Kann man Rilke fassen? Kann man ihn erklären? Kann man ihn bildlich darstellen? Auf so manche Fragen haben selbst Rilke-Ultras wohl keine endgültigen Antworten, zu mysteriös bleibt auch heute noch der Dichter, dessen Geburtstag sich am 4. Dezember 2025 zum 150. Mal jährt.
Eine bildliche Darstellung jedoch hat nun die Comic-Künstlerin Melanie Garanin gewagt, die vor ein paar Jahren mit der autobiografischen Graphic Novel Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut ein berührendes Debüt hingelegt hat. Auch dort kam Rilke bereits vor, in der Funktion des Trauerkartenbeschrifters.
Anfängliche Skepsis
Als diesen hat auch die fiktive Journalistin Ellen aus Mein Freund Rilke den Dichter im Kopf: »Meiner ist er ja nicht so«, konstatiert sie am Anfang, als sie auf Recherche-Reise nach Worpswede aufbricht. Ellen, eine Frau mittleren Alters, die zwar verheiratet ist, aber die Liebe lange nicht mehr erlebt hat, liest auf der Fahrt Rilkes Biografie. Diese baut Garanin in sepiafarbenen Panels in ihre Geschichte ein und führt damit sowohl ihre Protagonistin als auch die Lesenden an diesen Gefühlsmenschen heran, an seine vielen Lieben, sein unstetes Leben, sein Schloss-Hopping.
Original-Verse
Es bleibt jedoch nicht bei einer einfachen Rezeption von Rilkes Werk, denn plötzlich steht der Mann nach einer Tagungseröffnung vor Ellen, ohne dass sie ihn sofort erkennt. Sie wundert sich über den komischen Kautz, der Rilke-Verse druckreif zitiert, und ist mehr und mehr fasziniert. Sie taucht immer weiter in seine Gedichte ab. Diese und all die zitierten Verse sind in gelbhinterlegten Kästchen quasi als Ausschnitte aus einem Rilke-Band sofort als Originale zu erkennen. So erschafft Garanin eine dreifaltige Geschichte aus Biografie, Gedichten und dem Tanz von Ellen und Rilke durch Worpswede, Paris und das Wallis.
Interpretationsspielräume
Rilke in die Jetztzeit zu holen mag gewagt erscheinen. Das Spiel allerdings geht auf und wird sogar lustig, wenn er zum Erstaunen von Ellen in Null-Komma-Nichts lernt, Textnachrichten mit Anhang zu verschicken. Aber es sind vor allem seine Gedichte, die mal mit einfachen Worten ganz klar erscheinen, dann jedoch wieder schwülstig-unzugänglich daherkommen, die uns allen genug Raum für eigene Interpretationen, eigenes Identifizieren, eigene Gefühle lassen. Das ist bereits auf diesen fast wenigen Seiten ganz deutlich zu spüren. Vermutlich ist es auch das, was Rilkes Werk auch in der Gegenwart noch so faszinierend macht.
Bildgedicht
Melanie Garanins Zeichnungen und Bilder entwickeln sich im Laufe der Geschichte selbst zu Versen, in denen mal ein Haus tranchiert wird, mal Rosenblätter schweben, mal die Liebenden sich umschlingen und von Versen zugedeckt werden. Entgegen jeder Erwartung kommt Rilkes wohl bekanntestes Gedicht, der Panther, nicht vor, stattdessen darf die Gazelle springen und sogar das Cover zieren. Der mutig-mysteriöse Fühlende hat eben weit mehr in Petto, als das Raubtier hinter Gittern – was Rilke-Kenner nicht überraschen wird. Neulingen jedoch wird hier eine Tür in ein Universum geöffnet, die man so schnell nicht mehr zuschlägt.
Passender Auftakt fürs Rilke-Jahr
Dem entsprechend leitet für mich als mehr oder minder Rilke-Newbie diese Graphic Novel das kommende Rilke-Jahr ein, das mit seinem Geburtstag beginnt und am 29. Dezember 2026 mit seinem 100. Todestag endet. Denn nach der Lektüre dieses Buches greift man unweigerlich zu den Gedichtbänden von Rainer Maria Rilke, liest sich fest und versenkt sich in die großen Gefühle über Liebe, Tod, Universumsunendlichkeit und fängt womöglich an, wie er, an Engel zu glauben. Etwas Besseres hätte Rilke nicht passieren können.
Als Übersetzerin habe ich seit Jahren immer mal wieder Kindersachbücher zum Thema Weltall und Sterne auf dem Schreibtisch, so auch dieses Jahr. Gerade ist meine neueste Übersetzung herausgekommen: Mein großes Buch vom Weltall von Camilla De la Bedoyere. Die Geschichten über das Universum, seine Entstehung, unser Sonnensystem und seine Planeten, ferne Galaxien und Schwarze Löcher sind jedes Mal überaus faszinierend, dass mich immer wieder die Lust überkommt, Astronomie zu studieren – aber Mathe und Physik waren und sind leider nicht meine Stärken. Umso schöner, dass ich durch diese gutgemachten und verständlichen Kindersachbücher meinen Horizont auch ohne Studium erweitern kann.
Das nehme ich nun zum Anlass mal den Blick auf die aktuellen Publikationen anderer Verlage zu diesem unendlichen Thema zu werfen. Sternen-Bücher gibt es wohl seit Anbeginn des Buchdrucks. Bei uns zu Hause lagen schon in den 1970er Jahren sowohl alte Ausgaben aus der Nachkriegszeit, als auch WAS IST WAS-Bücher über Sterne herum. Ein Gesamtüberblick über dieses Genres wäre also ein unmögliches Unterfangen, weshalb ich mich auf die wichtigsten Erscheinungen aus den vergangenen vier Jahren beschränke. Falls mir bei meiner Recherche dabei etwas entgangen ist, bitte ich um einen Hinweis. Dann erweitere ich diese Sammlung.
Ähnliche Inhalte – viele Besonderheiten
Da sich die Inhalte bei Kindersachbüchern über das Weltall natürlich alle ziemlich ähneln, habe ich versucht, die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Publikationen hervorzuheben. Da eine Kategorisierung per se nicht ganz einfach ist, habe ich mich am Alter der Zielgruppen orientiert, beginnend bei den Jüngsten bis hin zu den junggebliebenen Erwachsenen.
Ich hoffe, hier jede:r etwas Passendes aus den Weiten der Buchproduktionen über unser Universum findet. Und los geht’s: 3 – 2 – 1 – Lift off!
Lesealter 2-5
Für Geschichten über den Himmel, das Weltall, den Weltraum und die Sterne kann man nie zu jung sein. So gibt es die ersten Pappbilderbücher bereits für Zwei- bis Vierjährige. In Sonne, Mond und Sterne fängt es ganz einfach mit der Erklärung für das Phänomen von Tag und Nacht an. Kurze Texte liefern erste Infos zum Weltall, zur Raumfahrt und den Sternbildern. Auf jeder Doppelseite gibt es immer die eine oder andere Klappe zum Aufmachen, dahinter betreten Astronauten den Mond oder zündet die nächste Raketenstufe. Genaues und wiederholtes Hinsehen ist damit garantiert. Auf diesen wenigen Pappseiten ist die Faszination für die unendlichen Weiten liebevoll und kleinkindgerecht angelegt. Die alltäglichen Welten der ganz Kleinen werden so um den Blick ins Universum geweitet.
Patricia Mennen: Wieso? Weshalb? Warum? junior – Sonne, Mond und Sterne, Illus: Peter Niederländer, Ravensburger Verlag, 5. Aufl. 2022, 16 Seiten, ab 2, 11,99 Euro
Poetisch wird es auf den zwölf Papp-Doppelseiten von Guck mal tief ins Weltall. Regina Schwarz liefert zu Sonne, Mond und fünf Planeten jeweils einen gereimten Vierzeiler mit den wichtigsten Infos. Dazu kommen ein Raketenstart und die Raumstation ISS. Die ausgestanzten Löcher in der Seitenmitte, werden mit jedem Umblättern kleiner und enden in einer Sternschnuppe, die natürlich einen Wunsch erfüllt. Auf jeder Doppelseite hat sich zudem ein kleines grünes Wesen versteckt, das gesucht werden muss. Ein liebevoller Einstieg in das Weltall-Thema!
Regina Schwarz: Guck mal tief ins Weltall, Illus: Lisa Apfelbacher, Kosmos, 2023, 24 Seiten, ab 2, 14 Euro
Weiter geht es mit dem nächsten gereimten Bilderbuch mit Loch. Auf jeder Doppelseite von Unsere 8 Planeten wird genau ein Planet in jeweils vier Zeilen vorgestellt. Und das ist echt gut gemacht, denn auf diesem wenigen Raum schafft es Chris Ferrie die wichtigsten Merkmal der Planeten unseres Sonnensystems unterzubringen. Uranus liegt auf der Seite und ist der kälteste, Saturn besitzt 80 Monde und daher so viele Ringe. Auf Venus ist es 500 Grad heiß und er strahlt am hellsten. Beim Reimen hat Übersetzerin Silke Pöppel super Arbeit geleistet. Denn das so auf den Punkt hinzubekommen ist überhaupt nicht einfach! Kleine Betrachter:innen bekommen hier also spielerisch die ersten harten Fakten über unsere Planeten. Und die Löcher, die auf jeder Seite ein bisschen kleiner werden, lassen immer die Sonne sehen, um die bekanntlich unsere Planeten kreisen. Ein wirklich tolles erstes Sternen-Buch!
Chris Ferrie: Unsere 8 Planeten, Illus: Lizzy Doyle, Übersetzung: Silke Pöppel, Penguin Junior, 2022, 20 Seiten, ab 3, 10 Euro
Nur wenige Seiten hat das Pop-up-Buch Im Weltall, doch die beherbergen filigrane Papierkunst, die sich beim Aufklappen entfaltet. Ein echtes Spektakel und ein wahrer Hingucker: Es startet eine Rakete ins All, zwei Astronauten hüpfen über den Mond, die ISS macht sich breit, ein Rover erkundet den rote Mars und zum Schluss umkreisen die Planeten die Sonne. Hier steht natürlich der Pop-up-Effekt im Mittelpunkt, aber erste Infos zum Weltall und zur Raumfahrt lassen sich auch hier finden. Ein dynamischer Einstieg ins Thema!
Laura Cowan: Mein erstes Pop-up-Buch: Im Weltall, Illus: Chaaya Prabhat, Übersetzung: Birgit Zimmerer, Usborne, 2023, 10 Seiten, ab 3, 13 Euro
Eine erdbezogene Annäherung an das Universum kommt von Vater und Tochter Hawking. Lucy, die Tochter des 2018 verstorbenen Astrophysikers Stephen Hawking, fasst hier das Erbe ihres Vaters in dem inklusiven Bilderbuch Schaut zu den Sternen! zusammen. Sie lässt Stephen Hawking sprechen, der davon erzählt, dass er die großen Fragen des Weltalls lösen wollte: Wie groß ist das Universum? Wie viele Sterne gibt es? Was ist ein Schwarzes Loch? Sind Zeitreisen möglich? Aber für ihn sind auch andere Fragen wichtige, die unser Zusammenleben auf der Erde betreffen: Wie können wir auf unseren Planeten aufpassen? Wie für eine lebenswerte Zukunft sorgen? Die Hawkings fordern hier bereits die kleinen Menschen auf, über diese Fragen nachzudenken und unseren Planeten und das gemeinsame Zusammenleben darauf zu schützen. Am Ende des Buchs beantworten sie noch einige Fragen zum Weltall, die den ersten Wissensdurst kleiner Astrophysiker:innen stillen, aber auch zum Weiterforschen anregen.
Stephen Hawking/Lucy Hawking: Schaut zu den Sternen! Gemeinsam unterwegs in Richtung Zukunft, Illus: Xin Li, Übersetzung: Knut Krüger, Penguin Junior, 2025, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Einen ersten Flug zur Raumstation ISS können mit Abenteuer im Weltraum Vorlesende und neugierige Kids gemeinsam unternehmen. In diesem Pappbuch fliegen die Kinder Marie und Luis ins All und erleben, wie mal als Astronaut:in auf der Raumstation den Alltag bewältigt. Die Schwerelosigkeit macht selbst das Schlafen zu etwas Besonderem – von den Toilettengängen und dem Haarewaschen mal ganz abgesehen. Dass die Kinder sogar Weltraumspaziergänge machen, ist zwar eigentlich Quatsch bzw. Fiktion, aber für die Identifikation mit dem Thema ganz schön. Auch hier gibt es wieder Klappen, hinter denen sich veränderte Illus und weitere Infos finden. Das Vorlesen wird so zum Gemeinschaftserlebnis. Dazu finden sich »Mach-mit!«-Aufforderungen, bei denen kleine Experimente durchgeführt werden können. Mit diesem Basis-Wissen über die Raumfahrt haben die Kinder nach der Lektüre schon eine ganze Menge Erstaunliches zu erzählen.
Volker Kratzenberg-Annies: WAS IST WAS Junior. Abenteuer im Weltraum, Illus: Niklas Böwer, Tessloff, 2024, 20 Seiten, ab 5, 14, 95 Euro
Lesealter 6-9
Leseanfänger können sich dann in Weißt du schon alles über das Weltall? in verschiedenen Formen ausprobieren. Hier gibt es kurze Text in einfacher Sprache, deren Silben farblich herausgehoben sind. So kann das Lesen ganz spielerisch geübt werden. Inhaltlich geht es um – na, klar – das Weltall, wie es entstanden ist, wie Sterne geboren werden und um Sonnen kreisen, wie aus kleinen Staubkörnchen Sternschnuppen werden, oder wie viele Menschen bereits auf der ISS waren. Am Ende jedes Kapitels gibt es ein Quiz, in dem das Gelesen wiederholt wird. Dazu kommen Seiten mit »Profiwissen zum Vorlesen«. Damit wird die Lektüre dieses Buches zu einem Gemeinschaftserlebnis von Groß und Klein. Und vermutlich lernen dann beide Seiten etwas über Sterne, Planeten und Schwarze Löcher. Nur, dass man dann schon alles über das Weltall weiß, sollte man wirklich nicht glauben …
Helen Seeberg: Dein Lesestart. Weißt du schon alles über das Weltall?, Dudenverlag, 2025, 64 Seiten, ab 6, 10 Euro
In Geheimnisvolles Weltall wird auf jeder Doppelseite ein neues Thema behandelt. Es beginnt mit dem Überblick über das Universum und die wichtigste Maßeinheit, das Lichtjahr. Nach und nach geht es weiter ins Detail: Urknall, Sonnensystem, Planeten. Bei letzteren gibt es Einblicke in deren Aufbau und Materialien, so erfahren die angehenden Astrophysiker:innen was »Mondglas« ist und dass es Meteoriten aus Stein, Eisen oder einer Mischung daraus gibt. Außerhalb unseres Sonnensystems faszinieren Helix-, Krebs- und Adlernebel ebenso wie die verschiedenen Formen der Galaxien. Exoplaneten könnten Lebensräume für Aliens sein. Und ein Rätsel gibt immer noch die Dunkle Materie auf, von der die Wissenschaft noch nicht weiß, woraus sie besteht. Dieses Kompendium mit kurzen, gut verständlichen Texten, befasst sich zu dem mit Raumtechnik und Raumfahrt, thematisiert das Problem des Weltraumschrotts, die Schwierigkeit der Marsmissionen und spekuliert über Aliens. Den Abschluss bildet der eigene Blick in den Himmel, an dem sich Sternbilder entdecken lassen.
Shoshana Z. Weider: Geheimnisvolles Weltall. Entdecke die unendlichen Weiten des Universums, Illus: Claire McElfatrick, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 80 Seiten, ab 7, 16,95 Euro
In dem Klappenbuch Abenteuer Weltraum gibt es jede Menge Sachen zum Ausklappen. Gleich die erste Doppelseite verdoppelt sich noch mal und zeigt in comichaften Illustrationen das Weltall mit Sternen, Planeten, Galaxien. In einfachen Worten und kurzen Sätzen wird die Entstehung von Sternen erläutert und wie sie wieder sterben. Auf einer mäandernden Zeitleiste gibt es Infos zur Geschichte der Astrophysik und den wichtigsten Protagonisten wie Galileo Galilei oder Albert Einstein. Auch das Sonnensystem wird wieder im Breitbandformat vorgestellt. Zu jedem Planeten sind Fakten und Zahlen zum Staunen eingestreut. Als Goody gibt es am Ende ein Heftchen mit kleinen Sternkarten, auf denen man die Sternbilder entdecken und sie gleich abends am Himmel suchen kann.
Katie Daynes: Ich weiß mehr! Abenteuer Weltraum. Vom Urknall bis zur Raumfahrt, Illus: Peter Allen, Übersetzung: n.n., Usborne, 2025, 12 Seiten ab 7, 16 Euro
Unklare Besitzverhältnisse sind bekanntermaßen nie gut. Sie führen meist zu Streit. Auch beim Weltraum, den wir ja nach und nach immer weiter erforschen und erobern, stellt sich diese Frage: Wem gehört eigentlich der Weltraum? Nur ist es hier nicht ganz so einfach. Anne Scheller nähert sich in ihrem Buch dieser Frage, indem sie zunächst erklärt, wo der Weltraum überhaupt beginnt und wie er entstanden ist. In kurzen Texten geht es durch die Geschichte von Universum und Raumfahrt. Von der Forschung auf der ISS und möglichen Touristentouren ins All gelangt sie zu den Satelliten, die unsere Erde umkreisen. Diese mittlerweile unverzichtbaren Helfer in unserem Alltag sind dort oben heute so zahlreich vertreten, dass es langsam fast etwas eng wird. Und sie entwickeln sich zu einem Problem: Kaputte Satelliten bleiben einfach in der Erdumlaufbahn und werden zu Weltraumschrott. Doch wer macht den wieder weg? Normalerweise sind die Eigentümer zum Aufräumen verpflichtet, aber die unendlichen Weiten gehören niemandem. Der Blick auf diese ungeklärten Verhältnisse und die ersten Ansätze zur Lösung dieser Probleme ist eine interessante Facette in diesem liebevoll illustrierten Buch.
Anne Scheller: Wem gehört eigentlich der Weltraum?, Illus: Julia Christians, Beltz & Gelberg, 2025, 62 Seiten, ab 7, 16 Euro
Zu einem Tripp ins All startet Mein galaktischer Weltraum-Atlas von Jane Wilsher. Auf jeder Doppelseite gibt es ein neues Thema, angefangen bei der Betrachtung des Sternhimmels von der Erde aus, über den Raketenstart und den Alltag im Kosmos. Kleine Texthäppchen liefern Erstlesenden erstaunliche Infos – beispielsweise muss die Zahnpasta heruntergeschluckt werden. Dazu gibt es knallbunte Illus, in denen vor allem die Technik der Raumfahrt dargestellt wird, wie der Mond- und auch der Marsrover. Zum Mitmachen und genauen Hinschauen animiert auf jeder Doppelseite ein bunter Kreis mit Fragen. So müssen die Sonneneruptionen gezählt oder der Planet mit dem Roten Fleck gesucht werden. Kleine Technik-Fans kommen hier voll auf ihre Kosten!
Jane Wilsher: Mein galaktischer Weltraum-Atlas. Eine Reise zu den Sternen und zurück, Illus: Paul Daviz, Übersetzung: Elena Bruns, moses. Verlag, 2024, 32 Seiten, ab 8, 14,95 Euro
Unter dem Sesamstraßen-Motto Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt bleibt dumm! werden in diesem Ringbuch 27 Fragen zum Weltraum gestellt und beantwortet. Zwei kleine Weltall-Alliens begleiten die Lesenden und liefern in Sprechblasen lustige Anmerkungen zu den vielen Infos, die sich um Sonne, Planeten, Kometen und die Milchstraße drehen. Auf zum Teil aufklappbaren Seiten entfaltet sich so ein grundlegender Überblick über das Universum. Es gibt zudem einen kurzen historischen Abriss über die wichtigsten Astronomen und Entdecker. In der Abteilung »Spezial-Wissen« wird ein Faktum des jeweiligen Themas vertieft, beispielsweise wie sich in der Sonne Protonen in Neutronen verwandeln. Aber es bleibt nicht bei der Theorie, denn hier finden sich auch Anregungen, wie man die Phänomene des Alls in Experimenten nachstellen kann. Da wird dann eine Luftballon-Rakete gebaut, die Wirkung der Schwerelosigkeit oder eines Schwarzen Lochs gezeigt. Abgerundet wird alles durch aufschlussreiche Interviews mit noch lebenden Astronomen, Astrophysikern und Astronauten. Die Frauen der Astrophysik fehlen allerdings gänzlich.
Stefan Greschik: Wieso? Weshalb? Warum? Profiwissen – Weltraum, Illus: Jochen Windecker, Ravensburger Verlag, 10. Auflage 2014, 56 Seiten, ab 8, 14,99 Euro
Wahrscheinlich eine der wichtigsten Fragen in Sachen Weltraumfahrt ist natürlich: Wie geht man im Weltall aufs Klo? Eine vereinfachte Antwort findet sich in diesem Klappenbuch. Dazu noch jede Menge andere Fragen, wie: Wer erfand Raketen? Wo gehen Astronauten zur Schule? Warum funkeln Sterne? Welche Tiere nutzen Mond und Sterne? Wissensdurstige Leser:innen finden dann hinter den Klappen die kurzen, aber präzisen Antworten. Wissensvermittlung findet hier ganz spielerisch statt. Trotzdem wird auf wenigen Seiten mit mehr als 50 Fragen eine große Bandbreite an Weltraumwissen geboten.
Katie Daynes: Wie geht man im Weltall aufs Klo?, Illus: Peter Donnelly, Übersetzung: Andrea Reinacher, Usborne, 2. Auflage 2024, 14 Seiten, ab 8, 14 Euro
Auslöser für dieses Weltall-Special war meine Übersetzung von Camilla De la Bedoyeres Mein großes Buch vom Weltall, das nun endlich im Handel ist. Es ist mit 64 Seiten eigentlich nicht so dick – der ursprüngliche Titel lautete auch ganz anders –, aber vom Format her mit fast 35 cm Länge eben ziemlich groß. Es zeigt liebevoll illustriert die wichtigsten Elemente des Weltalls: Unser Sonnensystem mit Planeten, Sonne, Erde und Mond; die Entstehung von Sternen und was aus ihnen wird; die verschiedenen Galaxien und die nördliche und südliche Hemisphäre. Ein Überblick über die ersten Reisen ins All fehlt ebensowenig wie die Erkundung von Mars und die Suche nach außerirdischem Leben. Als ein erster Einstieg in die Materie ist es zum Blättern, Schauen und Entdecken super geeignet.
Camilla De la Bedoyere: Mein großes Buch vom Weltall, Illus: Aaron Cushley, Übersetzung: Ulrike Schimming, carlsen, 2025, 64 Seiten, ab 8, 16 Euro
Noch ein paar Zentimeter größer ist der Atlas des Weltalls, in dem in fünf Überkapiteln Fragen zum All beantwortet werden: Was sehen wir mit bloßem Auge? Wo sind wir? Wie sind die anderen Planeten? Was sehen moderne Teleskope? Wie erforscht der Mensch das All? Den Auftakt machen verschiedene Sternbilder und Himmelskarten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Die alten Griechen sahen etwas anderes in den Sternen als die Chinesen, Afrikaner oder Navajo. Dieser Blick über unseren Himmelshorizont hinaus ist spannend und anregend. Weiter geht es dann mit der Position der Erde in der Galaxie Milchstraße und den Portraits unser Planeten. Bei der Betrachtung durch die Teleskope kommt man später noch mal auf die Sternbilder zurück. Die grafisch ansprechenden Illustrationen abstrahieren die Himmelsphänomene und wirken dabei sehr modern.
Lara Albanese: Atlas des Weltalls. Die Geheimnisse des Himmels und der Sterne, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Übersetzung: Claudia Koch, midas, 2021, 88 Seiten, ab 8, 25 Euro
Spielerisch geht es in dem Wissenwelten-Buch über das Weltall zu. Die wenigen, aber sehr aufwändig produzierten Seiten haben es in sich: Hier findet man überall kleine Klappen, hinter denen sich weitere Informationen z. B. über die Sonne, die Planeten, Atome oder Raumfahrttechnik verbergen. Fast kommt man sich wie bei einem Adventskalender vor – hinter jedem Türchen eine Überraschung. Auf einer großen ausklappbaren Doppelseite sieht man dann sogar die Planten um die Sonne kreisen. Die kurzen Texte sind durch die Übersetzung von Birgit Reit sehr gut verständlich und auch für junge Leser:innen geeignet. Die Cut-outs und Löcher in den Seiten werden zu einem zusätzlichen Hingucker, die immer wieder neue Perspektiven ermöglichen. Die teilweise dreidimensional angelegten Illustrationen in poppigen Farben vermitteln in ihrer Abstraktion einen ersten Eindruck des Universums um uns. Langweilig wird es einem bei diesem Buch nicht.
Gail Armstrong (Illus): Wissenswelten Weltall. Schicht für Schicht die Weiten des Universums entdecken, Text: Ruth Symons, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 28 Seiten, ab 8, 19,95 Euro
Mit einem witzigen Anstrich geht es in dem Comic Auf der Raumstation zur ISS. Hier dreht sich alles um das Leben der international zusammengewürfelten Crew im Weltall. Jungastronautin Becky führt die Leser- und Betrachter:innen durch das Innere der Raumstation und zeigt, wie ein Tag 400 Kilometer über der Erde so abläuft. Dabei geht es weniger um Sterne und Planeten, sondern um die ganz alltäglichen Dinge im All: Wieso schwebt alles? Und wieso ist das Schweben eigentlich ein Fallen? Stichwort: Mikrogravitation. Auch die Nahrung im All hat ihre Besonderheiten. Nichts darf krümeln, damit die herumschwebenden Bröckchen nicht in die Bordelektronik geraten und eine Katastrophe auslösen. Daher gibt es eher Tortilla-Wraps anstatt Chips, alles ist in Dosen oder Plastik verpackt und Gurte, Magneten und Klettbänder helfen, dass die Dinge an Ort und Stelle bleiben. Aber Becky berichtet auch von den Tieren und Pflanzen, die zu Forschungszwecken mitfliegen, den körperlichen Veränderungen, die die Astronaut:innen bei ihrem Aufenthalt im All durchmachen, und dem Training, damit sie fit bleiben. Wer nach dieser Lektüre immer noch ins All will, dem erzählt Becky, wie lang und umfangreich die Ausbildung zum Astronauten ist. Danach kann eigentlich nichts mehr schief gehen.
Rob Lloyd Jones: 24-Stunden-Abenteuer. Auf der Raumstation, Illus: Laurent Kling, Übersetzung: Andrea Reinacher, Usborne, 2025, 64 Seiten, ab 8, 13 Euro
ESA-Astronaut Matthias Maurer verbrachte 175 Tage auf der ISS und hat nun zusammen mit Autorin Sarah Konrad und Illustratorin Noa Sauer den Comic Training für den Mond vorgelegt, in dem er von seinem größten Traum erzählt: nämlich einmal über den Mond zu hüpfen. Was scheinbar eine leichte Übung in der Raumfahrt sein sollte – schließlich waren die Menschen schon vor mehr als 50 Jahren auf dem Mond – entpuppt sich jedoch als eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Und die muss sehr gut vorbereitet werden. Mauerer nimmt die Leserschaft mit zu diesem intensiven Training, das die Astronaut:innen bewältigen müssen. So geht es in steinige Gebirge, dunkle Höhlen, trockene Wüsten, um dort das genaue Beobachten zu lernen und zu üben, in Raumanzügen und mit Greifern Gesteinsproben zu nehmen. Nur sind die natürlichen Bedingungen der Erde selbstverständlich nicht mit denen auf dem Mond zu vergleichen. Daher hat die ESA in der Nähe von Köln das Mondtrainingszentrum LUNA gebaut. Und auch dorthin nimmt Maurer uns mit und schenkt uns einen hochinteressanten Einblick in all das, was auf dem Mond alles zu beachten ist. Allein, dass das Licht wegen der mangelnden Atmosphäre anders ist und Schatten wirklich pechschwarz sind, stellt eine Herausforderung dar. Mauer erzählt lustig und manchmal selbstironisch, immer jedoch hochinformativ. Der Respekt für die Leistung der Astronaut:innen steigt nach dieser Lektüre umso mehr.
Matthias Maurer/Sarah Konrad: WAS IST WAS. Training für den Mond, Illus: Noa Sauer, Tessloff, 2025, 112 Seiten, ab 8, 16,95 Euro
Ebenfalls auf der ISS spielt die fiktive Geschichte, die die italienische Raumfahrerin Samantha Cristoforetti zusammen mit Emma Roberts geschrieben hat. Darin verbringt die junge Cassie Futura ein halbes Jahr auf der ISS – was natürlich reine Fiktion, aber dicht an der Zielgruppe ist. Cassie beschreibt in ihrem Tagebuch, was sie dort oben alles erlebt. Eine Tutorin gibt dem Mädchen aus dem Missionkontrollzentrum auf der Erde bestimmte Aufgaben, die sie während ihres Aufenthalts auf der Raumstation lösen muss. Hier wechseln sich Cassies Tagebucheinträge mit grau umrandeten Erklärseiten ab (Cassies Aufgaben), in denen beispielsweise der Aufbau der ISS, die Funktion des Webb-Weltallteleskops oder botanische Experimente erklärt werden. Natürlich haben auch Weltraumnahrung und Weltraumklogänge ihren Platz. In der Mitte des Buches finden sich dann ein paar Seiten mit farbigen Fotos, die Samantha Cristoforetti auf ihrer Mission 2022 in der ISS zeigen. Samantha und ihre weibliche Protagonistin Cassie machen also neben der ganzen ISS-Vermittlung, die in Zusammenarbeit mit der ESA entstanden ist, deutlich, dass auch Frauen ins Weltall fliegen. Das ist bei der männlichen Dominanz in diesem Beruf immer noch nicht selbstverständlich, wird aber durch solche Vorbildbücher langsam aufgebrochen. Endlich.
