Vielsagende Vögel

Wiedehopf

Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.« So beginnt die Hamburger Illustratorin und Cartoonistin Maren Amini ihren ersten Comic, Ahmadjan und der Wiedehopf.
Was für ein Debüt als Graphic-Novel-Autorin!
Es ist die bewegte, mitreißende Biografie ihres Vaters Ahmadjan. Es ist auch die Wiederentdeckung und moderne Neuerzählung der Konferenz der Vögel, eines großen persischen Epos aus dem 12. Jahrhundert des mystischen Dichters Fariduddin Attar.

1000 Vögel für vielfältige Kultur

Vor allem aber ist es die Geschichte eines faszinierenden Landes – Afghanistan. Ja, genau, das Land irgendwo eingeklemmt in Zentralasien, das heute nur noch mit engstirnigen religiösen Fundamentalisten assoziiert wird. Das bitterarme Land, von verschiedensten Gegnern zurückgebomt in die Steinzeit, wo Frauen entrechtet, geradezu entmenschlicht werden. In dem alle Andersdenkenden und Freiheitsliebenden brutal unterdrückt, getötet oder vertrieben werden.
Als die Taliban erneut die Macht ergreifen, reagiert der 1953 in Afghanistan geborene und in Hamburg lebende Ahmadjan Amini mit Kunst. Die 1000 Vögel beziehen sich auf Die Konferenz der Vögel, stellvertretend für die vielfältige und reiche Kultur Afghanistans und das Zusammenleben zahlreicher Ethnien. Für Freiheit, Sinnsuche und den lebenslangen Weg zur Erkenntnis. Seine Kunst hat Ahmadjans Leben gelenkt, geprägt, er hat von ihr gelebt und sie hat ihn immer wieder gerettet.

Raffiniert Lebensgeschichte und mystische Dichtung verknüpft

Zu ihrem großen Bedauern war Maren Amini, geboren 1983, noch nie im Heimatland ihres Vaters. Auch die mystische Dichtung kannte sie bis zur jetzigen Zusammenarbeit mit ihrem Vater nicht. Umso beeindruckender ist es, wie raffiniert und stimmig sie seine Lebensgeschichte mit Fariduddins Parabel erzählerisch in Text und Bild verknüpft.
In meist kleinen cartoonesken Bildern, mit flottem schwarzem Strich erzählt die international gefragte Illustratorin seine wilde, wandlungssreiche, manchmal fast märchenhafte Reise zwischen zwei Welten. Ein bisschen ist ihre Darstellung eine Mischung aus Charles M. Schulzs Peanuts und Sempé, eine knollennasige Figur mit dichtem Haarschopf, später mit typischen Schlaghosen. Ahmadjans Mutter stirbt früh, er wächst in einer lieblosen Stieffamilie von Schafhirten auf. Schon früh entdeckt er das Zeichnen für sich. Auch dank seines Talents entkommt er der Enge des Tals, bitterer Armut, Hunger und Kälte, zunächst mit einem Stipendium für ein Internat in Kabul. Dann mit einer Ausbildung zum Bauzeichner.

Wechselhaftes Leben zwischen Welten

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre war Kabul ein Hotspot für Hippies. Durch sie lernt er Musik, traditionelle und westliche, sowie Filme und moderne Kunst kennen. Immer wieder begegnet er Menschen, die seinem Leben eine entscheidende Richtung geben, ihn inspiriert oder gefördert haben. Diese malt Maren Amini als Vögel, die für ganz unterschiedliche Typen stehen. Außerdem tauscht sich Ahmadjan mit einem imaginären Wiedehopf aus, den Amini ganz entzückend wie Woodpecker, Snoppys gefiederten Freund, darstellt. Und sie zitiert begleitend Fariduddin Attars fabelhafte Verse.
Das spannende und wechselhafte Leben ihres Vaters bewegt sich zwischen Afghanistan und Hamburg. 1972 kommt er zum ersten Mal mit einem Touristenvisum nach Deutschland, lebt in besetzten Häusern, lernt in einer Malschule im Karoviertel beim Begründer der Schlumper (einer Ateliergemeinschaft für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen), studiert an der Hochschule für Bildende Künste, reist nach London, Amsterdam, Ibiza, besucht Musikclubs und Museen, wird schließlich abgeschoben. Als die Russen in Afghanistan einmarschieren, kommt er als einer der ersten asylsuchenden Flüchtlinge zurück nach Hamburg, das mittlerweile nach Pakistan und Iran die größte Gemeinde von Exil-Afghanen beherbergt. Hier lernt er Marens Mutter kennen, bekommt mit ihr zwei Töchter.

Genial pointierter Cartoon eines bunten Lebens

Spätestens jetzt kommt noch eine weitere Facette dieser außergewöhnlichen Graphic Novel zum Tragen: Die behutsame und berührende Annäherung von Tochter und Vater. Ahmadjan war überfordert vom Familienleben, hat Frau und Kinder früh verlassen. Jetzt erzählt er seiner Tochter seine Lebensgeschichte. Und sie kommen zusammen über die Kunst, über das Erzählen in Bildern, über ihre individuelle, brillante Bildersprache.
Und so kann man Maren Aminis Cover von Ahmadjan und der Wiedehopf als Essenz und absolut genial pointierten Cartoon des Lebens ihres Vaters erkennen. Begleitet von nunmehr dreißig, wie ein farbenprächtiger Schweif aus einer unter den Arm geklemmten Mappe aufsteigenden Vogelschemen, und gefolgt vom treuen, titelgebenden Wiedehopf geht Ahmadjan seines Weges. Das Porträt eines Künstlers, Individualisten und Träumers. Und das eines einzigartigen Landes. Absolut umwerfend und wunderbar.

Maren und Ahmadjan Amini: Ahmadjan und der Wiedehopf, Carlsen, 2024, 240 Seiten, 26 Euro, ab 12

Der Geruch des Grolls

Naphtalin

Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«

Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise

Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde?
Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.

Verflohte Katze

Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.

Großen Familienroman gezeichnet

Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet.
Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt.
Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.

Durch Türen aus dem Leben verschwunden

Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.

Eigene Fehler machen

Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«

Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Kleider machen Helden

Superheldinnen und Superhelden, die mit sich hadern, gibt es einige. Man denke nur an Tobey Maguire als Spiderman nach seiner ersten Begegnung mit dem Sandman. Frustriert hockt er auf einem Dach, kippt Sand aus seinen Schuhen und fragt sich: »Wo kommen diese Typen immer her?« Verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: »Und warum muss ausgerechnet ich mich um alles kümmern?«

Identität aus Liebe versteckt

August Crimp hingegen versteckt seine Heldenidentität aus Liebe. Seine Frau fürchtet Superhelden seit ihre Eltern bei der Rettung Londons als Kollateralschaden getötet wurden. »Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zwei Menschen gegen eine ganze Stadt. Ein fairer Tausch, schätze ich«, sagt sie lakonisch.
Aber dann geschieht eine Mordserie an Transvestiten. Und das Nachbarsmädchen, das den kleinen Sohn babysittet, bittet August um Hilfe, die Seelen ihrer Eltern wiederzufinden. Sie kennt nämlich sein Geheimnis.

Verhedderte Lebenslinie

Das ist der Auftakt für Steven Applebys brillanten, einzigartigen, autobiografischen und schonungslos ehrlichen Comic Dragman. Schon als Kind wollte August Crimp ein Mädchen sein und weibliche Kleidung tragen. Wer jetzt wissend und vielleicht sogar mittlerweile leicht gelangweilt denkt »Ah, Transgender« irrt. Es geht um so viel mehr in diesem lesens- und sehenswertem Bilder- und Bildungsroman. Schon auf dem Vorsatzpapier sehen wir August Crimps Selbstfindungsreise: Vom Baby am Anfang mäandert, schlängelt, verheddert, zerfasert, verknäuelt und verwirrt sich seine Lebenslinie und sprengt den Rahmen.

Superhelden-Genre durcheinandergewirbelt

August Crimp ist Dragman. Wenn er Frauenkleider trägt, entwickelt er Superkräfte und kann fliegen. Was Spitzenunterwäsche, Seidenstrümpfe, figurbetonte Kleider und Langhaarperücke mit ihm machen, entdeckt er durch Zufall.
Schon die Ausgangssituation und die ersten Zeichnungen zeigen: Dies ist ein besonderer Superheldencomic. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Helden ganz zu schweigen. Raffiniert spielt Steven Appleby mit dem Genre und wirbelt es virtuos durcheinander. Es beginnt mit einem Comic im Comic, in nostalgischem Grauweiß gestaltet. Alle Rückblenden erinnern an alte Fotografien. Die Gegenwart wiederum ist in warmen Farben gehalten, aquarelliert von Applebys Frau Nicola Sherring, hauptberuflich übrigens wie August Crimps Liebste Schreinerin.

Seitenhieb auf Marvel-Universum

Kaum hat August seine Superkraft entdeckt, lernt er auch die straff organisierte Held:innenparallelwelt kennen. Ein schöner Einstieg ist die imposante Ahnengalerie. Und zu jedem gibt es eine eigene Comicserie – ein satirischer Seitenhieb auf das unendlich scheinende Marvel-Universum, das uns immer neue, mal mehr, mal weniger gelungene  Spinoffs und Fortsetzungen beschert (Apropos: »Wo kommen die nur immer alle her?«). Doch kaum hat Dragman einigen abstürzenden Menschen und in Baumwipfeln verirrten Katzen das Leben gerettet, ist es auch schon wieder vorbei mit seiner Karriere.

Völlig intolerant oder einfach nur dumm

Auch unter Superhelden gibt’s Spießer und es grassieren Vorurteile, manche sind völlig intolerant und andere einfach nur dumm. Der angeberische, fiese Fist, eine Mischung aus Michelinmännchenkörper und Transformersfigur, mit sehr kleinem, nur angedeutetem Kopf und noch winzigerer, umso lächerlicherer Unterhose hält einen Mann in Frauenkleidern für pervers. Tatsächlich scheitert Augusts alias Dragmans Aufnahme in den Superheldenkosmos daran, dass er seine Kraft aus seiner Kleidung bezieht. Und das ist streng verboten – seit es einen tragischen Unfall gegeben hat. Wiederum eine entzückende Anspielung auf die sehr gelungene Parodie Die Unglaublichen, wo eindringlich vor weiten Umhängen gewarnt wird. Bei Dr. Strange wiederum entwickelt der Umhang ein Eigenleben um Benedict Cumberbatch herum. Aber das ist eine andere Geschichte.

Seelen als Ware und Heizmaterial

Bei Dragman geht es um Identität. Um die Suche danach und den harten Kampf, seine Identität zu zeigen, zu ihr zu stehen und sie zu leben. Und es geht um nichts geringeres als Seelen.
Kaum wurden die menschliche Seele von einem ehrgeizigen Wissenschaftler entdeckt, ist sie auch schon kommerzialisiert. Alles hat seinen Preis. So entwickelt sich ein zynischer Handel mit Seelen. Menschen verkaufen ihre Seele, mal für einen Urlaub, mal, um ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Reiche Leute implantieren sich die Seelen schöner, intelligenter, kreativer Menschen. Alle durchschnittlichen landen beim Teufel als Heizmaterial in der Hölle. Die gibt’s nämlich auch, wie August und Supernase Dog Girl, seine treue Freundin aus Dragman-Tagen, im Laufe der spannenden und fantastischen Geschichte herausfinden.

Teuflische Konzerne und fragwürdige Unterhaltung

Der ganz reale Teufel aber ist ein Superkonzern, der von Versicherungen und Resourcen, Lebensmitteln und Dingen, die niemand braucht, bis zu den Medien und schon die Jüngsten indoktrinierenden und verblödenden Programmen alles beherrscht und verkauft. Eine bissige Groteske auf die Jeff Bezos, Elon Musks & Co. dieser Welt.
Parallel beschreiben Textpassagen krasse Gewaltfantasien aus dem Kopf eines Serienkillers. Wer sich an hirnlosem Schund im Stile Fitzeks ergötzt, den schockt das wahrscheinlich nicht. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur perversen Massenware. Im Laufe der Geschichte erfährt man den ebenso schrecklichen wie nachvollziehbaren Grund dieser grausamen Abgründe: Der Killer hat keine Seele. So spießt Appleby nebenbei ein weiteres, fragwürdiges Phänomen unserer Zeit auf – der »Genuss« abscheulichster Gewaltdarstellung zur Unterhaltung.

Es braucht Superkräfte, sich nicht mehr zu verkleiden

Dragman ist Steven Applebys eigene Geschichte, wortwörtlich. Appleby ist Autor, Cartoonist, Ehemann, Vater. Und er kleidet sich als Frau. Nicht mehr heimlich. Sondern offen und ausschließlich. Manchmal braucht man Superkräfte, um sich eben nicht mehr zu verkleiden und seine Identität zu leben. Appleby erzählt davon in seinem wunderbar witzigen und vielfältigen, philosophischen und gesellschaftskritischen, schlicht genialen Comic.

Steven Appleby: Dragman, Übersetzung: Ruth Keen, Schaltzeit Verlag, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Visuelle Zweitzeugen des Holocaust

Holocaust

Nachdem ich vor zwei Jahren die Erinnerungen der Schwestern Andra und Tatiana Bucci, Wir, Mädchen in Auschwitz, übersetzt habe, begleitet mich das Thema der Kinder im Holocaust. Diese Kinder, die heute alle über 80 Jahre alt sind, bilden die letzte Generation der Zeitzeugen und sollten mehr denn je gehört werden.

Im vorliegenden Band erzählen die Illustrator:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar die Erinnerungen von vier solcher Kinder in eindrucksvollen Graphic Novels. So widmet sich Barbara Yelin dem Schickal von Emmie Arbel, die als Vierjährige aus den Niederlanden nach Ravensbrück verschleppt wurde.

Der Schrecken der Lager

Wir lernen Emmie als alte rauchende, Auto fahrende, Solitär spielende Frau in Israel kennen, die weiß, dass sie stark ist. Doch diese Stärke ist durchzogen von Rissen, in denen die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit immer wieder durchscheinen, sei es in der Angewohnheit, im Café dicht an der Tür sitzen zu müssen, oder den unguten Gefühlen, wenn ihr Jugendliche mit kurz rasierten Haaren begegnen. Gleichzeitig ist da auch immer wieder der Satz »Ich erinnere mich nicht«. Dafür ist das, was Emmie erinnert umso eindrücklicher und spiegelt wie all die Zeitzeugengeschichten aus den Konzentrationslagern den Horror des Holocaust. Yelin setzt diese Erinnerungsbrocken in graublau-düstere Bilder um, die eigentlich mehr andeuten, als dass sie zeigen. Das jedoch reicht bereits, um Schrecken und Tod offensichtlich zu machen.

Der Holocaust in Transnistrien

Miriam Libicki stellt mit der Geschichte von David Schaffer ein weniger bekanntes Kapitel im Holocaust dar, den in Transnistrien. Jüdische Familien wurden aus ihren Häusern auf dem Land vertrieben, in Ghettos zusammengepfercht und später quasi ziellos durch die Gegend getrieben. Die rumänischen Verbündeten machten für die Deutschen die Drecksarbeit. Es herrschte ein heilloses Durcheinander – in dem sich die Familie von David nicht an Regeln hielt, sondern sich von den anderen Deportierten absetzen und im Wald untertauchen konnte. Dort schließt sie sich mit einer anderen Familie zusammen und gemeinsam gelingt es ihnen, die harten Kriegsjahre 1942/43 zu überstehen, bis Transnistrien von den Sowjets befreit wird. Die Ereignisse in Transnistrien sind verwirrend, doch das Leiden des jungen David wird in den fast knallbunten Illus von Miriam Libicki spürbar. Eine Flasche Speiseöl wird im Hungerwinter zu einem fast heiligen Objekt, der Stacheldraht, mit dem David sich die Lumpen um die Füße bindet, tut beim bloßen Anblick weh. Die ausgemergelten Figuren mit den großen leidenden Augen bleiben haften.

Verstecken in den Niederlanden

Beige-blau reduzierter schildert Gilad Seliktar die Geschichte der Brüder Nico und Rolf Kamp, die sich als Kinder in den Niederlanden vor der Deutschen versteckten – getrennt von ihren Eltern. Sie versteckten sich jedoch nicht einmal, sondern mussten immer wieder weiter. 13 Mal insgesamt. Die beiden Brüder schildern ihre unterschiedlichen Sichtweisen, den Wunsch des Kleineren dazugehören und den Davidstern tragen zu wollen, das Spiel mit den Kaninchen, die irgendwann auf dem Teller landen, die Übernachtungen in einem Hühnerstall. Sie geraten in ein deutsche Patrouille, überstehen knapp eine Schießerei. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert, nur die Mutter überlebt.

Aufschlussreicher Anhang

Den drei Graphic Novels folgt ein Anhang, in dem die Entstehung dieses Buches ebenfalls in einer Graphic Novel erzählt wird. Die Zeitzeugen kommen noch einmal in Textform zu Wort und schildern, wie ihr Leben weiterging. Abschließend werden die historischen Hintergründe noch etwas genauer beleuchtet und die Berichte somit genauer eingeordnet, was bei den eher unbekannten Ereignissen in Transnistrien besonders wichtig und erhellend ist.
Auf der Website holocaustgraphicnovels.org/ gibt es zudem Filme, die die Zeitzeugen in Gesprächen mit ihrer jeweiligen Illustrator:in zeigen sowie weitere Hintergrundinformationen und Workshop-Termine.

Diese drei Geschichten bereichern die bereits bekannten Zeitzeugenberichte um weitere Nuancen. Sie zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist. Sie mahnen, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen – was sich in den heutigen Tagen fast zynisch anhört, dafür aber umso wichtiger ist. Gerade auch diese gelungene visuell-graphische Aufarbeitung von Historie könnte Jugendliche anregen, selbst Großeltern oder ältere Menschen über ihre Vergangenheit zu befragen, und so zu Zweitzeugen zu werden, die deren Geschichten bewahren und weitertragen.

Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar: Aber ich lebe, Übersetzung: Rita Seuß, hg. Carlotte Schallié, C.H. Beck, 2022, 176 Seiten, 25 Euro

Sie. wussten. davon.

Geschichte vergeht nicht. Jedenfalls nicht so schnell und so spurlos, wie mancher es vielleicht gerne hätte. Geschichte wirkt nach, bis heute. Vor allem die düstere Geschichte der Nazizeit. Und das so gut wie in allen Familien. Wir müssen nur hinsehen und nachforschen.
Genau dies hat die Berliner Grafikdesignerin Bianca Schaalburg getan und daraus die eindrucksvolle Graphic Novel Der Duft der Kiefern gemacht.
Als Schaalburg von ihrer Großmutter einen riesigen dunklen Kleiderschrank erbt, beginnt die 1968 Geborene über ihre Familie nachzudenken. Fragen kann sie ihre verstorbenen Eltern und Großeltern nicht mehr, nur ein Onkel steht ihr hilfreich zur Seite, als sich anfängt Nachforschungen über die Taten ihres Großvaters Heinrich während des Zweiten Weltkriegs anzustellen.

Der Wissensdurst der Kriegsenkel

Schaalburg gehört wie die Mehrheit der Boomergeneration zu den so genannten Kriegsenkeln, die dank der Bücher der Journalistin Sabine Bode seit ein paar Jahren vermehrt nachfragen, forschen und genauer hinsehen. Das Schweigen, das die Täter nach dem Zweiten Weltkrieg über ihre Verbrechen gelegt haben, versuchen diese Menschen zu durchbrechen. So liegt die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte momentan – man könnte fast sagen – im Trend. Ich kann mich da nicht ausnehmen, ich gehöre ebenfalls zu dieser Generation und merke immer mehr, wie sehr die Erlebnisse meiner Großeltern und Eltern während der Nazizeit und im Krieg selbst mein Leben geprägt haben. Diesen aktuellen Wandel von der Sprachlosigkeit unser Jugendjahre – als wir die Großeltern noch fragen konnten, aber meist nur abweisende oder gar keine Antworten bekamen – hin zum Drang nach Aufklärung, finde ich wichtig und nötig, um uns allen immer wieder klar zu machen, dass der Spruch „Wir wussten von nichts“ eine große gesellschaftliche Lüge war.

Gegen die vermeintliche Ahnungslosigkeit

Auch Schaalburg hörte diesen Satz als Kind von ihrer Oma. Und wird in der Gegenwart durch die Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf auf einen krassen Widerspruch aufmerksam: Dort hatten einst jüdische Menschen gelebt, waren vertrieben und später nach Theresienstadt deportiert worden. Doch die Großeltern wollten von alldem nichts gewusst haben und haben dennoch ihren Profit daraus geschlagen, wovon der große Esstisch der jüdischen Vormieter das offensichtlichste Zeugnis ist.
Wie es bei solchen Nachforschungen an der Tagesordnung ist, findet Bianca Schaalburg relativ schnell immer neue Details heraus. Sie fängt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn an, in den Bundesarchiven zu recherchieren, Akten zu lesen, Online-Datenbanken zu nutzen und alte Adressbücher zu wälzen. So erfährt sie, dass der Großvater Anfang der 1940er Jahre in Riga als Buchhalter bei der Wehrmacht Dienst tat. Riga – dort wo eines der schlimmsten Kriegsverbrechen an den Juden stattfand. Die Frage, wie viel ihr Großvater davon mitbekam, ob er selbst darin verstrickt war, lässt sich nicht beantworten.
Genauso wenig kann Schaalburg auch über die drei jüdischen Bewohner ihres Hauses herausfinden. Wie Puzzleteile setzt sie die wenigen Informationen, denen sie habhaft wird, zusammen. Wer sich die Mühe macht nachzuforschen, wird am Ende meistens mit mehr Fragen als mit klaren Antworten dastehen. Und genau das zeigt Schaalburg in ihrem Buch. Hält sie sich bei der Familie an die Fakten, lässt die Leerstellen im Raum stehen, so erlaubt sie es sich, für die drei ermordeten Juden Clara, Carl und Margarete jeweils einen kurzen fiktiven Lebenslauf zu entwerfen. Auf den einzigen komplett schwarzweiß gehaltenen Seiten liefert sie so ein lebensfrohes, fast schillerndes Bild möglicher Biografien, die die Ungeheuerlichkeit der Judenverfolgung noch krasser erscheinen lässt.

Deutsche Geschichte am Beispiel einer Familie

Schaalberg beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Nazizeit, sondern schildert ihre Familiengeschichte auch im Nachkriegsberlin, während der Teilung der Stadt und schließlich beim Mauerfall. Anhand ihrer Mutter Edda und deren drei Geschwister illustriert sie, wie sehr nazivergiftete Regeln und Glaubenssätze („Stell dich nicht so an“, „Ein deutscher Junge weint nicht“ oder „Mädels müssen brav sein und immer lächeln“) ihre Eltern in der Nachkriegszeit geprägt und geformt haben. Dieses Nazigift, davon bin ich überzeugt, wirkt in vielen der Kriegsenkel immer noch und wird ohne Aufarbeitung vermutlich an die nächsten Generationen weitergegeben.

Das verschreckte innere Kind der Mutter

Beeindrucken ist, wie Schaalberg die durch diese elendige Erziehung und die Kriegserlebnisse verschreckte Mutter als Kind zeigt: Da sitzt die kleine Edda als transparente graue Figur mit Propellerschleife im Haar unter dem Tisch und starrt aus großen leeren Augen vor sich hin. Es ist für mich eines der treffendsten Bilder der Generation der heute 80-Jährigen, die zum einen Opfer ihrer Elterngeneration wurden, zum anderen Mitte des 20. Jahrhunderts unglaublich viel gearbeitet und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben, die jedoch kaum über ihre Kindheitserlebnisse sprechen konnten bzw. professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, weil das Stell-dich-nicht-so-an über allem lag. Man möchte diese traumatisierten inneren Kinder unwillkürlich trösten.

Gelungenes Farbkonzept

Neben den vielen inhaltlichen Finessen und Fakten hat Bianca Schaalburg ein sehr gelungenes Farbkonzept für ihre Geschichte gewählt. Die unterschiedlichen Kapitel spielen in unterschiedlichen Jahren, sind jedoch nicht chronologisch angelegt, sondern springen durch die Jahrzehnte. Jedes Jahrzehnt ist in einem Farbton mit unterschiedlichen Nuancen gehalten. Die Nazizeit natürlich in adäquatem Kackbraun, doch nach dem Krieg wird es lichter, die 1950er kommen in grünen Schattierungen daher, die 1960er in blauen, die 70er sind quietschorange. So wird es in Richtung Gegenwart immer heller, wenn auch nicht absolut fröhlich. Die gebrochenen Pink- und Violettöne des 21. Jahrhunderts laden eben nicht zum gedankenlosen Dahinleben ein, sondern erinnern daran, den Blick zurückzuwerfen und die Auseinandersetzung zu suchen.
Den Abschluss bildet ein sehr hilfreicher Anmerkungsapparat, der u.a. den Familienstammbaum zeigt, das Viertel in Zehlendorf verortet, Informationen zu Theresienstadt und den Verbrechen in Riga liefert sowie Anregungen zum Weiterlesen aufführt.

So wird Der Duft der Kiefern nicht nur zu einer persönlichen Familiengeschichte, sondern fast zu einer Anleitung, auf jeden Fall zu einer Anregung, in der eigenen Familie nachzufragen und nachzuforschen. Um der Stille und dem Schweigen ein Ende zu setzen.

Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse, avant-verlag, 2021, 26 Euro

Vogelfutter gegen Rechts

Vogelschiss

Es ist Wahlkampfzeit. Es geht um viel bei der Bundestagswahl im September. Im Westen Deutschlands hat das Hochwasser Leid & Zerstörung gebracht. Manche Politiker feixen, andere leugnen weiterhin die Klimakrise. Fast wie nebenbei zieht die vierte Coronawelle auf und es gibt Streit über mehr oder weniger Rechte für Geimpfte gegenüber Ungeimpften. In Hamburg hängen noch kaum Wahlplakate. Es fühlt sich so gar nicht nach Wahlkampf an, obwohl wir schon mitten drin sind.
In dieser komplizierten und anstrengenden Gemengelage ist nun die Graphic Novel Vogelschiss von Frauke Bahle und Julian Waldvogel erschienen, die uns noch einmal eindringlich daran erinnert, was bei der Wahl noch auf dem Spiel steht: die AfD im Bundestag – erneut, immer noch … In der aktuellsten Umfrage würden zwölf Prozent der Wähler:innen ihr Kreuzchen bei den Blaubraunen machen. Die Hoffnung, dass die AfD wieder aus dem Parlament verschwindet, können wir wohl begraben. Umso wichtiger ist es, sich klar zu machen, was da im Bundestag sitzt. Und dabei hilft Vogelschiss.

Aktion gegen Rechts

In dieser Graphic Novel machen sich die alleinerziehende Mutter Eleni und ihr Alt-68er-Nachbar Rudi auf, etwas gegen Rechts zu unternehmen, nachdem ein Bewohner aus ihrem Haus einen fremdenfeindlichen Amoklauf unternimmt. Geschockt davon, dass so viel Hass in unmittelbarer Nähe unbemerkt aufkeimen konnte, »dekorieren« die beiden zunächst AfD-Plakate mit neuen Texten um – was in den sozialen Medien sowohl positive wie negative Reaktionen nach sich zieht. Zuspruch, aber auch Hasskommentare treffen ein, doch noch läuft alles ziemlich unter dem Radar.
Als die beiden mit einer Konfettikanone Vogelfutter auf die AfD-Zentrale in Berlin regnen lassen und die Folgen sehr lustig sind, wird auch die Presse darauf aufmerksam. Es dauert nicht lange, bis ein gewaltbereiter Nazi vor Elenis Haustür steht, sich an Elenis Sohn heranmacht, und Rudi bei einer weiteren Plakataktion zusammengeschlagen wird.

Zitate von AfD-Mitgliedern

In die Geschichte um Eleni & Rudi flechten die Macher:innen von Vogelschiss immer wieder sehr geschickt reale Zitate von AfD-Mitgliedern ein, die an der rechtsextreme Gesinnung der Partei keinen Zweifel mehr lassen. Das sind zum Teil hammerharte Aussagen, die auf Parteiveranstaltungen gefallen sind und es nicht in die Presse »geschafft« haben – und die ich hier nicht zitieren werde. Diese Aussagen sind in blauer Schrift abgesetzt und somit leicht als Zitate erkennbar, im Anhang werden die Quellen genannt (»Dem rechten Bums seine Urheber«), sodass jede:r sie nachrecherchieren kann. Allein diese wenigen Aussagen der Parteigranden machen mehr als deutlich, welcher nicht zu tolerierenden Ideologie (rechtsextrem) die AfD anhängt. Wer diese Partei wählt, schickt Nazis in den Bundestag.

#niewiederfaschismus

Am 10. Juli starb Esther Bejarano. Die Auschwitz-Überlebende sang gegen Nazis an. Sie hat bis zu letzt die Stimme gegen Rechts erhoben. Nie wieder Faschismus war eines ihrer Motti, das wir uns alle auf die Fahnen schreiben sollten. Bahle, Waldvogel & ihr Team heizen mit ihrer großartigen Geschichte, die durch Crowdfunding entstanden ist, die Fantasie nun weiter an, was man noch alles gegen Rechts unternehmen kann. Die Vogelfutteraktion live zu sehen, wäre natürlich ein enormer Spaß – aber die rechtlichen Konsequenzen mag man natürlich niemandem zumuten. Vielleicht wäre es auch zu viel der Ehre für diese Partei …
Ich denke, Esther Bejarano hätte diese Graphic Novel gefallen. Denn diese Geschichte ist eine Art, über die rechten Strömungen in unserem Land aufzuklären und dagegen die Stimme zu erheben. Möge das Guano Project viele Leser:innen finden, die diese Geschichte ins Land tragen und davon berichten. Ganz in Bejaranos Sinne von #nichtschweigen. Vielleicht machen dann nicht mehr ganz so viele Menschen ihr Kreuzchen bei den Blaubraunen.

Frauke Bahle & Julian Waldvogel: Vogelschiss. Die Graphic Novel gegen Rechts, Guano Project, 2021, ab 16, 24 Euro

Gerechtigkeit schaffen, Erinnerung bewahren

Klarsfeld

Man könnte sich fragen: Warum sollte man eine Graphic Novel über ein deutsch-französisches Paar lesen, das jüngeren Deutschen vermutlich nichts sagen wird? Der Titel Beate & Serge Klarsfeld, die Namen des Ehepaars, erinnert Älteren vielleicht reflexartig an diese eine Ohrfeige von damals. Erst der Untertitel könnte jüngere Lesende neugierig machen: Die Nazijäger. So wenig aufschlussreich ersterer ist, so reißerisch und neugierigmachend ist letzterer. Und Neugierde braucht man, um sich dieser komplexen Bildergeschichte zu widmen.
Autor Pascal Bresson und Illustrator Sylvain Dorange widmen sich ausführlich dem Ehepaar Klarsfeld, die in Frankreich eine Institution, hierzulande jedoch schon fast in Vergessenheit geraten sind.

Eine naive Deutsche in Paris

Anfang der 1960er Jahre lernen sich Beate, die als Au-pair-Mädchen in Paris arbeitet, und der Politikstudent Serge in Paris kennen – genau an dem Tag, als Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt wird. Beate ist etwas überfordert von den Geschichten, die Serge ihr daraufhin erzählt. Seine Familie wurde nach Auschwitz deportiert, sein Vater dort ermordet. Doch aus dieser anfänglichen Überforderung entsteht eine Haltung, die die beiden jungen Leute zusammenschweißt und zu den Aufklärenden der Nazi-Verbrechen in Frankreich werden lässt. Beate bleibt in Frankreich, heiratet Serge, sie gründen eine Familie. Als in Deutschland Kurt Kiesinger, ein ehemaliger Nazi, Bundeskanzler wird, brennen bei Beate quasi alle Lampen durch und sie fährt 1968 zum Parteitag der CDU – wo sie dem Kanzler vor aller Augen eine knallt.

Die Suche nach den Verbrechern

Ihre französische Staatsbürgerschaft rettet sie vor dem Gefängnis. Doch nun hat sich Beate festgebissen und fängt zusammen mit Serge an, nach den Nazi-Verbrechern zu suchen, die in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden und untergetaucht waren. Darunter Alois Brunner, Josef Mengele, Klaus Barbie …
In farbig abgesetzten Rückblicken schildern Bresson und Dorange die Verbrechen der Täter. So ließ Klaus Barbie im April 1944 ein Waisenhaus in Izieu räumen und 44 jüdische Kinder und sieben Erzieher nach Auschwitz deportieren, wo sie sofort in den Gaskammern ermordet wurden.

Mühsame Suche in Archiven

Beate agitiert nach außen, Serge recherchiert akribisch in Archiven. Ein Umstand, der heute durch das Internet kaum noch im Bewusstsein ist: Damals war es mühsame Fleißarbeit, alte Akten durchzuarbeiten und dann meist zufällig auf wichtige Unterlagen und Beweise zu stoßen. Nichts war mit einem Klick einsehbar.
Das Ehepaar Klarsfeld jedoch macht einfach immer weiter, die beiden machen Überlebende von damals ausfindig, knüpfen Kontakte zu einflussreichen Politikern und Staatsanwälten, können Zeugen zur Aussage überreden. Sie kommen Klaus Barbie auf die Spur, der sich wie so viele Nazis nach Südamerika abgesetzt hat, planen ihn zu kidnappen.

Von Feinden und Bedrohungen

Aber sie machen sich auch Feinde. Anonyme Anrufer bedrohen sie, Scheiben werden eingeschmissen, Briefbomben verschickt und schließlich fliegt ihr Auto in die Luft …
Am Ende jedoch, nach langen, unermüdlichen Jahren können sie Klaus Barbie verhaften und nach Frankreich ausliefern lassen. Diese Tatsache ist bekannt und daher besteht hier kein Spoileralarm.

Hommage an die Klarsfeld

Die Autoren haben in dieser Graphic Novel dem Ehepaar Klarsfeld und ihren herausragenden Verdiensten quasi ein Denkmal gesetzt. Die langen Jahre der Jagd lesen sich in dieser gekonnten Verflechtung von Szenen einer harmonischen Ehe, Aufklärungsarbeit und Geschichte des 2. Weltkriegs wie ein Krimi. Hier zeigt sich, dass die Bestrafung von Nazi-Tätern, die heute manchmal nur Randnotizen in den aktuellen Zeitungen sind, keine Selbstverständlichkeit war. Zu viele Widerstände gab es in Politik und Gesellschaft, das analoge Leben erlaubte kaum schnelle Reaktionen und Ergebnisse, zu geschickt hatten sich die Täter auf anderen Kontinenten in Sicherheit gebracht.

Aufklärungsarbeit – Erinnerungsarbeit

Die Klarsfeld haben zur Aufklärung der Verbrechen und der Bestrafung der Täter beigetragen und zudem erinnern sie an die deportierten Kinder aus Frankreich während der Shoah. Sie sind Vorbilder in der Unnachgiebigkeit und Zähigkeit, mit der sie diesen Kampf geführt haben, sie zeigen, wie wichtig das Aufarbeiten und Erinnern war und immer noch ist. Gerade auch in heutigen Zeiten, in denen die letzten Zeitzeugen gehen, die Täter kaum noch belangt werden können.
All dies sind die Gründe, warum man diese Graphic Novel lesen muss.

Pascal Bresson/Sylvain Dornage: Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger, Ü: Cristiane Bartelsen, Carlsen, 2021, 28 Euro

Auf der Suche nach Italien …

in italienischen Kinder- und Jugendbüchern in Deutschland

2018 habe ich hier zum ersten Mal einen Überblick über die italienische KJL in Deutschlang geliefert. Nun habe ich mich erneut gründlich umgesehen, was es denn so Italienisches für Kinder und Jugendlichen auf dem hiesigen Markt gibt – und ich muss sagen: Es hat sich so einiges getan.
Hatte ich vor drei Jahren den Eindruck, dass die Bücher aus Italien noch irgendwie überschaubar sind, so präsentierte sich mir nun eine immense Vielfalt (vielleicht liegt das auch an einer besseren Recherche…). Nicht alles davon konnte ich im Detail lesen, doch die Tendenzen und Strömungen lassen sich auch so ganz gut erfassen. Auch hier gilt wieder, dass dieser Überblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, zu mannigfaltig sind die Publikationen, sodass ich vermute, dass ich auch weiterhin noch das eine oder andere übersehen habe.

Die gefundenen Publikationen habe ich nach gewissen Kategorien geordnet, um ein bisschen Ordnung zu schaffen. Dabei kam heraus, dass italienische Bücher nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind, sieht man mal von den italienischen Autor:innennamen ab. In den 1990er Jahren während meines Studiums der italienischen Literatur hatte einer meiner Professoren immer betont, dass italienische Autor:innen nur über Italien schreiben. Einen gewissen Zweifel hatte ich damals schon, doch nun, durch diesen Blick auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre, zeigt sich, dass diese Behauptung unhaltbar ist, selbst bei Kinder- und Jugendbüchern. Daher habe ich mich mal auf die Suche nach Italien und der Italianità, dem Italienischen an sich, in diesen Publikationen gemacht …

Den Auftakt machen aber auch dieses Mal die italienischen Klassiker. Denn quasi kein Herbst- oder Frühjahrsprogramm kommt ohne zumindest einen italienischen Autor aus: Carlo Collodi.

Klassiker

Italien

Die unzähligen Ausgaben von Pinocchio zeichnen sich heute dadurch aus, dass es sich dabei nicht um Neuübersetzungen, sondern um Neugestaltungen bzw. Neuillustrationen handelt. So beispielsweise bei der Ausgabe aus dem Coppenrath Verlag, bei der das Designatelier MinaLima aus London holzschnittartige Illustrationen und aufwändige Extras geliefert hat. Da kann man ein Minitheater aufklappen, Fingerpuppen ausschneiden, Pinocchio als Hampelmann zappeln lassen und ihn mit neuen Kleidern bestücken. Diese filigranen und empfindlichen Kunstwerke veredeln die altbekannte Geschichte um den hölzernen Lausbuben und sind fast zu schade, um sie aus dem Buch zu trennen und zu bespielen.
Die Übersetzung dieser Ausgabe stammt von Paula Goldschmidt. Sie stammt aus den 1960er Jahren – so habe ich es zumindest aus den Eintragungen in der Deutschen Nationalbibliothek entnommen. Da mich das nicht sehr befriedigt hat und ich über Paula Goldschmidt auch sonst noch keine weiteren Informationen gefunden habe, habe ich weiterrecherchiert. In diesem Zuge habe ich mir die verschiedenen Pinocchio-Übersetzungen etwas intensiver angesehen – quasi als berufsbedingte Übersetzerin-Fortbildung, weil ich einfach neugierig geworden bin. Das Ergebnis ist ein ellenlanger Riemen geworden, den ihr hier findet, und eine Fotoserie auf Instagram.

Die Beschäftigung mit Collodi spülte mir dann auch noch die Übersetzung seines Buches Pipì, der kleine rosarote Affe auf den Bildschirm. Hierin lässt Collodi einen kleinen Affenjungen pinocchieske Abenteuer erleben. Der neugierige Pipì verlässt seine Familie, erkundet die Welt, wird zum Kaiser einer verstrittenen Affenbande, verliert seinen Schwanz an ein hungriges Krokodil … den er von einer Fee zurückbekommt, wenn er denn seine Versprechen einhält. Das hört sich bekannt an, Collodi hat hier seine Ursprungsidee noch mal wiederverwertet, kommt aber an seinen echten Pinocchio natürlich nicht heran. Da helfen dann auch die Illustrationen von Axel Scheffler nicht wirklich. Zudem wurde Collodis Werk leider auf Grundlage eines englischen Textes ins Deutsche übersetzt, ist also ein Fall von Stiller Post, was eigentlich nicht üblich und keine guter Stil ist.

Als weiterer italienischer Kinderbuch-Klassiker ist eine kurze Geschichte von Gianni Rodari bei Eulenspiegel erschienen: Die Geschäfte des Mister Cat in der Übersetzung von Giulia Engler ist ein typischer Rodari, der in seinen Texten die absurden Gebaren unserer Wirtschaft und Gesellschaft aufs Korn nimmt. Da will nämlich Mister Cat reich werden und überlegt sich ein Geschäftsmodel – Mäuse in Dosen – und organisiert, besorgt Dosen, malt Plakate, stellt Verkäuferin und Lieferjunge an, nimmt Bestellungen entgegen, hat aber noch gar keine Mäuse für seine Dosen. Das kommt einem in Zeiten von Hypes um Produkte, seien es die neuesten Smartphones, Klopapier, Impfdosen und Schnelltests irgendwie bekannt vor. Die jungen Adressaten dieser entzückend illustrierten Geschichte erfahren hier so einiges über marktwirtschaftliches Denken bzw. die Abgründe desselben – und dass wir die Rechnung nie ohne den Wirt, besser gesagt die Mäuse machen sollten.

Die Italianità, also das typisch Italienische ist in diesen Klassikern nicht zu finden, sind sie doch eher universelle Märchen. Am ehesten spiegelt sich Italien in den erzählenden Jugendbüchern, so dachte ich es zunächst, doch auch in diesem Bereich lässt sich Erstaunliches entdecken.

erzählende Jugendbücher

Zwei aktuellere Jugendbücher – Der Sonne nach von Gabriele Clima und Alles ganz normal von Roberta Marasco – spielen ganz offensichtlich in Italien, auch wenn die Hauptorte nicht namentlich benannt werden. Italienische Figurennamen und das gesamte Setting der Real-Geschichten vermitteln einen Hauch Fremdheit, ohne dabei völlig exotisch zu wirken.
Clima erzählt die Geschichte von Dario, der zur Strafe für sein respektloses Verhalten in der Schule, den spastisch gelähmten Andy betreuen muss. Irgendwann hat Dario es satt und haut zusammen mit Andy ab. Es beginnt ein intensiver Roadroman, übersetzt von Barbara Neeb und Katharina Schmidt, der die zwei unterschiedlichen Jungs immer näher bringt und so eine Lanze für Inklusion und Menschlichkeit bricht.

Italien

Roberta Marasco widmet sich in ihrem Roman dem Thema Menstruation, das bisher in Deutschland hauptsächlich in Sachbüchern behandelt wurde. Sie erzählt aus der Sicht der schüchternen Camila und der erfolgreichen Tiktokerin Luna. Haben die Mädchen anfangs nicht miteinander gemein, so werden sie durch schulische Umstände zu einem Team. Als dann durch eine fiese Gemeinheit ein ungeschicktes Video Camilas, in dem sie über ihre erste Regel spricht, viral geht, entwickelt sich zwischen den Mädchen ein ganz besonderer Teamgeist.

Italien paart sich in diesen beiden Geschichten mit universellen Themen, die für unsere Gesellschaft relevant sind und daher möglicherweise etwas länger in den Buchhandlungen und Bibliotheken zu finden sein werden.

Anders als die beiden Romane von Francesco Gungui, die mir erst jetzt untergekommen sind und beide vom Team Neeb/Schmidt übersetzt wurden. Ich mag dich wie du bist. Es passt … oder eben nicht (2011) und Ich mag dich immer noch, wie du bist. Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage (2012) sind zwei eher seichte Liebesromane für Jugendliche. Im ersten Teil macht die 16-jähre Alice gezwungenermaßen Campingurlaub in Apulien und kommuniziert via Netz mit ihrem Freund Luca, doch im zweiten Teil zieht dieser zum Studium nach San Francisco, womit sich der italienische Blick bereits weitet und international wird.

Alles andere als Italien hat Autor Davide Morosinotto im Sinn. In seinen Abenteuerbüchern, von denen mittlerweile drei auf Deutsch erschienen sind, alle übersetzt von Cornelia Panzacchi, erzählt er von fernen Zeiten und fremden Ländern. 2017 machte er mit seiner Mississippi-Bande in Deutschland Furore, war damit für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. In seinem Debüt entführte er die Lesenden in die USA des 19. Jahrhunderts. Nur ein Jahr später folgte Verloren in Eis und Schnee, worin es in den Kriegswinter 1941 in der UdSSR geht. Bezeichnend für Morosinottos Bücher sind die opulenten Illustrationen, die die Lesenden unterhalten, durch geografische Karten weiterbilden und die Lektüre zu einem kurzweiligen Vergnügen machen. So auch in dem aktuellen Buch Der Ruf des Schamanen, das im peruanischen Amazonasgebiet spielt. Morosinotto schickt seine kleinen Protagonisten stets auf »Reisen«, auf denen sie die diversesten Probleme überstehen müssen, um schließlich zu sich selbst zu finden. Das ist spannendes Lesefutter, bei dem die Leser:innen mitfiebern können, etwas lernen und jede Menge Spaß haben. Für den Oktober dieses Jahres ist bereits das nächste Buch angekündigt: Die Rebellen von Salento … scheinbar lässt er in seinem Erstlingswerk (das nun nach dem Erfolg auch veröffentlicht wird) die Geschichte in Italien spielen. Ich werde es herausfinden.

Italien

Pierdomenico Baccalario, bekannt für seine Ulysses-Moore-Reihe, veröffentliche 2015 die wahre und äußerst grausame Geschichte des afghanischen Jungen Hazrat in Dem Leben entgegen (Ü: Barbara Neeb und Katharina Schmidt). Hazrat erlebt in seinem Zuhause Schrecken und Gewalt, als sein Vater durchdreht und die Mutter sowie einige seiner Geschwister niedermetzelt. Hazrat kommt zunächst bei Verwandten unter, doch das bewahrt ihn nicht vor weiterer Gewalt. Er flieht und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und landet schließlich in einer Koranschule, in der er zum Selbstmordattentäter ausgebildet werden soll – was er jedoch nicht eindeutig erzählt. Ihm gelingt die Flucht. Nach einen jahrelangen Aufenthalt im Iran schlägt Hazrat sich schließlich nach Italien durch. Dieses Land spielt hier nur am Ende von Hazrats Geschichte eine Rolle, quasi als Rettung für den Jungen, der hier als Minderjähriger unproblematisch Aufnahme findet.

Kinderbücher

Bei den Kinderbüchern ist es mit der Italianità bereits wieder vorbei. Hier erzählen italienische Autor:innen universelle Geschichten, die zum Teil nicht einmal mehr in Italien spielen. So beispielsweise in der Reihe Ein Fall für Me, Mum & Mystery von Lucia Vaccarino, übersetzt von Bettina Dürr und Birgit Ulmer. Hier dreht sich alles um das Detektivbüro von Emily und ihrer Mutter Linda im englischen Kent, das die beiden von einem verstorbenen Onkel erben.
In gerade einmal drei Bänden aus dem Jahr 2016 lösen Mutter und Tochter (harmlose) Kriminalfälle, wie sie für 9-jährige Mädchen eben geeignet sind. Die Bücher sind nur noch antiquarisch zu haben – oder stehen in den Stadtbibliotheken.

Vaccarino gehört, ebenso wie Morosinotto, zur Storytelling-Agentur Book on a Tree. 2014 gegründet von Vielschreiber Pierdomencio Baccalario, arbeitet hier ein großes Team aus mehr als 50 Autor:innen und mehr als 100 Illustrator:innen an unzähligen Geschichten, die international funktionieren. Im Grunde kann man hier von einer Geschichten-Fabrik sprechen, die allerdings ziemlich gut den Geschmack der breiten Masse treffen und unzählige Bücher auf den Markt werfen, von denen jedoch nur verhältnismäßig wenige ins Deutsche übersetzt werden.

Ans und ins Meer entführen aktuell Elisa Sabatinelli und Iacopo Bruno die Leserschaft in Emilio und das Meer. Der kleine Held Emilio will unbedingt Taucher werden wie sein Vater, denn er kann ohne das Meer nicht leben. In einem namenlosen Dorf erkundet er schließlich mit einem zusammengesuchten Taucheranzug – der eher an 20000 Meilen unter dem Meer von Jules Vernes erinnert, als an modernes Sporttauchen – die Unterwasserwelt. Als der Junge dort unten tatsächlich eine sagenumwobene Perle findet, nimmt auch an Land das Abenteuer seinen Lauf und er muss es mit einem ausgemachten Bösewicht aufnehmen.
Illustriert hat diese Geschichte, in der es auch um den Respekt der Natur geht, Iacopo Bruno, ein Schwergewicht der Illustrator:innen-Szene (er hat die aktuellen deutschen Harry-Potter-Cover neu gestaltet). Seine maritimen Bilder besitzen eine antike Patina, die in die Welt von Seebären, Tauchern und fiesen Geschäftsmännern, aber auch in mystische Unterwasserwelten entführt. Sie sind wahrlich eine Augenweide.

Italien

Mit Die Kinder der verlorenen Bucht (Ü: Barbara Neeb/Katharina Schmidt) liefert Luca di Fulvio, der eigentlich für seine historischen Unterhaltungsromane bekannt ist, 2016 eine Fantasy-Abenteuergeschichte für junge Leser:innen. Darin müssen die Freunde Lily, Max und Red zusammen mit der Möwe Luigi eine Bucht erkunden, in der immer wieder Kinder verschwinden.

Bis auf die Namen einiger Figuren (Lehrer Tappabucchi) und Orten wie der Baia del Sole (Sonnenbucht) ist auch hier nicht viel Italianità zu finden. Das Bestehen von Abenteuern und der Kampf gegen fantastische Bösewichte ist einfach zu universell, um sie auf ein Land zu beschränken.

2018 brachte der Verlag Jacoby & Stuart Fulivo Tomizzas Kinderbuch Die Flöhe in der Oper neu heraus. Bereits 1997 war es in der Übersetzung von Edmund Jacoby im Gerstenberg Verlag erschienen. Quasi eine zeitliche Mogelpackung – oder vielleicht auch eher ein Klassiker, das Tomizza seine belletristischen Hauptwerke schon in den 1960er bis 1980er Jahren in Italien veröffentlichte. Seine Geschichte der Flohfamilie, die ein Opernhaus besucht und dort für Verwirrung sorgt, ist jedoch zeitlos lustig und entführen die jungen Leser:innen in diesen ganz speziellen Musikkosmos. Der Anhang »Alles über die Oper« erklärt dann die wichtigsten Begriffe, Komponisten und Werke. Illustriert hat Axel Scheffler, der Schöpfer des Grüffello.

Italien

Susanna Tamaro, die seit Ende der 1990er Jahre dem Buch Geh wohin dein Herz dich trägt bekannt ist, hat 2017 ein weiteres Kinderbuch veröffentlicht (schon in den 1990er Jahren sind ihre Kinderbücher ins Deutsche übersetzt worden). Mit Bart, das sprechende Huhn und der Hüter der Weisheit, übersetzt von Ingrid Ickler, nimmt sie die Technikgläubigkeit gewisser Eltern aufs Korn. Die Eltern von Bart haben viel zu tun und lassen ihren Sohn von den neuesten technischen Geräten überwachen. Als die Mutter seinen geliebten, aber hässlichen und nutzlosen Teddy wegwirft, bricht der Junge aus seiner überwachten Welt aus. Aufgrund der Leseprobe kann ich nur sagen, dass sich der Anfang durchaus witzig liest, aber auch mit einem moralischen Unterton daherkommt. Bei Gelegenheit werde ich die Geschichte zu Ende lesen.

Im vergangenen Herbst kam dann das Weihnachtsbuch Das Wunder von R. von Francesca Cavallo, in der Übersetzung von Daniela Papenberg, auf den Markt. Cavallo ist durch die Good Night Stories for Rebel Girls (s.u.) bekannt geworden. Wer dabei eine italienische Weihnachtsgeschichte erwartet, wird eher enttäuscht. Die Stadt R. könnte in jedem Land liegen, der Ort ist nicht wirklich wichtig. Das Besondere an diesem aufwändig illustrierten Buch ist die Familienkonstellation: Zwei Mütter ziehen mit ihren drei Kindern in die Stadt R., weil sie hier keine Repressalien wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe fürchten müssen. Diese Liebe erzählt Cavallo als etwas völlig Selbstverständliches und greift dann in die Fantasy-Kiste, um einen Weihnachtsabend zu schildern, bei dem die drei Kinder zusammen mit einer Horde Elfen dem Weihnachtsmann helfen, all die Geschenke für die Kinder der Welt zu packen.
Die Illustrationen von Verena Wugeditsch machen zudem die Diversität der Figuren an ihren unterschiedlichen Hautfarben deutlich.

Italien

Bei meiner Recherche zu italienischen Kinderbüchern tauchte dann – seltsamerweiser – auch ein ganz schmales Bändchen von Elena Ferrante auf: Der Strand bei Nacht, übersetzt von Karin Krieger. Darin erzählt die Bestseller-Autorin aus der Sicht einer Puppe eine ziemlich beklemmende Geschichte. Die fünfjährige Mati bekommt von ihrem Vater ein Kätzchen geschenkt und vergisst daraufhin die heißgeliebte Puppe Celina am Strand. Der Grausame Strandwärter schiebt mit seinem Rechen am Abend all die vergessenen und verlorenen Dinge eines Strandtages zu einem Haufen zusammen und zündet ihn an. Der Puppe würde er gern ihre Worte entlocken und sie auf dem Puppenmarkt verkaufen. Puppe Celina fürchtet sich sehr, fängt schon fast Feuer, als eine Welle sie ins Meer spült, bis Matis Kätzchen sie am nächsten Tag zu dem Mädchen zurückbringt.
Dieser psychologisch durchkomponierte Albtraum à la E.T.A Hoffmann, mit ebensolchen Illustrationen von Mara Cerri, ist eher nichts für kleine Leseratten, sondern nur etwas für Hardcore-Fans von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga um die beiden genialen Freundinnen Lila und Lenu.

Fantasy

Im Bereich der Fantasy-Roman gibt es von Silvana De Mari, der Autorin von Der letzte Elf, die neue Reihe Das Erbe des Magierkönigs, in der Übersetzung von Barbara Kleiner. Ehrlich gesagt, kann ich mich leider nicht zum Lesen dieser Bücher aufraffen, da Fantasy einfach nicht mein Genre ist. Viel interessanter, ja erschreckender fand ich die Schlagzeilen, die die Autorin 2018 machte. Die studierte Ärztin hatte sich wiederholt abschätzig und verunglimpfend gegenüber der LGBT*-Szene geäußert. De Mari meinte, dass »Homosexualität zu tolerieren sei wie Pädophilie zu akzeptieren«, zudem behauptete sie, »LGBT* wolle die Meinungsfreiheit unterdrücken und verbreite Pädophilie«. Sie wurde daraufhin zweimal zu seiner Geldstrafe verurteilt. Im Zuge der Diskussionen, wie sehr man Autor:innen von ihren Werken trennen sollte, dürfte das eigentlich keine Rolle spielen. Dennoch bleibt – bei mir – ein unguter Nachgeschmack.

Zum Fantasy-Genre muss man sicher auch die kurzen Geschichte um die Zombie-Protagonistin Mortina von Barbara Cantini rechnen. Erstleser:innen erleben die leicht gruseligen Abenteuer des kleinen Zombie-Mädchens, das so gern mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielen möchte. Ein wenig erinnert die Villa Decadente, in der Mortina mit ihrer Tante Dipartita lebt, an die AdamsFamily. Die Bücher, bis dato sind vier Bände in der Übersetzung von Knut Krüger erschienen, bestechen durch ihre fantasievollen Illustrationen, die ebenfalls von der Autorin stammen.

