Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.
Ähnliche Geschichte
Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht. Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…
Wasserschweine mit Botschaft
Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.
So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …
Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.
Zurück zur Natur
In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück. Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.
Bedrohter Lebensraum
Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.
Das unübersetzte Capybara
Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).
Mehr Capybara sein
Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.
Wasserschweine im Selbstverlag
Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.
Bitte mehr Wasserschweingeschichten
Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.
Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro
Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro
Die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen zwei Wochen haben mich – wie vermutlich jeden von uns – schockiert, deprimiert, wütend und ängstlich gemacht. Nach dem ersten News-Overflow, ersten Demos, blau-gelben Posts und Spenden für die humanitäre Hilfe konnte ich jetzt den Blick wieder auf die Bücher richten.
Mit dem Ukraine-Krieg rückt das Geschehen nun räumlich näher, wie schon in den 1990er Jahren im Serbien-Krieg, und hat aber, dadurch, dass mit Putins Russland eine Großmacht einen Nachbarstaat angreift, eine weltpolitische Reichweite, der sich niemand mehr entziehen kann. Und die Kinder spüren natürlich unsere Ängste, hören unsere Gespräche, gehen mit auf die Demos und stellen Fragen. Einige dieser Fragen lassen sich mit den folgenden drei Büchern ansatzsweise beantworten.
Die einfachen Grundregeln des Zusammenlebens
Louise Spilsbury erklärt in Wie ist es, wenn es Krieg gibt? in 13 kurzen Kapiteln die Grundvoraussetzungen für einen Krieg: den Streit zwischen Menschen und die Gründe für Konflikte unter ihnen. Die unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern und Religionen gehören dazu. Der Krieg verändert das Leben der betroffenen Menschen, viele verlassen die Heimat, flüchten und suchen Sicherheit. Spilsbury kann das alles natürlich nur kurz anreißen, zeigt aber in wenigen Worten und durch die eindrücklichen, aber nicht traumatisierenden Illustrationen von Hanane Kai, welche Lösungen es für Kriege und Konflikte gäbe: miteinander reden, Regeln aufstellen und diese auch einhalten. Dazu der Versuch, andere Menschen zu verstehen und zu respektieren. Im Fall eines Konfliktes ist es wichtig zu helfen, und auch dazu gibt es in diesem Buch einige Anregungen, die den jungen Leser:innen helfen können die eigene Ohnmacht zu überwinden. Dies hier so einfach aufzuschreiben, kommt mir fast unwirklich vor, weil es im Grunde so simpel ist – und doch von gewissen Machthabern nicht befolgt wird.
Die machtgierigen Männer
Wie es dazu kommt, dass Männer machtgierig werden, zeigte David McKee bereits 2014 in seinem Buch Sechs Männer. Diese Parabel heute zu lesen, lässt einen quasi erschaudern: Es wirkt wie die Blaupause zu Putins Verhalten. Es beginnt harmlos mit sechs Männern, die einen friedlichen Ort zum Leben und Arbeiten suchen. Dort werden sie Baumeister und Bauern – und reich. Mit dem Reichtum kommen die Sorgen, weil sie ihr Gut schützen und behalten wollen. Die Männer stellen sechs Wachen an, vorsorglich. Doch die Wachen haben nichts zu tun. Die Herrscher wollen ihr Geld aber nicht umsonst ausgegeben haben. Also werden die Soldaten losgeschickt, andere Bauern zu überfallen und deren Land zu rauben. Die Spirale der Gewalt kommt in Gang: mehr Soldaten werden gebraucht. Die Bauern auf der anderen Seite des Flusses bekommen Angst, rüsten ebenfalls auf. Ein dummer Zufall löst den Krieg aus … Die einfachen Strichzeichnungen von McKee treffen so ins Mark, dass ich diese wenigen Seiten eigentlich nur ungläubig anschauen kann. Hier ist die gesamte Absurdität des Krieges drin: Die Soldaten der kämpfenden Parteien sind nicht mehr auseinanderzuhalten und am Ende herrscht nur der Tod. Krieg ist keine Option. Niemals. Das begreifen mit dieser Lektüre bereits Kinder.
