Spektakulär schön

Zuerst eine Feststellung: Ich bin die Königin der Prokrastination. Obwohl Kathrin Passig vielleicht eher Anspruch auf den Thron erheben würde, immerhin hat sie schon vor fast 15 Jahren ein bahnbrechendes Buch zum Thema geschrieben – allerdings zusammen mit Sascha Lobo, wer weiß, alleine würde sie es womöglich immer noch vor sich herschieben.
Diesmal habe ich aber selbst für meine Verhältnisse krass überzogen – und mir über ein Jahr Zeit gelassen (wo ist die nur wieder hin?), um das schönste Weihnachtsbuch der vergangenen Jahre zu empfehlen: Jims brillante Weihnachten.
Und damit nicht noch der alte Witz, Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – und wenn das fünfte Lichtlein brennt, haste Weihnachten verpennt Wirklichkeit wird, hier also kurz vor knapp der ultimative Weihnachtsgeschichten-Tipp.

Als lebendige Kaminbürste missbraucht

Die fabelhafte, englische Schauspielerin Emma Thompson, unter anderem bekannt als Nanny McPhee, hat Jims brillante Weihnachten geschrieben. Nach ein paar Neuerzählungen von Beatrix Potters Peter Rabbit Geschichten, hierzulande als Peter Hase bekannt, ist es ihr Kinderbuchdebüt. Und was für eins: Es handelt von Jim, einem Hund, einem umwerfend liebenswerten, der auf sehr sehr krude Weise seinem Menschen oder Herrchen zugelaufen, genauer zugefallen ist. Der Streuner wird nämlich als lebendige Kaminbürste missbraucht und plumpst schließlich aus einem Kamin des Victoria & Albert Museums im Herzen Londons. »Zum Glück war es Sommer und es brannte kein Feuer, weshalb nichts Schlimmere passierte, als dass auf die Menschen in der Nähe des Kamins eine ansehnlich Menge Ruß niederging und Jim sich in einer Art schwarz gesprenkeltes Stachelwesen verwandelt fand.
Ein ziemlich beleibter Her mit einem wilden, weißen Haarschopf schlug vor, Jim zu säubern und seinem Besitzer zurückzubringen.
Nach mehreren Waschgängen, in denen Jim – sehr zu seinem Missvergnügen – untergetaucht, eingeseift, abgeschrubbt und abgespült wurde, sah er wieder aus wie zuvor.
Der rußgeschwärzte beleibte Herr war, wie sich herausstellte, niemand anderes als Sir Henry Cole, der Direktor des Museums.«

Treuer Begleiter des Museumsdirektors

Sir Henry behält den Hund, der sich schon bald in den weiten Hallen des Museums und dessen Umgebung bestens auskennt und Botengänge unternimmt. Soweit die Vorgeschichte dieser besonderen Freundschaft. Die historisch verbürgt ist. Sir Henry Cole war aber nicht nur der Direktor des von Prinz Albert, Mann der englischen Königin Victoria, gegründeten Museums. Sondern auch der Erfinder einer der schönsten Traditionen Großbritanniens: Der Weihnachtskarte.
Emma Thompson erzählt, was Jim damit zu tun hat. Der ist nämlich nicht nur ein sehr netter, kluger und umtriebiger Hund. Sondern auch ein leidenschaftlicher Leser. Und weil sein eines Auge immer tränt und nicht viel taugt und das andere auch immer schlechter wird, träumt er von so etwas wie einer Brille für ein Auge, etwas, das er für sich Brill nennt. Was der Siegeszug der Weihnachtskarten mit der königlichen Familie und einem Monokel zu tun haben, erzählt Thompson absolut furios, hinreißend und zauberhaft.

Geniales Wortspiel

Anu Stohner gelingt es großartig, das ursprüngliche Wortspiel aus spectacular und Spectacles, englisch für Brille (kurz: Spex, wie eine exzellente, deutsche Musikzeitschrift hieß) zu übersetzen: mit brillant. Auch sonst trifft sie Thompson lässig liebevollen Tonfall sehr gut. Nur als Jim mit einem im Original gamey whiff behaftet beschrieben wird, greift Stohners herber Geruch zu kurz. Gamey whiff ist auch ein wilder Hauch, etwas abenteuerlustiges, fast anarchistisches schwingt mit.

Wenig royal, dafür umso herzlicher

Illustriert hat die Geschichte Axel Scheffler, bekannt als der Gestalter und Miterfinder des legendären Grüffelos. Thompson und Scheffler kannten sich über kleine Auftragszeichnungen schon länger, sind sich aber erst Jahre später persönlich begegnet. Und das, obwohl sie für Londoner Verhältnisse fast Nachbarn sind. Jims brillante Weihnachten ist ihre erste Zusammenarbeit, und man kann jetzt schon sagen, sie ist so kongenial wie Schefflers Werke gemeinsam mit der Kinderbuchautorin Julia Donaldson. Im Gegensatz zum Grüffelo sieht man hier mehr Schefflers subtilen Witz und Spaß an skurrilen Typen und Szenen, wie etwa in Vater Eichhorn fällt vom Baum, dem allerbesten pixi Buch.

Königlich bekleckert

Wer schafft es schon in ein Bilderbuch ein Kind, das aus einem Glas Wein trinkt, hereinzuschmuggeln? Ist aber historisch verbürgt, über die erste Weihnachtskarte. Oder die nahbare, lebensechte und freundliche Darstellung der königlichen Familie bei Jims Besuch im Buckingham Palast: »Zu guter Letzt betraten sie einen Raum, der voller Kinder zu sein schien. Dazu kamen fast genauso viele Kindermädchen, und es dauerte einen Moment, bis Jim in dem Gewimmel etwas sah, was ihm bis ans Ende seiner Tage im Gedächtnis bleiben würde.
Die Königin, denn nur um sie konnte es sich bei der kleinen rundlichen Person mit Krone handeln, hatte sich offensichtlich mit Tee oder etwas ähnlichem bekleckert, und Prinz Albert, denn nur um ihn konnte es sich handeln, versuchte den Fleck mit einem Taschentuch fortzutupfen.« Schefflers Familienbild ist wenig royal, dafür umso herzlicher und ein entzückendes Vergnügen.

Also, nicht zögern, Jims brillante Weihnachten gleich im Buchladen des Vertrauens kaufen und lesen. Und viele Weihnachtskarten an liebe Menschen verschicken. Das wird ein spektakulär schönes Fest!

Emma Thompson, Axel Scheffler: Jims brillante Weihnachten, Übersetzung: Anu Stohner, Beltz & Gelberg, 3. Auflage 2023, 80 Seiten, 18 Euro, ab 6