Überaus lustig und mit Hintersinn kommt aktuell Fabrizio Sileis Orkobello daher. Er entführt die Leser:innen ins Monsterland, in dem alles hässlich, stinkend und fürchterlich ist. Je hässlicher, umso wohler fühlen sich die Monster, die Gestank und Müll lieben und um die gerechte Verteilung des Mülls streiten. Als der Bürgermeister Grollboll zum dritten Mal Vater wird und endlich der ersehnte Sohn geboren wird, bricht für ihn, den Hässlichsten und Stinkigsten von allen, jedoch eine Welt zusammen: Das Baby ist schön. Ganz wunderschön. Und der Junge Orkobello verhält sich in seinem weiteren Leben viel mehr wie die Menschen und verliebt sich schließlich sogar in ein Menschenmädchen. Orkobello ist ein herrlicher Spaß, um schlechten Geschmack, schlechte Manieren, Ekelkram und vor allem das Anderssein. Vorzüglich und mit Witz von Ingrid Ickler übersetzt.

Bilderbücher

Bei den Bilderbüchern findet sich eine wunderbare Vielfalt. So erzählt Marco Viale in Ich bin der König! mit wenigen Strichen und kaum Farbe von einem kleinen Angeber, der auf jeder Seite seine Grandezza herauspustet. Wie ein typischer Narzisst erklärt er, in der Übersetzung von Sebastian Hoch, was er alles hat, kann, macht. Er ist der Größte, der Beste, der Tollste. Sein Gegenüber kann immer nur mit »ich nicht« antworten, wenn der Angeber ihn fragt, ob er auch … Doch als es um die Dunkelheit geht, wendet sich das Blatt. Den ganz Kleinen wird hier fast spielerisch das Nachdenken über eigenes Verhalten näher gebracht, dass Angebertum eben nicht weiterhilft, wenn dann die Angst doch nicht beherrscht werden kann.

Italien

Farblich reduziert ist auch die Geschichte Schwarzer Kater, Weiße Katze von Silvia Borando, ebenfalls von Sebastian Hoch übersetzt. Hier werden die Gegensätze des Lebens thematisiert: schwarz, weiß, Kater, Katze, Tag, Nacht. Jede Facette im Leben und der Welt ist wichtig, jede hat ihre Funktion. Manches ist anders, manche macht einem vielleicht Angst. Doch dann zeigen Katze und Kater einander ihre Welten. Und so erkennen sie, dass sie sich gegenseitig ergänzen und das Leben erst dadurch rund und vollkommen wird.

Ein weiters Bilderbuch von Silvia Borando fällt unter die Kategorie »ohne Text« – gehört also eigentlich nicht in meine Kategorie der übersetzten Texte. Aber es ist eine entzückende Variante für ganz Kleine, genau hinzusehen: Ein Mädchen und ein Junge schauen aus dem Fenster und beobachten ein Vögelchen im Schnee, drei rosane Häschen, eine Katze und einen Bären. Die Action draußen ist cool, bis … ja, bis … der Bär Hunger bekommt. Als die Kinder nach draußen rennen, verändert sich die Lage. Und die Erwachsenen, die diese Geschichte vortragen, habe jede Menge Freiraum, die Bilder in eigene Worte zu fassen.

Tausendsassa Pierdomenico Baccalario hat in Zusammenarbeit mit Alessandro Gatti und den Bildern von Simona Mulazzani das Wendebuche Die Geschichte von Tropfen und Flocke herausgebracht (Ü: Elisa Collini). Jeweils aus der Sicht einer Schneeflocke und eine Tintentropfens wird die Sehnsucht geschildert, irgendwo anders zu sein. Der Wind spielt dann Schicksal und bringt die beiden schließlich zusammen. Mit zarten Cut-outs werden die Illus zunächst teilweise verdeckt, so dass nur die Farben durchschimmern und gerätselt werden kann, was sich hinter den durchbrochenen Seiten wohl befindet. Die Reisen, die Tropfen und Flocke machen, schüren die Neugierde und die Lust auf eigene Lebensreisen.

Wenn es um Italien in Bilderbüchern gibt, so findet sich das Land und seine Atmosphäre in den Alben Ein Strandtag und Ein Markttag von Susanna Mattiangeli und Vessela Nikolova, übersetzt von Lucia Zamolo, ganz besonders wider. Hier sind es namenlose Kinder, die alltägliche Situationen erleben und beobachten, sei es auf dem städtischen Wochenmarkt oder im Sommer am Meer. Da gibt es jede Menge Popos zu betrachten, Bäuche und Gesichter. Boote natürlich auch. Zwischen all den Füßen verliert man dann leicht den eigenen Sonnenschirm aus dem Blick. Auf dem Markt hingegen sind es die verschiedenen Stände mit den unzähligen Dingen, die sich dort erstehen lassen. In Italien sind das auf den Märkten aber eben nicht nur Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch, sondern auch Kleidungsstücke, Handschuhe, Stoffe, Schuhe, Haushaltswaren, Gürtel, Taschen, Strümpfe und Unterwäsche. Und in diesen fast etwas rotzig gemalten Quasi-Wimmelbildern steckt für mich die größte Nähe zu Italien, die meine Sehnsucht nach dem Land auf jeder Seite weckt. Eine Wonne, bei der ich schon das Stimmengewirr höre und die unterschiedlichen Düfte verspüre.

Italien

Ganz ohne Italien kommt die Mischung aus Kinder- und Bilderbuch Sie nannten uns die Müll-Kids von Davide Calì und Maurizio A. C. Quarello aus. In einem dystopischen Wüstenland leben Lizzy und ihre Freunde vom Müllsuchen und -verkaufen. Als sie eines Tages auf dem Müllberg Ararat ein ihnen unbekanntes Objekt finden, durchlaufen sie die ganze Kette von Käufern, bis sie zu einem Mann gelangen, der ihnen sagen kann, um was es sich dabei handelt …
Bei dem italienischen Autor Calì liegt die Besonderheit, dass er die Originalausgabe dieses Buches auf Französisch erschienen ist. Die Übersetzung hat Verleger Edmund Jacoby selbst besorgt. Dieses Buch besticht neben der Geschichte, vor allem durch die Bilder einer postapokalyptischen Wüstenwelt. Die Menschen tragen fast zeitlose Wüstenkleidung, sie reiten auf seltsamen Tieren, die aus Star Wars entsprungen zu sein scheinen. Man erfährt nicht, was genau geschehen ist, nur von einem Blauen Blitz erzählt Lizzy, nachdem nichts mehr so war wie früher. Wer sich auf diese Geschichte einlässt, wird danach jedes Buch mit anderen Augen sehen.

Auch bei den Bilderbüchern gibt es natürlich solche, die sich mit fantastischen Inhalten auseinandersetzen. Besonders aufgefallen ist mir dabei das Kompendium von Frederica Magrin über Die schrecklichsten Monster & Geister der Welt (Ü: Britta Köhler). Wenn man bei diesem Titel an Vampire, Drakula, Frankenstein oder Trolle denkt, ist man richtig. Doch Magrin geht weit über europäische Sagenfiguren hinaus, indem sie eine monstermäßige Weltreise unternimmt und Schreckgestalten von allen Kontinenten präsentiert, deren Namen hier zumeist unbekannt sind, wie die Schlange Ogopogo aus British Columbia in Kanada, der japanische Karura, ein Mensch mit Vogelkopf oder der Bulle Kujata von der arabischen Halbinsel. Das ist beste Kulturkunde für junge Leser:innen.

Italien

Für Drachenfans hat Federica Magrin zudem ein Kompendium über diese fantastischen Wesen verfasst, übersetzt von Birgit Franz. Diese stammen beispielsweise aus Vietnam, so wie Con-Rong, aus Kambodscha wie Neak oder aus Frankreich wie Tarasque. Kulturkunde vermischt sich hier mit Geschichte, wenn sie von heldenhaften Drachentötern wie Herakles oder dem Gott Susanoo berichtet. Am Ende möchte man an die Existenz dieser wundersamen Kreaturen wirklich glauben …

Biografien

Ein Phänomen, das seit ein paar Jahren den Buchmarkt überrollt, sind die die Biografie-Sammlungen. Darin finden sich die unterschiedlichsten Kurzbiografien zu mal mehr, mal weniger berühmten Persönlichkeiten in mal mehr, mal weniger sinnvoller Fokussierung und Zusammenstellung.

Ausgangspunkt war das Buch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo – ja, die Autorin vom Das Wunder von R. –, das die beiden jedoch auf Englisch verfasst haben. 2017 erschien es in der Übersetzung von Birgit Kollmann und bedarf eigentlich keiner weiteren Worte. Der Erfolg dieser Compilation von rebellischen Frauen löste jedoch eine wahre Welle von Nachahmer-Sammlungen. So beispielsweise der großformatige Heldenatlas von Miralda Colombo, in der Übersetzung von Eva Baumgart-Catania und mir, in dem dann nicht nur Frauen versammelt sind, sondern in kurzen Textschnipseln auch bedeutende Männer.
Renzo Barsotti lädt dann in seinem Kompendium die Leser:innnen dazu ein: Entdecke über 200 starke Frauen und wie sie die Welt verändert haben. Auch hier sind es nur kurze Texte, die jedoch mit zahlreichen Fakten gespickt sind. Meine Kolleginnen Katharina Schmidt, Barbara Neeb und ich haben beim Übersetzen gefühlt eigentlich mehr recherchiert als übersetzt.

Verschiedene Geschlechter sind auch in den Storys für Kinder, die die Welt retten wollen von Carola Benedetto und Luciana Ciliento vertreten (meine Ü). Hier jedoch liegt der Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz, den sechzehn Prominente sich auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die beiden Autorinnen stellen in relativ langen Kapiteln das Engagement von Menschen wie Leonardo Di Caprio, Emma Watson, Rigoberta Menchù, Greta Thunberg oder Sebastiaõ Salgado vor. Die Bandbreite der vorgestellten Persönlichkeiten und ihrer Schwerpunkte ist beeindruckend, denn es geht nicht nur um Gretas Klima-Anliegen, sondern auch um Wiederaufforstung, Menschenrechte, sauberes Wasser oder die Folgen der Fast-Fashion.

Italien

Überhaupt Greta: Die Klima-Aktivistin und Fridays-For-Future-Auslöserin hat selbst ein Reihe von Publikationen für junge Lesende inspiriert. Die Lebensgeschichte der jungen Frau wird darin in den bis dato bekannten Details erzählt, um Kinder und Jugendliche zum Nachahmen anzuregen. Warum dabei gerade italienische Autorinnen so zahlreich vertreten sind, wird wohl ein Rätsel bleiben.

Italien

Viviana Mazza hat dann auch gleich noch 13 weitere Jugendliche aus aller Welt recherchiert, die sich neben Greta fürs Klima einsetzen, und liefert deren Lebensläufe in kurzen Kapiteln in den Stories für Future, in der Übersetzung von Sophia Marzolff. Darin begehrt Emma Gonzalez gegen die US-amerikanische Waffenlobby auf, Nojoud Ali aus dem Jemen rebelliert gegen Zwangsverheiratungen oder Negin Khpalwak aus Afghanistan befasst sich mit Musik, was den Mädchen im Land eigentlich verwehrt ist. Hier zeigt sich, dass es viele Fronten gibt, an denen wir uns engagieren können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Federica Magrin, Stammautorin im White Star Verlag (s. Bilderbücher), liefert in Helden der Zeitgeschichte 20 Biografien von Menschen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, deren Zusammenstellung keine eindeutige Linie erkennen lässt. Hier kommt es mir eher so vor, als wollte der Verlag bei einem Trend mitmachen, ohne ein klares Profil zu bieten. Zu White Star folgen unten noch ein paar Worte.

Biografien sind generell auch in der KJL ein dankbares Genre, so hat der Arena Verlag schon in den Nuller Jahren allein eine ganze Reihe dazu herausgebracht (Ü: Anne Braun). Der Autor Luca Novelli widmet sich in etwa einhundert Seiten langen Monografien herausragenden Persönlichkeiten – zumeist Männer – der Wissenschaft.

Italien

Die Reihe Lebendige Biographien zeichnen sich dadurch aus, dass Novelli die Protagonisten aus der Ich-Perspektive von ihren Entdeckungen und Theorien erzählen lässt. Angereichert sind die einfach formulierten Texte mit Comiczeichnungen der Figuren und Sprechblasen – à la Gregs Tagebuch. Schwarzweiß abgedruckte Gemälde und Fotos vermitteln einen Hauch der vergangenen Atmosphäre. So kommen die großen Denker und Entdecker den Kids sehr nahe und vermitteln ihr Wissen auf eine verständliche Art. Novelli bekam dafür bereits 2004 in Italien den Andersen-Preis als bester populärwissenschaftlicher Autor. Dass Marie Curie als einzige Frau unter lauter Männern dargestellt wird, ist jedoch ein Mangel. 2020 ist in der Reihe zwar eine Biografie über Sophie Scholl, deren 100. Geburtstag gerade gedacht wurde, erschienen, jedoch nicht von Luca Novelli, und fällt damit nicht unter italienische Literatur.

Natur/Klima/Umwelt/Wissenschaft/Tiere

In den Bereichen von Wissenschaft, Natur, Umwelt, Klima und Tiere bietet sich mittlerweile eine enorme Bandbreite von Publikationen, die aus Italien kommen – aber natürlich Italien nicht zum Thema haben, sondern global gedacht sind.

Italien

Sowohl für Kinder als auch Jugendliche finden sich hier Sachbücher, die in kurzen Kapiteln Vorschläge machen oder Anregungen liefern, wie wir unser Leben nachhaltiger, klimafreundlicher und (umwelt-)gerechter gestalten können. So in Green Nation Revolution von Valentina  Giannella und Lucia Esther Maruzzelli (meine Ü).
Das literarische Multitalent Pierdomenico Baccalario spielt da gleich mit zwei Büchern mit: 50 Abenteuer für unter 12-Jährige und 50 kleine Revolutionen, mit denen du die Welt ein bisschen schöner machst, beide übersetzt von Sophia Marzloff.

Neben Umweltrevolutionen wie den eigenen CO2-Abdruck zu verringern, die Stadt vom Müll zu befreien oder sich eine Woche vegetarisch zu ernähren, gibt es aber auch so kuriose Anregungen, wie etwas ohne Wikipedia zu recherchieren, zehn Kilometer zu wandern oder ein altes Buch zu lesen. Baccalario und Mit-Autor Federico Taddia geht es dabei um fünf revolutionäre Anliegen: Aufmüpfigkeit, Umweltschutz, gute Taten, Verzicht und Neuentdeckungen. Eine bessere Ermunterung an die jungen Generationen unserer westlich verwöhnten Gesellschaft gibt es eigentlich kaum.

Um sich für die Weltverbesserung noch einen Überblick über unsere Erde ganz im allgemeinen zu verschaffen, gibt es diverse Atlanten, in denen junge Lesende sich vertiefen können: Ganz im Sinne von Stadt, Land, Stern …

Italien

Für den Atlas der Städte, quasi ein Wimmelbuch für Städtereisende, von Miralda Colombo und Ilaria Faccioli kann ich aus Übersetzerin-Sicht schildern, dass hier die Städte mit dem Fokus auf die Kinder, und was diese dort interessieren und unternehmen könnten, dargestellt werden. Wieder war es eine Fülle von Fakten und Infos, die das Übersetzen zeitweise mühsam gestaltet hat, aber das Ergebnis ist entzückend geworden.

Beim Space Atlas, in der Übersetzung von Dania D’Eramo, geht es dann in die unendlichen Weiten des Weltraums, zu den Sternen, Planeten und Galaxien. Technik-Afficionados und Sternenkucker:innen finden hier Interessantes über Raketen, Mondfahrzeuge, Satelliten und Raumanzüge.
Im Herbst wird es dann bei Carlsen eine Übersetzung von mir zum Thema Weltall geben, mit einem ganz wunderbaren Fokus auf die Frauen in der Astrophysik. Mehr dazu dann beim Erscheinen …

Von Stadt und Land können wir dann den Blick auf unsere tierischen Mitbewohner auf der Erde richten. Auch in diesem Bereich haben italienische Autor:innen so einiges zu erzählen, was nicht nur für Italien interessant ist.

Italien

Absolut entzückend und entsprechend der aktuellen Mode, Hühner als Haustiere zu halten, haben Barbara Sandri, Francesco Giubbilini und Camilla Pintonato quasi ein Kompendium über unser liebstes Federvieh zusammengestellt: Ich wollt‘ ich wär‘ ein Huhn besticht durch mitreißende Illustrationen und kuriose Details. So beispielsweise die Doppelseite über die verschiedenen Kämme der Hähne und ihren Ursprung in bei den Dinosauriern. Eierkunde und Hühnerassen-Parade fehlen ebensowenig wie die Anatomie von Hühnern. Hühnerliebhaber:innen und -halter:innen kommen an diesem Sachbilderbuch also nicht vorbei.

In das Reich der Insekten und anderer Tiere können kleine Forscher:innen dann mit den Büchern 100 % Prozent Insekten in Lebensgröße – dort mag das mit der Lebensgröße noch hinkommen – und 100 % Tiere in Lebensgröße eintauchen. Bei der Ausgabe mit den Tieren wird es schon schwieriger, denn einen Tiger in Lebensgröße im Buch, nun ja … Hier werden jedoch verschiedene Körperteile wie Krallen oder Zungen in Lebensgröße gezeigt. Die filigranen Illustrationen von Isabella Grott sind hier das absolute Faszinosum.

Beide Bücher sind im White Star Verlag erschienen, der noch einen kurzen Exkurs wert ist. Dieser Verlag, der zu DeAgostini gehört und in Mailand und Novara sitzt, produziert eher für den Massenmarkt und zeichnet sich aber durch hochwertige Illustrationen und Fotografien aus. Die Übersetzungen werden, wenn ich recht informiert bin, über Agenturen vergeben und unterliegen dem italienischen Verlagsrecht, sind von den Konditionen her für hiesige Übersetzer:innen eher unattraktiv (verbessert mich, wenn es da neue Entwicklungen gibt). Die Bandbreite der Veröffentlichungen von White Star reicht von Feen- und Drachenbücher, über geschichtliche Themen wie Wikinger oder das alte Ägypten, die zum größten Teil von Autorin Federica Magrin stammen. Da ich nicht alle Publikationen aus diesem Verlag real lesen und begutachten konnte, ist es hier zum Teil schwierig, die Übesetzer:innen ausfindig zu machen, da diese zumeist nur im Impressum erwähnt werden und daher bei manchen Bibliografien in Online-Buchhandlungen oder Büchereien nicht aufgeführt sind. Das ist generell kein gutes Zeichen für Übersetzer:innen, weil es bedeutet, dass der Verlag die Übersetzenden nicht angemessen nennt.

Psychologie

Ein Bereich, den ich bis jetzt tatsächlich noch nicht mit italienischen Kinderbüchern in Verbindung gebracht habe, sind psychologische Bücher, die für therapeutisch Zwecke eingesetzt werden können. So thematisiert Davide Calì, der Autor der Müll-Kids, beispielsweise im Buch Boris und der Ruf des Wasser, in der Übersetzung von Christel Rech-Simon, Andersartigkeit, Herkunft und eigene Wurzeln. Adoptivkinder, die auf der Suche mit ihrer Herkunft hadern, finden hier Trost und erhellende Gedanken.

Italien

Der Glücksverkäufer Herr Taube hingegen verkauft das Glück in großen oder kleinen Dosen an seinen gefiederten Mitbewohner im Wald, an Frau Wachtel, Frau Zaunkönig oder Frau Kohlmeise. Doch erst Herr Maus findet schließlich heraus, was in den Glücksdosen eigentlich steckt…
Von Davide Calì gibt es noch weitere Bilderbücher, die jedoch aus dem Französischen und Englischen übersetzt wurden, so Walfisch Wanda und So etwas tun Erwachsene nie.

In den Bereich der Psycho-Büchern gehört auch Wolkentage von Alice Brière-Haquet, das im Original auf Italienisch erschienen ist, obwohl die Autorin aus Frankreich stammt. Die kurzen Texte, in der Übersetzung von Christel Rech-Simon, drehen sich um Depression und werden von poetischen Illustrationen von Monica Barengo begleitet, die eine traurige Geigerin durch einen Tag begleiten. In der Reihe Carl-Auer Kids liefert die Herausgeberin und Übersetzerin Rech-Simon am Ende immer auch Hinweise für Eltern, Erziehende und Vorlesende, damit diese wichtigen Bücher auch ihre richtige Wirkung erzielen können.

Katholische Publikationen

Eine Kategorie von Büchern, die ich in meinem ersten Post über italienische KJL nicht berücksichtigt hatte, sind katholische Publikationen. Aktuell sind mir zwei passende Bücher untergekommen, die ich jedoch nur im Netz über Leseproben sichten konnte. In den Hamburger Bücherhallen sind sie nicht vorhanden – kein Wunder wohne ich doch im protestantisch geprägten Norden.

Bei Heilige Ritter, in der Übersetzung von Gabriele Stein, handelt es sich um eine Sammlung von kurz erzählten Legenden, um katholische Ritter wie der Hl. Georg oder der Hl. Martin. Clou ist im konfessionellen Kontext natürlich immer die Treue der Figuren zu Jesus und dem christlichen Glauben. Erstaunlich hier, dass der Verlag ausdrücklich »Für Jungen« in die Bibliografie schreibt. Ich erspare mir weitere Worte.

Italien

Für Kinder ab acht Jahren erzählt Theaterautor Marco Baliani, in der Übersetzung von Brigitte Korn-Wimmer, die Geschichte des Hl. Franziskus, der sich vom Sohn eines reichen Tuchhändlers zum Bettelmönch wandelte, die Nähe zur Natur suchte und den Franziskaner-Orden gründete. Zarte schwarzweiß Illustrationen von Brigitte Püls lockern die Lektüre auf.
Beide Bücher könnten auch gut unter dem Abschnitt Biografien laufen, doch der katholische Fokus erscheint mir schon wichtig, da hier mehr dahintersteckt als reine Information über legendäre oder historische Persönlichkeiten, sondern wie Tyrolia schreibt die »Hervorhebung religiöser Motivation«.

Graphic Novels

Bei den Graphic Novels gibt es mindestens drei Neuentdeckungen…

Ins Italien der 1960er Jahre führt Davide Reviati die Leserschaft mit seiner brikettgroßen Graphic Novel Dreimal Spucken, übersetzt von Myriam Alfano. In ausdrucksstarken schwarz-weißen Zeichnungen erzählt Reviati von einer Jugendclique in der Gegend von Rimini. Guido, Grisù und ihre Freunde hängen ab, kiffen, fallen durch Prüfungen an der Berufsschule, suchen Zeitvertreib in den Clubs der Küste. Und sie treffen immer wieder auf das Roma-Mädchen Loretta, das sie fasziniert, aber auch abstößt. Es vermischen sich die verschiedenen Welten der Jugendlichen und nach und nach dringt der Horror des Holocaust in die Seiten ein, den die Roma-Familie nur wenige Jahre zuvor erleben musste. Ein dichtes und kompliziertes Werk, das Aufmerksamkeit und mehrmalige Lektüre verlangt, um es vollständig zu begreifen.

Mit Andrea Serios Rhapsodie in Blau, übersetzt von Resel Rebiersch, tauchen wir ins faschistische Italien von 1938 ein. Nach einem unbeschwerten Sommer erlässt Mussolini die Rassengesetze und für den jungen Juden Andrea und seine Freunde ändert sich alle. Andrea wandert in die USA aus, kehrt aber während des 2. Weltkriegs nach Italien zurück. Serio erzählt eine wahre Geschichte in hauptsächlich blau gestalteten Buntstiftbildern nach, die die Absurdität von Faschismus und Krieg deutlich macht.

Matteo Mastragostino und Alessandro Ranghiasci liefern mit Primo Levi, in der Übersetzung von Georg Fingerlos, ein besonderes Stück Italien. Sie würdigen den Autor und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, indem sie seine Geschichte während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust nachzeichnen. Levi besucht hier als alter Herr eine Schulklasse und erzählt einer zum Teil aufmüpfigen Klasse von 12-Jährigen sein Schicksal. Die Erinnerung an das das Vernichtungslager Auschwitz und der große Zufall, dass Levi den Horror überlebt hat, werden in eindrucksvollen Bildern lebendig. Die Tragik ist dem gezeichneten Levi ins Gesicht gezeichnet, die Wirkung, die sein Bericht auf die Kinder hat, ist in einem rührenden Wandel der Kinder beschrieben. Mastragostino und Ranghiasci ist eine wichtiges Stück Erinnerungsliteratur gelungen, die zeigt, wie sehr auch italienische Juden Opfer der Nazis geworden sind.

Gipi, vermutlich DER Graphic Novel-Künstler der Gegenwart, liefert aktuell mit Aldobrando, in der souveränen Übersetzung von Ulrich Pröfrock, eine Mittelaltergeschichte um den einfältigen Titelhelden, der von seinem Meister in die Welt hinausgeschickt wird. Mit seiner unbedarften, offenen Art gelingt es Aldobrando, einen tyrannischen König zu stürzen, ungerecht Verurteilte zu befreien und die Liebe zu finden. Die zumeist sepiagefärbten Tuschepanels von Luigi Critone entwickeln einen filmischen Sog in eine klassische Abenteuer- und Entwicklungsgeschichte mit zeitloser Message.

Bereits 2018 hat Gipi mit der Dystopie Die Welt der Söhne einen Mega-Erfolg in Italien abgeliefert. Die deutsche Übersetzung hat auch wieder Myriam Alfano geliefert, die die gebrochene und verlorene Sprache der Brüder gekonnt umsetzt. Die Brüder leben mit ihrem Vater in einem Holzhaus auf Stelen mitten in einer Lagune – man könnte an das Valle di Comacchio denken. Die Welt, wie wir sie kennen ist zerstört, nur wenige Menschen haben eine Katastrophe überlebt und zerfleischen sich jetzt bei Gelegenheit gegenseitig. Die Jungs können weder richtig reden, noch lesen und wundern sich daher immer, was der Vater in ein seltsames Heft kritzelt. Als dieser eines Tages an einem Herzinfarkt stirbt, machen sich die Brüder zu anderen Menschen auf, die ihnen sagen sollen, was es mit dem Gekritzel auf sich hat. Die Rohheit und die fehlende Menschlichkeit der »Überlebenden« sind teilweise nur schwer zu ertragen.

2015 erschien auf Deutsch, in der Übersetzung von Giovanni Peduto, MSGL – mein schlecht gezeichnete Leben, die Geschichte seiner Jugend zwischen Drogenkonsum, Gefängnis, Liebesexzessen und eine mysteriösen „Pimmelkrankheit“. Entgegen des Titels ist hier natürlich nichts schlecht gezeichnet, ganz im Gegenteil. Hier muss man einfach einen Faible für etwas durchgeknallte Jungsgeschichten haben und darf nicht zimperlich sein.

Die Bände von Manuel Fior, die ich bis jetzt noch nicht gelesen habe, sind Die Übertragung und Die Tage der Amsel. Beide sind schon etwas länger auf dem Markt, was aber den Geschichten natürlich nichts anhat. Faszinierend fand ich Die Übertragung, übersetzt von Claudia Sandberg, komplett in schwarzweiß gehalten, mit „Spezialeffekten“ von Anne-Lie Vernejoul, wie der Autor selbst erzählt. Diese Effekte lassen manche Zeichnungen wie fotografische Solarisationen wirken, die an die Werke von Man Ray erinnern.
Der irren Geschichte von um Telepathie und außerirdische Phänomene kommt man tatsächlich erst nach und nach auf die Spur. Es gibt immer wieder leichte Irritationen, wenn es beispielsweise für normale Autos keine Ersatzteile mehr gibt oder von Unruhen die Rede ist. Wer die Hauptfiguren Dora und Rainiero verfolgt, wird sich in einem seltsam vertrauten Italien wiederfinden – die unübersetzten Schriftzüge im Stadt- und Straßenbild lassen keinen Zweifel an dem Land aufkommen.

In dem Erzählband Die Tage der Amsel, Übersetzung von Carola Köhler, hingegen finden wir uns in Berlin, Paris oder auch in Norwegen wieder. Hier zeigt sich die gesamt Bandbreite von Fior grafischem und zeichnerischem Können, denn jede Geschichte, manche sind nur zwei Seiten lang, sind unterschiedlich gestaltet – mit Ligne clair, aquarelliert oder mit Kohle gestaltet, Panels mit Rahmen oder ohne, dick oder dünn umrandet. Manuel Fior kann alles.
Und wir begegnen in einer Geschichte Dora wieder und erleben auch dort bereits seltsame Phänomene in einem Marmorsteinbruch. Für Fans von Fior ist dieser Band natürlich ein Muss.

Damit endet – für den Moment – der Blick auf die übersetzten italienischen Kinder- und Jugendbücher. Italien ist, wie gesehen, eher selten zu finden, sieht man von den Graphic Novels mal ab. Das liegt natürlich auch daran, dass hauptsächlich die KJL-Autor:innen ins Deutsche übersetzt werden, die eben nicht so italienisch schreiben, nicht nur Italien und seine Charakteristika in den Mittelpunkt stellen, die bei hiesigen jungen Leser:innen eher Verwirrung als Unterhaltung stiften würden. Universelle Geschichten verkaufen sich eben besser.
Wenn Italien 2024 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird, werden wir bis dahin sicher noch viele weitere italienische KJB auf Deutsch lesen können. Ich werde die Szene bis dahin weiter beobachten und wieder berichten …

Bibliografie

Klassiker

Carlo Collodi: Die Abenteuer des Pinocchio, Ü: Paula Goldschmidt, Illustration: MinaLima, Coppenrath, 2020, ab 10
Carlo Collodi: Pipì, der kleine rosarote Affe, Ü aus dem Englischen: Nicola T. Stuart, Illustration: Axel Scheffler, Jacoby & Stuart, 2018, ab 6
Gianni Rodari: Die Geschäfte des Mister Cat, Ü: Giulia Engler, Illustration: Karoline Grunske, Eulenspiegel, 2019, ab 8  

erzählende Jugendbücher

Roberta Marasco: Alles ganz normal, Ü: Ulrike Schimming, Carlsen, 2021, ab 12
Gabriele Clima: Der Sonne nach, Ü: Barbara Neeb/Katharina Schmidt, dtv, 2020, ab 12
Francesco Gungui: Ich mag dich wie du bist. Es passt … oder eben nicht und: Ich mag dich immer noch, wie du bist. Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage, beide Ü: Barbara Neeb/Katharina Schmidt, Baumhaus Medien, 2012 , ab 14
Morosinotto, Davide: Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 10. Aufl. 2017, ab 10
Morosinotto, Davide: Der Ruf des Schamanen. Unsere abenteuerliche Reise in das Herz der Dunkelheit, Ü: Cornelia Panzacchi, Illus: Paolo Domeniconi, Thienemann, 2021, ab 12
Morosinotto, Davide: Verloren in Eis und Schnee Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow, Ü: Cornelia Panzacchi, Carlsen, 2020, ab 12
Pierdomenico Baccalario: Dem Leben entgegen. Eine wahre Geschichte, Ü: Barbara Neeb, Katharina Schmidt, cbt 2015, ab 12

Kinderbücher

Lucia Vaccarino: Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Elefanten schwindeln?, Mitarbeit: Carolin Liepins, Ü: Birgit Ulmer
Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Geister Fahrrad fahren?, Mitarbeit: Carolin Liepins, Ü: Bettina Dürr
Ein Fall für Me, Mum & Mystery – Können Gänseblümchen sprechen?, Mitarbeit: Liepins, Carolin, Ü: Bettina Dürr, Schneiderbuch, 2016, ab 9
Luca Di Fulvio: Die Kinder der Verlorenen Bucht, Ü: Katharina Schmidt, Barbara Neeb, Boje, 2016, ab 9
Fulvio Tomizza: Die Flöhe in der Oper, Ü: Edmund Jacoby, Illustration: Axel Scheffler, Jacoby & Stuart, 2018, ab 8
Francesca Cavallo: Das Wunder von R. Ü: Papenberg, Daniela, Mentor Berlin, 2020 ab 8
Susanna Tamaro: Bart, das sprechende Huhn und der Hüter der Weisheit, Ü: Ingrid Ickler, lllus: Thomas M. Müller, Hanser, 2017, ab 10
Elena Ferrante: Der Strand bei Nacht, Ü: Karin Krieger, Illus: Mara Cerri, Insel Verlag, 2018 

Fantasy

Barbara Cantini (Texte und Illus):
Mortina – Wer klopft da an die Tür? Ü: Knut Krüger, dtv, 2020, ab 5
Mortina – Das große Verschwinden, Ü: Knut Krüger, dtv, 2020, ab 6
Mortina – Ein Mädchen voller Überraschungen, Ü: Knut Krüger, dtv, 2019, ab 5
Mortina – Schwindelei zur Ferienzeit, Ü: Knut Krüger, dtv, 2021, ab 5 
Silvana De Mari:
Das Erbe des Magierkönigs – Tochter des Lichts, Ü: Barbara Kleiner, cbt, 2018, ab 11
Das Erbe des Magierkönigs – Der Aufbruch, Ü: Barbara Kleiner, cbj, 2017, ab 11
Fabrizio Silei: Orkobello, Ü: Ingrid Ickler, Illustration: Fabrizio di Baldo, Knesebeck, 2020, ab 8
Federica Magrin: Die schrecklichsten Monster & Geister der Welt, Ü: Britta Köhler,Illus: Laura Brenlla, White Star, 2019, ab 8
Federica Magrin: Drachen. Eine faszinierende Reise durch die Welt der fantastischen Wesen, Ü: Birgit Franz, Illus: Anna Láng, ars edition, 2019, ab 8

Bilderbücher

Viale, Marco: Ich bin der König!, Ü: Sebastian Hoch, Illus: Marco Viale, Freies Geistesleben, 2020, ab 3
Pierdomenico Baccalario/Alessandro Gatti: Die Geschichte von Flocke und Tropfen, Ü: Elisa Collini, Illus: Simona Mulazzani, Bohem Press, 2014, ab 3
Silvia Borando: Schwarzer Kater, Weiße Katze, Ü: Sebastian Hoch, Freies Geistesleben, 2020, ab 2
Silvia Borando: Pass auf!, Freies Geistesleben, 2019, ab 3
Susanna Mattiangli: Ein Strandtag und Ein Markttag, Ü: Lucia Zamolo, Illustration: Vessela Nikolova, Bohem Press, 2020, ab 3
David Cali/Maurizio A. C. Quarello: Sie nannten uns die Müll-Kids, Ü: Eduard Jacoby, Jacoby & Stuart, 2020, ab 8

Biografien

Elena Favilli/ Francesca Cavallo: Good Night Stories for Rebel Girls. 100 außergewöhnliche Frauen, Ü: Birgitt Kollmann, Hanser 2017, ab 10 
Miralda Colombo: Helden-Atlas. 101 Frauen und Männer, die die Welt verändert haben, Ü: Eva-Baumgart-Catania, Ulrike Schimming, Illus: Ilaria Faccioli, Midas, 2019 , ab 6
Carola Benedetto/Luciana Ciliento: Storys für Kinder, die die Welt retten wollen, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Roberta Maddalena Bireau, Rowohlt, 2020, ab 9
Renzo Barsotti: Entdecke über 200 starke Frauen und wie sie die Welt verändert haben, Ü: Barbara Neeb, Ulrike Schimming, Katharina Schmidt, Ullmann Medien, 2020, ab 9
Viviana Mazza: Jeden Freitag die Welt bewegen – Gretas Geschichte, Ü: Christina Neiske, Illus: Elisa Macellari, DTV, 2019, ab 9
Valentina Camerini: Gretas Geschichte. Du bist nie zu klein, um etwas zu bewirken (Greta Thunberg), Ü: Thomas Albrecht, Heel Verlag, 2019, ab 6
Viviana Mazza: Stories for Future – 13 Jugendliche, die etwas bewegen, Ü: Sophia Marzolff, Illus: Paolo d’Altan, dtv, 2020, ab 12
Federica Magrin: Helden der Zeitgeschichte. Persönlichkeiten, die die Welt veränderten, Ü: Langue & Parole, Illus: Isabella Grott, White Star, 2019 ab 8
Arena Bibliothek des Wissens. Lebendige Biografien
Luca Novelli (Text eund Illustrationen):
Stephen Hawking und das Geheimnis der Schwarzen Löcher, Ü: Anne Braun, 2020, ab 11
Edison und die Erfindung des Lichts, Ü: Anne Braun 2006, ab 9
Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft, Ü: Anne Braun, ab 10
Galilei und der erste Krieg der Sterne, Ü: Anne Braun, 2005, ab 9
Archimedes und der Hebel der Welt, Ü: Anne Braun, 2006, ab 11
Newton und der Apfel der Erkenntnis, Ü: Anne Braun, 2009, ab 11
Einstein und die Zeitmaschinen, Übersetzung: Anne Braun, ab 9
Marie Curie und das Rätsel der Atome, Ü: Anne Braun, 2017, ab 11
Volta und die Seele der Roboter, Ü: Petra Kaiser, 2017, ab 9
Darwin und die wahre Geschichte der Dinosaurier, Ü: Anne Braun 2015, ab 11
Magellan und die Welt ohne Anfang und Ende, Ü: Anne Braun, 2015, ab 11
Mendel und die Antwort der Erbsen, Ü: Braun, Anne, 2. Aufl., ab 10

Natur/Klima/Umwelt/Wissenschaft/Tiere

Pierdomenico Baccalario/Federico Taddia: 50 kleine Revolutionen, mit denen du die Welt (ein bisschen) schöner machst, Ü: Sophia Marzolff, Illus: Anton Gionata Ferrari, DTV, 2019, ab 9
Pierdomenico  Baccalario/Tommaso Percivale: 50 Abenteuer, die du erleben solltest, bis du 12 bist, Ü: Sophia Marzolff, dtv, 2017, ab 9
Valentina  Giannella/Lucia Esther Maruzzelli: Green Nation Revolution. Klimajugend, grüne Ideen, New Economy, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Manuela Marazzi, Midas, 2020, ab 12
Mein großer Weltatlas. Die Vielfalt der Welt entdecken, Ü: Dania D’Eramo, Ullmann Medien, 2019, ab 7
Miralda Colombo: Atlas der Städte. Eine Reise um die Welt, Ü: Ulrike Schimming, Illustration: Ilaria Faccioli, Midas, 2020, ab 6
Mein großer Space Atlas. Sterne, Planeten, Galaxien, Ü: Dania D´Eramo, Ullmann Medien, 2020, ab 8
Fogato, Valter 100% Insekten in Lebensgröße, Ü: Annette Ostlaender, Illust: Isabella Grott, White Star, 2020, ab 7
Rita Mabel Schiavo: 100% Tiere in Lebensgröße, Ü: Annette Ostlaender, Illus: Isabella Grott, White Star, 2020, ab 7
Barbara  Sandri/ Francesco Giubbilini: Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn Wissenswertes über unser liebstes Federvieh, Ü: Christina Gauglitz, Illus: Camilla Pintonato, Die Gestalten Verlag, 2020, ab 7

Whitestar Verlag

Federica Magrin: Die Wikinger Spiel- und Entdeckerspaß, Ü: ?, Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 5
Federica Magrin: Survival-Guide für Prinzessinnen, Ü: Annette Osterlaender, Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 7
Federica Magrin: Das Alte Ägypten. Spiel- und Entdeckerspaß, Ü: Syliva Winnewieser, Illus: Laura Brenlla, White Star, 2020, ab 5
Federica Magrin: Die zauberhafte Welt der Feen, Ü: Annette Ostlaender, llus: Claudia Bordin, White Star, 2020, ab 6

Psychologie

Davide Calì: Boris und der Ruf des Wassers, Ü: Christel Rech-Simon, Illustration: Marco Soma, Carl-Auer 2018, ab 6
Davide Calì: Der Glücksverkäufer, Ü: Christel Rech-Simon, Illustration: Marco Somà, Carl-Auer, 2020, ab 4
Alice Brière-Haquet: Wolkentage, Ü: Christel Rech-Simon Illustration: Monica Barengo, Carl-Auer, 2016, ab 4
Sandro Natalini: Familie. Das alles sind wir – Bilderbuch über Zusammenhalt, Toleranz und Liebe Illustration: Sandro Natalini, Ü: Joshua Schulz, Loewe Verlag, 2020, ab 3

Katholische Publikationen

Alberto Benevelli: Heilige Ritter. Große Heilige und ihre Geschichten, für Jungen, Ü: Gabriele Stein, Illus: Loretto Serofilli, Tyrolia, 2017, ab 8
Marco Baliani/Felice Cappa: Franziskus steht Kopf. Das Leben des Franz von Assisi, Ü: Brigitte Korn-Wimmer, Illus: Brigitte Püls, Verlag Sankt Michaelsbund, 2016, ab 6

Graphic Novel

Davide Reviati: Dreimal spucken, Ü: Myriam Alfano, avant-verlag, 2020
Serio, Andrea: Rhapsodie in Blau, Zeichnungen: Andrea Serio, Schreiber & Leser, 2020
Matteo Mastragostino/Alessandro Ranghiasci: Primo Levi, Ü: Georg Fingerlos, bahoe books, 2017
Gipi/Luigi Critone: Aldobrando, Ü: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2021, 28 Euro
Gipi: MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben, Ü: Giovanni Peduto, Reprodukt, 2015
Gipi: Die Welt der Söhne, Übersetzung: Myriam Alfano, avant-verlag, 2018 
Manuele Fior: Die Tage der Amsel, Übersetzung: Carola Köhler, avant-verlag, 2018 
Manuele Fior: Die Übertragung, Ü: Carola Köhler, avant-verlag, 2013

Vom Tragen des Leids

Nils

Heute, am Gratis-Comic-Tag hätte ich mir einen Haufen Heftchen holen können, die mir Einblick in die neuesten Comics auf dem Markt liefern würden. Hab ich aber nicht. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis die Graphic Novel, Nils der Illustratorin Melanie Garanin zu lesen – obwohl ich um das schwere und bedrückende Thema dieser Geschichte wusste.

Melanie Garanin erzählt darin von ihrem Sohn Nils, der mit nicht einmal vier Jahren stirbt. Sie findet für dieses Unfassbare berührende, teils poetische Bilder aus klarem Strich und perfekt akzentuierten Aquarellfarben, die tatsächlich so mühelos erscheinen, wie es sich Garanin in ihrem Interview (s. unten) wünscht. Diese visuelle Mühelosigkeit und Leichtigkeit steht jedoch im Gegensatz zu der Schwere des Inhalts. Nils, der unerschrockene Ritter mit dem Laserschwert, erkrankt mit zwei Jahren an Leukämie. Die Familie – aus Eltern Melanie und Georg, sowie die drei Geschwister Artur, Greta und Julius – bangt um den Jüngsten. Mal scheinen die Prognosen gut, mal machen die Ärzte Hoffnung, mal verschlimmert sich Nils‘ Zustand, rein ins Krankenhaus, wieder raus. Ein fürchterliches Hin und Her, das per se schon kaum ein Mensch ertragen könnte. Irgendwann bekommt Nils Bauchschmerzen, deren Ursachen jedoch nicht festgestellt werden können. Er stirbt schließlich an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung, etwas das mit der richtigen Behandlung wohl hätte geheilt werden können. Doch »hätte«-Sätze sind in dieser Geschichte nicht erwünscht.

Empathielose Ärzteschaft

Dieses an sich schon Unerträgliche wird jedoch durch das Verhalten der Ärzteschaft noch gesteigert. Oberflächlich betrachtet wird sich um den Jungen gekümmert, sein »Fall« ist interessant, er soll Teil einer Studie werden. Die Behandlung wird durch die Studie bestimmt. Die Bedenken der Eltern räumen die Behandelnden aus dem Weg, besser gesagt, sie beachten sie eigentlich nicht, sondern reden darüber hinweg, hören nicht zu. Garanin markiert den Fachsprech der Ärzte und Ärztinnen in serifenloser, steriler Druckschrift, während sie selbst die Geschichte in einer fast krakeligen Schreibschrift erzählt. Diese Druckschriftblöcke mit dem unverständlichen Fachvokabular wirken wie undurchdringliche Mauern, hinter denen sich die Behandelnden verrammeln, nur um sich nicht auf eine menschliche Kommunikationsebene zu begeben. Niemand gibt zu, irgendeinen Fehler gemacht oder gar nachlässig gehandelt zu haben.
Garanin bedient sich bei diesen Dialogen einem fantastischen (im Sinne des Wortes) Erzähltrick, indem sie ihrer Schreibtischlampe Leben einhaucht und sie zur »Mitarbeiterin«, die die Behandlenden verhört. Mit aller Wut und berechtigter Penetranz befragt die Lampe Frau Doktor Königin Antibiotika-Aber, ohne dass es ihr gelingt, deren Schutzwall aus Fachsprech zu durchdringen. Es hat was liebevoll humoristisches, wie die Mitarbeiterin den »Hals« verdreht und nur durch winzige Striche an den Augen, die Mimik ändert – wenn es nur nicht so erschütternd wäre.
Denn hier zeigt sich neben all der Trauer, die die Familie durchmacht, die Wut, die so überaus berechtigte Wut auf ein System, das versagt hat, weil sich dort – immer noch! – Behandelnde für etwas Besseres, Reineres, Weißgöttisches, Wissenderes halten. Sie sind von besorgten Eltern abgenervt, verstecken sich hinter einer unverständlichen Sprache, lassen keine Gefühle und kein Mitgefühl zu, weil ihre Karriere, ihr Ruf und ihr Status auf dem Spiel stehen. Es wäre wohlfeil zu sagen, auch Mediziner sind Menschen, die Fehler machen, die unter Druck stehen. Natürlich. Doch wenn so etwas wie mit Nils versteht, sollte es selbstverständlich sein, Mitgefühl zu zeigen. Als Leserin blättere ich fassungslos weiter, hoffe auf irgendein winziges Zeichen irgendeiner Menschlichkeit. Doch nichts.

Bewundernswerte Stärke

Umso mehr bewundere ich die Stärke von Mutter Melanie und ihrer Familie, die sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben, wozu sie alles Recht hätten, denn das Weiterleben nach so einem Schlag ist anstrengend genug. Die Eltern kämpfen viel mehr für Aufklärung, wollen, dass die Behandelnden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen werden, ihre Fehler zugeben oder sich – zumindest – entschuldigen. Unnötig zu sagen, dass sie gegen Druckbuchstabenwände rennen, durch die kein menschliches Wort dringt.
Die Schreibschrift-Krakel-Erzählung hingegen ist durchzogen von allen menschlichen Regungen, inklusive einer leichten Ironie und einer guten Portion Humor. Denn »Humor ist in der Trauer sehr wichtig«, wie Garanin im Interview sagt. Und nur so scheint das alles in einem gewissen Maße ertragbar zu sein. Was jedoch nicht verhindert hat, dass mein Exemplar ein paar Tränen abbekommen hat, die sich in den Aquarellfarben auflösten.

Von Gänsen und Kämpferinnen

Im vierten und letzten Kapitel kämpft eine – imaginäre – Ritterschar für den kleinen Ritter Nils, für große, allumfassende Gerechtigkeit, darum, dass wenigstens einige um Verzeihung bitten. Am Anfang und am Ende fliegen Gänse. Eine von ihnen markiert jedes Kapitel, sie trägt ein Laserschwert und erinnert mich sehr stark an Wolf Erlbruchs Ente aus Ente, Tod und Tulpe – was ich als wunderschöne Hommage empfinde. Sie wandelt sich immer mehr in eine Kämpferin, so wie sich Garanin in eine Kämpferin verwandelt hat. Durch ihre Graphic Novel, an der sie dreieinhalb Jahre gearbeitet hat (wenn ich das recht sehe, entspricht das ungefähr den Lebensjahren von Nils und diese Koinzidenz treibt mir schon wieder die Tränen …), hat sie Nils auf ihre ganz eigene, sehr persönliche Art unsterblich gemacht.
Andere Eltern, die ähnlich Schlimmes erleben müssen, werden hier vielleicht ihr eigenes Gefühlschaos wiederfinden und somit auch ein Quäntchen Trost. Falls es so etwas in diesen Fällen überhaupt geben kann.
Alle anderen dürften sich ihres Glücks bewusst(er) werden und den hohen Wert des Mitgefühls erkennen. Hoffentlich.

Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut, Carlsen, 2020, 200 Seiten, ab 16, 22 Euro

Gefährlicher als die Atombombe

Klingner

Wenn man interessehalber unter Beiträgen und Artikeln im Internet die Kommentare liest, merkt man, dass überwiegend die immer gleichen Leute unter mehr oder weniger sprechenden Benutzernamen ihre Meinung raushauen. Das ist bestenfalls polemisch. Meist aber tendenziell sexistisch, homophob, rassistisch, hochgradig aggressiv und beleidigend. An einer wirklichen Diskussion scheint keiner dieser prinzipiell anonym agierenden Kommentarschreiber interessiert zu sein.
Dass dieser Müll nur die Spitze des Eisbergs ist, verdanken wir sogenannten Kommentar-Moderatoren. Deren verdienstvolle Sisyphusarbeit zeigt Kathrin Klingner jetzt in der exzellenten Graphic Novel Über Spanien lacht die Sonne ebenso eindringlich wie amüsant.

Freischalten oder Löschen? Entscheidung in Sekundenbruchteilen

Wie ihre Heldin Kitty hat auch die Illustratorin Kathrin Klingner den gröbsten Dreck beseitigt. Oder wie es ihr Chef formuliert: »Wir lesen hier den ganzen Kram, den Leute im Internet schreiben, damit es der Rest der Welt nicht tun muss.« Die Moderatoren müssen in Sekunden entscheiden, ob etwas freigeschaltet oder gelöscht wird.
Unter Pseudonymen wie »Angry white Steuerzahler«, »Wusel33« oder »H_lH_ler« hetzen Leute gegen Ausländer, die Regierung oder auch direkt gegen die Moderatoren. Sie verbreiten faschistische Ideologien, berufen sich aber auf demokratische Rechte wie Meinungsfreiheit. Manches ist einfach nur bescheuert und in der penetranten Wiederholung ungeheuer langweilig. Vieles ist aber auch gemeingefährlich.

Hasskommentare hallen nach

Über Seiten und zahlreiche Bilderfolgen gibt Klingner im Originalwortlaut wieder, wovor wir Leser im Internet bewahrt werden, während sie Kitty und ihre Kollegen bei der Arbeit, stoisch am Schreibtisch vorm Bildschirm sitzend und in der Zigarettenpause zeigt. Und keiner kann nach Feierabend einfach abschalten. Die Sätze bleiben im Kopf, sie begleiten die Moderatoren auf dem Heimweg oder beim Einkauf im Supermarkt. Auch weil in der analogen Welt die Mitmenschen nicht weniger aggressiv sind und zum Beispiel Autofahrer Radfahrer sinnlos anpöbeln.
Über Spanien lacht die Sonne beginnt im Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise und Angela Merkels berühmter Beteuerung »Wir schaffen das«. In diesem Jahr hat die Hemmungslosigkeit der Kommentare deutlich zugenommen, wie Klingner selbst beobachtet hat.

In Krisenzeiten nimmt Kommentarunwesen zu

2020 ist es die Coronakrise, weshalb das Kommentarunwesen noch mal Fahrt aufnimmt. Auch deshalb ist dieser 2018 begonnenen Comic jetzt hochaktuell.
Die Stimmung unter den Kollegen ist zum Glück gut, gelegentlich macht man sich über den größten Schwachsinn und schlimmsten, falsch geschriebenen Gewaltfantasien gemeinsam lustig, um diesen nicht allein ausgeliefert zu sein und auch nicht völlig abzustumpfen. Abends gehen sie zusammen etwas trinken, Leute, die mal Weihnachtsbaumverkäufer oder beim Fernsehen waren oder eine Kneipe hatten.

Nicht einfach nur ein Job

Für die reduziert mit fünf schwarzen Flecken irgendwo zwischen Katze und Kaninchen dargestellte Kitty ist es eigentlich nur ein Job von vielen. Der aber nicht ganz spurlos an ihr vorbeigeht, trotz ihrer grundsätzlich indifferenten Art. Auf einer Doppelseite sieht man Kitty in diversen Jobs, ob in der Eisdiele oder Kneipe, als Zimmermädchen, am Fließband oder im Callcenter. Aber es macht doch ein Unterschied, ob die Espressomaschine zischt, Gläser klirren, man die Bestellung aufnimmt – oder einem jemand »Kakerlakenfotzen« entgegenschleudert.

Mentale Reife fehlt, aber jeder darf mitmischen

»Bei der Entwicklung der Atombombe hat man sich wenigstens gefragt, ob die Menschheit denn überhaupt moralisch im Stande ist, damit umzugehen«, sagt Kittys Kollegin abends in der Kneipe. »Und im Fall der Atombombe gibt es nur ganz wenige Leute, die sie nutzen können. Beim Internet hingegen kann jeder mitmischen! Aber die Frage, ob diese Leute die nötige mentale Reife haben, wird gar nicht gestellt!« Viele brillante Denker sind daran bereits gescheitert: Die Idee ist gut. Nur die Menschen sind noch nicht so weit.

Normal bleiben trotz all des kranken Drecks

Es ist eine skurrile und sympathische Gruppe, die Klingner da zeigt. Anthropomorphe Tierfiguren, mit reduziertem Strich und unaufgeregt gezeichnet, die versuchen, die potenziell zerstörerische Macht des Internets in Schach zu halten. Mit gesundem Menschenverstand schaffen sie das kranke Geschrei weg, den Hass und die Hetze, die unverhohlenen Mordaufrufe und perversen Gewaltfantasien. Auch damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, die Mehrheit denke so. Klingner zeigt liebevoll, wie diese wackere Putztruppe trotzdem normal bleibt, mit Familie, Freunden, Kindern, Serienkucken und durchs Viertel stromern. Nebenbei gibt es noch ein paar Hamburgensien, viel trockenen Humor zu noch mehr Rotwein und ein lustiges Rattelschneck-Zitat. Über Spanien lacht die Sonne ist ein kluger, witziger und sehr wichtiger Kommentar zu Zeit.

Kathrin Klingner: Über Spanien lacht die Sonne, Reprodukt, 128 Seiten, ab 16, 20 Euro,

Lieben, Denken, Handeln

Die Banalität des Bösen« kommt einem als erstes in den Sinn, wenn man an Hannah Arendt denkt. Für diese Erkenntnis angesichts des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Hitlers Organisator des industrialisierten Massenmordes, ist die außergewöhnliche Denkerin heftigst kritisiert worden.
Was Hannah Arendt mit dem Begriff »Banalität« gemeint hat, ihre Analyse zur Entstehung totalitärer Regime, ihr Gegenentwurf freier, vielfältiger  Menschen, ihr umfassendes Denken und ihre turbulente Biografie zeigt Ken Krimstein in seiner grandiosen Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt.

Eine gefährlich kluge Frau

Drei Leben…, das klingt irreführenderweise wie eine Mischung aus sich-immer-wieder-neu-erfinden und einer Katze. Im Original hat Krimstein seine Geschichte The Three Escapes of Hannah Arendt. A Tyranny of Truth genannt – und das trifft es. Arendt musste fliehen und entkam ihren Häschern, weil sie eine gefährlich kluge Frau, immer auf der Suche nach Wahrheit, und weil sie Jüdin war.
Nach dem Philosophiestudium in Marburg bei Martin Heidegger (und einer verstörenden Liebesbeziehung mit ihm) kommt sie 1933 nach Berlin. Dort trifft sie im Romanischen Café auf die gesamte intellektuelle und kulturelle Elite, Künstler, Regisseure, Dramatiker und Theoretiker.
»Es war die Geburtsstätte der modernen Welt«. Eine Enklave der Freiheit in einem immer repressiveren und gewalttätigeren und unfreieren Deutschland. Allerdings auch hier: »Ismen prallen hier auf Ismen, wohin man auch blickt.« Futurismus, Dadaismus und Expressionismus, Sozialismus, Marxismus und Zionismus.

Nie mit einem Ismus gemein gemacht

Das Besondere, Einzigartige bei Hannah Arendt ist, dass sie sich nie mit einem Ismus gemein gemacht hat. Als junge Studentin ist sie zwar noch fasziniert vom attraktiven Heidegger, »einer, der zum ersten Mal die Kühnheit hat, die Seinsfrage zu stellen«.
Aber schon sehr bald ist sie als scharfsinnige Beobachterin sehr viel weiter, der Elfenbeinturm akademischen Denkens war nie ihr Ding. Als in diese Welt »Geworfene« verlässt Arendt das Café, wird tätig – und aus der Staatsbibliothek raus von der Gestapo verhaftet.
Aus der Untersuchungshaft gelingt es ihr zu entkommen. Mit ihrer Mutter flieht sie sofort über Tschechien nach Paris. Dort erfährt sie nicht nur vom allgemein zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, selbst Heidegger biedert sich den Nationalsozialisten an, wird zunächst mit deren Hilfe Universitätsrektor – und distanziert sich auch nach Kriegsende nie wirklich von der Ideologie, geschweige denn, dass er sich entschuldigt.

Denker großer Unordnung

In Paris begegnet Hannah Arendt den beiden für sie wichtigsten Menschen. Das, was sie für die beiden einnimmt, beschreibt Arendt sehr treffend. Der eine ist Walter Benjamin, ein entfernter Verwandter ihres ersten Ehemanns. »Walter Benjamin ist ein Flaneur, ein antirationaler, alles empfindender menschlicher Schwamm, vor allem der Denker großer Unordnung«.
Der andere ist »ein stämmiger Freund Benjamins. Er ist kein Jude, war früher Kommunist, hat nie ein Buch zu Ende gelesen – ein Pfeife rauchender, unabhängiger Kopf.« Kurze Zeit später heiratet sie diesen brillanten Autodidakten, Heinrich Blücher, er wird sie zeitlebens lieben und unterstützen.

Pariser Triptychon

»Ich lebe ab jetzt drei Leben gleichzeitig: Lieben, Denken, Handeln« beschreibt Arendt ihr Dasein, ihr Triptychon in Paris. »Die Arbeit für die Jugend-Aliyah, die sich um den sicheren Transport von jüdischen Kindern aus Europa kümmert, wird in meinem Pariser Leben die wichtigste«. Arendt war nie religiös. Aber weil sie als Jüdin angegriffen wird, verteidigt sie sich als Jüdin. Später wird sie sich für eine jüdische Armee im Kampf gegen die Nationalsozialisten stark machen.
Am 5. Mai marschieren die Deutschen in Frankreich ein. Arendt wird als Deutsche verhaftet und kommt ins französische Internierungslager in Gurs. Auch von dort entkommt sie. Schließlich emigriert sie auf abenteuerlichen, lebensgefährlichen Wegen mit Blücher über Marseille und Lissabon nach New York.

Lebendiges Grün als roter Faden

Bestechend klug, stark und wütend, geistig immer unabhängig, zu jüdisch, dann wieder nicht jüdisch genug – Ken Krimstein zeigt diese faszinierende Frau in allen Facetten. Mit feinem Strich, puristisch in Schwarzweiß, zeichnet der Karikaturist des New Yorker und Wall Street Journal, ein ganzes bewegtes und bewegendes Leben. Einziger Farbtupfer ist ein lebendiges Grün für Arendts Kleidung, der sich wie ein roter Faden durchzieht. Pointiert umrissen sind auch die vielen Charakterköpfe, denen Hannah Arendt im Laufe des Lebens begegnet ist. Im Original sind die biografischen Angaben zu den zahlreichen Persönlichkeiten gleich als Fußnoten angefügt. In der von Hanns Zischler modern und mitreißend übersetzten deutschen Version füllen diese Daten sechs eng beschriebene Seiten im Anhang.

Allgegenwärtige Rauchschwaden wie Gedankenwolken

Ein optisch genialer Kunstgriff sind auch die allgegenwärtigen Rauchschwaden, die Hannah Arendt und ihre Begleiter umgeben, über die Seiten wabern, über Umrandungen und Bildgrenzen schweben wie freie Gedanken. Man muss kein Raucher sein, um die Versinnbildlichung permanenten Sinnierens und Durchdenkens zu verstehen und zu schätzen. Wie viel ehrlicher ist diese authentische Darstellung vergangener Rauchkultur als die groteske Helmut-Schmidt-Euromünze mit seiner sinnlos positionierten, leeren Hand.
Biografische Graphic Novels gibt es viele, die meisten über Männer, Aktivisten, Sportler, Künstler, Musiker, auch sehr gute wie die über Nick Cave oder aktuell über David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust. Die drei Leben der Hannah Arendt aber ist brillant, die beste, wenn man nur eine lesen sollte, dann diese.

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt, Übersetzung: Hanns Zischler, dtv, 2019, 244 Seiten, 16,90 Euro

Hannah Arendt hat nicht nur viel gedacht, sondern auch viel gelesen. Und nicht erst die famose Autorin Simone Buchholz schätzt den Kriminalroman als Spiegel der Gesellschaft. Tatsächlich inspirierten Krimis Arendt zu ihrem genialen Fluchtplan aus einem Hotel in Marseille. Vor allem durch Georges Simenons Maigret-Erzählungen habe sie verstanden, wie die französische Polizei tickt – und konnte sie so austricksen. Also am besten mit Maigrets erste Untersuchung anfangen. Dann vielleicht mit Maigret und die Bohnenstange weitermachen. Und natürlich sind alle Bücher von Simone Buchholz mit der schnodderig charismatischen Chastity Riley unbedingt zu empfehlen. Auch Adrian McKintys Romane um Raubein Sean Duffy im nordirischen Belfast der 80er Jahre sind eine Wucht. Hannah Arendt hätte sie bestimmt auch gern gelesen und studiert.

Georges Simenon: Maigrets erste Untersuchung, Übersetzung: Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Kampa Verlag, Zürich, 2019, 240 Seiten, 16,90 Euro

Kein Mensch ist illegal

illegal

Kaum ein Tag, an dem die Nachrichten nicht von Rettungsschiffen im Mittelmeer berichten, die Italien immer noch viel zu selten anlaufen dürfen. Das Leid der Menschen an Bord können wir uns in unseren sicheren Häusern und Wohnungen kaum vorstellen dürfen.
Und nun berichtet die UNHCR seit gestern von den noch größeren Gefahren an Land für die Flüchtenden.
Wie so eine Flucht durch den afrikanischen Kontinent aussehen könnte, zeigen uns Eoin Colfer und Andrew Donkin in der Graphic Novel Illegal, in der Übersetzung von Ulrich Pröfrock.
Colfer, eigentlich für seine Fantasy-Romane um Artemis Fowl, Warp und den nicht bellenden Hund bekannt ist, widmet sich hier dem tatsächlichen Leben.

Höllentour durch die Wüste

Colfer schildert die fiktive Geschichte des zwölfjährigen Ebo. Sein großer Bruder Kwame ist in der Nacht abgehauen, auf den Weg nach Europa zur Schwester. Kwame hat nichts gesagt und Ebo ist fest entschlossen, dem Bruder zu folgen. Aus seinem Dorf, irgendwo in Nigeria oder Ghana, nimmt er den Bus in die nächste größere Stadt: Agadez, eine riesige, labyrinthische Stadt in der Wüste. Hier sitzt Ebo erst einmal fest, er braucht Geld, ist aber noch zu jung, um für die üblichen Arbeitgeber zu schuften. Doch Ebo kann singen, und das tut er dann auf einer Hochzeit – und findet so durch Zufall seinen Bruder wieder.
Fünf Monate müssen die beiden arbeiten und sparen, bis sie die Tickets für den Lastwagen zusammen haben, der sie durch die Sahara bringen soll.

In den Fängen der Schlepper

Die Fahrt wird zur Tortur, dicht gedrängt stehen sie mit Fremden auf der Ladefläche. Die Sonne brennt ohne Schutz auf sie nieder. Als ein Mann vom Wagen fällt, hält der Fahrer nicht an. Das wenige Wasser, was mitgenommen wurde, verkauft der Schlepper für immer mehr Geld.
Bei der Übergabe an den nächsten Schlepper ist nicht mehr genug Platz für alle. Ebo, Kwame und ein halbes Dutzend weiterer Männer müssen zu Fuß durch die Wüste weiterlaufen. Die in Ligne claire gezeichneten Panels von Giovanni Rigano machen die tödliche Hitze und den Durst förmlich spürbar. Zu dritt schaffen sie es bis zur nächsten Siedlung.

Ebo wird krank. Doch die Brüder arbeiten weiter, um so von einer Stadt zur nächsten zu gelangen, bis sie schließlich Tripolis erreichen. Sie müssen sich vor Soldaten verstecken, dürfen niemandem vertrauen, nicht auffallen. Sie schlafen in einem Abflussrohr, werden von Ratten angeknabbert. Colfer erspart den Lesenden zwar die schrecklichen Lager, euphemistisch „Gefangenen-Zentren“ genannt, für die Libyen mittlerweile bekannt ist, doch das mindert den Schrecken in seiner Darstellung der Landflucht nicht.

Auf See in einem zu kleinen Schlauchboot

Und irgendwann ist der Tag bzw. die Nacht da, an dem Ebo und Kwame mit zwölf anderen Menschen auf ein Schlauchboot steigen, das nur für sechs Personen ausgelegt ist.
Ebo erzählt aus diesem Moment heraus. Die Kapitel auf dem Meer wechseln mit dem Rückblick auf Durchquerung der Wüste. Und das Meer ist nicht weniger lebensfeindlich wie die Sahara. Auch hier brennt die Sonne, das Wasser ist kalt, das Boot hat ein Leck. Diese Seefahrt ist alles andere als lustig.
Irgendwann ist der Sprit alle und das Trinkwasser auch. Die Richtung ist nicht mehr klar, in die die Jungs paddeln müssen. Die nächste Katastrophe steht kurz bevor.

Sensibilisierung für Ursachen und Gefahren einer Flucht

Colfers Geschichte, auch wenn sie fiktiv ist, orientiert sich an realen Schicksalen und kann daher als eine gelungene Illustration für jugendliche Leser_innen angesehen werden, die ihnen die täglichen Dramen auf dem Mittelmeer näher bringt. Das Verständnis und die Empathie für die Menschen, die sich nicht zum Spaß auf diesen lebensgefährlichen Weg machen, wächst. Die Ursachen, warum die Menschen die Heimat verlassen, werden zwar nur angedeutet und nicht in ihrer teilweise traumatisierenden Realität dargestellt, dennoch werden die Lesenden auf vielen Ebenen sensibilisiert.

Was heißt schon illegal

Gerade weil hier ein Kind flüchtet, wird zudem noch einmal deutlicher, dass kein Mensch illegal ist. Sie werden erst von Populisten und unmenschlichen Gesetzen dazu gemacht, eine Vorgehensweise, die unter keinen Umständen akzeptabel ist. Diese eigentlichen Banalitäten und Selbstverständlichkeiten über eine schnell zu lesende Graphic Novel auch der Jugend klar zu machen ist die Stärke dieses Buches.

Eoin Colfer/Andrew Donkin: Illegal, Illustrationen: Giovanni Rigano, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Rowohlt, 2019, 144 Seiten, ab 11, 16,99 Euro

Befreit euch

wegeVor kurzem haben wir das 100-jährige Frauenwahlrecht gefeiert. Eine lang erkämpfte Errungenschaft, die von den heutigen Generationen oftmals als selbstverständlich und daher vernachlässigbar zu sein scheint, im Sinne, der Gang an die Wahlurne wird auch mal ausgelassen. Eine fatale Haltung, die den falschen Parteien nützt.

Dass unser heutiges Dasein als Frauen nicht selbstverständlich ist (und auch noch immer nicht paritätisch und gleichberechtigt) verbildlicht Julia Zejn in ihrer Graphic Novel Drei Wege auf eine stille, fast poetische Art.
Darin schneidet sie die entscheidende Momente aus den Biografien dreier junger Frauen gegeneinander, die im Abstand von je fünfzig Jahren leben. Ida tritt 1918 eine Stelle als Hausmädchen bei einer Arztfamilie in Berlin an, Marlies lernt 1968 den Studenten Wolfgang kennen, und Selina dümpelt 2018 nach dem Abi vor sich hin, ohne zu wissen, was sie aus ihrem Leben machen soll.

Machtvolle Männer

Idas und Marlies‘ Lebenswege sind noch den männlichen Machtstrukturen ausgesetzt. Hatte Ida ein gutes Verhältnis zur Hausherrin, solange deren Mann noch im Krieg war, so ändert sich das schlagartig, als der Gatte zurückkehrt und mit harter Hand das kaisertreu geprägte Regiment in der Familie wieder übernimmt. Mit seiner dix-haft gezeichneten Physiognomie ruft er sofort eine Reihe von militaristisch-patriarchalen Assoziationen in mir auf, die ohne viele Worte die bedrückende Stimmung in einem damaligen Haushalt evozieren.
Auch Marlies, ein Arbeiterkind, muss sich mit den erzkonservativen Ansichten ihres Vaters auseinandersetzen. Der hält Wolfgang für einen Gammler mit zweifelhaften Ansichten. Dass Marlies sich den Studentenprotesten anschließt, passt den Eltern gar nicht, es kommt zu familiären Eklat. Aber auch der scheinbar progressive Wolfgang entpuppt sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als konservativ, was sein Verhältnis zu Frauen angeht. Marlies kämpft als quasi an zwei Fronten.

Heutige Zwänge

Selina hingegen scheint von den Männern unbehelligt zu sein, der Vater lebt weit weg in Vancouver, ihr bester Kumpel ist schwul, ihre Mutter macht Yoga und postet auf einem Foodblog gesunde Super-Lebensmittel. Doch heute sind es andere Zwänge, die das junge Mädchen verunsichern. Ihre beste Freundin Alina erzählt, dass sie an die Columbia Uni in New York gehen wird. Dass diese jedoch eine Lüge ist, kommt erst heraus, als Alina versucht, sich umzubringen. Selina möchte ihr beistehen, doch die Freundin ist gefangen in dem Zwang von guten Noten, bester Ausbildung und der gesellschaftlichen Forderung nach einem stringenten, erfolgreichen Lebenslauf. Für Freundschaft und Freiheit bleibt da nicht viel Platz. Als Selina das alles erkennt, macht sie sich frei.

Lebendige Wurzeln

Was scheinbar unverbunden daherkommt, verwebt Zejn äußerst geschickt. Jeder Erzählstrang mit seinen zarten Bleistiftzeichnungen ist einer anderen Pastellfarbe gefärbt, sodass man als Leserin immer gleich weiß, bei wem man gerade ist. Doch die Wege der drei Frauen sind zudem über verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Verhältnisse miteinander verbunden. So wird klar, dass wir alle das Erbe unserer Vorfahren immer noch in uns tragen, uns andere Generationen beraten und uns helfen können, dass wir also nicht in einem Vakuum agieren, sondern eben sehr lebendige Wurzeln haben. Und diese Wurzeln sollte man kennen. Eben um nichts als selbstverständlich hinzunehmen, was mühsam erkämpft wurde, aber auch um für sich selbst einen freien und selbstbestimmten Weg zu finden – immer noch und immer wieder. Denn auch das ist heute immer noch nicht selbstverständlich.

Zu diesem Thema passt schließlich auch der Kinder-Comic Heraus aus der Finsternis von Christopher Tauber und Annelie Wagner, der in Zusammenarbeit mit dem Jungen Museum Frankfurt entstanden ist.

Mädchenbande

Darin erleben junge Leserinnen die etwa zehnjährige Käthe, die sich mit ihren Freundinnen gegen die Schikanen der Jungsbanden in ihrem Viertel zur Wehr setzen. Und zwar im Frankfurt der Jahre 1918/1919.
Der erste Weltkrieg ist gerade erst zu Ende gegangen, die Männer sind zum Teil noch nicht von der Front zurück. Die Frauen und Mütter haben sich daheim durchgeschlagen, haben in den Fabriken die Arbeit der eingezogenen Männer übernommen. Sie stehen sich gegenseitig hilfreich zur Seite, kämpfen für das Wahlrecht und meistern ihr Leben auch ohne männliche Bevormundung. Das sehen auch die jungen Mädchen und schauen sich ihren Teil von den Erwachsenen ab.

Solidarität und Freundschaft

In dieser fiktiven Geschichte Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs (Tina & Bibi lassen grüßen) bilden die Mädchen schließlich ihre eigene Bande, um sich gegen die Jungs zu wehren – und kommen zu der Erkenntnis, dass Solidarität hilft. Aber auch, dass Jungs und Mädchen gar nicht so verschieden sind, wenn es darum geht, dass keiner gern geärgert wird und das es viel schöner ist, Freunde zu sein.

Historischer Hintergrund

Zu den historischen Begebenheiten, Personen und Institutionen in der damaligen Zeit gibt es am Ende eine Doppelseite mit Hintergrundinformationen und einem Glossar. Der Kasten „Anachronismen“ schickt die Betrachterinnen dann noch mal mit einem Rätsel durch den Comic, in dem drei Dinge versteckt sind, die es vor 100 Jahren noch nicht gab. Leider ist hier die Frage aus einem anderen Comic übernommen worden (es werden nach vier Dingen gefragt, die es 1742 noch nicht gab) – dies wird hoffentlich in der nächsten Auflage korrigiert, denn die Idee ist charmant. Und ich habe mich dabei ertappt, die drei Anachronismen übersehen zu haben.

