Es beginnt mit einem Brief. Auf dem Umschlag eine kopfüber aufgeklebte Marke, die neben dem Bild einer Kornelkirsche einen wenige Millimeter kleinen Totenschädel erahnen lässt, zumindest kommt es Edin Melitzky so vor.
Dieser Brief entlockt Edins Mutter Ann einen deutlich dramatischeren Flurschrei als angesichts der üblichen Rechnungen, Mahnungen und Anwaltsschreiben, die sonst ankommen. »Ganz unten, in der rechten Ecke des Papierbogens, stand in zittriger und trotzdem vornehmer Altherrenschrift:
Zu spät.«
Kurze Zeit später findet Edin sich im Haus seines Großvaters in einem Kaff namens Kamp-Cornell wieder, mit einem Cousin und drei Cousinen sowie drei Tanten, von deren Existenz er vierzehn Jahre nichts geahnt hat. Plötzlich aus dem bisherigen Leben herausgerissen und in eine neue Familienkonstellation in ödester Provinz geworfen, das haben auch die Geschwister in Susan Kreller vorherigem emotionsgeladenem Roman Elektrische Fische erlebt.
Haus mit Eigenleben
Hier nun dämmert der Großvater, Vater von Edins Mutter und deren Schwestern, alt und krank im leergeräumten, ehemaligen Wohnzimmer vor sich hin. In der Küche gehen Leute aus der Nachbarschaft ein und aus, immer mit etwas zu Essen dabei, meist einem riesigen Auflauf. Der Garten ist ein undurchdringliches Gestrüpp aus Kornelkirschsträuchern, kein Obst, sondern ein Hartholzgewächs mit eher ungenießbaren Früchten, das im Frühjahr ginstergelb blüht.
Die Situation ist äußerst angespannt. Es gibt ein ungenutztes Zimmer, das die Mütter prinzipiell nicht betreten. Das Haus führt ein unheimliches Eigenleben. Es klopft und hämmert und sägt und seufzt in der Nacht. Für die Geräusche findet sich ebenso wenig eine Erklärung wie für die regelmäßigen Stromausfälle. Oder die überwiegend undurchsichtigen, aufdringlichen und schroffen Einwohner des Ortes.
Groteskes Verbrechen
Mit den fünf Cousins und Cousinen finden wir uns in bester Thrillerszenerie voll subtilem Grauen wieder. So unterschiedlich, wie die Jungen und Mädchen zwischen dreizehn und vierzehn sind, so unterschiedlich erleben sie das erzwungene Großfamilienleben, das sie aus wechselnden Perspektiven beschreiben. Nicht, dass ihr Leben vorher ein Zuckerschlecken war. Soll aber keiner glauben, dass sie angesichts des plötzlichen Familienzuwachsen in fröhlichem Kelly-Family-Feeling (wie Bernd Begemann es mit wohligem Schauer besingt) versinken, im Gegenteil.
Allmählich kommen die Jugendlichen einem grotesken Verbrechen auf die Spur. Ein Verbrechen, von dessen Ausmaß ihre Mütter nichts geahnt haben. Das aber deren Kindheit und Jugend überschattet hat, ihnen die Mutter nahm und zur Entfremdung der Schwestern führte.
Gefährliche Glücksversprechen
Das Herz von Kamp-Cornell ist eine einzigartige Mischung aus gruseliger Familiengeschichte, Thriller und Haus Horror – wenn es heutzutage sogenannten Body Horror gibt, dann gibt’s Haus Horror schon lange, als großen, alles umgebenden Körper. Susan Kreller hat das Genre auf den Spuren von Charlotte Brontës Jane Eyre oder Daphne du Mauriers Rebecca, legendär in Hitchcocks Verfilmung, neu belebt.
Gleich mehrere Coming-of-Age-Geschichten schwingen ebenfalls mit, treffend zusammengefasst aus der Sicht von Lu Winnefeld, einer der Cousinen: »Lu Winnefeld dachte nach, dachte daran, in den Ferien von hier wegzugehen, und weg hieß: nach Hause, auch wenn ihre Mutter das verboten hatte. Doch was kümmerten Lu Verbote von jemandem, der sowieso nie da war. Lu Winnefeld war immerhin vierzehn Jahre alt! Sie trug einen Hut und eine Lederjacke, trotz der Hitze. Aber Lu schwitzte nicht. Schwitzen war unter ihrer Würde. Wie vierzehn zu sein. Vierzehn zu sein war weit unter Lu Winnefelds Würde.« Kraftvoll, wütend und auf den Punkt beschreibt Susanne Kreller hier das Innenleben einer autarken Teenagerin.
Nicht zuletzt geht es auch um gefährliche Glücksversprechen und verlogene Heilsbringer.
Achselzuckende Stille
Die Sprache wiederum spielt eine besondere Rolle in diesem Roman, eine Sprache, die versucht, Unbegreifliches begreifbar zu machen, Unsagbares benennt und diffuse Gefühle in all ihrer Vagheit nachempfinden lässt. Kreller beschreibt zum Beispiel verschiedene Sorten von Dunkelheit, die »der Nacht und die des ausbleibenden Gewitters« (das, so viel sei verraten, später doch noch ganz gewaltig niedergehen wird). Und »die dritte Sorte Dunkelheit, ein wollweißes, liniertes Blatt, das heftig zerknüllt und dann wieder, ebenfalls heftig, glatt gestrichen worden war.«
Oder der Stille: »Von allen Zurückgelassenen konnte einzig Gabriella das quälende Geräusch hören das mit dem Krankenwagen davongefahren war: jene achselzuckende Stille, die von einer Sirene ausging, wenn man sie gar nicht erst angestellt hat.«
Man merkt angesichts ihrer fantasievollen Bilder, vielsagender Wortkreationen und auch mal verwunderlichen Vergleichen, dass Kreller über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promoviert hat. Wenn man sich auf Krellers kreativen Umgang mit Sprache einlässt, auch das manchmal zu viel davon zulässt, ist Das Herz von Kamp-Cornell ein packendes und unvergleichliches Leseabenteuer.
Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell, Carlsen, 2025, 288 Seiten, 15 Euro, ab 14