Samantha Cristoforetti/Emma Roberts: Cassie Futura. Mit 11 1/2 Jahren im Weltall. Mein Tagebuch – streng geheim!, Übersetzung: Moritz Langer, Dorling Kindersley, 2025, 160 Seiten, ab 8, 12,95 Euro
Wer nicht nur lesen und Wissen aufsaugen möchte, hat bei Memo Wissen Weltall die Gelegenheit zu quizzen. Über die Lernplattform Kahoot! kann man testen, ob man auch all die vielen Zahlen und Infos über Planeten, Weltraummissionen, Sternengeburten und Galaxien behalten und abrufen kann. Personengebundene Daten werden dabei nicht erhoben, man spielt unter einem Nickname. Anmeldung und Benutzerkonto sind nicht erforderlich. Zuvor sollte man jedoch das Buch genau lesen, denn manche Antworten sind nicht allgemein bekannt und es kommt auf das Detail an. Aber auch das macht bei den vielen Fotos und Illustrationen Spaß. Die kurzen Texte überfordern niemanden. Im Battle mit den Erwachsenen kann man dann spielerisch herausfinden, wer mehr über das Weltall und die Raumfahrt weiß.
Robin Kerrod: Memo Wissen Weltall, Übersetzung: Susanne Schmidt-Wussow, Dorling Kindersley, 2025, 72 Seiten, ab 8, 12,95 Euro
Fast wie ein Videospiel ist die Mission zum Mars aufgemacht. In neonknalligen science-fiction-artigen Illus wird eine Crew zum Mars geschickt. Als Crew-Mitglied muss man auf jeder Doppelseite eine Entscheidung treffen und wird so kreuz und quer durchs Buch geschickt. Man kann es natürlich auch ganz klassisch von vorn nach hinten lesen, aber dann geht die Spannung verloren. So erfährt man spielerisch, was für ein langwieriges und schwieriges Unterfangen es ist, a.) überhaupt auf den Mars zu gelangen, b.) dort zu überleben und c.) beispielsweise sich dort fortzubewegen und Gesteinsproben zu nehmen. Gerade träumen so einige Menschen von der Besiedlung dieses Planeten, aber noch ist das alles ziemliche Zukunftsmusik und vom Nutzen her auch eher fragwürdig. Aber in diesem interaktiven Abenteuer, das zusammen mit der ESA entwickelt wurde, bekommen die Kids eine Ahnung von den Herausforderungen der Astrophysik. Und manchmal muss man auch einfach groß träumen.
Sheila Kanani: Mission zum Mars. Aufbruch zum Roten Planeten, Illus: Adamstor, Übersetzung: Maria Zettner, Dorling Kindersley, 2025, 64 Seiten, ab 8, 14,95 Euro
Die WAS-IST-WAS-Bücher gab es ja schon zu meiner Kindheit, was auch schon ein halbes Jahrhundert her ist, und immer noch werden sie gepflegt und regelmäßig überarbeitet. Im aktuellen Universum-Band finden sich jetzt spektakuläre Illus und Bilder. Wobei hier endlich mal die Anmerkung auftaucht, dass viele Illustrationen nur eine Fantasie bzw. eine Vorstellung sind, wie es möglicherweise im All aussehen könnte. Das sensibilisiert ganz gut dafür, dass das Universum immer noch ein großes Unbekanntes ist. Neben den üblichen Infos über Sterne, Sonnen, Planeten, Sterngeburten und -tode beschreibt der Astrophysiker Kratzenber-Annies auch andere Theorien wie die vom Multiversum oder die Stringtheorie. Humoristisch wird es, wenn er sich das Weltall als Donut vorstellt oder ein (natürlich fiktives) Interview mit einem Alien führt. Das lockert die schwierige Materie auf, die ansonsten in bester WAS-IST-WAS-Manier in kurzen, gut verständlichen Texten umfangreiches Wissen vermittelt.
Volker Kratzenberg-Annies: WAS IST WAS Universum. Galaxien, Sterne, Schwarze Löcher, Tessloff, 2025, 48 Seiten, ab 8, 14,95 Euro
Wenn sich die Planeten-Begeisterung bei den Kindern halten sollte und sie mehr wissen wollen, bietet sich Sophie Allans Die Planeten an. Hier geht es rein in unser Sonnensystem bzw. zunächst einmal in unsere Galaxis, die Milchstraße. Übersetzerin Birgit Reit schafft es, die komplizierten Fakten mit ihren ganz speziellen Fachbegriffen so einfach zu schildern, dass Kinder mit ersten Lesekenntnissen hier bereits einsteigen können. Die Planeten werden dann natürlich einzeln vorgestellt, ihre Besonderheiten herausgehoben und nützliche Vergleiche gezogen, um sowohl Größe, Entfernungen und Beschaffenheit genau einordnen zu können. Beim Mond geht es dann selbstverständlich auch um die Mondmissionen der NASA und die ersten Menschen, die auf unserem Trabanten spazierten. Die Marsmissionen werden ebenso erläutert und machen klar, wie schwierig die Erforschung der anderen Planeten ist. Je weiter entfernt die Planeten von der Erde sind, umso schwieriger wird es natürlich. Illustrativ wird hier sowohl mit Zeichnungen als auch mit Fotos von der NASA gearbeitet. Das liefert neben anschaulichen, gut verständlichen Illus auch einen ersten wissenschaftlichen Blick ins Universum.
Sophie Allan: Die Planeten. Entdecke unser faszinierendes Sonnensystem, Illus: Dawn Cooper, Übersetzung Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2024, 80 Seiten, ab 9, 14,95 Euro
Nach all den Fakten über das All, die uns mittlerweile bekannt sind, stellt man sich irgendwann unweigerlich die Frage: Was kommt hinter dem Universum? Philosoph Jörg Bernardy, der mit Kindern und der Maus über die wichtigen, grundlegenden Fragen des Lebens nachdenkt, versucht, darauf eine Antwort zu finden. Spoiler: Er weiß es auch nicht. Aber das ist vielleicht auch nicht entscheidend. Wichtiger ist, sich über den Begriff »Unendlichkeit«, der im Zusammenhang mit dem Universum immer wieder fällt, Gedanken zu machen. Und so stellt Bernardy hier nach bester Philosophen-Manier unzählige Fragen – über Zahlen, Grenzen, Größen, Dauer, Langeweile, Wurst und Käse, Schneeflocken und das Leben. Das mag mit dem Weltall nicht so viel zu tun haben, eröffnet aber das Universum in uns und trägt zum Verständnis unseres Daseins in dieser Unendlichkeit bei. Denn nur, wenn wir unsere Endlichkeit begreifen, haben wir möglicherweise eine Chance, uns dem Phänomen der Unendlichkeit und dem nicht zu begreifenden Universum anzunähern, ohne dabei den Kopf zu verlieren.
Jörg Bernardy: Was kommt hinter dem Universum? (Fast) alles über die Unendlichkeit, Illus: Andrea Stegmaier, Beltz & Gelberg, 2024, 62 Seiten, ab 8, 18 Euro
Lesealter 10-12
Einen ganz besonderen und hochaktuellen Blick ins Universum bekommt man in Jenseits der Unendlichkeit. An Weihnachten 2021 startete das James-Webb-Weltraumteleskop ins All und schickt seitdem spektakuläre Fotos von uralten Galaxien, Sternnebeln und Saturnmonden. Auf den ersten Seiten wird der Aufbau und die Funktion dieses neuesten Teleskops erläutert. Vergleiche mit den Fotos vom Vorgänger Hubble verdeutlichen, wie sehr sich die Weltraumfotografie verbessert hat. Forschende können nun noch genauer die Geheimnisse des Universums erkunden und Rückschlüsse auf seine Entstehung, die Geburt von Sternen und mögliche Planeten mit Leben machen. Top-Forscherinnen wie Quyen Hart, Megan Reiter, Naomi Rowe-Gurney und Tiffany Kataria beantworten Fragen zu unterschiedlichsten Themen, wie dem Wetter auf anderen Planeten, die Geheimnisse des Sonnensystems und Aliens. Und diese Runde zeigt einmal mehr, dass Astrophysik keine Männerdomäne mehr ist, sondern sehr viele Frauen dort ganz selbstverständlich neue Erkenntnisse liefern. Die Fotos sind tatsächlich spektakulär – so erscheint der sonst immer rot gezeigte Jupiter auf einmal in grün-blau-weißen Streifen mit roten Polarlichtern. Man hat kann hier also über die Fotos staunen und bekommt daneben in verständlichen Grafiken, die Technologie hinter dem Webb-Teleskop erklärt und wie man mit Licht die verschiedenen chemischen Elemente im All ermitteln kann. So scheint das All plötzlich ganz nah.
National Geographic Kids: Jenseits der Unendlichkeit, Übersetzung Katja Hald, Ravensburger Verlag, 2025, 80 Seiten, ab 10, 16,99 Euro
Haben die Sternengucker:innen schließlich Lust bekommen, selbst ins All zu fliegen, so finden sie in Dein Ticket ins Weltall Informationen zur Raumfahrt. Kate Peridot stellt anschaulich die verschiedenen Transportraketen vor, was sie können und wie das »Leben« darin abläuft. Sie erklärt nur am Rande die Sterne, wie beispielsweise den Mars, wenn sie die geplanten Marsmissionen der Zukunft schildert. Astrophysik kommt in gut dosierten Maßen und leicht verständlich daher. So erfahren die Lesenden, wie sie Nachrichten ins All übermitteln können. Hier vermischen sich der aktuelle Technikstand der Raumfahrt mit der Fantasie und der Vorstellung des Lebens im All. Vieles ist tatsächlich Zukunftsmusik, die vermutlich sogar die heutige Zielgruppe dieses Buches nicht erleben wird. Aber wer – wie irgendwelche durchgeknallte Tech-Milliardäre aus Silicon Valley – groß denken und dabei mitmachen will, findet hier Infos, wie man auf der ISS duscht und warum man sich dort auch um Pflanzen kümmern muss. Am Ende gibt es ganz praktische Vorschläge, wie zukünftige Raumfahrende ihre Fähigkeiten fürs All schon hier auf der Erde trainieren können. Wer das dann durchzieht und länger durchhält, hat vielleicht wirklich Chancen irgendwann um die Erde zu kreisen oder gar zum Mars zu fliegen.
Kate Peridot: Dein Ticket ins Weltall. Wie du von der Erde ins Universum durchstartest, Illus: Terri Po, Übersetzung: Silke Körber, Knesebeck Verlag, 2025, 64 Seiten, ab 10, 20 Euro
Schon ausführlicher und weiter ins Detail geht es in Erstaunliches Universum. Neben den klassischen Infos zu Urknall, Planeten und Sonnensystem erfährt man Interessantes zu Weltraumschrott und Treibstoffen, mit denen die Raketen angetrieben werden. Auch Phänomene wie die Oorthsche Wolke, Supernovae, Schwarze Löcher und Neutronensterne werden leicht verständlich erklärt – auch wieder Dank der Übersetzung von Birgit Reit. Nach und nach fließt die Physik in die Texte mit ein. Die Mischung aus Weltraumfotografien und wunderschönen aquarellierten Illustrationen bietet jede Menge Anschauungsmaterial. Und bei einem Umfang von 176 Seiten kann man sich auf ein langes Lese- und Erkundungsabenteuer freuen. Dieses Kompendium deckt damit so gut wie alle wichtigen und bekannten Bereiche des Universums ab.
Sophie Allan/Josh Barker: Erstaunliches Universum. Von spannenden Raumfahrt-Missionen und fernen Galaxien, Illus: Tim Smart, Übersetzung: Birgit Reit, Dorling Kindersley, 2025, 176 Seiten, ab 10, 19,95 Euro
Der niederländische Grafikdesigner Jan Van Der Veken konzentriert sich in seinem Werk ganz auf die Raumfahrt. In großartigen Illus, die sich jeweils über die oberen zwei Drittel einer Doppelseite ziehen und ganz offensichtlich von Hergé inspiriert sind, stellt er alle Bereiche der Raumfahrt vor. Das beginnt mit den Bestandteilen der Raketen und der Raketenkontrolle, umfasst aber auch die Geschichte der Raumfahrt wie den russischen Sputnik und Gagarin als ersten Menschen im All. Van Der Veken zeigt die Flugbahn zum Mond und wie das Landemodul auf dem Erdtrabanten aufsetzt. Natürlich fehlen weder die Raumstation MIR noch die wiederverwendbaren Spaceshuttles und die ISS. Launige Texte, von Rolf Erdorf lässig übersetzt, erläutern dann, was es mit der Technik auf sich hat, wo der Weltraumschrott auf der Erde entsorgt wird und welche unerklärlichen Objekte so schnell durch unsere Galaxie sausten, dass sie nicht erforscht werden konnten. Dieses Buchkunstwerk war 2024 als Wissenschaftsbuch nominiert und ist ein Augenschmaus.
Jan Van Der Veken: Das Raumfahrt-Buch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Gerstenberg Verlag, 2024, 104 Seiten, ab 10, 25 Euro
Im ungewöhnlichen Querformat von Alles dreht sich widmet sich die Katalanin Aina Bestard unserem Sonnensystem. Dabei geht sie ganz klassisch von den allgemeinen Infos aus, um sich dann, beginnend bei der Sonne durch die Planeten, den Asteroidengürtel, die Monde bis zu den Grenzen unseres Sonnensystems vorzuarbeiten. Die zumeist monochromen Illus erinnern an Radierungen und werden mittels durchscheinenden Pergamentseiten und einem ausklappbaren Planeten-Panorama zu beeindruckender Buchkunst. Aina Bestard hat sich dabei von den wissenschaftlichen Illustrationen des 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Diese Kunst geht über das rein Wissenschaftliche hinaus und verdeutlicht um so mehr die Faszination, die das Universum auf uns alle ausübt. Die kurzen Texte, geschmeidig von Ursula Bachhausen übersetzt, liefern Zahlen, Infos und die aktuellen Fakten. 2023 war dieses Werk als Wissenschaftsbuch nominiert.
Aina Bestard: Alles dreht sich. Die Wunder unseres Sonnensystems, Übersetzung: Ursula Bachhausen, Gerstenberg Verlag, 2023, 60 Seiten, ab 10, 26 Euro
523 bemerkenswerte Informationen und ziemlich viel Text finden sich in Jan Paul Schuttens Buch Das Weltall oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde. Hier muss man also wirklich Lust aufs Lesen haben. Doch zum Glück sind die Seiten immer wieder mit den grafischen Illus von Floor Rieder aufgelockert. Die Lesenden werden in der legeren Übersetzung von Verena Kiefer geduzt und direkt angesprochen – und so immer bei den riesigen Zahlen, die Schutten liefert, und den vielen Einzelheiten zur Entstehung des Universums, der Zeit, den chemischen Zusammensetzungen der Materie und des Menschen mitgenommen. Vom Kleinen bewegen wir uns hier immer weiter zum Größeren, hinaus ins All. Dabei geht es weniger um die üblichen Erklärungen zu Sonne und Planeten, sondern mehr um die Art, wie wir das All erkunden, welche Fragen sich stellen, welche Rätsel und Geheimnisse noch ungelöst sind und vielleicht bleiben. Zwischendrin gibt es Hinweise zum Innehalten, um die Dinge hier auf Erden noch weiter zu hinterfragen oder sich von Einsteins Theorien zu erholen. Ein Rezept für Blaubeerkuchen lädt zum Machen ein und erklärt dann noch ganz nebenbei die Ausdehnung des Universums. Aus dieser Lektüre kommt man nicht als Raumfahrende:r, sondern viel mehr als Philosoph:in wieder heraus. Denn das Fragenstellen ist fast wichtiger, als die eindeutigen Antworten. So war dieses Buch 2022 durchaus verdient für den Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch nominiert.
Jan Paul Schutten: Das Weltall oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde, Illus: Floor Rieder, Übersetzung: Verena Kiefer, Gerstenberg Verlag, 2. Auflage 2022, 160 Seiten, ab 12, 28 Euro
Lesealter ab 14
Einen wahren Prachtband hat ein Autorenteam aus vier Physiker:innen und Astronom:innen vorgelegt. In Kosmos blicken wir anhand von aktuellen Fotos, die u.a. das James-Webb-Weltraumteleskop gemacht hat, in die Tiefen des Alls. Auftakt machen jedoch zunächst Erläuterungen über das Licht, wie es eingefangen wird, mit welchen Teleskopen die Menschen einst den Sternhimmel beobachteten. Über die Portraits unserer Sonne und unserer Planeten geht es dann immer weiter in das Weltall, zur Milchstraße, zu Supernovae, diffusen Nebeln und Schwarzen Löchern. Zwischen diesen hochaktuellen Fakten finden sich dann regelmäßig Kapitel über die Geschichte der Sternkunde und Astronomie. Alte Zeichnungen, Grafiken, Gemälde und Objekte zeigen das damalige Wissen, das dem unseren manchmal verblüffend genau entspricht, manchmal jedoch auch die Fantasie der Menschen spiegelt. Diese zeigt sich vor allem in den Sternkarten, denen am Endes dieses Kompendium viel Raum gegeben wird. Alte Sternkarten und Zeichnungen der 88 offiziellen Konstellationen werden mit aktuellen Weltraumfotos kombiniert. Hier ergeben Wissenschaft und Mythologie eine faszinierende Mischung.
Abigail Beall/Philip Eales/Carolyn Kennett/Giles Sparrow: Kosmos. Wunderwelt des Universums, Übersetzung: Stephan Matthiesen, Dorling Kindersley, 2025, 416 Seiten, 49,95 Euro
Wer sich intensiver mit der Astronomie befassen will, aber noch keine Lust auf reine Physik- und komplizierte Fachbücher hat, findet in Alles über Astronomie längere, tiefer gehende Text mit jeder Menge Informationen, Zahlen, Übersichten, Listen, beispielsweise über die »10 hellsten Sterne am Himmel« oder »Heiße und kühle Sterne«. Ergänzt werden die Text durch unzählige, spannende Weltraum- und Planetenfotografien, die ins Detail gehen. So bekommt man einen hervorragenden Eindruck, mit welchen Daten und welchem Bildmaterial die Profis auf der Erde arbeiten, um den Raum zu erforschen. Im hinteren Teil des Buches liefert das Autoren-Duo (über die es im Buch leider keine biografischen Infos gibt) praktische Tipps zur Himmelsbeobachtung. Monat für Monat zeigen sie den Sternhimmel und die daran zu erkennenden Sternbilder. Eine kurze Übersicht über Fernrohre und Teleskope erklärt, welche Hardware wichtig ist, um als Hobbyastronom:in in der Nacht wirklich etwas erkennen und eigene Sternfotos machen zu können.
Mark Emmerich/Sven Melchert: Alles über Astronomie. Das Einsteigerbuch. Die Wunder des Weltalls entdecken, Stern und Planeten beobachten, Kosmos, 6. Ausgabe 2025, 208, Seiten, ab 14, 16 Euro
In Zusammenarbeit mit der ESA entstand der aufwendige Comic Aufbruch ins Weltall, der sich an bereits ältere Lesende und Erwachsene richtet. Auf gerade einmal 192 Seiten wird die verwickelte Geschichte der Raumfahrt geschildert. Dabei beginnt es ganz klassisch mit dem Urknall und der Entstehung des Universums, reißt ziemlich kurz die Astronomie-Geschichte von Altertum bis zur Neuzeit ab, um sich dann ausführlich, dem Wettrennen zwischen der Sowjetunion und den USA in Sachen Weltraumeroberung zu widmen. Die Wissensvermittlung findet hier natürlich in den Sprechblasen statt, was durchaus anspruchsvoll ist. Zumal es sehr viele Figuren bzw. Wissenschaftler gab, die in Sachen Raumfahrt mitgemischt haben. Aber so wird eindrücklich deutlich, wie lang es überhaupt gedauert hat, bis die erste bemannte Rakete den Orbit erreicht hat und die ersten Menschen überhaupt den Mond betreten konnten. Das Weltall lässt sich also nicht so einfach bereisen, geschweige denn besiedeln. Natürlich fehlen auch popkulturelle Anspielungen nicht, wie auf die Filme 2001 – Odyssee im Weltraum, Armageddon und Dont’t Look Up. Von der NASA geht es am Ende dann zur ESA und den aktuellen Raumfahrern wie Alexander Gerst, Matthias Maurer und Astronautinnen wie Amelie Schoenenwald und Nicola Winter. Reines Science-Fiction ist das Abschlussszenario, bei dem eine Schulklasse auf einem Planeten landet und sich bereit macht für die Besiedlung. Aber wer weiß – eines fernen Tages wird es möglicherweise so kommen.
Arnaud Delalande: Aufbruch ins Weltall. Eine kurze Geschichte der Raumfahrt, Illustration: Éric Lambert, Übersetzung: Anja Kootz, Knesebeck Verlag, 2025, 192 Seiten, ab 14, 28 Euro
Normalerweise besprechen wir auf dieser Plattform keine Geschichte zwei Mal, doch nun muss es sein. Denn seit Kurzem liegt die Graphic Novel Die kleinen Königinnen von Magali Le Huche vor. Dabei handelt es sich um die graphische Visualisierung des Romans Die Königinnen der Würstchen von Clémentine Beauvais, der Mitte der 2010er Jahre erschienen ist und damals mit dem LUCHS ausgezeichnet wurde. Heute ist dieses Buch leider vergriffen. Umso schöner, dass diese fulminante Geschichte nun wieder zu lesen und zu bestaunen ist.
Gemeinsames Schicksal
Zur Erinnerung: Mireille, Astrid und Hakima teilen sich die zweifelhafte Ehre, in ihrer Schule von ihrem Mitschüler Malo zur »Wurst des Jahres« gekürt worden zu sein. Damit bezeichnet der Junge die hässlichsten Mädchen der Schule und postet das Ganze natürlich breitenwirksam im Internet. Es ist eine an Gehässigkeit kaum noch zu übertreffende Aktion, über die sogar die Presse berichtet, jedoch ohne die Mädchen selbst dazu zu befragen.
Doch die drei »Würste« tun sich zusammen, zunächst eigentlich nur, um sich gemeinsam auszuheulen und zu trösten. Doch schnell wird daraus ein Road-Trip der besonderen Art. Die drei radeln quer durch Frankreich nach Paris, wo am französischen Nationalpalast im Élysée-Palast das Sommerfest der Präsidentin stattfinden soll. Und jede der drei hat einen guten Grund, diese Party zu crashen. Mireille will ihren leiblichen Vater, den Ehemann der Landeschefin, kennenlernen, Astrid ihre Lieblingsband live erleben und Hakima den General zur Rede stellen, der dafür verantwortlich ist, dass ihr Bruder Kader im Krieg beide Beine verloren hat.
Ideenreichtum und Mut
Allerdings ist so eine Reise ohne Geld kaum zu machen. Die Mädels sind jedoch nicht auf den Kopf gefallen und so entwickeln sie einen Plan: Mit dem Fahrrad und einem Anhänger werden sie durchs Land radeln und während der Tour – ja, genau – Würstchen verkaufen. Hakimas Bruder wird sie als Aufsichtsperson im Rollstuhl begleiten. Ideenreichtum, Unternehmensgeist und Mut treffen hier aufeinander. Was dann folgt, ist abgesehen von der anfänglichen Anstrengung des Radfahrens – die drei sind nicht gerade sportlich, was Mireilles Mutter ganz böse kommentiert: »Das strafft die Oberschenkel.« – ein Triumphzug. Denn das Unternehmen der Mädchen spricht sich im Netz und in den Medien herum.
Graphische Liebeserklärung an die Königinnen
In ihrer Graphic Novel hat Magali Le Huche diese drei Heldinnen in einem etwas schrägen, aber sehr passenden Stil in in Szene gesetzt. Geht es anfänglich und oberflächlich um Schönheit, so ist hier nichts wirklich schön dargestellt, sondern bunt und vielfältig wie das Leben eben so ist. Die Tiefe der Figuren findet sich in den knackigen und selbstbewussten Dialogen – aus der Übersetzung von Annette von der Weppen – wieder, ebenso wie die Dramen und Verletzungen, die bereits Kinder erleben müssen. Den Herausforderungen des Lebens, einschließlich der Loslösung von den Erziehungsberechtigten, stellen sich Mireille, Astrid und Hakima gemeinsam, was sie zu einer starken Gemeinschaft zusammenschweißt. Die Freundschaft, die zwischen den drei Mädchen entsteht, wirkt empowernd auf junge Leserinnen, die sich in diesen harten Internet-Zeiten gegen Mobbing und Body-Shaming wehren müssen. Beauvais und Le Huche zeigen in dieser Kombination aus einer fesselnden Story und coolen Illus nonchalant, wie schnell sich die Dinge im Leben und im Netz drehen können, wie zweischneidig und vergänglich Ruhm sein kann und wie viel wichtiger wahre Freunde im Leben sind, mit denen man Höhen und Tiefen teilen kann.
Vielleicht wäre dies der richtige Moment für den Carlsen Verlag eine Neuauflage des Romans von Beauvais herauszubringen, denn diese Geschichte hat nichts an ihrem Biss und ihrer Message verloren, sondern ist aktueller denn je.
Magali Le Huche: Die kleinen Königinnen, nach dem gleichnamigen Buch von Clémentine Beauvais, Übersetzung: Annette von der Weppen, reprodukt, 2025, 156 Seiten, ab 13, 29 Euro
Neulich hat Robert De Niro beim Fillmfestival in Cannes betont, dass Künstler:innen Faschisten und Autokraten Angst einjagten und daher unverzichtbar und wichtig seien. Diese Kritik an der aktuellen Regierung der USA kam gut an, der Applaus war immens. Was für eine Gratwanderung die künstlerische Arbeit in Diktaturen ist, zeigt die Graphic-Novel-Künstlerin Isabel Kreitz in ihrem neuesten Werk, Die letzte Einstellung.
Sie erzählt darin die Geschichte von Autor Heinz Hoffmann, der 1933 als Filmkritiker bei der Zeitung arbeitet, doch anstatt den neuesten Charlie-Chaplin-Film rezensieren zu dürfen, muss er Nazi-Propaganda sehen – »Propaganda mit Leiche«, wie er seiner Begleitung, seiner Sekretärin Erika, erklärt. Während seine intellektuellen Freunde offen darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen, will Hoffmann in Deutschland bleiben, denn er ist kein Jude und möchte die Entwicklungen im Land beobachten und darüber schreiben. Er sieht es als berufliche Pflicht an.
Die Intelligenzia geht in die Emigration
Zudem arbeitet er als Drehbuch-Autor für die UFA und soll eine winterliche Komödie schreiben. So etwas gibt man nicht so schnell auf. Zusammen mit Erika fährt er in die Berge für die Vorort-Recherche und das konzentrierte Arbeiten. Nur dass die Konzentration den zwischenmenschlichen Entwicklungen zum Opfer fällt – und der Reichstagsbrand in Berlin die Gäste schließlich völlig aufgeschreckt nach Hause holt. Danach geht es bergab. Die wichtigsten Autoren emigrieren, die Nazis verbrennen ihre Bücher, darunter auch die von Heinz Hoffmann. Aber er bleibt immer noch im Land.
Zehn Jahre später
Derweil lässt Erika eine Abtreibung vornehmen, wovon ihre Wirtin jedoch Wind bekommt und sie aus der Wohnung wirft. Heinz allerdings ist nicht für sie da, denn er ist mit einer anderen Frau zusammen. Kurz zieht Erika wieder zu ihren Eltern, doch sie schafft es, Produktionsassistentin in den Filmstudios Babelsberg zu werden. Zehn Jahre später ist das Filmemachen allerdings nicht mehr so einfach. Berlin ist von Bombenangriffen zerstört, Aufnahmen in den Studios werden vom Fliegeralarm immer wieder unterbrochen. Und plötzlich steht Hoffmann vor Erikas Tür. Seine Wohnung wurde ausgebombt, er braucht eine Unterkunft.
Umgekehrte Vorzeichen
Hatte anfangs Hoffmann Erika protegiert, so ist nun sie es, die ihm hilft, mit einer Schlafstatt. Jetzt nimmt sie ihn mit zu Kinopremieren und die alte Liebe lebt wieder auf. Hoffmann hat Arbeitsverbot, seine Bücher sind verboten, er hat sich in die innere Emigration zurückgezogen, lebt von seinen Ersparnissen, schreibt für die Schublade. Bis die Filmleute in Babelsberg ein ordentliches Drehbuch brauchen, und Erika einen Autor vorschlägt, der jedoch nicht genannt werden darf …
Erich Kästner als Vorbild
Wem jetzt schon all diese Geschehnisse bekannt vorkommen, ist auf der richtigen Spur. Kreitz hat sich frei am Leben von Erich Kästner bedient und Heinz Hoffmann auch ganz offensichtlich dessen Aussehen verpasst. Die Anspielungen und Referenzen sind vielfältig, von der Bücherverbrennung bis zu »Drei Männer im Schnee« oder »Die Feuerzangenbowle«, von den Werken von Veit Harlan zu den Schauspielern Heinz Rühmann und Gustav Knuth. Bis auf Kästner werden die anderen Künstler:innen mit Klarnamen erwähnt und machen deutlich, dass hier auch die wahre Geschichte um den letzten Propagandafilm der Nazis erzählt wird. Manche Szenen der sepiafarbenen Kohle-Bleistiftzeichnungen erinnern an »Babylon Berlin« und damit an die fiktive Ebene um Heinz und Erika.
Ein gezeichneter Film
In einem Anhang erklärt Kreitz die wahren Gegebenheit, um eben diesen letzten Propagandafilm, der jedoch nie gedreht werden sollte, und führt die realen Personen in der Geschichte noch mal gesondert auf. Ihr gelingt es, ein Stück Filmgeschichte ins allgemeine Bewusstsein zu holen und daraus quasi einen komplexen gezeichneten Film zu schaffen, der aufs Allerbeste fesselt. So wird neben geschichtlichem Wissen auch gezeigt, dass künstlerisches Schaffen in diktatorischen und kriegerischen Zeiten alles andere als eine Selbstverständlichkeit und natürlich mitnichten einfach ist – selbst in der inneren Emigration, die von manchen in vergangenen Zeiten vielleicht als feige und nicht als »richtige« Emigration angesehen wurde. So wird diese Graphic Novel zu einem beredeten bzw. bebilderten Beispiel für das, was wir verlieren würden, wenn die Rechten weiter an Einfluss gewinnen würden. Auch dies eine Aufforderung an uns alle, es nicht wieder zu solchen Verhältnissen kommen zu lassen.
Isabel Kreitz: Die letzte Einstellung, Reprodukt, 2025, 304 Seiten, 29 Euro
Unsere explosive gesellschaftliche Erregung hängt auch mit überschießenden Sprache zusammen. Selbst reflektierte Medien und bedächtigere Menschen benutzen Begriffe, die die Stimmung weiter aufheizen, teils, weil sie „nur“ zititeren, teils, weil ihnen selbst mittlerweile die nötige Distanz zu fehlen scheint. Man sei „entsetzt“ und „fassungslos“ heißt es, nur weil zum Beispiel entgegen der Wahlversprechen der Preis für das Schulessen nicht wieder um ein paar Cent gesenkt wird. „Super-Gau“ ist auch so ein sprachlicher Granatwerfer. Kaffeedose morgens leer – Super-Gau. Lieblingsporridge ausverkauft – Super-Gau. Deshalb ist man erstmal vorsichtig, wenn eine Graphic Novel mit dem Titel Super-Gau daherkommt. Doch an dem Tag, an dem Bea Davies‘ Geschichte spielt, der 11. März 2011, passierte genau das: Der Schlimmste Größte anzunehmende Unfall, die höchste Eskalationsstufe der alten Weisheit: Schlimmer geht immer.
Schlimmste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl
Am Nachmittag bebte östlich der japanischen Küstenstadt Sendai, 400 Kilometer nordöstlich Tokios, die Erde. Das löste einen Tsunami mit stellenweise gigantischen, bis zu vierzig Meter hohen Wellen aus. Mit 800 Stundenkilometern drangen die Wassermassen ins Land. Dadurch kollabierten im örtlichen Kernkraftwerk Fukushima mehrere Kühlsysteme, es kam zur Kernschmelze. Wasserexplosionen verteilten die austretende Radioaktivität über die Luft weit über Japan. Die Reaktorkatastrophe in Japan war die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl im Jahr 1986. Im Prolog zeigt Bea Davies den Beginn der Katastrophe, bei der 18.500 Menschen ihr Leben und eine halbe Million zumindest für lange Zeit ihr Zuhause und ihre Heimat verloren, anhand eines Mannes. Statt sich sofort in Sicherheit zu bringen, versucht er verzweifelt aus einer Telefonzelle jemanden in Deutschland (angedeutet durch die +49 auf dem Display) zu erreichen.
Immer wieder Wasser, vieles verschwimmt
Und hier beginnt die Geschichte: Eine junge Frau gleitet durch die Luft über ein überflutetes Berlin. Plötzlich greift aus dem Wasser eine Hand nach ihrem Knöchel und unter sich sieht sie Menschen wie im Moment eingefroren aufrecht im Wasser treiben. Ein Traum, den Lea einem Freund beschreibt. Bea Davies erzählt mit klassischen Panels, immer wieder durchbrochen von großformatigen Panoramen. Die Affinität zum Manga ist deutlich, nur ist das Buch an an die westliche Leserichtung angepasst. Auch sind ihre minimalistisch und fein gezeichneten Bilder nicht einfach schwarz-weiß. Nicht nur in der Traumsequenz verschwimmen Konturen in Grauschattierungen, selten gibt es scharfe Kontraste. Und immer wieder taucht Wasser auf, Menschen sitzen am Ufer, träumen von Wasser, schwimmen im Wellenbad, sehen Bilder des Tsunamis.
Menschen begegnen und verlieren sich
Weitere Personen tauchen auf, ein eigenbrötlerischer Autor, eine nervöse, elegante Frau, eine freundliche Säuferin, ein traumatisiserter Junge mit erfrorenen Fingern, eine blinde Alte, ein zugewandter Kreuzberger Bohemien. Sie begegnen sich und verlieren sich, laufen aneinander vorbei, wechseln mal ein paar Worte, mal nehmen sie einander überhaupt nicht wahr. Der Regisseur Robert Altman verknüpfte in seinem Film Short Cuts von 1993 verschiedene Handlungsstränge innerhalb eines Tages locker miteinander. Bea Davies hat jetzt mit Super-Gau dieses episodische Erzählen, konzentriert auf einen erschütternden Tag, perfektioniert. Ihr gelingen hervorragend vielschichtige Figurenzeichnungen komplexer, sperriger Charaktere. Das meiste wird nur angedeutet, mal ist es das Foto eines kleinen Mädchens im Badeanzug mit Brille und spitzem Hut, eine doppelt gekaufte Zeitung, ein Familienbild auf einem Nachttisch, Berge von ungespültem Geschirr, ein dreckiger Verband, eine überschießende Reaktion, ein Gewaltausbruch oder eine liebevolle Geste, die so viel mehr vom Leben dieser Menschen erahnen lassen.
Episodisches Erzählen perfektioniert
Super-Gau ist Bea Davies‘ Debüt als Autorin. Man kennt Graphic Novels als Memoir, als Biografie von Musikern, Sportlern, Zeitzeugen oder auch als Sachbuch (Wölfe). Diese Graphic Novel ist tatsächlich und wortwörtlich ein Roman – ein großer, ein globaler Gesellschaftsroman. Angelegt als ein eng geknüpftes Netz aus spannenden Einzelschicksalen, als eine Momentaufnahme eines Tages, der nicht nur bezüglich der Energieerzeugung viel geändert hat. Er endet in einem Epilog, wiederum in einer Telefonzelle in der Jetztzeit im fernen Japan, wo man mit den von der Katastrophe aus dem Leben gerissenen Menschen reden kann, Unausgesprochenes in einen Hörer sagen kann.
Viel Raum für imaginierte Leben
Super-Gau ist ein Roman, erzählt in bezaubernden und minimalistischen, auf das Wesentliche reduzierten Bildern. Berührend und mit viel Raum für Imagination.Und das verheißungsvolle und raffinierte Cover, in haptischem Prägedruck mit schäumender Gischt und einem Schriftzug gestaltet, der alle Protagonisten beinhaltet, ist ein wahres Kunstwerk für sich. Bea Davies ist für das Genre der Graphic Novel ein Super-Gag – ein großartiger Glücksfall.
Bea Davies: Super-Gau, Carlsen, 208 Seiten, 26 Euro, ab 12
Das Bild der Frau an sich ist seit etwas 2000 Jahren ein ziemlich stereotypisches und unterwürfiges. Ein Bild, das von Männern in die Welt gesetzt wurde. Dies stellt Ulli Lust in ihrem neuen Sachcomic Die Frau als Mensch gleich zu Anfang fest. Und macht sich auf, die Ursprünge der Frauen-Darstellung zu erkunden.
Denn mehr als 30.000 Jahre kursierten auf der Erde kleine Statuetten, die ein ganz anderes Bild der Frau zeigten: breite Hüften, große Brüste, keine Zeichen von Scham oder Unterwerfung. Während der Eiszeit gab es diese kleinen Figuren, die meist nur wenige Zentimeter groß waren, von Südfrankreich bis nach Sibirien und die Wissenschaft – vornehmlich die männlichen Archäologen – rätselten, was es mit diesen Figurinen auf sich hatte.
Als Göttinnen verehrt
In diesen Zeiten, vor Erfindung der Schrift, fehlten ikonische Männerfiguren bzw. -bilder. So ging man davon aus, dass des sich bei den Statuetten um Darstellungen von Göttinnen handelt. Dennoch drehten die Wissenschaftler es so, als zeigten gerade diese Figuren die Unterlegenheit und Schwäche der Frauen. Denn angeblich konnten Frauen nicht jagen. Die Darstellungen wurden als schamlos und unzüchtig angesehen. Frauenfeindliche und antisemitische Vergleiche waren an der Tagesordnung.
Überholtes Denken richtig stellen
Ulli Lust räumt nun mit diesen überholten Argumentationen auf und geht dabei in der Geschichte sehr weit zurück. Sie rekapituliert die Urgeschichte der Menschen, schildert die neuesten Erkenntnisse aus Grabfunden und die einstigen Fehlinterpretationen. Dies führt sie zur Betrachtung des menschlichen Sozialverhaltens und den Ursprüngen unseres Zusammenlebens vor Tausenden vor Jahren. So wird aus einem vermeintlichen kunsthistorischen Sachcomic ein Werk über die Wurzeln der Menschen und unseren Gesellschaften.
Die Frau – mehr als Mann denkt
Ulli Lust erzählt dabei auch von den überlieferten Mythen verschiedener Gesellschaften, dem Einsatz von roter Ockerfarbe und ihrer Funktion, den vermutlichen Anfängen von Kunst, der Notwendigkeit, Kleidung zu erfinden und dem Wandel des Klimas über die Jahrtausende. Dazu kommt das Bedürfnis der Menschen am Erzählen und Klatschen, was der Vermeidung von gewalttätigen Auseinandersetzungen diente, und die Neugierde auf Fremde, die in der Gemeinschaft aufgenommen wurden und denen man auf jeden Fall half. Diese Fülle an Informationen fügt sich zu einer spannenden Lektüre, die nicht nur das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zurechtrückt. So wird die Menstruation als etwas Verehrungswürdiges gezeigt, Frauen gingen durchaus jagen und haben vermutlich auch die Statuetten geschaffen. Zudem gab es schon damals trans Menschen, die als Schamanen verehrt wurden. Ohne die Frauen und ihre vielfältigen Beiträge zum Alltag hätte die Menschheit nicht überlebt.
Lektion für die Gegenwart
Dieser Blick in die fernste Vergangenheit der Menschen ist überaus erhellend und hat so viel mit unserer Gegenwart zu tun, dass man sich wünscht, eine Rückbesinnung auf unsere weltweit gemeinsamen Wurzeln würde heute viel öfter stattfinden. Es gibt so viel, dass wir in der Behandlung und Betrachtung von Frauen ändern müssen – wahrscheinlich ist es utopisch zu glauben, dass das jemals geschehen wird. Aber Ulli Lusts Sachcomic Die Frau als Mensch, von dem es demnächst einen zweiten Teil geben wird, erinnert uns eindringlich daran, dass das herrschende Ungleichgewicht nicht natürlich ist – und schon gar nicht sinnvoll.
Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte, Reprodukt, 2025, 254 Seiten, 29 Euro
Prinzipiell kann jeder Blödi, der es sonst zu nichts bringt, ganz einfach zwei bis drei Ratschläge zusammenschustern, schreibt die schwedische Autorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch Das Orakel spricht. Und trotzdem oder gerade deshalb werden diese selbsternannten Expertinnen und Experten im Internet und den sozialen Medien gefeiert. Aber warum? Warum vertrauen viele Menschen sich selbst, ihren Gefühlen und Instinkten überhaupt nicht mehr? Und suchen stattdessen zu wirklich jeder Frage, sei es Ernährung, Gesundheit, Karriere oder Kinder Rat bei ihnen völlig unbekannten Leuten, nur weil diese so überzeugend und allwissend auftreten. »Man verliert den Glauben, dass man selbst weiß, wie frühstücken geht«, bringt Strömquist die Absurdität dieses Trends auf den Punkt.
Gedankengänge als mäandernde Sprechblasenschlangen
Mit ihrem brillanten Debüt Der Ursprung der Welt hat Strömquist ein eigenes Genre erschaffen, man kann es Graphic Essay nennen. In Comicform beleuchtet sie ein Gegenwartsthema gründlich und aus verschiedenen Blickwinkeln, sei es der weibliche Körper, Schönheitsideale, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft oder eben aktuell der Ratgeberkult zur Selbstoptimierung. Sie zitiert Philosophinnen und Soziologen, Mediziner, Biologinnen, Anthropologen und zahlreiche Studien. Und gestaltet das Ganze eingängig in ihrem einzigartigen Stil, mit schrägen Schaubildern, pointiert positionierten Protagonisten und Stichwortgebern, darunter auch immer mal wieder ihr Alter Ego. Gedankengänge oder Rede- und Widerrede mäandern als Sprechblasenschlangen über ganze Seiten. Ihr besonderer Bildwitz visualisiert und unterstreicht die intelligenten Gedankengänge und Analysen.
Leben verlängern, aber nicht genießen
Im Orakel kommen unter anderem kluge Köpfe wie die Philosophen und Theoretiker Byung Chul Han, Theodor Adorno und Slavoj Žižek und die Schriftstellerin Doris Lessing zu Wort. Und versuchen zu ergründen, warum man mit sich immer unzufrieden ist, den eigenen Gesundheitsstatus an Messwerten festmacht und das eigenen Leben zwar meint verlängern zu müssen, aber nicht genießen kann. Auch mit deren Hilfe demontiert Strömquist in sieben Kapiteln minuziös diverse erfolgreiche und obskure Influencer, über die Jahrhunderte hinweg. Dabei verliert sie sich teils zu sehr in Details und nicht immer ist schlüssig, warum sich manche Leute angebliche, in der Kindheit erlittene Traumata (die bei näherer Betrachtung eher narzistische Kränkungen sind) ein- und dafür ihre freundschaftliche Hilfsbereitschaft ausreden lassen.
Der Motor des Lebensberatungskults
Der interessanteste Teil findet sich in der Mitte des Buches im vierten Kapitel, wenn das Orakel schließlich tatsächlich spricht. Es fängt an mit Meghan ehemals Markle, heute Frau von Prince Harry, die bei einer Wohltätigkeitsaktion für Sexarbeiterinnen, anstatt Tüten mit Lebensmitteln zu füllen, Bananen beschriftete: »Smile«, »Dream Big«, »Work hard«, »Inspire yourself and others«, »Show and share your worth«. »Für die Empfänger:innen sind diese Ratschläge überhaupt nicht hilfreich, deprimierend und sie schwächen ihr Selbstbewusstsein«, fasst Strömquist den Effekt einer Banane mit »Live, laugh, love« für eine misshandelte Prostituierte in einem treffenden Bild zusammen, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Warum tut jemand etwas bestenfalls Gedankenloses, eigentlich ziemlich Gemeines? Tatsächlich geht es Markle und allen anderen ungefragt Ratschläge gebenden Leuten nur um sich selbst. Es macht ihnen nicht nur Spaß, es bestärkt sie. »Sie fühlen sich wichtig, wenn sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Das ist der eigentliche Motor der ganzen Lebensberatungs/Expertinnenkultur.«
Folge keinem Rat
Das bringt Strömquist zu einer ganz anderen Beratungsinstanz, nämlich dem bereits im Titel angedeuteten Orakel von Delphi. Hier gab es keinen Personenkult. Zu den besten Zeiten der 1200 Jahre betriebenen Kultstätte verrichteten drei berufene Priesterinnen, meist Frauen über 50, Dienst. Ihre Ratschläge waren mehr Hilfestellungen für die Fragenden, selbst nachzudenken und das Problem zu verstehen. Und der beste Rat, den eine Phytia je gegeben hat, lautete: »Folge keinem Rat.« Zu dieser klugen Erkenntnis gelangt Strömquist auf teils etwas langatmigen, kryptischen und detailverlorenen Umwegen. Wahrscheinlich, weil sie versucht zu ergründen, warum selbst sie als selbstbewusste, rationale und gebildete Frau nicht davor gefeit ist, bei vermeintlichen Expert:innen und deren Selbstoptimierungstricks hängen zu bleiben, Zeit zu verplempern und sich verunsichern zu lassen. In der zweiten Hälfte verliert sie sich zudem in etwas plumper Konsumkritik und den Gefahren von un-sozialen Medien. »Folge keinem Rat« sagt das Orakel und allein das macht Strömquists Buch lesenswert. Und das ist jetzt kein Rat, sondern eine Empfehlung, selbst nachzudenken.
Sehr und ohne Einschränkungen empfehlenswert ist auch das neue Sachbuchcomic von Lucia Zamolo. In Und dann noch … zeigt sie witzig, schlau und sehr persönlich, wie man den allgegenwärtigen Selbstoptimierungszwang bezwingt. Obwohl schon ihr Debüt als Illustratorin und Autorin, ihre Bachelorarbeit Rot ist doch schön über Menstruation, ausgezeichnet wurde und seitdem jedes ihrer Bücher hochkarätige Preise gewonnen hat, kennt sie das Gefühl, sich immer wieder beweisen zu müssen. Denn »Leistungsgesellschaft bedeutet, Du musst etwas leisten, um Teil der Gesellschaft zu sein«, wie Zamolo ausführt. Die Gleichung lautet »du bist = du machst«, also »du machst nichts = du bist nichts«. Also muss man immer machen, immer was leisten. Das stresst. Anschaulich und eindringlich illustriert Zanolo, was Stress in Körper und Geist auslöst, wenn man permanent bereit ist, zu kämpfen oder zu fliehen, obwohl weit und breit weder Säbelzahntiger noch Wollnashorn in Sicht sind.
Nicht toxisch und sehr persönlich
Eine Pause ist nur nach einem Burnout erlaubt, man muss also erst so viel geleistet haben, dass man sehr krank wird. Anstatt zu pausieren, bevor man krank wird. Eigentlich dachte Zanolo, nachdem sie alles reflektiert und rational erfasst hat, »als super ungestresstes Beispiel vorangehen zu können und sogar noch kluge Tipps geben, wie das so geht.« Tja, denkste. Nur weil man die Zusammenhänge von Stressauslösern und Symptomen verstanden hat, lässt sich das Wollnashorn nicht einfach abschütteln. Geradezu kontraproduktiv sind solche Ratschläge, vorzugsweise von selbsternannten Experten ungefragt erteilt, die immer nur auf das Positive abzielen. Jeder kann alles erreichen, und wenn nicht, dann hat man sich halt nicht genügend angestrengt, sprich, sich nicht ausreichend optimiert. Toxic Positivity nennt man das, was Menschen, die nicht permanent auf der Sonnenseite stehen, endgültig ins Unglück treiben kann.
… und ohne To-Do-Listen
Wie sie versucht, mit dem Wollnashorn in friedlicher, nicht krankmachender Koexistenz zu leben, zeigt Lucia Zamolo auf ihre mitreißende und besondere Art. Und mit To-do-Listen sollte man nur eins tun: alle wegwerfen. Stattdessen Lucia Zanolos liebenswertes Buch beherzigen. Auch das ist kein Rat. Und bestimmt kein toxischer Tipp.
Liv Strömquist: Das Orakel spricht, Übersetzung: Katharina Erben, avant, 2024, 248 Seiten, 25 Euro, ab 15 Lucia Zamolo: Und dann noch … Wie Stress weniger stresst – fast ohne Toxic Tipps!, Bohem, 2024, 108 Seiten, 18 Euro, ab 14
Wir wissen es alle: Wer in unserer Gesellschaft laut ist, fällt auf, hat vermeintlich viel Erfolg, genießt das Leben vielleicht mehr und steht auf der Sonnenseite. Tja, wenn so ein Verhalten wirklich mal so einfach und jedem gegeben wäre. Carina Thomas jedenfalls sieht das anders, denn sie gehört zu den 30 Prozent der Menschen, die introvertiert sind. In ihrem Buch Sag doch mal was!!! setzt sie sich dementsprechend damit auseinander. Als Introvertierte sieht sie sich ziemlich oft einer Wand aus Unverständnis gegenüber, ganz im Sinne: Stell dich nicht so an und mach einfach mal den Mund auf, so schwer ist das ja nicht. Doch genau das ist es für Menschen, die eher in sich gekehrt sind und eben nicht immer und überall im Vorder- oder Mittelpunkt stehen wollen. Carina Thomas schildert in comic-artigen Bildern ihre Überforderung und ihre Zweifel, ob mit ihr auch alles richtig ist. Sie erläutert, dass der innere Akku von Introvertierten durch die ständigen Herausforderungen im Alltag schneller geleert werden, als beispielsweise bei extrovertierten Menschen, die im Laufe eines Tages eher an Energie dazugewinnen.
Eine Bestandsaufnahme
Die Unterteilung in introvertiert und extrovertiert stammt vom Schweizer Psychologen C.G. Jung, der die Verhaltensmuster entdeckte, die unsere Wahrnehmung der Welt spiegeln. Es gibt bei dieser Einteilung keine scharf gezogenen Grenzen, sondern viel mehr ein Ineinanderübergehen und eine Tagesform. Also, mal ist man mehr, mal weniger introvertiert oder auch extrovertiert. Auch das kennen wir alle. Eine Rolle dabei spielt die Amygdala, die bei Introvertierten sensibler auf Reize reagiert. Carina Thomas bricht die komplizierte Hirnforschung auf klarverständliche Erklärungen herunter, sodass schon junge Lesende damit etwas anfangen können.
Aufräumen mit Vorurteilen
So räumt sie schließlich mit den gängigen Vorurteilen – Introvertierte seien zu empfindlich, zu langsam, zu sensibel – auf und rückt die Stärken dieser Menschen ins richtige Licht. Die Superpower der Introvertierten kann nämlich gar nicht hoch genug geschätzt werden, gerade in Zeiten, wo alles so schnell, ja, zu schnell abläuft und und oftmals zu schnell entschieden wird. Denn introvertierte Menschen können sehr gut zuhören, exzellent beobachten, sich lange konzentrieren, hervorragend Pläne schmieden und überlegt handeln. Diese Skills würde ich mir für so manche Powertypen da draußen wünschen – die Welt wäre mit Sicherheit eine bessere.
Eine Stärkung
Für alle introvertierten Menschen, die bisher auf Unverständnis in ihrer direkten Umgebung gestoßen sind, sei dieses kleine Buch, das eine Mischung aus Bilderbuch und Sach-Comic st, sehr empfohlen. Es stärkt – und kann an unsensible Zeitgenoss:innen zur schnellen aufklärenden Lektüre weitergereicht werden.
Carina Thomas: Sag doch mal was!!!, Die leise Superpower der Introvertierten, Calme Mara, 2024, 96 Seiten, 20 Euro, ab 14
Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.« So beginnt die Hamburger Illustratorin und Cartoonistin Maren Amini ihren ersten Comic, Ahmadjan und der Wiedehopf. Was für ein Debüt als Graphic-Novel-Autorin! Es ist die bewegte, mitreißende Biografie ihres Vaters Ahmadjan. Es ist auch die Wiederentdeckung und moderne Neuerzählung der Konferenz der Vögel, eines großen persischen Epos aus dem 12. Jahrhundert des mystischen Dichters Fariduddin Attar.
1000 Vögel für vielfältige Kultur
Vor allem aber ist es die Geschichte eines faszinierenden Landes – Afghanistan. Ja, genau, das Land irgendwo eingeklemmt in Zentralasien, das heute nur noch mit engstirnigen religiösen Fundamentalisten assoziiert wird. Das bitterarme Land, von verschiedensten Gegnern zurückgebomt in die Steinzeit, wo Frauen entrechtet, geradezu entmenschlicht werden. In dem alle Andersdenkenden und Freiheitsliebenden brutal unterdrückt, getötet oder vertrieben werden. Als die Taliban erneut die Macht ergreifen, reagiert der 1953 in Afghanistan geborene und in Hamburg lebende Ahmadjan Amini mit Kunst. Die 1000 Vögel beziehen sich auf Die Konferenz der Vögel, stellvertretend für die vielfältige und reiche Kultur Afghanistans und das Zusammenleben zahlreicher Ethnien. Für Freiheit, Sinnsuche und den lebenslangen Weg zur Erkenntnis. Seine Kunst hat Ahmadjans Leben gelenkt, geprägt, er hat von ihr gelebt und sie hat ihn immer wieder gerettet.
Raffiniert Lebensgeschichte und mystische Dichtung verknüpft
Zu ihrem großen Bedauern war Maren Amini, geboren 1983, noch nie im Heimatland ihres Vaters. Auch die mystische Dichtung kannte sie bis zur jetzigen Zusammenarbeit mit ihrem Vater nicht. Umso beeindruckender ist es, wie raffiniert und stimmig sie seine Lebensgeschichte mit Fariduddins Parabel erzählerisch in Text und Bild verknüpft. In meist kleinen cartoonesken Bildern, mit flottem schwarzem Strich erzählt die international gefragte Illustratorin seine wilde, wandlungssreiche, manchmal fast märchenhafte Reise zwischen zwei Welten. Ein bisschen ist ihre Darstellung eine Mischung aus Charles M. Schulzs Peanuts und Sempé, eine knollennasige Figur mit dichtem Haarschopf, später mit typischen Schlaghosen. Ahmadjans Mutter stirbt früh, er wächst in einer lieblosen Stieffamilie von Schafhirten auf. Schon früh entdeckt er das Zeichnen für sich. Auch dank seines Talents entkommt er der Enge des Tals, bitterer Armut, Hunger und Kälte, zunächst mit einem Stipendium für ein Internat in Kabul. Dann mit einer Ausbildung zum Bauzeichner.
Wechselhaftes Leben zwischen Welten
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre war Kabul ein Hotspot für Hippies. Durch sie lernt er Musik, traditionelle und westliche, sowie Filme und moderne Kunst kennen. Immer wieder begegnet er Menschen, die seinem Leben eine entscheidende Richtung geben, ihn inspiriert oder gefördert haben. Diese malt Maren Amini als Vögel, die für ganz unterschiedliche Typen stehen. Außerdem tauscht sich Ahmadjan mit einem imaginären Wiedehopf aus, den Amini ganz entzückend wie Woodpecker, Snoppys gefiederten Freund, darstellt. Und sie zitiert begleitend Fariduddin Attars fabelhafte Verse. Das spannende und wechselhafte Leben ihres Vaters bewegt sich zwischen Afghanistan und Hamburg. 1972 kommt er zum ersten Mal mit einem Touristenvisum nach Deutschland, lebt in besetzten Häusern, lernt in einer Malschule im Karoviertel beim Begründer der Schlumper (einer Ateliergemeinschaft für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen), studiert an der Hochschule für Bildende Künste, reist nach London, Amsterdam, Ibiza, besucht Musikclubs und Museen, wird schließlich abgeschoben. Als die Russen in Afghanistan einmarschieren, kommt er als einer der ersten asylsuchenden Flüchtlinge zurück nach Hamburg, das mittlerweile nach Pakistan und Iran die größte Gemeinde von Exil-Afghanen beherbergt. Hier lernt er Marens Mutter kennen, bekommt mit ihr zwei Töchter.
Genial pointierter Cartoon eines bunten Lebens
Spätestens jetzt kommt noch eine weitere Facette dieser außergewöhnlichen Graphic Novel zum Tragen: Die behutsame und berührende Annäherung von Tochter und Vater. Ahmadjan war überfordert vom Familienleben, hat Frau und Kinder früh verlassen. Jetzt erzählt er seiner Tochter seine Lebensgeschichte. Und sie kommen zusammen über die Kunst, über das Erzählen in Bildern, über ihre individuelle, brillante Bildersprache. Und so kann man Maren Aminis Cover von Ahmadjan und der Wiedehopf als Essenz und absolut genial pointierten Cartoon des Lebens ihres Vaters erkennen. Begleitet von nunmehr dreißig, wie ein farbenprächtiger Schweif aus einer unter den Arm geklemmten Mappe aufsteigenden Vogelschemen, und gefolgt vom treuen, titelgebenden Wiedehopf geht Ahmadjan seines Weges. Das Porträt eines Künstlers, Individualisten und Träumers. Und das eines einzigartigen Landes. Absolut umwerfend und wunderbar.
Maren und Ahmadjan Amini: Ahmadjan und der Wiedehopf, Carlsen, 2024, 240 Seiten, 26 Euro, ab 12
Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«
Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise
Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde? Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.
Verflohte Katze
Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.
Großen Familienroman gezeichnet
Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet. Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt. Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.
Durch Türen aus dem Leben verschwunden
Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.