Für Mädchen ab acht ist dieser Comic jedoch in vielerlei Hinsicht ein Gewinn, denn neben all der Historie bekommen sie ein Gefühl für Feminismus und weibliche Solidarität, aber auch für Menschlichkeit. Und das ist nicht nur in Frankfurt wichtig.

Julia Zejn: Drei Wege, avant-verlag, 2018, 184 Seiten, ab 16, 25 Euro

Christopher Tauber/Annelie Wagner: Heraus aus der Finsternis, Junges Museum Frankfurt/Zwerchfell Verlag, 2018, 52 Seiten, ab 8, 12 Euro

Jenseits von Dolce Vita

Mafia

Gekriegt haben sie mich mit Padre Pio, der kommt noch zwei Panels vor der Giraffe, die andere Rezensenten an dieser Graphic Novel so fasziniert.
Padre Pio als Stencil-Graffiti an einer Hauswand, halb verborgen hinter Müllcontainer und Unrat. Eindeutiges Zeichen, dass die Geschichte von Stadt der drei Heiligen von Stefano Nardella und Vincenzo Bizzarri in Apulien spielt, in einer namenlosen Kleinstadt, in der Nähe von Foggia. Padre-Pio-Land. Land, in dem Heilige wichtige Rollen spielen. Neben der Mafia.

Alles andere als heilig

Diese Stadt steht unter dem Schutz von gleich drei Heiligen – San Michele, San Marciano und San Nicandro. Einst schützten sie die Stadt vor der Eroberung durch die Türken. Doch daran erinnert sich kaum noch einer. Heute sind es die drei namensgleichen Hauptfiguren, die sich gegen ganz andere Feinde, Feinde aus dem Inneren der Stadt, wehren müssen. Miché, Ex-Boxer und Mafia-Gehilfe, ist durch seine Drogensucht abhängig von der Gunst des örtlichen Bosses Pino. Marciano, Ex-Mafioso und Aussteiger, hat keine Lust, Schutzgelder für seinen Imbisswagen, der kaum Geld abwirft, zu zahlen. Nicà, 17-jähriger Schulabbrecher und Kleindealer, will eigentlich nur mit Titti zusammen sein. Doch deren Brüder Rodolfo und Tonio meinen, die Schwester vor dem schlechten Umgang schützen zu müssen. Dabei haben ausgerechnet sie die besagte Giraffe aus dem kleinen Wanderzirkus entführt, um Lösegeld zu erpressen. Ein wahrlich absurdes, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wie eigentlich so alles hier zum Scheitern verurteilt ist.

Kleinstadttristesse

In der grauen Tristesse italienischer Vororte aus Betonhochhäusern, halbfertigen Wohngebäuden, slumartigen Wellblechhütten, kreuzen sich die drei Schicksale und zeichnen ein Sittengemälde der süditalienischen Gesellschaft. Die Macker, allesamt mit fiesen Visagen ausgestattet, können in der Stadt, die nichts zu bieten hat, ihren Testosteronüberschuss nur in illegalen Hundekämpfen oder legalen Boxkämpfen loswerden. Oder, indem sie sich gegenseitig bedrohen, beklauen, fertigmachen. Sie sind wie Vampire, die sich gegenseitig aussaugen, um an der Macht zu bleiben.
Das dies auf Dauer zu nichts führt, zeigen die drei Protagonisten den Betrachter_innen sehr eindrücklich. Auch wenn es hier nicht um die großen Mafia-Geschäfte geht – die Drogenmengen sind klein, selbst wenn die Mafiosi fette Autos fahren, ein Imbiss ist kein börsennotiertes Wirtschaftsunternehmen, der Wettbetrug beim Boxkampf ist nicht mit den Manipulationen in der 1. Fußballliga vergleichbar – so beeinflussen die Mafia und die gesellschaftlichen Konventionen die Helden doch so sehr, dass es am Ende nicht gut ausgeht.

Die Rollen der Frauen

Nardella und Bizzarri erzählen von dem toxischen Einfluss, den die Mafia in den süditalienischen Kleinstädten auf das Leben jedes Einzelnen hat. Zwar sind es hier vor allem die Männer, die sich Schaden zufügen, doch auch die Frauen bleiben davon natürlich nicht unberührt. Titti leidet unter ihren Brüdern und möchte mit Nicà nach Mailand abhauen, weil sie das Leben im Ort nicht mehr aushält und keine Zukunft für sich sieht. Kurz klingt ein Romeo-und-Julia-Motiv an. Doch aus ihrer Flucht wird nichts, da Nicà die Sache »regelt«.
Die anderen Frauen, Micheles demente Mutter, Nicàs alte Oma oder Marcianos Ehefrau sieht man nur in den Wohnungen oder im Pflegeheim. Dort sind sie die Herrscherinnen, vor ihnen werden die Männer weich. Doch obwohl die Frauen wissen, was auf den Straßen abgeht, können – oder wollen? – sie kaum etwas tun, um die Verhältnisse zu ändern. Die Polizei zu rufen ist in keinem der Fälle eine Option.

Was viel eher hilft, ist der Gang zum Pfarrer. So vertraut Marcianos Ehefrau sich Don Vincé an, der kurzerhand die eine Prozession zu Ehren des Heiligen umleitet und so für einen Moment eine Schießerei verhindert. Doch eben auch nur kurz. Denn als die Festtage mit einem riesigen Feuerwerk enden, sind in der Stadt wieder Menschen gewaltsam gestorben und die Täter werden nicht lange auf freiem Fuß bleiben.

Jenseits jeglicher Idylle

Hier gibt es kein Happyend. Mag sich der Pfarrer auch noch so sehr bekreuzigen. Es herrscht ein Teufelskreis, aus dem es seit Jahrhunderten kein Entrinnen zu geben scheint. Außer man verlässt die Stadt oder steht zu seinen Überzeugungen und geht dann dafür in den Knast. Von Idylle kann man hier in keinster Weise reden – außer man möchte mafiöse Verhältnisse romantisieren, um dann wieder beim naiven deutschen Blick auf Italien zu landen, dieser Mischung aus La Dolce Vita und Der Pate. Hier scheint keine goldene Sonne über der Stadt. Es ist ein kranker blassgelber Himmel, der über den zumeist grüngrauen Figuren mit ihren zerschlagenen Gesichtern herrscht. Hier fehlt das Azzurro, das Blu dipinto nel blu. Zurück bleibt eine Ratlosigkeit, wie man eine solche Gesellschaft heilen, reformieren, verändern könnte. Antworten liefern Nardella und Bizzarri natürlich nicht. Wie auch, wenn ganz Italien seit Ewigkeiten darauf keine Antworten hat.

Sprachliche Besonderheiten & Soundwords

Wer sich auf diese Lektüre einlässt, wird in den Texten, die Hannah Lisa Linsmaier gelungen ins Deutsche übersetzt hat, auf so einige sprachliche Besonderheiten stoßen: die vielen klingenden Namen der Kleinkriminellen und Mafiosi sind im Original stehen geblieben. Das verleiht Authentizität, verwirrt eventuell aber auch ein bisschen. Sprechende Namen, vor allem dialektal verkürzte, wie in diesem Fall (Nicà Cor‘ e‘ can – Nicà Hundeherz), lassen sich meist nicht passend übersetzen. Daher ist es gut, dass das hier nicht geschehen ist. Man hätte vielleicht in der Personenliste am Anfang eine Erklärung einfügen können.
Für andere italienische Worte und Sätze sind Fußnoten unter die Panels gesetzt worden. Auch das ist sinnvoll – nur hätte es konsequenter passieren können, dann wären noch ein paar Facetten mehr transportiert worden, beispielsweise der Spruch neben dem Padre-Pio-Stencil, der gleich zweimal auftaucht: »Neid ist die Mutter aller Niedertracht« (S. 13 und S. 91). Oder der Zettel in Nicàs Haus, auf dem die »werten Hausbewohner« gebeten werden, »nicht in den Fahrstuhl zu urinieren« (S. 95). Und Nicàs Ausruf: »U Sceè!!!« – »Der Idiot!!!« (oder ähnliches, S. 29) hätte die Figur des in süditalienischen Dörfern quasi allgegenwärtigen »Dorftrottel« etwas besser eingeordnet. Er ist in all dem Drama vielleicht der wirklich einzig glückliche Mensch, da er mit den gesammelten Machenschaften so gar nichts zu tun hat. Mit diesem Wissen wäre auch die letzte Giraffen-Szene in all ihrer Dimension noch besser verständlich gewesen.
Auch bei den Soundwords vermisse ich ein bisschen die Konsequenz in der Übersetzung. Wird anfangs das Glockengeläut mit »DING DONG DANG« verdeutlicht, zieht sich das ja fast allgegenwärtige Gebimmel im Laufe der Geschichte nur noch als »DIN DON« durch die Panels.
Auch Marcianos Husten ist eine seltsame Mischung aus »COF« und »COUGH« (S. 101). Ein Erikativ à la »HUST« wäre natürlich nicht gegangen. Wie gesagt – Konsequenz in diesen Dingen hätte für mich die Geschichte richtig rund gemacht.

Stadt der vier Heiligen

Eigentlich ist die namenlose Stadt, eine Stadt der vier Heiligen, denn neben dem Stencil taucht Padre Pio noch einmal auf – als Statue auf einer Piazza. Doch ist Padre Pio kein Heiliger des Kampfes wie die drei Stadtheiligen, eher ein Heiliger der Selbstverletzung (dies ist keine offizielle Bezeichnung – wie ich darauf komme, könnt ihr hier nachlesen) – und vielleicht ist es genau das, was die Figuren dieser Geschichte am ehesten tun. Sie verletzen hauptsächlich sich selbst. Und zeigen damit eindrücklich, wie widersinnig Mafia und männliches Gehabe sind.

Stefano Nardella/Vincenzo Bizzarri: Stadt der drei Heiligen, Übersetzung: Hannah Lisa Linsmaier, Verlag Schreiber & Leser, 2018, 192 Seiten, 29,80 Euro

Umfallen lernen

umfall

Was ist das denn für ein schräger Superheld? Ein moppeliger Kerl mit schwarzem Pilzkopf  und Oberlippenflaum, im rotgestreiften Schlafanzug und Badeschlappen an den Füßen, der sich seinen Umhang festknotet – so steht er auf dem Titelbild von Mikael Ross‘ Comic Der Umfall. Und wieso Umfall?

Zack, ist man schon drin in der Geschichte: Jetzt ist der Held namens Noel in seiner Daunenjacke ein rotes Michelinmännchen mit Mütze – und er benimmt sich auch ziemlich schräg: Bestaunt Prinzessinenpuppen, weiß nicht, wie alt er ist, schmettert lauthals im Feierabendrummel umgetextete Weihnachtslieder. Nach ein paar idyllischen, liebevollen Szenen mit seiner Mutter, genannt Mumsie, Geburtstagsgeschenken und gegrillten Marshmallows auf dem Balkon passiert der titelgebende Umfall: »Mumsie schläft auf dem Boden. Schlafen tut man aber im Bett. Und da is auch Blut … gehört da nicht hin.«

Panik, zur Beruhigung stülpt Noel sich einen Blumentopf über den Kopf, schließlich schafft er es mit größter Anstrengung einen Rettungswagen zu rufen.

Mit dem Umfall fällt Noel aus seinem bisherigen behüteten Leben in Berlin. Mumsie liegt im Koma, allein kann Noel nicht in der Wohnung bleiben. »Daheim ist nicht mehr mein Daheim.« Also bringt ihn »der Mann mit Bart« (sein Vater? Eine Frage, die Noel nicht stellt) nach Niedersachsen in das Dorf Neuerkerode.

Neuerkerode – die besondere Dorfgemeinschaft

Wie sein fiktiver Held Noel kam der Comiczeichner Mikael Ross in eine ihm zuvor völlig unbekannte Welt: Neuerkerode gibt es wirklich. Es ist ein inklusives Dorf, in dem Menschen mit und ohne Behinderung, unterschiedlichster Vorgeschichte und Prägung, leben und arbeiten. Ross erzählt die Geschichte dieser besonderen Dorfgemeinschaft aus Noels Perspektive: vorsichtig beobachtend und absolut unvoreingenommen. Langsam lernt er die Bewohner, Bürger genannt, und ihre individuellen Besonderheiten kennen. Wir sind hautnah dabei. Natürlich läuft beim »normalen« Leser (in der taz nannte eine Autorin, Mutter eines Sohns mit Downsyndrom und Tochter mit ADHS, ihren Mann »mehrfach schwer normal«) immer der Meta-Text mit: Wir versuchen die Art der Behinderung und ihre Schwere zu benennen, erkennen natürlich einen epileptischen Anfall als solchen, fremdeln in diesem Kontext noch mehr als sonst beim Thema Sex, denken über vermeintlich politisch korrekte Begriffe wie »anders begabt« nach. Oder, wie Andreas Steinhöfels Rico sagen würde: »tiefbegabt«.

Recherche vor Ort

Es gelingt Mikael Ross grandios, die Menschen aus Noels Sicht zu zeigen und sie einfach, so wie sie sind, auf sich zu kommen zu lassen. Ihren eigenen Humor, ihre Sprache, teils verquere Sichtweise und skurrile Logik übersetzt er geistreich und witzig. Zweieinhalb Jahre hat Ross in Neuerkerode recherchiert und wiederholt mehrere Tage in einem Apartment im Dorf gewohnt. Nach einiger Zeit hat er gelernt, dass er viel mehr über die Menschen vor Ort erfährt, wenn er, anstatt einzelnen gezielt Fragen zu stellen, sie auf sich zukommen lässt. Sie haben ihn an ihrem Leben, ihrer individuellen, teils sehr speziellen Erlebniswelt teilhaben lassen.

Und sie haben ihm viel von sich erzählt, unter anderem von dem schrecklichen Kapitel der 150 Jahre alten Einrichtung während der NS-Zeit. Zahlreiche Bewohner wurden abgeholt und ermordet. Damals waren Jungen und Mädchen, Männer und Frauen streng durch einen hohen Zaun voneinander getrennt. Trotzdem konnte ein Junge seine Schwester noch warnen, bevor auch er deportiert wurde. Die mit 92 Jahren älteste Bewohnerin Neuerkerodes überlebte, weil sie sich im Wald versteckt hatte. Diese erschütternde Erzählung webt Ross geschickt als eine frühmorgendliche Begegnung Noels mit der reizenden, alten Irma an der Bushaltestelle ein.

Beiläufig erfährt man andere Lebensgeschichten, vom autistisch-zahlenversessenen Valentin, von Alice, die bei großer Aufregung epileptische Anfälle erleidet, von der Frau, die sich früher selbst verletzt hatte, mit Medikamenten sediert und ans Bett fixiert wurde und dann Judo für sich als Therapie ohne schädliche Nebenwirkungen entdeckt hat und den übersetzt »sanften Weg« anderen Bewohnern beibringt.

Dabei beschönigt Ross nicht, er idealisiert und verharmlost Behinderungen nicht. Die meisten Neuerkeroder wären außerhalb, in der »normalen« Welt nicht lebensfähig. Schon am Anfang reißt Noels Mutter angesichts seiner Trödel- und Singerei irgendwann der Geduldsfaden und sie brüllt: »Es reicht. Du nervst.«

Sie alle sind mal niedlich, lustig, entzückend, sympathisch verschrobene, harmlose Spinner. Aber ebenso können sie extrem anstrengend sein, gewalttätig, nerven und einen in den Wahnsinn treiben.

Das Leben in allen Facetten

Während Noels Eingewöhnungszeit, seinen Begegnungen und Erfahrungen, wird uns klar, dass genau das unser Unbehagen gegenüber Behinderten ausmacht: Dass sie uns »Normalen« fremd und unberechenbar sind. Dass ihre Handlungen oft unlogisch erscheinen und wir uns nicht in sie hineindenken und –fühlen können; dass wir uns in ihrer Gegenwart deshalb selbst hilflos fühlen.

Ross zeigt auch, dass in Neuerkerode ebenso geliebt, gestritten, um Aufmerksamkeit geeifert, getrauert, vermisst und Freude empfunden wird. Leben in allen Facetten, nur halt ein bisschen anders.

Kluger Strich, kühne Konturen

Ross, der ursprünglich Herrenschneider gelernt und nie Illustration studiert hat und heute im Zweitjob als Kostümbildner arbeitet, fängt dieses eben nicht ganz normale Leben in Buntstiftzeichnungen ein. Die Technik hat er erst in Neuerkerode für sich entdeckt, wo viel und begeistert gezeichnet wird. Seine Figuren sind alle ausgereifte Charaktere mit markanten, nie genormten oder klassisch schönen Physiognomien. Manchmal bekommen die Zeichnungen etwas karikatureskes, doch ohne jemanden zu verspotten oder lächerlich zu machen. Außer bei der Gruppe Ärzte, die Noel über den Zustand seiner Mutter informieren wollen: Sie wirken absolut nachvollziehbar wie durcheinanderquakende Enten, angesichts unverständlicher und kaum empathisch hervorgestoßener Fachtermini. Flaschenbodendicke Brillengläser etwa lassen aus Sicht Noels die Augen seines Gegenübers wahlweise verschwinden oder untertassengroß erscheinen. Und Alices Eifersuchtsanfall zum Beispiel verwandelt sich zum Cartoon in Stop-Motion-Bildern. Ross braucht im Gegensatz zum Film keine aufwendigen Special Effects für seinen mitreißenden Comic. Kluger Strich, kühne Konturen und kräftige Colorationen machen seine Panels lebendig und dynamisch.

Erstaunlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Comics: Es ist die offizielle Festschrift zum 150. Geburtstag Neuerkerodes am 13. September 2018, wie man erst im Nachwort  erfährt.  Zwar gab’s einen konkreten Abgabetermin, ansonsten hatte Ross aber hierfür sämtliche künstlerische Freiheiten. Das spricht auch für den ungewöhnlichen Geist dieses inklusiven Dorfs: Dass man eben nicht das macht, was man normalerweise macht.

Zum Schluss, ein Jahr ist mittlerweile rum, hat Noel sich mit seinem neuen Leben in Neuerkerode arrangiert. Er hat vieles gelernt. Auch, nicht zuletzt dank Judo, richtig umzufallen – und wieder aufzustehen.

Mikael Ross: Der Umfall, Avant Verlag 2018, 128 Seiten, ab 14, 28 Euro