Give Peace a chance
Das Plädoyer für den Frieden kommt von Baptiste & Miranda Paul, zusammen mit den farbenfrohen Illustrationen von Esteli Meza. Kinder sind hier auf jeder Seite mit Tieren zusammen, seien es Elefanten, Füchse, Koalas, Pandas, Pferde oder Löwen. In kurzen, oftmals gereimten Zeilen beschwören die Pauls die Schönheit des Friedens, das Wohlgefühl, das Zuhause sein und die Sicherheit herauf, die der Frieden uns gibt. Mit wenigen Sätzen erklären sie, wie wichtig es ist, die eigenen Freunde wirklich anzusehen, ihre Namen zu kennen und gemeinsam etwas Mutiges zu tun. Das Geben wird über das Nehmen gestellt und viele kleine Fische können den spitzzähnigen Hai besiegen. Im Frieden werden auch die Kleinsten gehört und der Satz »Es tut mir leid« schafft Versöhnung und echten Frieden.
Frieden ist ein hoffnungsfrohes Buch, das die Tiere mit im Blick hat, denn auch sie leiden in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die warmen Farben der Bilder, die Kinder aus allen Nationen, die mit den Tieren kuscheln und am Ende um das Lagerfeuer sitzen und einer Vorleserin lauschen – all dies ist so tröstlich und erstrebenswert. Es gibt keine andere Option als Frieden.
Das blau-gelbe Bild mit der Taube vom Anfang dieses Posts stammt aus dem Buch der Pauls – und die Farbwahl sehen wir heute natürlich mit ganz anderen Augen. Es dürfte einer dieser seltsamen Zufälle sein, die dieses Leben auch immer wieder so erstaunlich macht.
Die drei Bücher werden momentan nachgedruckt. Louise Spilsbury ist ab 7. April wieder zu haben.
Baptiste Paul & Miranda Paul: Frieden, Illustration Esteli Meza, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2021, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro
Louise Spilsbury: Wie ist es, wenn es Krieg gibt?, Illustration: Hanane Kai, Übersetzung: Jonas Bedford-Strom, Gabriel Verlag, 2022, 32 Seiten, ab 5, 10 Euro
David McKee: Sechs Männer, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2014, 48 Seiten, ab 5, 13,99 Euro
Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss – kann sein, zumindest ist das der Titel einer reizenden, philosophischen Verwechslungskomödie um eine liebevoll chaotische Proletarierfamilie und einem gefühlskalten Bildungsbürgerhaushalt. Sprache und Sprechen sind aber wilde Gewässer voller Stromschnellen, Turbulenzen und Untiefen. Das erfährt der elfjährige Billy Plimpton drastisch und tagtäglich in Helen Rutters mitreißenden und extrem (wort-)witzigen Roman. Solange sich Billy erinnert, hat er gestottert. Er braucht einfach unheimlich lange, oft zu lange für die die Geduld seiner Zuhörer, um auch nur ein paar Worte, geschweige denn zusammenhängende Sätze rauszubringen.
Stotterer und Stand-up-Comedian
Deshalb sieht er seinen Schulwechsel nach der Grundschule als Chance. Bewusst will er auf die Schule, gegen die sich fast alle seiner bisherigen Mitschüler entschieden haben. Billy beschließt, einfach gar nichts zu sagen. Selbst morgens beim Abhaken der Anwesenheitsliste drückt er sich mit einem heiseren Räuspern darum, seinen Namen stotternd preis zu geben. Tragisch ist, dass Billy großen Spaß an Sprache hat. Er liebt Witze, die klug und gewitzt mit Wortspielen arbeiten. Und er träumt davon, eines Tages als Stand-up-Comedian auf der Bühne zu stehen und das Publikum in seinen Bann zu ziehen und vor Lachen von den Stühlen zu hauen. Leider ist hier Timing alles – der Sprachfluss muss geschickt gelenkt werden, anfangs flott und widerstandslos fließend, dann kurz an- und innegehalten, um sich dann überraschend mit voller Wucht Bahn zu brechen und mitzureißen.
Ermutiger, Gedankenleser und Abwartende
Billy kennt aber kein begeistertes Publikum, das an seinen Lippen klebt – seine Zuhörer sind ganz andere Typen: Das sind die Ermutiger, die mit gutgemeinten, aber nutzlosen Vorschlägen wie »Hol erst mal tief Luft« und »Bleib ganz locker« das Gegenteil bewirken. Oder die Gedankenleser, die vermeintlich netterweise die Sätze vervollständigen. Am ärgerlichsten findet Billy die Scherzbolde, die zum Spaß sein Stottern nachäffen. Da sind ihm die Abwartenden noch am liebsten, »die so lange zuhören, bis ich zum letzten Wort eines Einzeilers komme«. Und jüngere Kinder wie die Freundin seiner kleinen Schwester, die direkt fragen, warum er so komisch spricht, die Antwort wertfrei und kommentarlos akzeptieren und über Billys Witze lachen.