Eigene Fehler machen
Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«
Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16
Superheldinnen und Superhelden, die mit sich hadern, gibt es einige. Man denke nur an Tobey Maguire als Spiderman nach seiner ersten Begegnung mit dem Sandman. Frustriert hockt er auf einem Dach, kippt Sand aus seinen Schuhen und fragt sich: »Wo kommen diese Typen immer her?« Verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: »Und warum muss ausgerechnet ich mich um alles kümmern?«
Identität aus Liebe versteckt
August Crimp hingegen versteckt seine Heldenidentität aus Liebe. Seine Frau fürchtet Superhelden seit ihre Eltern bei der Rettung Londons als Kollateralschaden getötet wurden. »Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zwei Menschen gegen eine ganze Stadt. Ein fairer Tausch, schätze ich«, sagt sie lakonisch. Aber dann geschieht eine Mordserie an Transvestiten. Und das Nachbarsmädchen, das den kleinen Sohn babysittet, bittet August um Hilfe, die Seelen ihrer Eltern wiederzufinden. Sie kennt nämlich sein Geheimnis.
Verhedderte Lebenslinie
Das ist der Auftakt für Steven Applebys brillanten, einzigartigen, autobiografischen und schonungslos ehrlichen Comic Dragman. Schon als Kind wollte August Crimp ein Mädchen sein und weibliche Kleidung tragen. Wer jetzt wissend und vielleicht sogar mittlerweile leicht gelangweilt denkt »Ah, Transgender« irrt. Es geht um so viel mehr in diesem lesens- und sehenswertem Bilder- und Bildungsroman. Schon auf dem Vorsatzpapier sehen wir August Crimps Selbstfindungsreise: Vom Baby am Anfang mäandert, schlängelt, verheddert, zerfasert, verknäuelt und verwirrt sich seine Lebenslinie und sprengt den Rahmen.
Superhelden-Genre durcheinandergewirbelt
August Crimp ist Dragman. Wenn er Frauenkleider trägt, entwickelt er Superkräfte und kann fliegen. Was Spitzenunterwäsche, Seidenstrümpfe, figurbetonte Kleider und Langhaarperücke mit ihm machen, entdeckt er durch Zufall. Schon die Ausgangssituation und die ersten Zeichnungen zeigen: Dies ist ein besonderer Superheldencomic. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Helden ganz zu schweigen. Raffiniert spielt Steven Appleby mit dem Genre und wirbelt es virtuos durcheinander. Es beginnt mit einem Comic im Comic, in nostalgischem Grauweiß gestaltet. Alle Rückblenden erinnern an alte Fotografien. Die Gegenwart wiederum ist in warmen Farben gehalten, aquarelliert von Applebys Frau Nicola Sherring, hauptberuflich übrigens wie August Crimps Liebste Schreinerin.
Seitenhieb auf Marvel-Universum
Kaum hat August seine Superkraft entdeckt, lernt er auch die straff organisierte Held:innenparallelwelt kennen. Ein schöner Einstieg ist die imposante Ahnengalerie. Und zu jedem gibt es eine eigene Comicserie – ein satirischer Seitenhieb auf das unendlich scheinende Marvel-Universum, das uns immer neue, mal mehr, mal weniger gelungene Spinoffs und Fortsetzungen beschert (Apropos: »Wo kommen die nur immer alle her?«). Doch kaum hat Dragman einigen abstürzenden Menschen und in Baumwipfeln verirrten Katzen das Leben gerettet, ist es auch schon wieder vorbei mit seiner Karriere.
Völlig intolerant oder einfach nur dumm
Auch unter Superhelden gibt’s Spießer und es grassieren Vorurteile, manche sind völlig intolerant und andere einfach nur dumm. Der angeberische, fiese Fist, eine Mischung aus Michelinmännchenkörper und Transformersfigur, mit sehr kleinem, nur angedeutetem Kopf und noch winzigerer, umso lächerlicherer Unterhose hält einen Mann in Frauenkleidern für pervers. Tatsächlich scheitert Augusts alias Dragmans Aufnahme in den Superheldenkosmos daran, dass er seine Kraft aus seiner Kleidung bezieht. Und das ist streng verboten – seit es einen tragischen Unfall gegeben hat. Wiederum eine entzückende Anspielung auf die sehr gelungene Parodie Die Unglaublichen, wo eindringlich vor weiten Umhängen gewarnt wird. Bei Dr. Strange wiederum entwickelt der Umhang ein Eigenleben um Benedict Cumberbatch herum. Aber das ist eine andere Geschichte.
Seelen als Ware und Heizmaterial
Bei Dragman geht es um Identität. Um die Suche danach und den harten Kampf, seine Identität zu zeigen, zu ihr zu stehen und sie zu leben. Und es geht um nichts geringeres als Seelen. Kaum wurden die menschliche Seele von einem ehrgeizigen Wissenschaftler entdeckt, ist sie auch schon kommerzialisiert. Alles hat seinen Preis. So entwickelt sich ein zynischer Handel mit Seelen. Menschen verkaufen ihre Seele, mal für einen Urlaub, mal, um ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Reiche Leute implantieren sich die Seelen schöner, intelligenter, kreativer Menschen. Alle durchschnittlichen landen beim Teufel als Heizmaterial in der Hölle. Die gibt’s nämlich auch, wie August und Supernase Dog Girl, seine treue Freundin aus Dragman-Tagen, im Laufe der spannenden und fantastischen Geschichte herausfinden.
Teuflische Konzerne und fragwürdige Unterhaltung
Der ganz reale Teufel aber ist ein Superkonzern, der von Versicherungen und Resourcen, Lebensmitteln und Dingen, die niemand braucht, bis zu den Medien und schon die Jüngsten indoktrinierenden und verblödenden Programmen alles beherrscht und verkauft. Eine bissige Groteske auf die Jeff Bezos, Elon Musks & Co. dieser Welt. Parallel beschreiben Textpassagen krasse Gewaltfantasien aus dem Kopf eines Serienkillers. Wer sich an hirnlosem Schund im Stile Fitzeks ergötzt, den schockt das wahrscheinlich nicht. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur perversen Massenware. Im Laufe der Geschichte erfährt man den ebenso schrecklichen wie nachvollziehbaren Grund dieser grausamen Abgründe: Der Killer hat keine Seele. So spießt Appleby nebenbei ein weiteres, fragwürdiges Phänomen unserer Zeit auf – der »Genuss« abscheulichster Gewaltdarstellung zur Unterhaltung.
Es braucht Superkräfte, sich nicht mehr zu verkleiden
Dragman ist Steven Applebys eigene Geschichte, wortwörtlich. Appleby ist Autor, Cartoonist, Ehemann, Vater. Und er kleidet sich als Frau. Nicht mehr heimlich. Sondern offen und ausschließlich. Manchmal braucht man Superkräfte, um sich eben nicht mehr zu verkleiden und seine Identität zu leben. Appleby erzählt davon in seinem wunderbar witzigen und vielfältigen, philosophischen und gesellschaftskritischen, schlicht genialen Comic.
Steven Appleby: Dragman, Übersetzung: Ruth Keen, Schaltzeit Verlag, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16
Nachdem ich vor zwei Jahren die Erinnerungen der Schwestern Andra und Tatiana Bucci, Wir, Mädchen in Auschwitz, übersetzt habe, begleitet mich das Thema der Kinder im Holocaust. Diese Kinder, die heute alle über 80 Jahre alt sind, bilden die letzte Generation der Zeitzeugen und sollten mehr denn je gehört werden.
Im vorliegenden Band erzählen die Illustrator:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar die Erinnerungen von vier solcher Kinder in eindrucksvollen Graphic Novels. So widmet sich Barbara Yelin dem Schickal von Emmie Arbel, die als Vierjährige aus den Niederlanden nach Ravensbrück verschleppt wurde.
Der Schrecken der Lager
Wir lernen Emmie als alte rauchende, Auto fahrende, Solitär spielende Frau in Israel kennen, die weiß, dass sie stark ist. Doch diese Stärke ist durchzogen von Rissen, in denen die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit immer wieder durchscheinen, sei es in der Angewohnheit, im Café dicht an der Tür sitzen zu müssen, oder den unguten Gefühlen, wenn ihr Jugendliche mit kurz rasierten Haaren begegnen. Gleichzeitig ist da auch immer wieder der Satz »Ich erinnere mich nicht«. Dafür ist das, was Emmie erinnert umso eindrücklicher und spiegelt wie all die Zeitzeugengeschichten aus den Konzentrationslagern den Horror des Holocaust. Yelin setzt diese Erinnerungsbrocken in graublau-düstere Bilder um, die eigentlich mehr andeuten, als dass sie zeigen. Das jedoch reicht bereits, um Schrecken und Tod offensichtlich zu machen.
Der Holocaust in Transnistrien
Miriam Libicki stellt mit der Geschichte von David Schaffer ein weniger bekanntes Kapitel im Holocaust dar, den in Transnistrien. Jüdische Familien wurden aus ihren Häusern auf dem Land vertrieben, in Ghettos zusammengepfercht und später quasi ziellos durch die Gegend getrieben. Die rumänischen Verbündeten machten für die Deutschen die Drecksarbeit. Es herrschte ein heilloses Durcheinander – in dem sich die Familie von David nicht an Regeln hielt, sondern sich von den anderen Deportierten absetzen und im Wald untertauchen konnte. Dort schließt sie sich mit einer anderen Familie zusammen und gemeinsam gelingt es ihnen, die harten Kriegsjahre 1942/43 zu überstehen, bis Transnistrien von den Sowjets befreit wird. Die Ereignisse in Transnistrien sind verwirrend, doch das Leiden des jungen David wird in den fast knallbunten Illus von Miriam Libicki spürbar. Eine Flasche Speiseöl wird im Hungerwinter zu einem fast heiligen Objekt, der Stacheldraht, mit dem David sich die Lumpen um die Füße bindet, tut beim bloßen Anblick weh. Die ausgemergelten Figuren mit den großen leidenden Augen bleiben haften.
Verstecken in den Niederlanden
Beige-blau reduzierter schildert Gilad Seliktar die Geschichte der Brüder Nico und Rolf Kamp, die sich als Kinder in den Niederlanden vor der Deutschen versteckten – getrennt von ihren Eltern. Sie versteckten sich jedoch nicht einmal, sondern mussten immer wieder weiter. 13 Mal insgesamt. Die beiden Brüder schildern ihre unterschiedlichen Sichtweisen, den Wunsch des Kleineren dazugehören und den Davidstern tragen zu wollen, das Spiel mit den Kaninchen, die irgendwann auf dem Teller landen, die Übernachtungen in einem Hühnerstall. Sie geraten in ein deutsche Patrouille, überstehen knapp eine Schießerei. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert, nur die Mutter überlebt.
Aufschlussreicher Anhang
Den drei Graphic Novels folgt ein Anhang, in dem die Entstehung dieses Buches ebenfalls in einer Graphic Novel erzählt wird. Die Zeitzeugen kommen noch einmal in Textform zu Wort und schildern, wie ihr Leben weiterging. Abschließend werden die historischen Hintergründe noch etwas genauer beleuchtet und die Berichte somit genauer eingeordnet, was bei den eher unbekannten Ereignissen in Transnistrien besonders wichtig und erhellend ist. Auf der Website holocaustgraphicnovels.org/ gibt es zudem Filme, die die Zeitzeugen in Gesprächen mit ihrer jeweiligen Illustrator:in zeigen sowie weitere Hintergrundinformationen und Workshop-Termine.
Diese drei Geschichten bereichern die bereits bekannten Zeitzeugenberichte um weitere Nuancen. Sie zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist. Sie mahnen, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen – was sich in den heutigen Tagen fast zynisch anhört, dafür aber umso wichtiger ist. Gerade auch diese gelungene visuell-graphische Aufarbeitung von Historie könnte Jugendliche anregen, selbst Großeltern oder ältere Menschen über ihre Vergangenheit zu befragen, und so zu Zweitzeugen zu werden, die deren Geschichten bewahren und weitertragen.
Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar: Aber ich lebe, Übersetzung: Rita Seuß, hg. Carlotte Schallié, C.H. Beck, 2022, 176 Seiten, 25 Euro
Geschichte vergeht nicht. Jedenfalls nicht so schnell und so spurlos, wie mancher es vielleicht gerne hätte. Geschichte wirkt nach, bis heute. Vor allem die düstere Geschichte der Nazizeit. Und das so gut wie in allen Familien. Wir müssen nur hinsehen und nachforschen. Genau dies hat die Berliner Grafikdesignerin Bianca Schaalburg getan und daraus die eindrucksvolle Graphic Novel Der Duft der Kiefern gemacht. Als Schaalburg von ihrer Großmutter einen riesigen dunklen Kleiderschrank erbt, beginnt die 1968 Geborene über ihre Familie nachzudenken. Fragen kann sie ihre verstorbenen Eltern und Großeltern nicht mehr, nur ein Onkel steht ihr hilfreich zur Seite, als sich anfängt Nachforschungen über die Taten ihres Großvaters Heinrich während des Zweiten Weltkriegs anzustellen.
Der Wissensdurst der Kriegsenkel
Schaalburg gehört wie die Mehrheit der Boomergeneration zu den so genannten Kriegsenkeln, die dank der Bücher der Journalistin Sabine Bode seit ein paar Jahren vermehrt nachfragen, forschen und genauer hinsehen. Das Schweigen, das die Täter nach dem Zweiten Weltkrieg über ihre Verbrechen gelegt haben, versuchen diese Menschen zu durchbrechen. So liegt die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte momentan – man könnte fast sagen – im Trend. Ich kann mich da nicht ausnehmen, ich gehöre ebenfalls zu dieser Generation und merke immer mehr, wie sehr die Erlebnisse meiner Großeltern und Eltern während der Nazizeit und im Krieg selbst mein Leben geprägt haben. Diesen aktuellen Wandel von der Sprachlosigkeit unser Jugendjahre – als wir die Großeltern noch fragen konnten, aber meist nur abweisende oder gar keine Antworten bekamen – hin zum Drang nach Aufklärung, finde ich wichtig und nötig, um uns allen immer wieder klar zu machen, dass der Spruch „Wir wussten von nichts“ eine große gesellschaftliche Lüge war.
Gegen die vermeintliche Ahnungslosigkeit
Auch Schaalburg hörte diesen Satz als Kind von ihrer Oma. Und wird in der Gegenwart durch die Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf auf einen krassen Widerspruch aufmerksam: Dort hatten einst jüdische Menschen gelebt, waren vertrieben und später nach Theresienstadt deportiert worden. Doch die Großeltern wollten von alldem nichts gewusst haben und haben dennoch ihren Profit daraus geschlagen, wovon der große Esstisch der jüdischen Vormieter das offensichtlichste Zeugnis ist. Wie es bei solchen Nachforschungen an der Tagesordnung ist, findet Bianca Schaalburg relativ schnell immer neue Details heraus. Sie fängt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn an, in den Bundesarchiven zu recherchieren, Akten zu lesen, Online-Datenbanken zu nutzen und alte Adressbücher zu wälzen. So erfährt sie, dass der Großvater Anfang der 1940er Jahre in Riga als Buchhalter bei der Wehrmacht Dienst tat. Riga – dort wo eines der schlimmsten Kriegsverbrechen an den Juden stattfand. Die Frage, wie viel ihr Großvater davon mitbekam, ob er selbst darin verstrickt war, lässt sich nicht beantworten. Genauso wenig kann Schaalburg auch über die drei jüdischen Bewohner ihres Hauses herausfinden. Wie Puzzleteile setzt sie die wenigen Informationen, denen sie habhaft wird, zusammen. Wer sich die Mühe macht nachzuforschen, wird am Ende meistens mit mehr Fragen als mit klaren Antworten dastehen. Und genau das zeigt Schaalburg in ihrem Buch. Hält sie sich bei der Familie an die Fakten, lässt die Leerstellen im Raum stehen, so erlaubt sie es sich, für die drei ermordeten Juden Clara, Carl und Margarete jeweils einen kurzen fiktiven Lebenslauf zu entwerfen. Auf den einzigen komplett schwarzweiß gehaltenen Seiten liefert sie so ein lebensfrohes, fast schillerndes Bild möglicher Biografien, die die Ungeheuerlichkeit der Judenverfolgung noch krasser erscheinen lässt.
Deutsche Geschichte am Beispiel einer Familie
Schaalberg beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Nazizeit, sondern schildert ihre Familiengeschichte auch im Nachkriegsberlin, während der Teilung der Stadt und schließlich beim Mauerfall. Anhand ihrer Mutter Edda und deren drei Geschwister illustriert sie, wie sehr nazivergiftete Regeln und Glaubenssätze („Stell dich nicht so an“, „Ein deutscher Junge weint nicht“ oder „Mädels müssen brav sein und immer lächeln“) ihre Eltern in der Nachkriegszeit geprägt und geformt haben. Dieses Nazigift, davon bin ich überzeugt, wirkt in vielen der Kriegsenkel immer noch und wird ohne Aufarbeitung vermutlich an die nächsten Generationen weitergegeben.
Das verschreckte innere Kind der Mutter
Beeindrucken ist, wie Schaalberg die durch diese elendige Erziehung und die Kriegserlebnisse verschreckte Mutter als Kind zeigt: Da sitzt die kleine Edda als transparente graue Figur mit Propellerschleife im Haar unter dem Tisch und starrt aus großen leeren Augen vor sich hin. Es ist für mich eines der treffendsten Bilder der Generation der heute 80-Jährigen, die zum einen Opfer ihrer Elterngeneration wurden, zum anderen Mitte des 20. Jahrhunderts unglaublich viel gearbeitet und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben, die jedoch kaum über ihre Kindheitserlebnisse sprechen konnten bzw. professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, weil das Stell-dich-nicht-so-an über allem lag. Man möchte diese traumatisierten inneren Kinder unwillkürlich trösten.
Gelungenes Farbkonzept
Neben den vielen inhaltlichen Finessen und Fakten hat Bianca Schaalburg ein sehr gelungenes Farbkonzept für ihre Geschichte gewählt. Die unterschiedlichen Kapitel spielen in unterschiedlichen Jahren, sind jedoch nicht chronologisch angelegt, sondern springen durch die Jahrzehnte. Jedes Jahrzehnt ist in einem Farbton mit unterschiedlichen Nuancen gehalten. Die Nazizeit natürlich in adäquatem Kackbraun, doch nach dem Krieg wird es lichter, die 1950er kommen in grünen Schattierungen daher, die 1960er in blauen, die 70er sind quietschorange. So wird es in Richtung Gegenwart immer heller, wenn auch nicht absolut fröhlich. Die gebrochenen Pink- und Violettöne des 21. Jahrhunderts laden eben nicht zum gedankenlosen Dahinleben ein, sondern erinnern daran, den Blick zurückzuwerfen und die Auseinandersetzung zu suchen. Den Abschluss bildet ein sehr hilfreicher Anmerkungsapparat, der u.a. den Familienstammbaum zeigt, das Viertel in Zehlendorf verortet, Informationen zu Theresienstadt und den Verbrechen in Riga liefert sowie Anregungen zum Weiterlesen aufführt.
So wird Der Duft der Kiefern nicht nur zu einer persönlichen Familiengeschichte, sondern fast zu einer Anleitung, auf jeden Fall zu einer Anregung, in der eigenen Familie nachzufragen und nachzuforschen. Um der Stille und dem Schweigen ein Ende zu setzen.
Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse, avant-verlag, 2021, 26 Euro
Es ist Wahlkampfzeit. Es geht um viel bei der Bundestagswahl im September. Im Westen Deutschlands hat das Hochwasser Leid & Zerstörung gebracht. Manche Politiker feixen, andere leugnen weiterhin die Klimakrise. Fast wie nebenbei zieht die vierte Coronawelle auf und es gibt Streit über mehr oder weniger Rechte für Geimpfte gegenüber Ungeimpften. In Hamburg hängen noch kaum Wahlplakate. Es fühlt sich so gar nicht nach Wahlkampf an, obwohl wir schon mitten drin sind. In dieser komplizierten und anstrengenden Gemengelage ist nun die Graphic Novel Vogelschiss von Frauke Bahle und Julian Waldvogel erschienen, die uns noch einmal eindringlich daran erinnert, was bei der Wahl noch auf dem Spiel steht: die AfD im Bundestag – erneut, immer noch … In der aktuellsten Umfrage würden zwölf Prozent der Wähler:innen ihr Kreuzchen bei den Blaubraunen machen. Die Hoffnung, dass die AfD wieder aus dem Parlament verschwindet, können wir wohl begraben. Umso wichtiger ist es, sich klar zu machen, was da im Bundestag sitzt. Und dabei hilft Vogelschiss.
Aktion gegen Rechts
In dieser Graphic Novel machen sich die alleinerziehende Mutter Eleni und ihr Alt-68er-Nachbar Rudi auf, etwas gegen Rechts zu unternehmen, nachdem ein Bewohner aus ihrem Haus einen fremdenfeindlichen Amoklauf unternimmt. Geschockt davon, dass so viel Hass in unmittelbarer Nähe unbemerkt aufkeimen konnte, »dekorieren« die beiden zunächst AfD-Plakate mit neuen Texten um – was in den sozialen Medien sowohl positive wie negative Reaktionen nach sich zieht. Zuspruch, aber auch Hasskommentare treffen ein, doch noch läuft alles ziemlich unter dem Radar. Als die beiden mit einer Konfettikanone Vogelfutter auf die AfD-Zentrale in Berlin regnen lassen und die Folgen sehr lustig sind, wird auch die Presse darauf aufmerksam. Es dauert nicht lange, bis ein gewaltbereiter Nazi vor Elenis Haustür steht, sich an Elenis Sohn heranmacht, und Rudi bei einer weiteren Plakataktion zusammengeschlagen wird.
Zitate von AfD-Mitgliedern
In die Geschichte um Eleni & Rudi flechten die Macher:innen von Vogelschiss immer wieder sehr geschickt reale Zitate von AfD-Mitgliedern ein, die an der rechtsextreme Gesinnung der Partei keinen Zweifel mehr lassen. Das sind zum Teil hammerharte Aussagen, die auf Parteiveranstaltungen gefallen sind und es nicht in die Presse »geschafft« haben – und die ich hier nicht zitieren werde. Diese Aussagen sind in blauer Schrift abgesetzt und somit leicht als Zitate erkennbar, im Anhang werden die Quellen genannt (»Dem rechten Bums seine Urheber«), sodass jede:r sie nachrecherchieren kann. Allein diese wenigen Aussagen der Parteigranden machen mehr als deutlich, welcher nicht zu tolerierenden Ideologie (rechtsextrem) die AfD anhängt. Wer diese Partei wählt, schickt Nazis in den Bundestag.
#niewiederfaschismus
Am 10. Juli starb Esther Bejarano. Die Auschwitz-Überlebende sang gegen Nazis an. Sie hat bis zu letzt die Stimme gegen Rechts erhoben. Nie wieder Faschismus war eines ihrer Motti, das wir uns alle auf die Fahnen schreiben sollten. Bahle, Waldvogel & ihr Team heizen mit ihrer großartigen Geschichte, die durch Crowdfunding entstanden ist, die Fantasie nun weiter an, was man noch alles gegen Rechts unternehmen kann. Die Vogelfutteraktion live zu sehen, wäre natürlich ein enormer Spaß – aber die rechtlichen Konsequenzen mag man natürlich niemandem zumuten. Vielleicht wäre es auch zu viel der Ehre für diese Partei … Ich denke, Esther Bejarano hätte diese Graphic Novel gefallen. Denn diese Geschichte ist eine Art, über die rechten Strömungen in unserem Land aufzuklären und dagegen die Stimme zu erheben. Möge das Guano Project viele Leser:innen finden, die diese Geschichte ins Land tragen und davon berichten. Ganz in Bejaranos Sinne von #nichtschweigen. Vielleicht machen dann nicht mehr ganz so viele Menschen ihr Kreuzchen bei den Blaubraunen.
Frauke Bahle & Julian Waldvogel: Vogelschiss. Die Graphic Novel gegen Rechts, Guano Project, 2021, ab 16, 24 Euro
Man könnte sich fragen: Warum sollte man eine Graphic Novel über ein deutsch-französisches Paar lesen, das jüngeren Deutschen vermutlich nichts sagen wird? Der Titel Beate & Serge Klarsfeld, die Namen des Ehepaars, erinnert Älteren vielleicht reflexartig an diese eine Ohrfeige von damals. Erst der Untertitel könnte jüngere Lesende neugierig machen: Die Nazijäger. So wenig aufschlussreich ersterer ist, so reißerisch und neugierigmachend ist letzterer. Und Neugierde braucht man, um sich dieser komplexen Bildergeschichte zu widmen. Autor Pascal Bresson und Illustrator Sylvain Dorange widmen sich ausführlich dem Ehepaar Klarsfeld, die in Frankreich eine Institution, hierzulande jedoch schon fast in Vergessenheit geraten sind.
Eine naive Deutsche in Paris
Anfang der 1960er Jahre lernen sich Beate, die als Au-pair-Mädchen in Paris arbeitet, und der Politikstudent Serge in Paris kennen – genau an dem Tag, als Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt wird. Beate ist etwas überfordert von den Geschichten, die Serge ihr daraufhin erzählt. Seine Familie wurde nach Auschwitz deportiert, sein Vater dort ermordet. Doch aus dieser anfänglichen Überforderung entsteht eine Haltung, die die beiden jungen Leute zusammenschweißt und zu den Aufklärenden der Nazi-Verbrechen in Frankreich werden lässt. Beate bleibt in Frankreich, heiratet Serge, sie gründen eine Familie. Als in Deutschland Kurt Kiesinger, ein ehemaliger Nazi, Bundeskanzler wird, brennen bei Beate quasi alle Lampen durch und sie fährt 1968 zum Parteitag der CDU – wo sie dem Kanzler vor aller Augen eine knallt.
Die Suche nach den Verbrechern
Ihre französische Staatsbürgerschaft rettet sie vor dem Gefängnis. Doch nun hat sich Beate festgebissen und fängt zusammen mit Serge an, nach den Nazi-Verbrechern zu suchen, die in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden und untergetaucht waren. Darunter Alois Brunner, Josef Mengele, Klaus Barbie … In farbig abgesetzten Rückblicken schildern Bresson und Dorange die Verbrechen der Täter. So ließ Klaus Barbie im April 1944 ein Waisenhaus in Izieu räumen und 44 jüdische Kinder und sieben Erzieher nach Auschwitz deportieren, wo sie sofort in den Gaskammern ermordet wurden.
Mühsame Suche in Archiven
Beate agitiert nach außen, Serge recherchiert akribisch in Archiven. Ein Umstand, der heute durch das Internet kaum noch im Bewusstsein ist: Damals war es mühsame Fleißarbeit, alte Akten durchzuarbeiten und dann meist zufällig auf wichtige Unterlagen und Beweise zu stoßen. Nichts war mit einem Klick einsehbar. Das Ehepaar Klarsfeld jedoch macht einfach immer weiter, die beiden machen Überlebende von damals ausfindig, knüpfen Kontakte zu einflussreichen Politikern und Staatsanwälten, können Zeugen zur Aussage überreden. Sie kommen Klaus Barbie auf die Spur, der sich wie so viele Nazis nach Südamerika abgesetzt hat, planen ihn zu kidnappen.
Von Feinden und Bedrohungen
Aber sie machen sich auch Feinde. Anonyme Anrufer bedrohen sie, Scheiben werden eingeschmissen, Briefbomben verschickt und schließlich fliegt ihr Auto in die Luft … Am Ende jedoch, nach langen, unermüdlichen Jahren können sie Klaus Barbie verhaften und nach Frankreich ausliefern lassen. Diese Tatsache ist bekannt und daher besteht hier kein Spoileralarm.
Hommage an die Klarsfeld
Die Autoren haben in dieser Graphic Novel dem Ehepaar Klarsfeld und ihren herausragenden Verdiensten quasi ein Denkmal gesetzt. Die langen Jahre der Jagd lesen sich in dieser gekonnten Verflechtung von Szenen einer harmonischen Ehe, Aufklärungsarbeit und Geschichte des 2. Weltkriegs wie ein Krimi. Hier zeigt sich, dass die Bestrafung von Nazi-Tätern, die heute manchmal nur Randnotizen in den aktuellen Zeitungen sind, keine Selbstverständlichkeit war. Zu viele Widerstände gab es in Politik und Gesellschaft, das analoge Leben erlaubte kaum schnelle Reaktionen und Ergebnisse, zu geschickt hatten sich die Täter auf anderen Kontinenten in Sicherheit gebracht.
Aufklärungsarbeit – Erinnerungsarbeit
Die Klarsfeld haben zur Aufklärung der Verbrechen und der Bestrafung der Täter beigetragen und zudem erinnern sie an die deportierten Kinder aus Frankreich während der Shoah. Sie sind Vorbilder in der Unnachgiebigkeit und Zähigkeit, mit der sie diesen Kampf geführt haben, sie zeigen, wie wichtig das Aufarbeiten und Erinnern war und immer noch ist. Gerade auch in heutigen Zeiten, in denen die letzten Zeitzeugen gehen, die Täter kaum noch belangt werden können. All dies sind die Gründe, warum man diese Graphic Novel lesen muss.
Pascal Bresson/Sylvain Dornage: Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger, Ü: Cristiane Bartelsen, Carlsen, 2021, 28 Euro