Aussicht auf viele Lücken

Welt

Jeder vermisst jemanden. Und jeder wird vermisst.« Das wird Deetje, genannt Dee, und ihrem Freund Vito bei der Suche nach dem Empfänger eines Briefes bald klar. Deetje hat ihn an einem feuchten Samstagnachmittag beim Briefkasten gefunden, kurz nachdem dieser geleert worden war. Die Adresse dick durchgestrichen mit dem Vermerk Retour an Absender, der aber ist vom Regen verwischt und unleserlich.
Die Zeilen berühren Deetje: »Mein Liebling, Die Tage sind so kahl wie die Bäume im Herbstwind. … Wie kurz das Leben doch ist und wie sehr ich Dich vermisse. Vielleicht sollten wir vergessen, was alles geschehen ist. …« Irgendjemand in der Hochhaussiedlung wird vermisst. Deetjes Zuhause ist ein Mikrokosmos, über den sie sagt, »von hier aus kann man die ganze Welt sehen«.

Prinzessin mit Swimmingpool

Das ist auch der Titel von Enne Koens‘ außergewöhnlicher Erzählung mit einer besonderen Heldin. Die Neunjährige ist offenherzig, forsch, neugierig, kratzbürstig, stur, lebendig und einfühlsam. Und auch sie vermisst jemanden, sogar gleich zwei Menschen, ihre Eltern nämlich. Weil sie ganz anders ist als ihre Mutter und ihr auch gar nicht ähnlich sieht, ist Deetje überzeugt, dass sie adoptiert wurde. Vielleicht auch entführt, aus dem Kinderwagen gestohlen. Wahrscheinlich suchen ihre richtigen Eltern nach ihr. Vielleicht ist sie eine Prinzessin und könnte in einem Schloss mit Swimmingpool wohnen.
»Deine Haare wollen einfach nicht gehorchen, sagte meine Mutter. Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht meine Haare meinen, sondern mich. Und wieder dachte ich das. Eine echte Mutter kommt doch mit den Haaren ihres Kindes zurecht. Wir gehören überhaupt nicht zusammen, dachte ich.«

Haarige Gedanken

»Und in diesem Moment änderte sich alles. Ich schaute zu ihr. Die Haare meiner Mutter hängen gerade herab, wenn sie offen sind. Meine Haare springen zu allen Seiten. Ich kenne fast alle aus der Nachbarschaft, sie kennt fast niemanden. Sie hat eine helle Haut und ich eine dunkle. Sie will, dass alles praktisch ist, nützlich, säuberlich, pünktlich und an der richtigen Stelle. Ich will nur tanzen, mein Herz so offen wie eine Ladentür am verkaufsoffenen Sonntag«, stellt Deetje fest.
»Wenn man uns beim Memory umdrehen würde, darf man ganz bestimmt nicht noch einmal«, resümiert das Mädchen mit umwerfend trockenem Humor, von Andrea Kluitmann schön spröde übersetzt. Wegen dieses Gefühls des Fremdseins gegenüber ihrer wortkargen, verschlossenen Mutter forscht Deetje zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund Vito weiter, nach Empfänger oder Absender des Briefes. Und in eigener Sache.

Religiösität mit Folgen

Tatsächlich wirkt Deetjes Mutter anfangs fast autistisch. Oder depressiv. Dann wird klar, dass Religion und Frömmigkeit eine wichtige Rolle spielen. Christliche Religion. Das irritiert zunächst. Wie man aber am Beispiel der USA sieht, geht von protestantischen Splittergruppen und Sekten eine weit größere Bedrohung als vom durchschnittlichen Islam aus. Schon im bloßen Wort scheint das Radikale enthalten zu sein: Protestantismus. Klingt wie Islamismus, islamistisch. Zumindest kann diese weltabgewandte, fundamentalistische und engstirnige Form des Christentums  verheerende Wirkung haben. Im Großen, und, wie man im Roman zurückhaltend, aber eindrücklich lesen kann, auch im Einzelnen.

Manchmal bleibt nur ein Ring, ein Lied, ein Foto

Enne Koens vereint durch Deetje in dieser besonderen Detektivgeschichte viele spannende individuelle Erzählungen vom Vermissen. Maartje Kuipers behutsame, reduzierte Zeichnungen, die Einblicke in verschiedene Fenster und ausschnittweise auf die Bewohner dahinter geben, akzentuieren das sehr schön. Menschen aus aller Welt sehnen sich nach Eltern, Freunden, Liebsten, die sie auf der Flucht zurücklassen mussten, aus den Augen verloren haben, die gestorben oder weggezogen sind oder von denen man sich auseinandergelebt hat. Manchmal bleibt neben der Erinnerung nur ein Ring, an einer Schnur um den Hals getragen. Manchmal nur ein Lied, Regale voller Lebensmittel oder ein verschlucktes Telefon (ja, wirklich!). Oder ein Foto mit einem Paar, das ein kleines Baby hält, Leute, die Deetje viel ähnlicher sehen.
Die niederländische Autorin Enne Koens verwebt diese bewegenden Erzählungen zu einem ebenso überraschenden wie vielversprechenden Ende. Das der Anfang einer neuen, gemeinsamen Suche ist. Mit Aussicht auf die ganze Welt.

Enne Koens: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen, Übersetzung: Andrea Kluitmann, mit Bildern von Maartje Kuiper, Gerstenberg, 208 Seiten, ab 9, 17 Euro

Zombieapokalypse leicht gemacht

Ende der Welt

It’s the End of the World as We Know It sang die College-Indie-Band R.E.M. in den 1980er Jahren. Tja, man denkt, man wüsste wie das Ende der Welt wird: Feuerregen, Lavaströme, Sintflut, nukleare Explosionen, Zombieapokalypse. R.E.M. konterkarierten es mit einem schlaksigen, verschmitzt lächelnden Jungen, der durch ein sehr chaotisches Zimmer tobt, kaputtes Spielzeug in die Kamera hält und Skateboardtricks macht. Auch für Atlas und Elena sieht das Ende der Welt ganz anders als man es sich vorstellt.

Im Zentrum des Shitstorms

Elena muss zu Beginn der Sommerferien abtauchen: Nach einem lustigen Video mit Lebenshilfetipps steht die Dreizehnjährige im Zentrum eines massiven Shitstorms. Der gesamte Hass des Internets scheint ihr entgegenzuschlagen, Verwünschungen und Morddrohungen inklusive. Keine Freundin will mit ihr verreisen. Selbst ihre Mutter fliegt lieber nach Indien in ein Schweige-Retreat.
So landet Elena ausgerechnet bei ihrer Tante irgendwo auf dem Land und deren creepy neuer Familie. Dort trifft sie auf Atlas und seine jüngere Schwester Kennedy. In diesem überhaupt nicht idyllischem Setting erzählt Anna Woltz von Cybermobbing, Verlust, Tod, Krankheit, traumatisierter Familie. Aber auch von Vertrauen, Liebe, Stärke und Solidarität – furios und ganz anders, als man es kennt.

Viel zu schwerer Rucksack

Wie bereitet man sich auf das Ende der Welt vor, wenn die eigene Welt bereits untergegangen ist. Atlas trainiert hart für alle Eventualitäten. Seinen Rucksack mit allem Überlebensnotwendigen hat er immer gepackt und griffbereit. Der Rucksack ist viel zu schwer für einen vierzehnjährigen Jungen. Und doch schleppt Atlas das Teil  kilometerweit. Er hortet Lebensmittelkonserven. Wenn alle Netze zusammenbrechen, wenn es keinen Strom, kein Wasser, kein Internet, kein Geld und keine Supermärkte mehr gibt, will Atlas die Last schultern und vorbereitet sein, um seine Familie zu retten. Das, was von ihr übrig ist. Und da darf Elena ihm nicht in die Quere kommen.

Vielleicht selber mal nachdenken

Neun Romane hat die niederländische Autorin Anna Woltz in den vergangenen Jahren allein auf Deutsch im Carlsen Verlag veröffentlicht. Es sind berührende und spannende, gegenwärtige oder historische Geschichten mit vielschichtigen, verletzlichen, wütenden, manchmal ein bisschen verrückten, doch durchweg liebenswerten Charakteren, auch mal einem Hund. Kinder und Jugendliche, die konfrontiert sind mit Trauma, Trennung, Krieg, Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. So unterschiedlich sie sind, trotzig und empathisch sind sie alle. Sie raufen sich zusammen und lösen gemeinsam ihre Probleme, um ihre Welt lebenswerter und ihre Leben schöner zu machen. Und Anna Woltz schafft es jedes Mal zu überraschen.
Denn natürlich kommt auch in Atlas, Elena und das Ende der Welt alles anders, als man denkt. Weil eben die Welt und die Menschen anders sind, als man denkt. Anna Woltz lässt Atlas und Elena im Wechsel erzählen. In ihrem eigenen, emotionalen Chaos denken sie sehr kluge Gedanken. »Tja, vielleicht hätten diese Follower selbst mal nachdenken sollen?«, überlegt Atlas angesichts von Elenas folgenreichem Video. Wenn mehr Menschen öfter mal nachdenken, dann wäre die Welt tatsächlich freundlicher und besser. Und Cybermobbing kein Thema.

Die Probleme anderer Leute

»Man stellt es sich immer schlimmer vor, als es ist«, lautete Elenas Ermutigungsmantra früher. Jetzt weiß sie, »manchmal sind die Sachen ganz genau so schlimm, wie man sie sich vorgestellt hat. Und manchmal sind sie noch viel schlimmer.« Auf dem harten Lehmboden eines unheimlichen Schuppens ist Elena auf dem noch viel härteren Boden der Realität angekommen. Dabei war sie doch die lustige und wagemutige Troubleshooterin.
»Die Probleme anderer Leute sind total witzig«, erklärt Kennedy Elena. »Aber unsere Probleme sind einfach … Probleme.« Damit hat Atlas‘ jüngere Schwester eine zeitlose Erkenntnis Ally McBeals grandios neu interpretiert. Ally McBeal war eine Serie um die gleichnamige Anwältin in einer großen Kanzlei in Boston. In der Unisex Toilette (sehr fortschrittlich, 90er Jahre!) fragt eine der biestigen Kolleginnen Ally: »Warum sind deine Probleme eigentlich immer so wichtig?« »Weil es MEINE Probleme sind«, bringt es Ally schlagfertig auf den Punkt. Deshalb ist es auch so schwierig, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Ob lähmende Sprachlosigkeit, absolute Leere, herzzerreißender Kummer – es fehlt der Abstand. Man braucht jemanden, der die Sache aus anderer Perspektive betrachten kann. Und umgekehrt. Davon erzählt Anna Woltz immer wieder neu.

Märchenhafte Kulisse

»Und dann hört der Wald auf und ein Märchen fängt an. Der Pfad führt durch riesige, langgezogene Weiden. Das hohe Gras glitzert silbern im Mondlicht, der tiefblaue Himmel ist mit Sternen übersät und in der Ferne funkelt ein Fluss. Wenn ich Netflix wäre, würde ich für so eine Kulisse Millionen bezahlen«, durchfährt es Elena nachts. »Aber dann fällt mir ein, dass ich kein Streamingdienst bin, sondern jemanden verfolge. Und wenn man jemanden verfolgt, sind ausgedehnte Weiden höchst ungünstig.« Sätze voller Witz und Selbstironie, viel besser als die meisten nach bewährtem Schema geschriebenen Serien. Andrea Kluitmann hat sie mitreißend übersetzt.

»Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Tatsächlich kommt der Ritter auf einem weißen Pferd zur gestrauchelten Heldin. Und es ist überhaupt nicht kitschig. Nein, das ist definitiv nicht das Ende der Welt, wie wir es kennen. Es ist der Beginn einer neuen, wunderbaren Geschichte.

Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt, Übersetzung; Andrea Kluitmann, Carlsen, 2024, 192 Seiten, 12 Euro, ab 11

Mit allen Wassern gewaschen

Zwei große, glänzende Toaster
– Zwanzig Kalender – das waren große Pappen mit den Tagen drauf
– Zehn Abroller mit dickem Klebeband (Sie waren ein bisschen klein, aber hatten knallige Farben, das konnte helfen, um aufzufallen)
– Zehn Tablets (deren Akkus leer waren, sodass man die unglaublich vielen Wörter und Bilder und Filme, die darauf waren, nicht mehr sehen konnte.)
– Fünf Taschen (Manche sahen vornehm aus, andere waren Einkaufstaschen mit Werbung drauf. In einer davon stank ein platt gedrücktes Butterbrot vor sich hin.)
– Sechs Gummihandschuhe (Einen behielt sie für sich, um damit zu spielen, denn mit Augen drauf wurde er zu einem Gesicht.)
– Vier eckige Kissen, die lose auf den Stühlen lagen.
– Topfpflanzen (Denen wollte sie Wasser geben, dann gingen sie nicht ein.)
– Alle Geschirrtücher und Handtücher aus der Küche der Kantine (damit kam man ganz schön weit, wenn man sie ausbreitete.)
– Dreißig Tabletts aus der Kantine (langweilige braune, aber das macht nichts.)
– Drei gemalte Bilder (die ihr nicht gefielen)
– Eine Rolle Luftpolsterfolie (Vorher ließ sie viele Luftpolsterblasen zerplatzen, denn das machte Spaß.)
– Ein paar Kleiderhakenbretter (eigentlich waren die zu dünn.)
– Dreißig Schubladen, die sie aus Schränken gezogen hatte (Alles, was darin war, kippte sie vorher auf den Fußboden.)
– Fünf Rollen Alufolie aus der Küche (die glitzerten schön, das fiel auf.)
– Zwanzig Bücher (Die meisten sahen nicht so spannend aus, das waren keine richtigen Bilder drin und sie hießen zum Beispiel Wegweiser in einer Welt des Wandels. Aber eine schönes Fotobuch war auch darunter mit besonderen Gebäuden aus der ganzen Welt.)

Alle diese Dinge braucht Jona, um auf dem Dach des Hochhauses in zehn riesigen Buchstaben und einem Ausrufezeichen den Satz »ICH BIN HIER!« zu legen.

Unterm Radar

Das ist auch der Titel von Joke van Leeuwens hervorragender und packender Erzählung – zunächst eine Mischung aus Robinsonade und Klimathriller. Vor allem ist es aber eine Geschichte der Selbstbehauptung eines Kindes, das gewohnt ist, unter dem Radar zu leben. Und nicht nur aufs Klima bezogen gilt das für die ganze jüngste Generation, so sehr, wie ihre Bedürfnisse von den Älteren ignoriert werden.
Interessanterweise ist auch das Mädchen Jona wie Cato in Cato und die Dinge, die niemand sieht Halbwaise: »Ihre Mutter war krank geworden und niemand hatte sie wieder gesund machen können.« Auch hier ist der Vater emotional abwesend, versorgt sie mit dem Lebensnotwendigen, hat aber immer etwas zu regeln oder zu Ende zu bringen. Weshalb Jona nach der Schule zu ihm ins Büro kommt, das im einzigen Hochhaus ihres kleinen Heimatortes steht, dreißig Stockwerke hoch. Wo ihr Vater sie nach mehreren Stunden lobt, dass sie schön still gewesen war. »Das sagte er jeden Tag. Dass sie schön still gewesen war. Als hätte sie auch hässlich still sein können.«

Echt intelligent

Das ist gleich auf den ersten Seiten eine kurze Passage, die zeigt, was für ein erstaunliches Mädchen Jona ist. Ihr Wissen ist beeindruckend (nicht nur für eine Achtjährige). Und zwar nicht auf eine anstrengende, klugscheißerische Art. Sondern echt intelligent, wie sie Gelesenes, Beobachtetes, Aufgeschnapptes klug und raffiniert kombiniert. Man sollte Kinder nie unterschätzen.
Vor allem nicht, weil Erwachsene dazu tendieren, sich selbst in ihrem Erwachsensein zu überschätzen. Sie denken, dass sie alles verstehen und im Griff haben. »Jonas Vater glaubt nicht, dass das Wasser so schnell kommen wird, wie alle fürchten. Er wird genug Zeit sein, um sich in Sicherheit zu bringen.« Und dann reicht das Wasser plötzlich bis zum dritten Stock. Rundum das Hochhaus steht alles unter Wasser. Und Jona ist ganz allein auf dem Dach und weiß nicht, wann jemand kommt, um sie zu retten. Oder ob man überhaupt nach ihr sucht.

Hohe Wertschätzung in den Niederlanden

Das ist ein Buch, wie es nur in den Niederlanden geschrieben wird. Und zwar nicht nur, weil die Niederlande eben so niedrig sind, dass das Land teilweise unter dem Meeresspiegel liegt und durch steigendes Wasser als erstes in Europa, überflutet zu werden und unterzugehen droht. Wobei die Niederländer schon immer mit der Gefahr gelebt haben, teils in Hausbooten oder Pfahlbauten wohnen und das nationale Faible für Campingwagen wie eine prophetische Variante mobiler Tiny Houses anmutet.
Bei der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ihren Kolleginnen und Kollegen hat das Schreiben für junge Leser einen viel größeren Stellenwert als hierzulande. Nicht nur wird die Kinder- und Jugendliteratur viel mehr gefördert und honoriert. Sie ist auch deutlich anspruchsvoller, weil die Autorinnen und Autoren für Kinder nicht anders schreiben als für Erwachsene. Und man weiß, dass man Kindern mehr zumuten kann und darf, um sie zu fordern, zu fördern, zu unterhalten und auch mit dem Leben klar kommen zu lassen. Oder auch ein Gespür dafür zu entwickelt, wann Regeln ihren Sinn verlieren. Natürlich darf man normalerweise nicht in ein Büro gehen, die Schubladen ausleeren und Dinge daraus mitnehmen.

Zumuten, fordern, fördern und unterhalten

Nach mehreren Tagen und Nächten auf dem Dach überkommt Jona ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins. Als sich schließlich ein Flugzeug dem Hochhaus nähert, aber vorzeitig wieder abdreht, droht sie alle Hoffnung zu verlieren. Als wären alle Anstrengungen, um auf sich aufmerksam zu machen und gerettet zu werden sinnlos.
Das ist absolut nachvollziehbar und lebensecht. Und macht Joke van Leeuwens Geschichte umso berührender und spannender und wunderbarer. Erneut ein brillantes Buch aus dem Nachbarland.

Joke van Leeuwen: Ich bin hier!, Übersetzung: Hanni Ehlers, Gerstenberg, 120 Seiten, 15 Euro, ab 8

Unendliche Welten

Telegraph

Pulp Fiction als Erweckungserlebnis: »Auf dem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blondine und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: ›Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen‹.
Aufregung fuhr wie ein Stromstoß durch Lily.« Als die Siebzehnjährige den Schundroman bei den billigen Taschenbüchern hinten im Drugstore entdeckt, erkennt sie, dass sie für ihre Mitschülerin Kathleen mehr empfindet als nur Sympathie. Und ihr ist klar, dass das verboten, gegen die Regeln und undenkbar ist.

Faible für Frauen ist unmöglich

Von ihr als ordentlichem Mädchen aus Chinatown in San Francisco Anfang der 1950er Jahre wird erwartet, dass sie amerikanischer ist als junge weiße Mädchen: ausgezeichnete Schülerin, was Anständiges studieren, heiraten, Hausfrau und Mutter von ebenso folgsamen Kindern werden. Mag ihr Interesse für Raumfahrt und der Wunsch, zum Mond zu fliegen, noch als vorübergehende jugendliche Spinnerei durchgehen. Ein Faible für Frauen ist absolut unmöglich.

Anpassung an das weiße Amerika

Als aus China stammende Amerikanerin haben es sie und ihre Familie, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Krankenschwester, schwer. Antikommunistische Hetze stellt alle Asiaten unter Generalverdacht. Und so genau wird auch nicht unterschieden, der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, damals war China zwar mit den USA verbündet, aber Japaner waren Feinde. Und innerhalb der chinesischen Community gelten strenge Konventionen, Anpassung an den Mainstream ist das oberste Gebot.
Lily und Kathleen, genannt Kath genannt, freunden sich an. Und mehr als das, Kath nimmt Lily mit in einen Club namens Telegraph Club. Dort tritt auch die Herrenimitatorin Tommy Andrews auf. Lily ist fasziniert, für sie tun sich nicht nur im Weltraum unendliche Welten auf.

Leben zwischen zwei Welten

Malinda Lo erzählt in Last Night at the Telegraph Club spannernd und vielschichtig von San Francisco in den 1950er Jahren. Von den Menschen in der chinesischen Community, schillernd und exotisch, angepasst und ambitioniert, Leben zwischen zwei Gesellschaften.
Lo taucht ein in Bars und Treffpunkte der lesbischen Szene, man begegnet sich männlich gebenden Butches und femininen Femmes. Beklemmend wird die aufgeheizte politische Paranoia beschrieben. Und natürlich erzählt der Roman auch vom Coming out eines jungen Mädchens, das gegen viele Vorurteile kämpfen muss. Sogar in der lesbischen Szene, wo eine Asiatin doch sehr exotisch ist.

Privates und historisches verknüpft

Der Roman ist sehr gut recherchiert und absolut stimmig. Zwischendurch wechselt er auch die Perspektive und Zeit, erzählt aus der Sicht ihrer Eltern, kurz nachdem sie China verlassen und sich in den USA kennenlernen. Oder aus der Sicht ihrer Tante, einer Mathematikerin, die in einem Raumfahrtprojekt arbeitet. Private und historische Ereignisse werden auf einem Zeitstrahl angeordnet und miteinander verknüpft.

Zeitgeschichtliches Tableau

Last Night at the Telegraph Club ist mittlerweile unter jungen Menschen ein Bestseller. Zurecht, ist der Roman doch über die queere Thematik hinweg ein brillantes zeitgeschichtliches Tableau. Nur die wenigen erotisch angehauchten Petting Passagen fallen dagegen ab. Die monotone und einfallslose Wiederholung von »pochendem Herz«, »schmerzhaftes Ziehen im Unterleib« oder »weiblichen Kurven« rührt wahrscheinlich weniger daher, dass Lily die Worte für ihre neuen Empfindungen fehlen. Es ist eher ein Zeichen der Sprachlosigkeit angesichts von Sex und Körperlichkeit in der amerikanischen Literatur. Da kann auch die sensible Übersetzerin Beate Schäfer nichts dran ändern.

Last Night at the Telegraph Club feiert die kulturelle, sexuelle und geistige Vielfalt, ein mitreißender und funkelnder Roman.

Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club, Übersetzung: Beate Schäfer, DTV, 445 Seiten, ab 14, 19 Euro

Aus dem Tunnel ins Leben

Tunnel

Büchergutscheine, wie sie jetzt bestimmt wieder tausendfach unterm Weihnachtsbaum gelegen haben, sind ja eher Verlegenheitsgeschenke. Man kennt sich nicht genug, kennt auch nicht den Geschmack des zu Beschenkenden. Auch traut man sich nicht, beherzt etwas zu überreichen, was man selbst gern lesen würde. Und irgendwas muss man ja schenken …

Jetzt gegen das beste Buch des Jahres tauschen

Aber genug gelästert. Büchergutscheine sind klasse, denn die glücklich Beschenkten können sie jetzt (in ihrer Lieblingsbuchhandlung und nicht beim grausamen Amazon) in das beste Buch des Jahres tauschen (das sie hoffentlich noch nicht gelesen haben).
Und das wird hier jetzt einfach mal so gesagt, obwohl auch dieses Jahr einige außerordentlich gute Bücher veröffentlicht wurden, vor allem exzellente Graphic Novels und einige besonders schöne Bilderbücher. Also, gleich mal losgehen,  Büchergutschein gegen Nächte im Tunnel von Anna Woltz eintauschen!

»Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben«

Ein Buch, das im Krieg spielt? Das von schrecklicher Angst, lebensbedrohlicher Krankheit, Verkrüppelung und Beklemmung erzählt? Das von brutaler Armut, krassen Klassenunterschieden und gemeinen gesellschaftlichen Zwängen handelt? Und am Ende eine der Hauptpersonen stirbt?
»Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das. Jetzt schon, bevor ich anfange«, sagt Ella gleich zu Anfang. »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da.
Unser Leben fängt gerade erst jetzt an.«

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Ja, das ist das beste Buch! Weil die Figuren so absolut liebenswert sind! Allen voran die Erzählerin, die 14-jährige Ella. Sie ist gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, Kinderlähmung, für viele ein Todesurteil, bevor es eine Impfung dagegen gab. Weil auch die Atemmuskulatur gelähmt werden und man grausam ersticken kann. Ella hat Wochen in einer sogenannten eisernen Lunge eingesperrt gelegen. Ihr linkes Bein wird für immer teilweise gelähmt und verdreht bleiben. Dazu eine Panik vor engen Räumen und dem Gefühl eingesperrt zu sein.

Von zu Hause weggelaufen, um zu helfen

Sie begegnet Quinn, die vom Landsitz ihrer reichen Familie irgendwo in der friedlichen Countryside mit einem riesigen Koffer und einer Tasche voll mit Mutters Schmuck nach London weggelaufen ist. Sie will im Krankenhaus als Sanitäterin arbeiten, irgendetwas tun, um den Menschen in der bombardierten Stadt zu helfen. Dass sie fast noch ein Kind ist, hält sie nicht ab. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich sofort einziehen lassen.« Auf Ellas Einwand »Du bist doch erst fünfzehn?« antwortet Quinn wütend und für Ella schockierend unverblümt: »Das ist doch wohl egal? Ich habe keinen Pimmel, das finden sie das größte Problem.«
Außerdem sucht Quinn ihren älteren Bruder Sebastian in der Hauptstadt, dem einzigen in ihrer arroganten und gefühlskalten Very-stiff-upper-lip-Familie, dem sie sich in ihrem gemeinsamen Freiheitsdrang und Anderssein verbunden fühlt. Aber Sebastian scheint ein Faschist geworden zu sein. Sie muss ihren Bruder finden und zur Rede stellen.

London Blitz

Woltz wollte vom »London Blitz« erzählen, den massiven Luftangriffen, denen die Menschen in London im zweiten Weltkrieg durch Hitlers Bombardierungen ausgesetzt waren. Außerhalb Englands ist wenig über das Leid und die Entbehrungen der Menschen in der britischen Hauptstadt bekannt, die Nacht für Nacht vor den Bomben in den stickigen Bahnhöfen und Tunneln der Tube, der U-Bahn, Schutz suchen. Anfangs alles sehr provisorisch, Alte, Junge, Familien mit kleinen Kindern und Babys, die kreuz und quer auf dem blanken Bahnsteig und den nachts stillgelegten Gleisen in den Schächten liegen, mit einem stinkenden Eimer hinter einem Fetzen Stoff als Klo.

Eine Extremsituation, wie die Pandemie

Woltz fand es auch als eine Extremsituation interessant, die wie die Pandemie alle betrifft. Die für alle alles ändert, auf die alle reagieren und mit der man sich arrangieren muss, um zu überleben, ohne zuvor etwas Vergleichbares erfahren zu haben und sich darauf einstellen zu können. Eine weitreichende Veränderung, die vor allem junge Menschen mit eben erst wachsenden Träumen, Plänen und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, brutal ausgebremst hat.

Furchtbar aktuell

Ella, Quinn, Jay, Ellas kleiner Bruder Robbie und auch Sebastian, jeder einzelne ist absolut lebendig, vielschichtig und liebenswert. Man möchte sie alle kennenlernen, mit ihnen im Dunkeln ausharren, durch die Straßen Londons ziehen, kämpfen, helfen. Das sind keine Figuren aus einem Historiendrama. Woltz lässt sie zeitlos jung, ehrlich und authentisch miteinander reden. Andrea Kluitmann hat es bewährt und ungeheuer frisch übersetzt. Der Carlsen Verlag hat dieses Mal Anna Woltz‘ Buch auch in einen sehr schönen Buchumschlag gehüllt.
In ihren schlimmsten Albträumen hätte Woltz es sich nicht träumen lassen, dass, wenn ihr Buch erscheint, tatsächlich wieder Krieg in Europa geführt wird und Menschen erneut vor Bombenangriffen in die U-Bahn flüchten müssen.

»Ich kann mich entscheiden«

Auch wegen der furchtbaren Aktualität ist Nächte im Tunnel das beste Buch des Jahres.
Vor allem aber ist es auf eine zauberhafte, herzzerreißende Art lebensbejahend. Es erzählt davon, wie es ist, jung zu sein, die Welt entdecken zu wollen, Menschen kennenzulernen, sich auszuprobieren. Wie man etwas finden möchte, das einen glücklich macht. Man möchte neugierig bleiben, etwas wagen, nicht aufgeben, nichts als in Stein gemeißelt und unausweichlich vorbestimmt hinnehmen, sich nicht lähmen lassen. Ich kann mich entscheiden, denkt Ella, als nachts erneut der Fliegeralarm losgeht, die Flakgeschütze sich in Stellung bringen und sie in der Ferne das Dröhnen von Motoren hört. In Nächten im Tunnel können auch Tage eines neuen Lebens beginnen. Auf jeden Fall sollten sie der Beginn eines neuen Lesejahres sein.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14

Klassischer Grusel in kindgerechtem Gewand

Sandmann

Dieser Tage habe ich eine literarische Zeitreise in meine Studienzeit gemacht, als ich vor mehr als 30 Jahren im germanistischen Seminar in Hamburg E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann analysiert habe. Das gelbe Reclam-Heftchen mit meinen Anmerkungen und Anstreichungen ist fast ein kleines Kunstwerk.
Auslöser für diese Wiederlektüre ist die Neuerzählung der romantischen Geschichte durch Anna Kindermann, passend zum 200. Todestag des Schriftstellers am 25. Juni. In ihrem gleichnamigen Verlag wird seit Jahren Weltliteratur für Kinder aufs Schönste aufbereitet. Beim Sandmann allerdings habe ich mich anfangs erstaunt gefragt, ob so eine düster-gruselige Geschichte für Kids überhaupt sinnvoll ist.

Tiefenpsychologische Romantik

Im Sandmann kämpft die Hauptfigur Nathanael nämlich im Grunde gegen eine frühkindliche Traumatisierung, verliebt sich in einen Automatenfrau und wird von unerklärlichen Figuren in seinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Die Sache geht bekanntermaßen nicht gut aus.
Kindermann schafft es jedoch, die komplexe Geschichte, an der sich Heerscharen von Literaturwissenschaftler ihre grauen Interpretationshirnzellen zermartern, in eine rasant lesbare Story zu bringen, deren Knalleffekte und Twists fast mehr an großes Actionkino erinnern, denn an ein tiefenpsychologisches Drama. Überspitzt gesagt.

Unzählige Deutungsmöglichkeiten

Natürlich ist der Sandmann zutiefst psychologisch und überaus rätselhaft: Sind die Figuren vom Advokaten Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola identisch? Gibt es den Sandmann vielleicht doch wirklich? Warum spielen die Augen so eine große Rolle? Warum liebt Nathanael Olimpia mehr als Clara? Und wieso merkt er nicht, dass Olimpia ein Automat ist?
Letzteres lässt mich heute aus Frauenperspektive aufhorchen: Männer mögen wortkarge Frauen also lieber, die ihren Kerlen aufmerksam zuhören, ohne zu stricken oder mit dem Schoßhündchen zu spielen, und nur mit »Ach, ach!« antworten. Die handfeste, hellsichtige Clara mit ihrer klaren Deutung von Nathanaels Zuständen ist schon damals (in Hoffmanns Original) viel zu selbstbewusst, um den tragischen Helden dauerhaft an sich binden zu können. Ziemlich hellsichtig, dieser E. T. A., schon vor mehr als 200 Jahren.

Kindgerecht neuerzählt

Kindermann lässt plot-technisch nichts aus, doch sie glättet gar zu gruselige Szenen – beispielsweise wenn die alte Kinderfrau im Original, den Sandmann, der so gar nichts mit dem TV-Sandmännchen zu tun hat, drastisch schildert: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Die in Kindermanns genutzten Originalzitate sind kursiv gedruckt und in diesem Fall endet es nach den »Händevoll Sand in die Augen«. Das macht die Lektüre für junge Leser ab zehn Jahren erträglich – und trotzdem gruselig-spannend.

Heimelige Illus

Zu dem Wohlfühl-Gruseln tragen dann die Illustrationen von Dorota Wünsch ihren Teil bei: Sie sind farblich eher abgetönt und erdig gehalten, versprühen also nicht gerade Fröhlichkeit, verstören aber auch nicht. Frackschöße und Krinolinenkleider versetzen das Publikum viel mehr in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, als Alchemie und Automaten der letzte Schrei waren, aber auch damals schon der Kampf ums Urheberrecht (wer ist der eigentliche Schöpfer von Olimpia: Coppola oder Spalanzani?) im Gang war.

Verführung zur Weltliteratur

Okay, die Interpretationsansätze für den Sandmann sind vielfältig, und jede:r von uns wird sich bei der Lektüre etwas Eigenes denken. Für lesebegeisterte Kinder ist die Version von Anna Kindermann ein gelungener Einstieg in die Gruselliteratur der schwarzen Romantik und regt so vielleicht die Neugierde auf die Klassiker der Weltliteratur.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, neu erzählt von Anna Kindermann, Illustrationen: Dorota Wünsch, Kindermann Verlag, 2022, 40 Seiten, 18 Euro

Gegen das Schubladendenken

Okay, der Sommer ist vorbei, draußen ist es nass, kalt, dunkel – beste Lesezeit und beste Gelegenheit, sich in den Sommer zurück- oder vorzuversetzen und zwar mit Meg Rosoffs Roman Sommernachtserwachen. Darin nimmt die preisgekrönte Autorin uns in ein verwinkeltes Sommerhaus irgendwo an einer englischen Küste mit. Eine Familie mit vier jugendlichen Sprösslingen macht sich auf, die großen Ferien dort zu verbringen – so wie immer. Alles deutet daraufhin, dass es ein gewöhnlicher Sommer mit Baden, Segeln, Tennis, Reiten, Grillen und Faulenzen wird.

Doch das Erzähl-Ich macht schnell klar, dass es dieses Mal anders laufen wird. Denn zur Familie stoßen noch Dads jüngere Cousine Hope mit ihrem Freund Malcom, von allen nur „Malanhope“ genannt, weil sie unzertrennlich scheinen. Hope wiederum hat eine kalifornische Patentante, eine mehr oder minder bekannte Hollywood-Diva der B-Liga, die ihre beiden Söhne Kit und Hugo über den Sommer bei ihr „parkt“.

Blendende Schönheit

So schlägt der 19-jährige Kit in dieser Runde ein wie ein Bombe. Die Schwester Mattie verliebt sich stante pede in den Schönling mit den goldenen Locken. Und er bändelt tatsächlich mit dem hübschen Mädchen an. Sarkastisch kommentiert das Erzähl-Ich, wie sich die Stimmung der Schwester in einem Auf und Ab immer schneller ändert, denn Kit ist nicht wirklich fassbar. Er legt sich trotz jugendlichem Geturtel und Gefummel nicht fest und verwirrt im Grunde alle Menschen in seinem Umkreis, mal mehr, mal weniger, je nach Alter, aber unabhängig vom Geschlecht.

Egoistischer Manipulator

Auch das Erzähl-Ich verfällt ihm im Laufe des Sommer, hat Sex mit ihm im Schilf und muss doch feststellen, dass Kit nur ein egoistischer Manipulator ist. Etwas, das sein zurückhaltender Halbbruder Hugo, den die anderen nicht ganz ernst nehmen und der als stilles, aber tiefes Wasser am Ende alle überrascht, schon immer wusste. Es ist faszinierend zu lesen, wie geschickt Meg Rosoff mit wenigen Sätzen die Sympathie der Lesenden von Kit zu Hugo leitet und so die eigene Beeinflussbarkeit deutlich macht.

Über Geschlechtergrenzen hinweg

Und so wie Hugo ist auch dieser Roman wie ein stilles, unaufgeregtes, aber überaus tiefes Textgewässer. In die heimelige, unbeschwerte Sommeratmosphäre, in der die Hochzeit von Malanhope vorbereitet wird, Bruder Alex Fledermäuse beobachtet, die kleine Schwester Tamsin bei einem Pferdeturnier mitreitet, schleichen sich nach und nach immer mehr Leerstellen und unlösbare Rätsel. Diese betreffen nicht nur Kit und Hugo, sondern vor allem auch das Erzähl-Ich, dessen Namen und damit auch dessen Geschlecht die Leserschaft in keiner Zeile erfährt.
Damit bleibt Meg Rosoffos Geschichte nicht nur eine schnell konsumierbare Lektüre, sondern gibt den Leser:innen zu denken, wie sie geschlechtliche Verhältnisse sehen. Die Autorin bringt – wenn einem diese Besonderheit des Erzähl-Ichs erst einmal bewusst geworden ist – unsere wie auch immer geschlossene oder offene Weltsicht ans Licht. Sie führt das stereotype Denken des Mainstreams vor und stellt es somit in Frage. Gleichzeitig zeigt sie, wie universell Verführung, Sex, Liebe sind, wie unwichtig Geschlechterdenken ist, wie menschlich charakterliche Abgründe sind. Der Nachhall dieser Sommergeschichte ist auch im tiefsten Winter gut zu spüren und trägt hoffentlich zu mehr Offenheit im Leben bei.

Meg Rosoff: Sommernachtserwachen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Fischer KJB, 2021, ab 14, 15 Euro

Unter uns das Meer

steinkellner

Ein Junge, ein Mädchen, beide 16 Jahre alt und beide auf der Suche nach einem bestimmten Menschen. Zufällig begegnen Simon und Antonia sich im Park. Antonia sieht in Simon erst jemand anderen, alles dreht sich vor ihren Augen und sie sinkt in Simons Arme.
Aber wer jetzt eine leicht kitschige Liebesgeschichte vermutet, liegt völlig falsch.
Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen von Elisabeth Steinkellner ist viel mehr. Unweigerlich taucht man ein in diesen aus zwei Perspektiven erzählten Roman. Anfangs sind die Wechsel noch etwas verwirrend, doch bald wird klar, dass Simons Passagen immer mit Farben überschrieben sind, Antonias mit prägnanten Begriffen.

Romantische Sehnsucht nach dem Meer

Die Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens (und des Buchs), wie die formidablen Lassie Singers richtig sangen. Dass die allein schon deutlich mehr sein kann, ahnt Simon bereits: »Woher weiß man, dass man verliebt ist? Dass es wirklich verliebtheit ist und nicht einfach nur anziehung oder der wunsch nach aufregung und abenteuer oder schlichtweg selbstbetrug, weil man in dem anderen jemanden sieht, der man selbst gern ware?«, tippt er ins Telefon. Die Antwort seiner besten Freundin kommt prompt: »Vermutlich gehört das alles irgendwie dazu, der selbstbetrug und die die sehnsucht nach abenteuer und großem gefühlskino …«
Simon ist total verknallt in Paulus, den er vor einem halben Jahr im Zug kennengelernt hat. Leider weiß er kaum mehr als den Vornamen und wo sein Schwarm studiert. Und dass Paulus taucht und unter Wasser fotografiert, weshalb er eine romantische Sehnsucht nach dem ihm unbekannten Meer hat (das Buch spielt in Österreich). Jetzt ist er in den Ferien in jene nicht genannte Universitätsstadt gereist, um Paulus zu suchen – und Farbe in sein eintönig graues Leben zu bringen.

Outing erst drei Jahre später

Dass Simon schwul ist, wird angenehm unaufgeregt thematisiert. Selbst weiß er schon länger, dass er auf Jungs steht. Sich offiziell zu outen, »Farbe zu bekennen«, hat er sich noch nicht getraut. Das passt gut zu den Zahlen einer Jugendstudie, laut der Jungen sich mit gut 13 Jahren innerlich outen, aber im Durchschnitt erst drei Jahre später anderen sagen, dass sie homosexuell sind. Bei Mädchen ist der zeitliche Abstand übrigens nur ein Jahr. Simons Verhalten spiegelt treffend unsere Gesellschaft: Sexualität ist allgegenwärtig, aber das auf T-Shirts des FC St. Pauli aufgedruckte Motto »Liebe doch wen du willst« ist längst noch nicht selbstverständlich.

Die Kapitänin wie ein sterbendes Tier

Antonia vermisst ihren älteren Bruder. Die Leerstelle, die seit Joels Verschwinden in ihrem Leben entstanden ist, bildet auch einen immer breiter werdenden Graben zu allen anderen Menschen in ihrem Leben, zu ihrer besten Freundin, zu ihrer Mutter, zu ihrem Vater, zu ihrem Freund.
»Ich merke, wie unglaublich groß die Wut in mir ist. Die Wut darauf, dass ich immer noch traurig bin wegen Joel und dass ich mich so verdammt machtlos fühle gegen die Leere, die er in mir hinterlassen hat. Die Wut darauf, die falschen Dinge gesagt zu haben, als es darauf angekommen ist, und immer wieder die falschen Dinge tue, wenn es darauf ankommt.«
Antonias Bruder Joel ist kurz vorm Abitur (Österreichisch: Matura) komplett ausgetickt, litt unter Wahnvorstellungen, Angst, Panik, wurde aggressiv. Wie diese schwer zu begreifende Psychose die Familie verzweifelt, hilflos, traurig und wütend macht, Rollen durcheinanderbringt und alles auseinander sprengt, beschreibt Antonia im Laufe des Buchs eindringlich und erschütternd. »Mama war immer die Kapitänin unseres Schiffs … In der Nacht, nachdem sie Joel ins Auto gepackt und in der Psychiatrie abgeliefert hatte, hat sie stundenlang gewimmert wie ein sterbendes Tier.«

Szenen zärtlicher Leichtigkeit

Elisabeth Steinkellner verleiht ihren sich so liebenswert selbst im Weg stehenden Charakteren starke Stimmen. Auch den Nebenfiguren, »als Mutter liebst du niemanden auf der Welt so sehr wie deine Kinder. Und trotzdem machst du Fehler, vielleicht aus Unachtsamkeit oder Angst, vielleicht aus Egoismus oder Ungeduld. Bei dir bleibt am Ende das Gefühl der Liebe. Aber wer weiß, bei deinem Kind wiegt vielleicht der Schrecken schwerer«, sagt Antonias Mama zum Ende.
Zwischen spritzigen Dialogen, gern auch in Form von Textnachrichten, schonungslosen Selbstreflexionen und klassischen Fehlinterpretationen, gewinnen Simon und Antonia immer mehr Klarheit über ihre Wünsche. Typisch pubertäre Stimmungsumschwünge beenden Szenen voller unerwarteter Ausgelassenheit und zärtlicher Leichtigkeit. Es gibt echtes Drama, nie künstlich oder überzogen. So kommt es mal zum heftigen Krach zwischen Antonia und ihrer besten Freundin. Aber das ist nicht das Ende: Ines schätzt es nämlich, dass Antonia sehr emotional agiert und sich nicht verstellt, um anderen zu gefallen.

Knoten lösen

»Ich weiß selber nicht, warum ich das Gefühl habe, dass mir die richtigen Worte fehlen«, sagt Simon am Anfang. Auch seine Hände versteckt er lieber zu Fäusten in den Hosentaschen geballt, als jemandem zu nahe zu kommen, seltene Gesten geraten ihm zum Slapstick. Bei Antonia aber macht er von Anfang an instinktiv fast alles richtig. So lösen sich bei beiden nicht nur ein paar hartnäckige Knoten im Schopf. Und beide finden ihren Weg zum Meer, mit dem sie ganz unterschiedliche Gefühle assoziieren.
Steinkellner hat auf jeden Fall genau die richtigen Worte für diesen vielschichtigen, brillanten Roman. Sie ist eine der faszinierendsten Jugendbuchautorinnen aus Österreich, seit der wunderbaren, im vergangenen Jahr gestorbenen Christine Nöstlinger.

Elisabeth Steinkellner: Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen, Beltz & Gelberg, 2018, 236 Seiten, ab 14, 13,95 Euro

Die Schuldfrage

o'neillDas war hart. Gleich vorneweg: Die Lektüre von Louise O’Neills Roman Du wolltest es doch fordert den Leser_innen so Einiges ab. Aber genau das ist gut und wichtig und in heutigen Zeiten unverzichtbar.
Denn immer noch wird viel zu wenig über sexuelle Gewalt gesprochen – #metoo hin oder her – und wenn doch, erleben die Opfer viel zu oft und viel zu schnell eine verallgemeinernde Schuldzuweisung, eben im Sinne von: Du wolltest es doch.

O’Neills Roman, in der feinfühligen und gleichzeitig kraftvollen Übersetzung von Katarina Ganslandt, beginnt wie ein gängiger Teenie-Roman: Emma, 18, ist schön, beliebt, kommt aus gutem Haus, weiß um ihre Wirkung auf Jungs und kurvt mit ihrer Clique durch eine irische Kleinstadtstraßen auf der Suche nach Ablenkung und Nervenkitzel (Jungs). So weit, so unspektakulär, was mich fast am Weiterlesen und Durchhalten gehindert hätte.

Doch dann spitzt es sich auf einer Party zu. Emma, im schwarzen Minikleid mit tiefem Ausschnitt, gelingt es, die Aufmerksamkeit des angesagtesten Footballspielers der Stadt zu erobern, Paul O’Brien. Und schon hier beginnt eine unsägliche Spirale: Um nicht als uncool oder Spielverderberin dazustehen, nimmt sie die Pillen, die Paul ihr anbietet. Sie trinkt Alkohol, irgendwann tanzt sie völlig zugedröhnt durch den Raum, ihr Kleid verrutscht. Alle können es sehen.
Schließlich verschwindet sie mit Paul in einem Schlafzimmer. Sie haben Sex, obwohl Emma schon nicht mehr bei vollem Bewusstsein ist und es im Grunde nicht wirklich will. Irgendwann platzen andere Partygäste hinein. Schauen zu, feuern an. Emma schwinden die Sinne.
Am nächsten Morgen finden ihre Eltern sie schlafend auf der häuslichen Veranda, fortgeworfen wie Müll. Emma erinnert sich an nichts mehr.

Dafür erinnert das Internet sie schließlich an die Nacht: Es kursieren Bilder der bewusstlosen Emma, die von mehreren Jungs auf der Party vergewaltigt und gedemütigt wird.
Emma kann und will es zunächst nicht glauben. Versucht weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Doch die Kommentare unter den Bildern, die Reaktionen ihrer Freunde und Bekannten in der Kleinstadt und auch die Reaktionen ihrer Eltern zeigen ihr immer mehr, dass hier etwas Fürchterliches geschehen ist – an dem sie doch selbst schuld ist.

Mehr und mehr verstrickt sich Emma in die Vorstellung der eigenen Schuld – eindrucksvoll von O’Neill durch immer wiederkehrenden Sätzen („Ich bin schuld“) verdeutlicht, die zu Emmas Mantra werden. Sie kommt trotz einer Therapeutin nicht mehr aus dieser Spirale hinaus.
Es vergeht ein Jahr, Emma hat mittlerweile Anzeige erstattet – und nun trifft sie die Verachtung der Menschen immer stärker. Alles um sie herum verändert sich: Das einst so liebevoll gepflegte Haus der Familie verkommt immer mehr, die Mutter trinkt zu viel, der Vater sieht Emma kaum noch an, in der Stadt formiert sich eine Gegenseite, die von der Unschuld der angezeigten Jungs überzeugt ist und Emma immer wieder die Schuld gibt.

Das alles ist für Emma kaum zu ertragen – und auch für die Leser_innen ist das schwere Kost. Denn mann möchte Emma schütteln und ihr beständig sagen, dass sie eben nicht schuldig ist. Man möchte sie anschreien und ihr sagen, dass sie gefälligst mehr auf ihren Bruder Bryan und ihren alten Freund Connor hören soll, die uneingeschränkt hinter ihr stehen. Man möchte Emmas Eltern den Kopf waschen, damit sie endlich aufhören in ihrem eigenen Selbstmitleid zu ertrinken und sich endlich mal richtig zu ihrer Tochter bekennen und ihr nicht immer unterschwellig zu verstehen geben, dass sie von ihrem Verhalten enttäuscht sind.

O’Neill erzählt die Geschichte aus der Sicht Emmas, was dann Leerstellen zur Folge hat, wie die Jungs später eigentlich reagieren. Aber genau das ist gut. Man ist vollständig in Emmas Filterblase und bekommt ihre Ängste, ihre Scham und ihre Verzweiflung hautnah mit.
Man kann sie verstehen, wenn sie in Gedanken den möglichen Prozess mit all den unangenehmen Fragen durchgeht. Ihre Angst, die innersten Beweggründe für ihr Verhalten in aller Öffentlichkeit auszusprechen, wird so auch zur Angst der Leser_innen. Das ist manchmal schwer auszuhalten. Reflexartig möchte man immer sagen: Ich würde das aber ganz anders machen! Und gleichzeitig kann man am Ende – das kein Happy End ist – Emmas Entscheidung ein kleines bisschen auch verstehen, wenn auf einmal die Eltern wieder zugewandt sind, das Heim wieder schön wird und die Mutter Scones backt.

Aber dieses Verständnis dauert nur einen kurzen Moment, dann durchdringt einen die Bitterkeit dieser Entscheidung – und man weiß, dass es so nicht sein sollte. Dass diese ganze Geschichte eigentlich nicht sein sollte. Kein Mädchen sollte sich schuldig fühlen, wenn sie vergewaltigt wird – egal wie sie sich benommen hat. Sexuelle Gewalt ist nicht zu entschuldigen. Nie. Mit nichts.
Dass die Täter immer noch viel zu oft ungeschoren davon kommen, ist unverständlich. Dass immer nur den Mädchen eingetrichtert wird, dass sie sich anständig zu verhalten und nicht so aufreizende Kleider tragen sollten, kann nicht die Lösung sein. Es kann auch nicht sein, dass Mädchen und Frauen sich nicht trauen über solche traumatisierenden Erfahrungen zu sprechen. Genau dies ist das Anliegen von Louise O’Neill, das sie in ihrem Nachwort so zusammenfasst:

„Wir müssen über Victim Blaming und Slut Shaming sprechen – darüber, dass den Opfern von Straftaten oft selbst die Schuld an dem Vergehen gegeben wird – und wir müssen über die unterschiedlichen moralischen Standards sprechen, mit denen wir das Verhalten junger Frauen und das junger Männer bewerten.“

Genau so. Fangt damit an, indem ihr dieses Buch lest.

Louise O’Neill: Du wolltest es doch, Übersetzung: Katarina Ganslandt, carlsen, 2018, 368 Seiten, ab 16, 18 Euro

Von Fluchtgeschichten und dem Schrecken der Realität

Ein Interview mit Peer Martin

peer martinVor genau drei Jahren habe ich hier über den preisgekrönten Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin berichtet. Es war eine zutiefst bewegende Lektüre – wie mir meine eigene Rezension in Übereinstimmung mit meiner Erinnerung bestätigte.

Nun habe ich auch die Folgebände Winter so weit und Feuerfrühling gelesen. Wieder hat es extrem lang gedauert – nicht unbedingt wegen des Umfangs der beiden dicken Bände, sondern wegen des erneut sehr belastenden, extrem realitätsnahen Inhalts, den man zum Teil nur häppchenweise erträgt.
Die Geschichte von Nuri und Calvin geht nach dem dramatischen Ende des ersten Teils nämlich noch mal eine Runde heftiger weiter.
In Band 2 macht Calvin, der eigentlich in einem Zeugenschutzprogramm untergekommen ist, sich nach Syrien auf, um sein letztes Versprechen an Nuri zu erfüllen. Bei der Suche nach dem Mädchen Dschinan gerät er in so gut wie alle kämpfenden Gruppierungen im Kriegsgebiet, landet beim IS und in den Folterkellern des Assad-Regimes, gelangt aber auch zu den Kurden und YPG-Kämpfern.
Nuri, die entgegen dem Ende von Band 1 nicht tot ist, lebt nun in Berlin und arbeitet mit Flüchtlingskindern. In ihrem Erzählstrang schildert Peer Martin auch weiterhin die rechte Szene, dieses Mal mit dem Schwerpunkt auf den „deutschen Frauen“. Als Nuri schließlich erfährt, dass Calvin lebt, fliegt sie im dritten Teil zurück nach Syrien, um nun ihn dort herauszuholen. Gemeinsam treten sie, zusammen mit fünf Waisenkindern, die zu ihrer Familie werden, den mühsamen und gefährlichen Rückweg nach Deutschland an: als Flüchtende über das Mittelmeer.

Ich halte die Inhaltsangabe hier bewusst kurz – abgesehen davon, dass der Plot überaus komplex ist –, denn viel wichtiger ist es mir, hier Peer Martin, der mir ein paar Fragen per Mail ausführlich beantwortet hat, selbst über seine Bücher sprechen zu lassen.
Seine Antworten sagen mehr, als meine Zusammenfassung es je könnte.

War Sommer unter schwarzen Flügeln von Anfang an auf drei Bände ausgelegt?
Peer Martin: 
Zu Beginn, als die Idee entstand, nein. Aber während des Schreibens wurde rasch klar, dass keines der angerissenen Themen „beendet“ ist: Die Weltpolitik und auch der Verlauf des Krieges in Syrien änderten sich radikal, für mich beides eher unvorhersehbar. Als ich zu schreiben begann, gab es weder den IS noch Pegida oder die AfD (jedenfalls war sie noch nicht bekannt), wir waren noch weit entfernt von Trump, und die Türkei galt als beinahe-demokratischer Staat. Kein Stein scheint seitdem auf dem anderen geblieben zu sein. Daher entschied ich, dass es weitergehen muss, und das war dann schon mit dem Ende des ersten Bandes klar und wird ja auch auf den letzten Seiten durch Calvins Versprechen an Nuri, nach Syrien zu gehen und Dschinan aus dem Kriegsgebiet zu holen, angedeutet.

Waren Sie in Syrien (vor dem Krieg oder während des Schreibens)?
Lange vor dem Krieg bin ich mit Freunden durch Syrien gefahren. Was wir damals gesehen haben, wirkte wie ein moderner, fast heiler Staat, Menschen, die ihren Herrscher für seine Modernität liebten. Als Tourist bekommt man von der Unterdrückung in einem gut funktionierenden Regime beschämend wenig mit.

Wie schreibt man eine Geschichte, wenn sie von der Realität ständig eingeholt und noch übertroffen wird?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, eigentlich ist es unmöglich, aber man könnte sagen, der Teufel reitet mich, es dennoch zu tun.
Das Interessante daran ist, dass es sich mehr wie ein Spiel anfühlt, eine Art global interaktives Computerspiel: Ich recherchiere, während ich schreibe, ich lese in tausend Artikeln meine eigene Geschichte und stelle sie dann zusammen bzw. schreibe sie neu, indem ich die gelesenen Informationen verwende, beispielsweise recherchiere ich einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, da der Protagonist dort eigentlich vorbeikommen muss, und dann entfaltet sich vor mir ein ganzes Szenario an Dingen, die ihm offenbar dort passiert sein müssen, weil sie einfach gerade dort passiert sind.
Das Schlimme daran ist, dass die Schrecken der Realität die der Fiktion immer und grundsätzlich ausstechen.
peer marting
Beim dritten Band, „Frühling“, musste ich zu Beginn teilweise in die Zukunft schreiben und war am Ende sehr, sehr nahe an der Gegenwart, die mich überholt hatte. Beim Lektorat, das ja meist erst ein oder zwei Jahre später stattfindet, hat sich die Realität natürlich schon wieder geändert … Manchmal gehen Dinge auch hin und her. Als ich mit Antonia Michaelis zusammen an „Grenzlandtage“ arbeitete, schrieben wir über ein Griechenland, das den Flüchtlingen gerade mehr Rechte und Freiheiten eingestand und über ein Europa, das sich öffnete. Der Protagonist hatte aber noch Angst vor den ihm bekannten alten Zuständen der Internierung. Als das Buch erschien, war wieder alles rückläufig, und heute sind die Ängste des Protagonisten mehr als begründet, da wir zurück bei der kompletten Internierung aller Flüchtlinge in Gefangenlager-ähnlichen Zuständen sind und vor einem vollkommen abgeriegelten Europa stehen.

Wie gelingt es Ihnen aus der Distanz über Syrien und Deutschland zu schreiben?Tatsächlich ist es leichter, aus der Distanz über Syrien als über Deutschland zu schreiben, da Syrien immer schon fern und ich auf meine Recherche und die Erzählungen von Freunden angewiesen war. Seit ich in Kanada lebe, vermische ich manchmal im Kopf Kanada und Deutschland, da es auch Parallelen in der Flüchtlingspolitik gibt, dann aber Dinge doch wieder grundlegend anders sind.
Daher kommt der Protagonist meines nächsten Romans aus Quebec, und ich hoffe, ich habe ihm nicht versehentlich irgendwo zu deutsche Eigenschaften angedichtet.

Reicht die Recherche übers das Internet aus, um ein Gefühl für die Länder zu entwickeln? Oder hatten Sie Informanden vor Ort?
Ich habe vor allem während der ersten beiden Bände viel mit Freunden aus Syrien gesprochen, die ich in Deutschland während des Studiums kennengelernt hatte, die aber währenddessen nicht „vor Ort“ in Syrien waren. Zu einem von ihnen, der zurückgegangen ist, haben wir leider jeglichen Kontakt verloren. Das ist das Problem der Informanden „vor Ort“ – sie leben sehr gefährlich, und wir können nur das Beste hoffen. Ein anderer Freund ist noch in Berlin, er hat die beiden ersten Bände für mich korrekturgelesen und zusammen mit mir den Plot zum dritten entwickelt, da er damals gerade dabei war, seine Freundin aus Syrien „herauszuholen“, während ich an diesem dritten Plot saß. Merkwürdig war dann für mich die doppelte Distanz – der Syrer in Berlin, mit dem ich telefonierte und schrieb, und ich in Kanada, der teilweise über die Netzrecherche besser über die illegalen Wege Syrien – Türkei-Griechenland – Deutschland Bescheid wusste.

Wie sehr hat Sie die Geschichte von Nuri und Calvin persönlich belastet?
Es ist weniger die Geschichte um Nuri und Calvin, die mich belastet, da ich auf sie immerhin einen gewissen Einfluss habe. Keinerlei Einfluss habe ich auf die Weltpolitik und die Realität, das belastet mich sehr viel mehr. Zu viel Recherche macht leider bitter, da es einen gewisse negative Entwicklungen vorausahnen lässt. Sie sind alle eingetroffen und haben meine Ahnungen übertroffen, das schmerzt.

Was haben Sie zum Ausgleich zu den Schreckenskapiteln in Syrien, als Calvin in die Hände des IS fällt, gemacht? Das verdaut man ja nicht einfach so…
Die Schreckenskapitel in den Büchern sind mein Ausgleich. Es ist einfacher, über Gewalt zu schreiben, als über sie zu lesen, denn, wie oben erwähnt: Das Geschriebene kann ich beeinflussen. Gleichzeitig entwickelt man beim Schreiben eine Distanz, man möchte, dass es lesbar bleibt und sprachlich gut ist, also sieht man das Geschehen aus einem sehr sachlichen Blickwinkel, ähnlich einem Maler, der ein Bild von, sagen wir, einem KZ malt. Er denkt plötzlich über Lichtverhältnisse und Farbkombinationen nach, so wie ich über Sätze und Worte. Tatsächlich ist das wohl eine sehr intensive Art, Dinge zu verdauen, es hilft aber ungemein. Überhaupt hilft, finde ich, das Beschäftigen mit Dingen dabei, den Schrecken vor ihnen zu verlieren. Böse gesagt könnte man behaupten: Man stumpft ab.
Man braucht aber wohl ein gewisses Maß der Abstumpfung, um den Mut aufzubringen, an Themen heranzutreten und zu versuchen, die Welt zu verändern.

Wie wirken auf Sie aus der Ferne der Aufstieg der AfD, der Neokonservativismus und das rechtskonservative „Outing“ vieler Intellektueller?
Ich mache jeden Tag drei Kreuze, dass ich hier bin. Das ist sehr feige von mir und überhaupt keine Lösung, und auch in Kanada haben wir Rechte und eine sogenannte Flüchtlingsproblematik, vor allem, da seit Trumps Regierungsantritt der, sagen wir, Flüchtlings-Druck auf Kanada wächst, hier ist nicht alles eitel Sonnenschein.
Dennoch habe ich in dem ja sehr viel engeren Deutschland (zweimal war sich seitdem da) ein Gefühl des Eingesperrtseins, es wirkt kafkaesk. Und ich bin froh, dem entkommen zu sein, zumal meine Frau und ich immer wieder Parallelen zu den Zwanzigerjahren sehen, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden. Damals waren es ihre Eltern, die, etwas später und gerade noch rechtzeitig, den Absprung geschafft haben. Wir witzeln manchmal darüber, dass wir ja ein Gästezimmer haben, und wie voll es dort wohl werden wird, wenn aus Europa wieder die Menschen fliehen.

Warum ist Band 3 bei Tredition, einem Selfpublisher-Anbieter, herausgekommen? Warum hat Oetinger den Band nicht mehr bringen wollen?
Oetinger wollte schon den zweiten Band nicht machen, weshalb er, quasi unbeworben, im Taschenbuch erschienen ist. Das Problem ist: Band eins ist ein klassisches Jugendbuch, erste Liebe, Spannung usw. Band 2 und 3 gehen eher in den Bereich der Belletristik, viele Leser haben auch so reagiert, ihnen fehlte der „Zauber“ des ersten Bandes, das, was ich Zuckerguss oder Kitsch nennen würde. Die Protagonisten und die Geschichte sind erwachsen geworden, die Helden, gerade Nuri, sind nicht mehr die strahlenden, frischen, mutigen jungen Menschen, die sie waren, sie haben mehr Ecken und Kanten, werden realer, und durchleben die nicht gerade aufbauende Entwicklung unserer Zeit. Ich kann den Verlag also durchaus verstehen, Oetinger ist kein Belletristikverlag. Dennoch wollten Tom und ich (Tom, einer meiner Berliner Freunde, ist quasi der logistische Teil des Teams) das dritte Buch nicht einfach in der Schublade liegen lassen, wenn es eine Hand voll Leuten liest, reicht das schon.

Planen Sie ein neues Buch? Falls ja, mögen Sie etwas darüber verraten?
Ja. Allerdings versuche ich gerade, drei Bände in einen zu quetschen und frage mich, ob das gut geht.
Wie gesagt, diesmal kommt mein Protagonist aus Kanada. Es ist ein junger Mensch, der eine Reportage über einen ganz anderen Fluchtweg plant, einen, der uns hier mehr angeht und von dem in Europa wenige Menschen wissen, wie ich festgestellt habe: Die Reise auf der Panamericana nordwärts.
Dies ist die Alternative für die Afrikaner, die nicht im Mittelmeer ertrinken wollen – und für viele andere Menschen, die den Weg schon länger nutzen. Die relativ laxen Einreisebestimmungen von Ländern wie Brasilien gestatten es beispielsweise Somaliern oder Bangalen, dorthin zu fliegen oder, von Afrika aus, mit dem Schiff zu reisen. Dann machen sich diese Menschen auf den Weg durch sämtliche Länder Süd- und Mittelamerikas bis in die USA und inzwischen bis nach Kanada. Dies ist auch der Weg des afrikanischen Jungens, mit dem ich in dem kleinen Buch „Was kann einer schon tun?“ gesprochen habe, und während ich dafür recherchierte, kam mir die Idee, über die Panamericana-Reise zu schreiben. Im Darien-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama kommt es seit einigen Jahren zu der kuriosen Situation, dass sich, da das die engste Stelle ist und alle „da durch müssen“, Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und mit den unterschiedlichsten Fluchtgründen treffen, mitten im Dschungel. Dort ist ein „Loch“ in der Panamericana: Es gibt keine Straßen, nur Fuß- und Wasserwege durch dichtesten Urwald, wo einheimische „Coyoten“, Schleuser, die Menschen über die Grenze führen. Abgesehen vom Darien-Dschungel ist es aber generell eine sehr interessante und vor allem sehr weite Reise, die durch viele, viele Länder mit vielen, vielen unterschiedlichen und doch ähnlichen Problemen führt. Das Buch beleuchtet Fluchtgründe abseits vom klassischen Krieg, den man sich unter einem Krieg eben vorstellt. Es geht sehr viel um die momentane anthropogene Zerstörung der Erde: der Klimawandel und der Ausverkauf der globalen Energieresourcen ist eigentlich, wenn man genau hinsieht, der vorrangige Fluchtgrund überhaupt. Er wird eine Völkerwanderung auslösen, die wir uns heute kaum vorzustellen im Stande sind. Man vergisst oft, dass auch Kriege durch Dürre und Missernten, Streit um Wasserrechte oder Bodenschätze bedingt werden: Ein Krieg ist vorrangig ein Wirtschafts- und nur nachrangig und angeblich ein Glaubenskrieg oder eine politische Auseinandersetzung.
Aber hier sind wir schon zu tief im Thema.
Und da das alles abschreckend theoretisch klingt:
Der nächste Roman wird eine Abenteuergeschichte sein, die einen kleinen somalischen Jungen und einen 19-jährigen Kanadier mit einer unhandlichen Photokamera vom Amazonasdschungel über mexikanische Zugdächer bis ins kanadische Eis führt. Eine Geschichte über die Unmöglichkeit, „nur“ über etwas Bericht zu erstatten, ohne tief, vielleicht tödlich, darin involviert zu werden.
Und letztlich ein Aufruf dazu, dieses runde blaue Ding, auf dem wir leben, irgendwie noch zu retten.

Lieber Peer Martin, herzlichen Dank für diese umfangreichen Einblicke!

Bis also diese neue Abenteuergeschichte von Peer Martin hier auf den Markt kommt, lest Winter so weit und Feuerfrühling – aktuellere Fiktion zu den Geschehnissen in Syrien gibt es – meines Wissens – momentan nicht. Die Leser_innen von Band 1 dürften in den drei Jahren, die zwischen den Erscheinungen der Bücher liegen genauso erwachsen geworden sein wie die beiden Helden und somit auch der vom Zuckerguss befreiten Story gewachsen sein. So hart sie auch ist, sie erklärt so manches, was wir schon wieder verdrängt haben.

Peer Martin: Winter so weit, Oetinger, 2017, 560 Seiten, 16 Euro
Peer Martin: Feuerfrühling, Tredition, 2017, 524 Seiten, 15,99 Euro

 

Nur mit Verstand sieht man gut

PrinzMeine erste Begegnung mit Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz war nicht in Buchform, sondern auf der Bühne, genauer gesagt als Marionettentheater. Den Fuchs, der gezähmt werden will, und den Biss der Schlange zum Schluss erinnere ich vage. Am lebhaftesten ist mir die kürzeste Textpassage in der Puppen- Darstellung in Erinnerung geblieben: Die des Säufers, dem der kleine Prinz auf seiner Rundreise über seine Nachbarplaneten begegnet. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass er in der Inszenierung gesagt hat, er trinke, weil er traurig sei, und sei traurig, weil er trinke, der Originaltext „vergessen, dass ich mich schäme“ war mir nicht präsent. Das fand ich einleuchtend und die traurigen Gestalten dazu, sogenannte „Penner“, kannte ich vom Sehen aus der Altstadt und später nicht nur dort.

Das Originalbuch habe ich tatsächlich nie gelesen. Es wird leider immer auf das Zitat „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ reduziert. Und dieser furchtbar Paulo-Coelho-hafte Sinnspruch, tausendfach verewigt auf Kaffeetassen, Radiergummis und Postkarten, wirkte auf mich bisher abschreckend.

Jetzt hat Isabel Pin für den Karl Rauch Verlag, der die deutschen Rechte am Original hat, unter dem Titel Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet … die Geschichte für Kinder im Vorschulalter neu erzählt. Die Illustrationen sind die originalen des Autors, der Text wurde auf etwa ein gutes Viertel reduziert. Nur auf dem roten Vorsatzpapier sind sehr hübsche, von Pin gezeichnete, Wüstenfuchsköpfe zu sehen. Jetzt kann man natürlich fragen, warum so junge Kinder unbedingt diesen Text vorgelesen bekommen müssen, aber das ist eine Frage, die sich für viele Leute, denen de Saint-Exupérys Büchlein heilig ist, offensichtlich nicht stellt. Man merkt, ich stehe dem Projekt insgesamt etwas skeptisch gegenüber, wie auch der zwanghaften Modernisierung von Klassikern sowie einem vermeintlichen Kanon, was Kinder lesen und kennen sollten, im allgemeinen.

Deshalb gleich gerade heraus: Die kindgerechte Aufbereitung ist teils gut, teils schlecht. Insgesamt sind die Kürzungen gelungen, besonders auf das letzte Fünftel des Originals, die doch sehr rührselig und unvermutet leicht schwadronierende Todesszene und abschließende Gedanken, kann man sehr gut verzichten. Einige Passagen lesen sich fokussierter und gewinnen dadurch. Man merkt, dass die Kinderbuchautorin und preisgekrönte Illustratorin Isabel Pin als Tochter einer Deutschen und eines Franzosen in beiden Sprachen zu Hause ist.

In ihrer Version macht sich ein Problem aber schon mit dem neuen Buchtitel bemerkbar: „Kinder, wenn Euch …“. Störend wird diese direkte Ansprache, auf der ersten Seite im Vorwort: „Passt bitte gut auf, Kinder, es fängt an …“ Dieses etwas plumpe Abholen zieht sich vom Tonfall durch Pins gesamten Text. Ein guter Freund  von mir reagiert zu Recht aggressiv, wenn man im Gespräch sagt: „Jetzt pass auf!“, impliziert es doch, dass er seinem Gegenüber bis dahin nicht wirklich zugehört hat.

Verloren hat eine Schlüsselszene, als der Fuchs dem Prinzen erklärt, was es heißt, ihn zu zähmen: „Zähmen“, sagte der Fuchs, „bedeutet jemanden kennenzulernen und sich an ihn zu gewöhnen.“ Im Original kommt ein sehr essenzielles Wort vor für das, was Zähmen, also Freundschaft, bedeutet: „Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet, sich vertraut machen.“ Vertrauen ist ein soviel stärkerer Begriff als kennenlernen.

Verloren gegangen ist auch Antoine de Saint-Exupérys lakonische Sprache, sein trockener Humor und seine Illusionslosigkeit ob der „großen Leute“. Dass Erwachsene alles nur in monetären Werten bemessen und Vorurteile ihre Wahrnehmung bestimmen (und die Entdeckung des Heimatplaneten des kleinen Prinzen ungehört bleibt, weil der türkische Astronom keinen westlichen Anzug trägt), geht in Pins Neuerzählung ebenfalls unter. Gestrichen ist auch eine starke Szene zum Schluss des Originals, in der es um die missglückte Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen geht: Wenn für Kinder wichtige Fragen unbeantwortet bleiben, weil die Großen sich mit vermeintlich relevanteren Problemen rumschlagen und gedanklich woanders sind; wenn, wie so oft, die großen Fragen vom schnöden Alltag gefressen werden.

Der Kleine Prinz handelt von Freundschaft. Und davon zu verstehen, wie Erwachsene ticken, sich mit ihrer Welt zu arrangieren und trotzdem Phantasie und ideelle Werte zu bewahren. Gewonnen hat auf jeden Fall das Original von 1946, beziehungsweise in meinem Fall die zeitlos moderne Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb für den Karl Rauch Verlag 1956. Ich habe entdeckt: Der kleine Prinz ist viel mehr als ein billiger Kalenderspruch.

Isabel Pin: Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet …, Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz erzählt für Kindern, mit Originalillustrationen des Autors, Karl Rauch Verlag, 2018, 64 Seiten, 3 bis 6, 12 Euro

Ganz und gar nicht wurst

So schlagfertig wäre ich auch gern mal: Was die 15-jährige Mireille Laplanche in Clèmentine Beauvais‘ Roman Die Königinnen der Würstchen an Sprüchen raushaut, ist große Klasse und fast schon Screwball Comedy. Viel besser, als nur ein morbider, mit sich und der ganzen Welt hadernder Teenager zu sein. Und selten ist jemand so geistreich pubertär-trotzig und frech: „Hör nicht auf sie, Astrid“, warnt sie das schon bald zur engen Freundin werdende Mädchen, das trostsuchend in der Küche hockt und soeben von Mireilles Mutter geraten bekommen hat, sich an ihre nette und starke Tochter zu halten. „Sonst beklagt sich immer in einer Tour, dass sie an dem unseligen Abend meiner Empfängnis keine heftige Migräne vorgeschützt hat!“ Oder im frustrierenden Streit ihrer Maman hinterher brüllt: „Weißt du, was das Hässlichste ist, das dir Klaus hinterlassen hat? Das bin nicht ich, sondern diese völlig bescheuerte Idee, dass du bloß eine Lehrerin bist!“

Mireilles Mutter war mir, selbst Mutter eines Teenagers, aber auch gleich auf den ersten Seiten sehr sympathisch: „ ,Du gehst mir auf die Nerven, Mireille.‘ Meine Mutter schaut an die Decke und sagt zu der Lampe von Habitat: ,Ich hasse pubertierende Jugendliche.‘ “ Wie wahr!

Ihre kluge Kodderschnauze schützt Mireille ganz gut. Die Gymnasiastin hat nämlich ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, einige üppige Rundungen mehr als das gängige Schönheitsideal erlaubt. Nicht, weil sie sich ein dickes Fell anfuttern musste, sondern weil sie gern und gut isst (ihre Großeltern haben ein Sterne-Restaurant). Sie kommt vom Aussehen her nicht nach ihrer schönen Mutter, sondern hat die weniger attraktiven Züge ihres deutsch-französischen Erzeugers geerbt, ein Philosoph und ehemaliger Doktorvater ihrer Mutter, der von der Existenz seiner Tochter nichts wissen will. Dumm ist der Mann, der mittlerweile der Ehemann der französichen Präsidentin (fiktional, nicht Marine Le Pen!) ist, anscheinend nicht, denn Mireille ist auf höchst attraktive Art doppelt intelligent. Und weil sie endlich den ihr bekannten Unschönen zur Rede stellen will, kommt Mireille auf die tollkühne Idee, per Fahrrad vom heimischen Bourg-en-Bresse in Ostfrankreich in die Hauptstadt zu fahren. Begleitet wird sie von ihren zwei Freundinnen Astrid und Hakima, mit denen zusammen sie in einem perfiden Wettbewerb als die „Würste des Jahres“ – die hässlichsten Mädchen der Schule – verspottet wurde. Denn auch ihre beiden Leidensgenossinnen haben im Élysée-Palast in Paris ein spezielles Hühnchen zu rupfen. Finanzieren wollen die drei ihre Mission impossible mit – logisch – Würstchenverkauf.

Beauvais’ Rad-Road-Roman hätte ein deprimierendes Buch über Mobbing und die ätzenden Auswüchse des Schönheits- und Optimierungswahns werden können. Das Thema spielt auch eine Rolle. Doch die zauberhafte Geschichte lässt sich genauso wenig wie Mireille davon unterkriegen und dominieren.

Und so ist diese furiose Tour de France eines tollen Trios ungewöhnlicher Mädchen und ihres ebenso besonderen Begleiters in seinem speziellen Streitwagen so viel mehr: grandioses Abenteuer, extreme Herausforderung, Suche nach Wahrheit und Klarheit, selbstbewusste Provokation und feministisches Plädoyer. Oder wie Mireille den schon bald auf die radelnden Würstchenverkäuferinnen anspringenden Reportern sagt: „Vielleicht macht Hässlichkeit uns reifer“. Nicht zuletzt auch solidarischer, empathischer und weniger Ich-bezogen.

Nebenbei wird französische Nachkriegsgeschichte und gesellschaftliche Gegenwart thematisiert, en passant, aber nie beliebig oder gewollt wirkend: So sind Franzosen mit Migrationshintergrund zwar in der Armee und beim Kampf für die Grande Nation willkommen, aber man begegnet den nicht typisch französisch aussehenden Landsleuten weiterhin misstrauisch – die alltägliche Fremdenfeindlichkeit.

Und natürlich ist es in Zeiten von Facebook und Twitter, wo jeder anonym unendlich Hass versprühen darf, und der tagtäglichen Bilderflut auf Instagram, Snapchat, der totalen Feier der absoluten Oberflächlichkeit, niemandem egal, wie er und insbesondere sie aussieht. Weder Mireille noch Astrid und Hakima, die von Mireilles einstigen besten Freund aus Kindertagen zu den unattraktivsten Schülerinnen in Gold, Silber und Bronze gekürt wurden. Aber sie drehen den Spieß um und touren selbstbewusst als die drei Würste.

Warum der deutsche Titel Die Königinnen der Würstchen lautet, von Annette von der Weppen ansonsten charmant und spritzig übersetzt, erschließt sich nur bedingt. Das Original heißt fast ebenso merkwürdig Die kleinen Königinnen. Königinnen im Sinne von Vorbild, von starken, lebenslustigen und gewitzten Frauen könnte aber funktionieren. Solche sollten wirklich viel mehr an die Macht kommen. Der Spruch „Die Klügere gibt nach“ ist sowieso blödsinnig. Warum sollen dummdreiste Schwachköpfe das Sagen haben?

Über missratene Titelbilder und Umschlaggestaltungen des ansonsten sehr geschätzten Carlsen Verlags, in diesem Fall ist es sogar leicht sexistisch, äußere ich mich nicht mehr. Nur die inneren Werte zählen.

Und die sind hochkarätig: Clementine Beauvais hat (mit gerade mal 25 Jahren, Respekt!) eine wahnsinnig witzige und kopf- und herzergreifende Geschichte geschrieben, mit einem überraschenden Ende. Oder auch nicht, denn eine weitere Erkenntnis ist eine Abwandlung des John-Lennon-Zitats: Leben ist das, was dir passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu machen.

Mireille hat nämlich die noch unveröffentlichte Streitschrift ihrer Mutter im Gepäck. Titel: „Das Sein und das Erstaunen. Für eine Philosophie des Unerwarteten.“ „Meine Mutter glaubt, das Wesen des Menschen bestehe darin, sich am Unvorhergesehenen, Neuen, Überraschenden zu erfreuen“, erkennt Mireille als Antithese zum Werk ihres biologischen Vaters, für den das menschliche Wesensmerkmal ist, zu planen und zu entwerfen. „Der Mensch ist vor allem deshalb Mensch, weil er das Neue, Unerwartete in all dieser Ordnung sucht. Die Kunst, die Gefühle, das Leben selbst – das alles ereignet sich immer dann, wenn Planungen, Prognosen und Prophezeiungen scheitern.“ Konkretes Beispiel: „Ein geplatztes Präservativ und das Unerwartete tritt ein: ein ungeplantes, kleines Würstchen – ich.“ Und das steht mal eben in einem Jugendbuch. Ganz großes Kino!

Elke von Berkholz

Clementine Beauvais: Die Königinnen der Würstchen, Übersetzung: Annette von der Weppen, Carlsen, 2017, 288 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Von der Verführbarkeit

Hin und wieder wird mir mit fast entschuldigenden Worten ein Buch angekündigt, das an einem Tabu rührt, das ganz sicher kontrovers diskutiert werden wird, bei dem man Vorbehalte verstehen könne. All das regt natürlich meine Neugierde an – und zeigt gleichzeitig, wie beeinflussbar und manipulierbar ich bin, und sei es nur bei der Bewertung eines Buches.

Genau um das Thema der Beeinflussung, Verführbarkeit und Manipulation geht es in John Boynes neuem Roman Der Junge auf dem Berg, in der vorzüglichen Übersetzung von Ilse Layer. Ich werde trotz der Ankündigungen versuchen, meine eigene Einschätzung der Geschichte hier abzugeben.

John Boyne, der seit seinem Roman Der Junge im gestreiften Pyjama bekannt dafür ist, die deutsche Historie um den Nationalsozialismus aufwühlend anders darzustellen, erzählt nun in drei Teilen von dem Jungen Pierrot, der in Frankreich geboren wurde. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Deutscher, der im ersten Weltkrieg gekämpft und dort traumatisiert wurde.
Im ersten Teil verfolgen wir die frühe Kindheit Pierrots in Paris, seine Freundschaft zu dem tauben Nachbarsjungen Anshel, die häusliche Gewalt, die der trinkende Vater an der Mutter auslässt, das Verschwinden des Vater und den Tuberkulose-Tod der Mutter. Pierrot kommt in ein Waisenhaus, erlebt dort weitere Gewalt durch einen anderen Jungen. Schließlich findet sich die Schwester von Pierrots Vater, Tante Beatrix, die den Jungen bei sich aufnimmt.

Dieses „bei sich“ ist jedoch speziell, denn Tante Beatrix arbeitet als Hauswirtschafterin auf dem Berghof Adolf Hitlers in Berchtesgaden.
In den Teilen 2 und 3 des Romans, die die Jahre 1937 bis 1945 umfassen, schildert Boyne das Leben Pierrots auf dem Berghof und wie er sich von einem mitfühlenden Jungen in ein gefühlskaltes, karrieregeiles „Nazi-Spielzeug“ verwandelt.
Zunächst versteht Pierrot noch nicht viel von den Vorgängen auf dem Berghof, wundert sich, warum seine Tante und der Chauffeur ihm einen neuen Namen geben – Peter – und ihm einschärfen, dass er nie von seinem jüdischen Freund Anshel erzählen soll. Doch mit der Zeit, in der Pierrot immer öfter mit Hitler spricht, den Führer mit seinem zackigen Hitlergruß und seiner Ergebenheit beeindruckt, gerät er immer weiter in den Einflussbereich des Diktators.
Das geht so weit, dass er selbst den Chauffeur und damit auch seine Tante verrät, die vor den Augen des Jungen hingerichtet werden.

Mit anderen Worten, der Junge, dem man im ersten Teil alle Sympathien schenkt, wird zu einem echten Kotzbrocken und im Grunde zu einem Mittäter. Dies wird Pierrot am Ende des Krieges schließlich klar, doch seine Reue ist dann nur noch Teil des Epilogs.

Boyne, der konsequent aus der Sicht von Pierrot schreibt, ist ein Meister der Andeutung. Oft beschreibt er Dinge, die er nicht benennt, die er jedoch im Leser evoziert. Diese Art des Erzählens schätze ich sehr, lässt sie doch dem Leser genügend Spielraum, fordert ihn nachzudenken – und hält ihn somit bei der Stange. So leidet man anfangs mit Pierrot unglaublich mit, dessen Leben aus Verlust und Gewalt besteht. Man bekommt eine Ahnung, warum der Junge so von Uniformen begeistert ist, und erschrickt gleichzeitig, wenn der Chauffeur erklärt: „Uniformen erlauben es uns, unsere Grausamkeit auszuleben, ohne jemals Schuld zu empfinden.“
Und jeder, der in dieser Geschichte eine Uniform trägt, übt Gewalt aus.

Für mich sind es solche Sätze, die manchmal noch mehr als die Geschichte selbst, Messages transportieren, über die wir genauer nachdenken sollten.
Die Verführbarkeit die Boyne anhand von Pierrot schildert, ist ebenso wichtig, aber durch die Ausnahme-Kombination von „Junge trifft Führer und wird zum Nazi“, auch eher unrealistisch. Genau deshalb wird sein Roman schon als Parabel bezeichnet, aber Parabeln zeichnen sich auch durch den Abstand zum Leser aus. Man kann diese Geschichte dann wegschieben und sagen: „Ist ja nur Fiktion.“
Dass jeder Mensch verführbar ist, und Kinder ganz besonders, ist nicht unbedingt etwas Neues. Jedes Gespräch mit anderen, jeder Werbespot, jede Rede, jede Predigt, jedes Bild kann uns verführen. Die Frage ist, wie wir dem begegnen können. Vor allem, wenn es um die Manipulation durch Populisten geht. Die Wirkung solcher Geschichten wäre sicher nachhaltiger und fruchterregender als diese Parabel.

Zumal Boynes Geschichte im ersten Teil durch einen erzählerischen Kniff die deutsche Leserschaft etwas irritierend dürfte. Pierrot ist da bereits auf dem Berghof angekommen und für eine ganze Weile sprechen die Angestellten nur von dem „Herren“ und der „Herrin“, statt vom „Führer“ und von Eva Braun. Das ist so offensichtlich auf Spannung geschrieben, dass es mich immer wieder hat stolpern lassen und schon etwas genervt hat. In Teil 2 und 3, wo Boyne tatsächlich stattgefundene Begebenheiten auf dem Berghof verarbeitet hat (hier können sich Historiker über den Wahrheitsgehalt der Szenen auslassen), wechselt dann die Anrede, und es klingt sofort authentischer.

Sich darüber aufzuregen, dass Boyne Hitler fiktive Dialoge in den Mund legt, ist meines Erachtens unnütz. In diesem Sinne darf Fiktion einiges, was uns in genügend Filmen zu dieser Person bereits vorgeführt wurde. Das schockiert mich nicht. Pierrot sieht in Hitler zwar eine Vaterfigur, doch das macht den Diktator mitnichten sympathisch. Boyne gelingt es immer wieder, den Horror des Nazionalsozialismus‘ durchscheinen zu lassen, zudem konfrontiert er Pierrot immer wieder mit Menschen, die nicht für Hitler sind – was der Leser besser begreift als der verblendete Junge.

Man liest dieses Buch sehr schnell, durch die exzellente Erzählkunst Boynes und die geschmeidige Übersetzung von Ilse Layer, dennoch lässt es einen nicht so schnell wieder los. Auch wenn ich das eine oder andere anzumerken habe, habe ich lange gegrübelt. Anderen wird es womöglich ähnlich gehen.
Die Form der Parabel böte sich natürlich hervorragend an, diese Geschichte im Schulunterricht zu diskutieren. Allerdings nur mit der Einschränkung, dass umfassend über den Nationalsozialismus aufgeklärt wird, damit das gesamte Unrecht eingeordnet wird und die Schüler mit dem Schrecken nicht allein bleiben. So finden sie dann möglicherweise eine Haltung und einen Weg, sich gegen die allgegenwärtigen Verführer in unserer heutigen Gesellschaft zu wappnen.

John Boyne: Der Junge auf dem Berg, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer, 2017, 304 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

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Menschlichkeit im Unmenschlichen

ravensbrückHeute stelle ich nach sehr langer Zeit mal kein Kinder- oder Jugendbuch vor, auch wenn der Titel von Valentine Gobys Roman das vermuten lassen könnte. Doch Kinderzimmer ist alles andere als ein Kinderbuch.

Die Französin Goby nimmt den Leser hierin auf eine überaus bittere Reise ins Konzentrationslager Ravensbrück mit. Dort kommt im Frühjahr 1944 die junge Suzanne Langlois, genannt Mila, an. Mila war im französischen Widerstand tätig, hat Nachrichten für den Untergrund kodiert (mit einem Notensystem, das Übersetzerin Claudia Steinitz im Detail nachgebildet hat, was eine Heidenarbeit gewesen sein muss) und für eine Nacht einen Widerstandskämpfer versteckt. Von ihm ist sie schwanger. Schwanger im KZ.

Mila, deren Mutter sich umgebracht hat, als sie klein war, befindet sich in einem fast unvorstellbaren Zustand des Nicht-Wissens: Sie weiß nichts über die Vorgänge in ihrem Körper, sie weiß nichts über den Vater des Kindes, sie weiß nicht, wo sie in Deutschland ist oder wie das Leben in einem KZ laufen soll. Sie versteht kein Deutsch. In diesem Nicht-Wissen ist sie zunächst auf sich allein gestellt und erlebt den ganzen Horror im Frauenlager: Den Austausch der Kleidung, das Rasieren der Haare, die unsensible gynäkologische Untersuchung, dazu der tägliche Kampf um das Essen, um den Schlafplatz, die Zahnbürste, die Blechschüssel. Mila ahnt, dass sie schwanger ist, wagt es jedoch nicht, ihren Bauch zu betrachten. Dieser Bauch, der durch die Entbehrungen und den Hunger nicht richtig wächst.

Valentine Goby erzählt von Milas Schicksal in kurzen, oftmals fast schon nüchternen Sätzen, von Claudia Steinitz höchst feinfühlig ins Deutsche gebracht. Goby schönt nichts. Sie benennt den Hunger, die Auszehrungen, die drangvolle Enge in den Baracken, die Krankheiten, die Ausscheidungen, den Gestank, das Sterben, die ausgemergelten Toten. Die Bilder, die sie dadurch im Leser heraufbeschwört, sind kaum zu ertragen.
Und mittendrin Mila, in der ein kleiner Mensch heranreift.
Man wagt es kaum zu hoffen, doch Mila bringt ihren Sohn tatsächlich zur Welt. Anfangs ist James noch rosig, hat schwarzes Haar. Zusammen Teresa, einer Polin, die zu Milas bester Freundin wird, und ein paar anderen Frauen, versucht sie, James durchzubringen.
Doch James ist nicht das einzige Baby in Ravensbrück. Es gibt ein Kinderzimmer, in dem etwa 50 Babys untergebracht werden. Sie liegen aufgereiht auf Strohmatratzen, pro Kind gibt es nur eine Windel. Die Kinder dämmern folglich in ihren Exkrementen vor sich hin und verwandeln sich, je älter sie werden, in winzige Greise. Es gibt nicht genug Nahrung für sie, denn die meisten Mütter haben keine Milch. Auch Mila muss James irgendwann einer anderen Frau zum Stillen geben. Sie versuchen, sich gegenseitig zu helfen. Doch neben dem Hunger setzt auch die Kälte im Winter den Kleinsten zu. Kohlen für das Kinderzimmer gibt es nicht.

In all diesem Elend wird James zur Stütze für Mila und für Teresa. Er ist der Einbruch des freien Lebens in das Lager. Er ist der Hoffnungsschimmer auf ein Leben nach dem KZ, für ihn bleiben die Frauen stark.

Goby verhandelt in diesem Buch nichts weniger als die Essenz des Lebens, die das Sterben so lange hinauszuzögern weiß, wie es nur geht. Selbst unter den unmenschlichsten Umständen. Doch dazu braucht der Mensch Hoffnung und das Mitgefühl anderer Menschen. So erlebt Mila immer wieder Hilfe und eben dieses Mitgefühl. Die gefangenen Frauen bauen sich gegenseitig auf, so gut es eben geht, sie bringen sich Deutsch bei, singen Lieder, erzählen sich Geschichten, teilen das Wenige, wärmen sich. Natürlich gibt es auch Eigennutz, doch der geht letztendlich in der Menschlichkeit unter, die die Frauen zusammenschweißt.
Doch auch von den Frauen, die Mila helfen, überleben nicht alle. Zu heftig wüten Ruhr, Cholera und Flecktyphus, zu niederschmetternd ist es, das eigene Kind zu verlieren. Mila jedoch hält sich an ihrem Kind fest, klammert sich an das Leben und schafft es schließlich wieder nach Frankreich zurück.

Trotz aller Grausamkeiten, die Mila in Ravensbrück erlebt, die einem sehr, sehr nahe gehen und bedrücken, konnte ich dieses Buch nicht weglegen. Denn man hofft und bangt mit ihr. Man erlebt, wie sie von der Nicht-Wissenden zur Wissenden wird, und wie sie schließlich am Ende ihr Wissen um die Vorgänge in Ravensbrück weitergibt.
Denn auch darum geht es bei Valentine Goby: Wissen weitergeben, erinnern, immer wieder erinnern, jeden Tag.

Und wer jetzt sagt, so etwas darf man auf fiktive Art aber nicht, dem erwidert Mila:
„Man braucht Historiker, um über die Ereignisse zu berichten; Zeugen, die ihre persönliche Geschichte erzählen, und Schriftsteller, um zu erfinden, was für immer verschwunden ist: den Augenblick.“

Valentine Goby holt viele Augenblicke zurück, die so oder so ähnlich nicht nur in Ravensbrück stattgefunden haben. Damit wir, die Nachgeborenen, ein unmittelbareres Gefühl für die Zustände in einem KZ bekommen, damit wir das Leid der Insassen auch heute noch verspüren, es nie wieder vergessen und nicht zulassen, dass auch nur ansatzweise so etwas wieder passiert. Hier oder anderswo.

Für dieses eindrucksvolle Buch ist die Autorin mit dem Prix des Libraires 2014 und dem Annalise-Wagner-Preis 2017 ausgezeichnet worden.

Traut euch, es zu lesen.

Valentine Goby: Kinderzimmer, Übersetzung: Claudia Steinitz, ebersbach & simon, 2017, 234 Seiten, 19,95 Euro

Die helle Seite der Nacht

Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen. Dabei scheint Emilia de Wit ziemliches Glück gehabt zu haben, mit ihrem liebevollen Vater, der zwar auch Direktor ihrer Schule ist, aber der in ihrer Kindheit immer für sie da war und ihr die Sterne gezeigt hat. Und ihrer Mutter, der irischen Malerin Nora Quinn, deren Bilder in Museen auf der ganzen Welt hängen. Aber dann hat Emilias Vater etwas für sie Unverzeihliches getan, das irgendwie mit der blond gelockten Schulschönheit und 67 SMS zusammenhängt. Und damit Emilias Welt zerstört. Die 14-Jährige will nur noch so weit weg wie möglich von dem Sumpf aus abscheulichsten Hasstiraden und Gewaltdrohungen, in den Holland sich für sie verwandelt hat. Also schnappt sie sich Vaters Kreditkarte und flieht an den Ort, der schon für so viele Sehnsuchtsort, rettende Insel und Ausgangspunkt eines neuen Lebens war – nach New York.

Die niederländische Autorin Anna Woltz beginnt ihren ersten Jugendroman Hundert Stunden Nacht wie ein klassisches Abenteuer, der Aufbruch der Heldin wider Willen ins Ungewisse. Denn natürlich kommt vor Ort alles anders: Das online gebuchte und im Voraus bezahlte Apartment gibt es nicht. Stattdessen trifft Emilia auf den 15-jährigen Seth, dessen neunjährige Schwester Abby sowie den ebenso abgerissen wie filmstarmäßig aussehenden Jim. Der 17-Jährige hat einen Finger verloren, schimpft über Kapitalismus, Hypotheken und Banken – und verursacht bei Emilia erst weiche Knie, dann eine entsetzliche Panikattacke. Nach und nach, virtuos die Spannung haltend und konsequent aus Emilias Sicht erzählt, erfährt man nicht nur ihre Geschichte und den Grund für ihre Flucht. Auch die anderen drei haben ihre Dramen und dunklen Seiten und jeder geht anders damit um.

Es ist Ironie der Geschichte und ein besonders raffinierter Kunstgriff, dass Emilia auf der Flucht vor dem Shitstorm in einen äußerst realen, höchst gefährlichen Sturm gerät: Ende Oktober 2012 tobt Orkan Sandy über New York und New Jersey, die schlimmste Naturkatastrophe, die die Metropole je heimgesucht hat und nie zuvor erlebte Zerstörungen verursacht. Millionen Haushalte sind tage- und nächtelang ohne Strom, damit auch ohne Wasser und Internet. Die Stadt, die niemals schläft, wird über ganze Viertel hinweg zur City of Darkness. Die vier zufällig zusammengewürfelten jungen Helden bilden eine Notgemeinschaft. Und dieses Orkanasyl wird für Emilia Zufluchtsort im doppelten Sinn.

Das ist grandios geschrieben: Seien es Emilias Hass auf „ekelige Männer, ranzige, geile Böcke, die erst die Museen mit Bildern nackter Frauen vollgehängt, dann den Computer erfunden haben und seitdem das Internet mit Pornos vollstopfen“. Oder das Theater um Brüste, als ob die „wirklich die wichtigsten Ausstülpungen“ sind. Das ist polemisch, zugespitzt – und absolut zutreffend und feministisch frech. Woltz beschreibt toll Varianten von sichtbarer Entschlossenheit anhand der Geschwister: Abby, die aussieht, als könne sie die Welt retten. Und ihr älterer Bruder, der wirkt, „als wolle er eine jahrelange Gefangenschaft tapfer durchstehen.“ Später explodiert Emilia wie eine Supernova, schleudert ihre ganze aufgestaute Wut und Verzweiflung laut schreiend mitten in New York von sich, „als würde die Leuchtkraft von einer Milliarde Sonnen freigesetzt“. Und wandelt sich von einer, die „noch vor zwei Wochen beim kleinsten Zweifel es lieber nicht macht“. Zu einer, die jetzt denkt: „trotzdem machen, einfach versuchen.“

Nebenbei werden die Bedeutung von Religion und Schubladendenken, Bildungssysteme und Zukunftspläne, Gier, Ignoranz, Mitgefühl und Solidarität, Kunst als Seelenfutter versus Befriedigung der Grundbedürfnisse – also die großen Themen der Menschheit – reflektiert. Alles klug, mitreißend, offenherzig und freigeistig gesagt, gedacht, geflüstert, geschrien. Anna Woltz hat nach ihren ersten beiden, bereits sehr liebenswerten Büchern Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess und Gips oder wie ich die Welt an einem einzigen Tag reparierte als Romanautorin noch einen großen Sprung gemacht, sprachlich, inhaltlich und dramaturgisch. Und Andrea Kluitmann hat auch diesen Band erfrischend, ohne einen einzigen falschen Ton, ohne ein unglaubwürdiges Wort übersetzt.

Die Hundert Stunden Nacht enden mit dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft … ach, was, einer ersten, wahren Liebe. Weil nicht nur Emilia sich verändert hat. Auch Seth befreit sich aus seiner Kapsel. Denn er begreift, dass seine kleine, kluge Schwester instinktiv recht hat: Reden hilft. Und wie jede gute Liebesgeschichte fängt auch diese mit einem besonderen Kuss an – genauer: der Möglichkeit eines Kusses. Und das ist in diesem Fall sehr viel und sehr schön.

Elke von Berkholz

Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 2017, 253 Seiten, ab 14, 15,99 Euro