Der Mobber macht einen richtig guten Job
Leider gibt’s auch richtig üble Typen, wie den grobschlächtigen neuen Mitschüler, nicht die hellste Kerze auf der Torte, nicht mal gut in Sport, dafür um so fieser. »Er macht einen richtig guten Job als Mobber«, wie Billy sarkastisch anerkennt. Der zierliche Junge lässt die Demütigungen über sich ergehen, weil er fürchtet, dass alles noch schlimmer wird, wenn er sich jemandem anvertraut. Und es gibt immer noch genügend Schönes in Billys Leben. Er hat eine liebevolle Familie. Er findet richtige Freunde an der neuen Schule. Sein Klassenlehrer ermutigt Billy auf unterschiedliche Weise, erkennt sein gutes Gespür für Rhythmus und bringt ihm nicht nur Schlagzeugspielen bei.
Billy Plimpton ist so viel mehr
Billy glaubt, dass alles gut und er ein ganz anderer wird, wenn er sein Stottern loswird, koste es, was es wolle. Dabei macht so viel mehr Billy Plimpton aus. Das wird nicht nur ihm in Helen Rutters turbulenten, wundervollen, teils irre komischen und manchmal herzzerreißend traurigen Geschichte klar. Henning Ahrens hat diese unwiderstehlich fließend und einfühlend übersetzt.
Wenn »Ich heiße Billy Plimpton« zweifellos das witzigste Buch zum Thema Stottern ist, dann ich »Ich bin wie der Fluss« das schönste, ja, sogar das poetischste. Der kanadische Dichter Jordan Scott erzählt von seinem lebenslangen Kampf gegen das Stottern. An einem besonders schlimmen Tag, als die ganze Klasse Jordan anglotzt, auf seinen Mund starrt, alle kichern, ihn auslachen, seine Angst sehen und nichts verstehen, macht sein Vater mit ihm einen Ausflug. »Er legt einen Arm um mich, zeigt auf den Fluss und sagt: ›Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist, wie du sprichst. Das bist du.‹«
Es sprudelt, wirbelt, gischtet, drängt vorwärts
Und da versteht Jordan. Er sieht das Wasser wie es sprudelt, wirbelt, gischtet, vorwärtsdrängt. Und auf dem Weg zur Mündung einige Hindernisse überwinden muss. Und er lässt sich treiben und tragen vom Fluss. »Und ich denke an den stillen, ruhigen Fluss hinter den Stromschnellen, wo das Wasser weich und sanft schimmert. Der Fluss ist wie ich. So spreche ich. Auch der Fluss stottert. Wie ich.« Mit wenigen Worten beschreibt Jordan Scott umso vielsagender die Gefühle derer, die mit dem Sprechen hadern. Was es mit einem macht, wenn man schon beim Aufwachen den Klang von Wörtern hört, die man nicht sagen kann. Wenn man fast erstickt an all dem Unausgesprochenem. Wenn man schweigt, weil man kein Wort rausbringt. Schöner hat kaum jemand den Begriff Sprachfluss in Wortbilder verwandelt.
Metapher in bezaubernde Bilder übersetzt
Sydney Smith hat die Metapher des Flusses und Fließens in fantastische und berauschende Bilder übertragen. Die Einsamkeit des schweigenden Kindes, die Mitschüler, die vor seinen Augen zu amorphen Masse verschwimmen, wie er selbst sich immer grotesker vorkommt. Und dann in großen Panoramen, satten, natürlichen Farben und funkelnden Lichtreflexen der Fluss, die Natur. Und das Kind, wie es versteht und sich darauf einlässt und eins wird mit dem Wasser. Es ist eine ganz besondere Bildsprache, die die Kinderbücher des kanadischen Illustrators und Kinderbuchautors Sydney Smith auszeichnen. Da ist nichts Niedliches und Kindliches an seinen Aquarellen und vielschichtigen Gemälden. Smith‘ Bilder sind durchdrungen von einer betörenden Ruhe und Kraft. Ob er einem Kind auf der Suche nach seiner Katze durch die Stadt folgt wie im bezauberndem Unsichtbar in der großen Stadt. Oder sich tief unter Tage vergräbt wie im beeindruckenden Stadt am Meer – seine Bilder faszinieren und sprechen einen auf ganz besondere Weise an.
Helen Rutter: Ich heiße Billy Plimpton, Übersetzung: Henning Ahrens, Atrium, 288 Seiten, 15 Euro, ab 11 Jahren
Jordan Scott, Sydney Smith (Illustrationen): Ich bin wie der der Fluss, Übersetzung: Bernadette Ott, Aladin, 44 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahren