Friedliche Koexistenz mit dem Wollnashorn

Ratgeber

Prinzipiell kann jeder Blödi, der es sonst zu nichts bringt, ganz einfach zwei bis drei Ratschläge zusammenschustern, schreibt die schwedische Autorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch Das Orakel spricht. Und trotzdem oder gerade deshalb werden diese selbsternannten Expertinnen und Experten im Internet und den sozialen Medien gefeiert. Aber warum? Warum vertrauen viele Menschen sich selbst, ihren Gefühlen und Instinkten überhaupt nicht mehr? Und suchen stattdessen zu wirklich jeder Frage, sei es Ernährung, Gesundheit, Karriere oder Kinder Rat bei ihnen völlig unbekannten Leuten, nur weil diese so überzeugend und allwissend auftreten. »Man verliert den Glauben, dass man selbst weiß, wie frühstücken geht«, bringt Strömquist die Absurdität dieses Trends auf den Punkt.

Gedankengänge als mäandernde Sprechblasenschlangen

Mit ihrem brillanten Debüt Der Ursprung der Welt hat Strömquist ein eigenes Genre erschaffen, man kann es Graphic Essay nennen. In Comicform beleuchtet sie ein Gegenwartsthema gründlich und aus verschiedenen Blickwinkeln, sei es der weibliche Körper, Schönheitsideale, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft oder eben aktuell der Ratgeberkult zur Selbstoptimierung. Sie zitiert Philosophinnen und Soziologen, Mediziner, Biologinnen, Anthropologen und zahlreiche Studien. Und gestaltet das Ganze eingängig in ihrem einzigartigen Stil, mit schrägen Schaubildern, pointiert positionierten Protagonisten und Stichwortgebern, darunter auch immer mal wieder ihr Alter Ego. Gedankengänge oder Rede- und Widerrede mäandern als Sprechblasenschlangen über ganze Seiten. Ihr besonderer Bildwitz visualisiert und unterstreicht die intelligenten Gedankengänge und Analysen.

Leben verlängern, aber nicht genießen

Im Orakel kommen unter anderem kluge Köpfe wie die Philosophen und Theoretiker Byung Chul Han, Theodor Adorno und Slavoj Žižek und die Schriftstellerin Doris Lessing zu Wort. Und versuchen zu ergründen, warum man mit sich immer unzufrieden ist, den eigenen Gesundheitsstatus an Messwerten festmacht und das eigenen Leben zwar meint verlängern zu müssen, aber nicht genießen kann. Auch mit deren Hilfe demontiert Strömquist in sieben Kapiteln minuziös diverse erfolgreiche und obskure Influencer, über die Jahrhunderte hinweg.
Dabei verliert sie sich teils zu sehr in Details und nicht immer ist schlüssig, warum sich manche Leute angebliche, in der Kindheit erlittene Traumata (die bei näherer Betrachtung eher narzistische Kränkungen sind) ein- und dafür ihre freundschaftliche Hilfsbereitschaft ausreden lassen.

Der Motor des Lebensberatungskults

Der interessanteste Teil findet sich in der Mitte des Buches im vierten Kapitel, wenn das Orakel schließlich tatsächlich spricht. Es fängt an mit Meghan ehemals Markle, heute Frau von Prince Harry, die bei einer Wohltätigkeitsaktion für Sexarbeiterinnen, anstatt Tüten mit Lebensmitteln zu füllen, Bananen beschriftete: »Smile«, »Dream Big«, »Work hard«, »Inspire yourself and others«, »Show and share your worth«. »Für die Empfänger:innen sind diese Ratschläge überhaupt nicht hilfreich, deprimierend und sie schwächen ihr Selbstbewusstsein«, fasst Strömquist den Effekt einer Banane mit »Live, laugh, love« für eine misshandelte Prostituierte in einem treffenden Bild zusammen, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Warum tut jemand etwas bestenfalls Gedankenloses, eigentlich ziemlich Gemeines?
Tatsächlich geht es Markle und allen anderen ungefragt Ratschläge gebenden Leuten nur um sich selbst. Es macht ihnen nicht nur Spaß, es bestärkt sie. »Sie fühlen sich wichtig, wenn sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Das ist der eigentliche Motor der ganzen Lebensberatungs/Expertinnenkultur.«

Folge keinem Rat

Das bringt Strömquist zu einer ganz anderen Beratungsinstanz, nämlich dem bereits im Titel angedeuteten Orakel von Delphi. Hier gab es keinen Personenkult. Zu den besten Zeiten der 1200 Jahre betriebenen Kultstätte verrichteten drei berufene Priesterinnen, meist Frauen über 50, Dienst. Ihre Ratschläge waren mehr Hilfestellungen für die Fragenden, selbst nachzudenken und das Problem zu verstehen. Und der beste Rat, den eine Phytia je gegeben hat, lautete: »Folge keinem Rat.«
Zu dieser klugen Erkenntnis gelangt Strömquist auf teils etwas langatmigen, kryptischen  und detailverlorenen Umwegen. Wahrscheinlich, weil sie versucht zu ergründen, warum selbst sie als selbstbewusste, rationale und gebildete Frau nicht davor gefeit ist, bei vermeintlichen Expert:innen und deren Selbstoptimierungstricks hängen zu bleiben, Zeit zu verplempern und sich verunsichern zu lassen. In der zweiten Hälfte verliert sie  sich zudem in etwas plumper Konsumkritik und den Gefahren von un-sozialen Medien.
»Folge keinem Rat« sagt das Orakel und allein das macht Strömquists Buch lesenswert. Und das ist jetzt kein Rat, sondern eine Empfehlung, selbst nachzudenken.

Ratgeber

Sehr und ohne Einschränkungen empfehlenswert ist auch das neue Sachbuchcomic von Lucia Zamolo. In Und dann noch … zeigt sie witzig, schlau und sehr persönlich, wie man den allgegenwärtigen Selbstoptimierungszwang bezwingt.
Obwohl schon ihr Debüt als Illustratorin und Autorin, ihre Bachelorarbeit Rot ist doch schön über Menstruation, ausgezeichnet wurde und seitdem jedes ihrer Bücher hochkarätige Preise gewonnen hat, kennt sie das Gefühl, sich immer wieder beweisen zu müssen.
Denn »Leistungsgesellschaft bedeutet, Du musst etwas leisten, um Teil der Gesellschaft zu sein«, wie Zamolo ausführt. Die Gleichung lautet »du bist = du machst«, also »du machst nichts = du bist nichts«. Also muss man immer machen, immer was leisten. Das stresst. Anschaulich und eindringlich illustriert Zanolo, was Stress in Körper und Geist auslöst, wenn man permanent bereit ist, zu kämpfen oder zu fliehen, obwohl weit und breit weder Säbelzahntiger noch Wollnashorn in Sicht sind.

Nicht toxisch und sehr persönlich

Eine Pause ist nur nach einem Burnout erlaubt, man muss also erst so viel geleistet haben, dass man sehr krank wird. Anstatt zu pausieren, bevor man krank wird. Eigentlich dachte Zanolo, nachdem sie alles reflektiert und rational erfasst hat, »als super ungestresstes Beispiel vorangehen zu können und sogar noch kluge Tipps geben, wie das so geht.« Tja, denkste. Nur weil man die Zusammenhänge von Stressauslösern und Symptomen verstanden hat, lässt sich das Wollnashorn nicht einfach abschütteln.
Geradezu kontraproduktiv sind solche Ratschläge, vorzugsweise von selbsternannten Experten ungefragt erteilt, die immer nur auf das Positive abzielen. Jeder kann alles erreichen, und wenn nicht, dann hat man sich halt nicht genügend angestrengt, sprich, sich nicht ausreichend optimiert. Toxic Positivity nennt man das, was Menschen, die nicht permanent auf der Sonnenseite stehen, endgültig ins Unglück treiben kann.

… und ohne To-Do-Listen

Wie sie versucht, mit dem Wollnashorn in friedlicher, nicht krankmachender Koexistenz zu leben, zeigt Lucia Zamolo auf ihre mitreißende und besondere Art. Und mit To-do-Listen sollte man nur eins tun: alle wegwerfen. Stattdessen Lucia Zanolos liebenswertes Buch beherzigen. Auch das ist kein Rat. Und bestimmt kein toxischer Tipp.

Liv Strömquist: Das Orakel spricht, Übersetzung: Katharina Erben, avant, 2024, 248 Seiten, 25 Euro, ab 15
Lucia Zamolo: Und dann noch … Wie Stress weniger stresst – fast ohne Toxic Tipps!, Bohem, 2024, 108 Seiten, 18 Euro, ab 14

Gebäude voller Leben

Buchstabenhausen

In Kritiken liest man häufiger den Satz: »Ein Buch, in dem man wohnen möchte.« Diese Art von Resümee lässt potenzielle Leserinnen und Leser ratlos zurück. Eigentlich ist es nur eine austauschbare Rezensionsworthülse wie »Der Roman des Jahres«, »Ein Pageturner«, »konnte nicht aufhören zu lesen«, die sich auf die meisten Buchrückseiten drucken lässt.
Ganz anders bei diesem brillanten Bilderbuch: Hier möchte man in (fast jedem) Buchstaben hausen! Und das ist nicht nur ein (zugegebenermaßen sehr naheliegendes) Wortspiel mit dem fast identischen Titel dieses gedruckten Meisterwerks.

Ein Affe im Atelier

Die schwedischen Architekten Maja Knochenhauer und Jonas Tjäder haben jeden der 26 Buchstaben des Alphabets als Gebäude gestaltet. Es beginnt mit einem A wie Atelier. In den von Stefan Pluschkat humorvoll übersetzten Reimen dazu wird ein bisschen über künstlerische Arbeit erzählt. Interessant ist bereits das wohlbekannte Objekt, dass in diesem Atelier in verschiedenen Varianten dargestellt wird. Und oben, unterm Dach, hangelt sich ein Affe entlang – ein erster Hinweis auf die alle Seiten und Buchstaben verbindenden Rätsel.

Gelbes U-Boot in der Garage

Gleich das zweite Buchstabenhaus ist natürlich der Paradebau des Alphabets: B wie Bibliothek. Auf fünf Ebenen sieht man prallvolle Regale mit Büchern über unterschiedlichste Themen wie »Bohnen, Brasilien, Banditenbetrug«, Köchinnen, Kinder, Opernsängerinnen … und Bär. Wo kommt der denn her?
Und so geht es munter, lustig und fantasievoll gestaltet weiter: Das D ist ein Delphinarium, das in nur anfangs vermeintlich harmlos dahinplätschernden Versen in Frage gestellt wird, weil die Delphine sich »schmerzlich nach Freiheit und Meer sehnen«. Das G ist eine Garage, in der nicht nur Autos parken, sondern auch ein gelbes U-Boot und ein Ufo. Und passende tierische Gäste finden sich auch hier.

Ganz schön was los in Buchstabenhausen

Mit viel Liebe zum Detail ist das H wie Hotel eingerichtet, im L wie Leuchtturm liest nicht nur ein Kind, das M ist ein Museum, aus dem alle Bilder geklaut wurden, im Q findet sich eine Quinoakocherei und im S wie Supermarkt schlängeln sich auch schräge Kundinnen zwischen den Regalen durch. Ganz schön was los in Buchstabenhausen. Aus jedem Buchstaben entspringen Geschichten, lautmalerisch vertraute und auch schön absurde. Und die passenden Tiere finden sich auch dazu. Was es mit den tierischen Bewohnern auf sich hat, zeigt sich beim Z wie Zoo.

Hingucker, die bleibenden Eindruck hinterlassen

Ganz zum Schluss gibt’s noch ein paar weitere Rätsel zu knacken. Und so beginnt ein munteres Vor-und Zurückblättern (ein wahrer Pageturner!). Daraus erschließt sich das große Ganze des Alphabets: Diese 26 Elemente sind nicht nur einzelne Häuser. Alles hängt mit allem zusammen. Und aus allem zusammen entstehen Texte, Reime und Beschreibungen, Erzählungen und Sprache. Diese Buchstaben sind keine abstrakten Zeichen, sondern hinreißende Hingucker, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Selten macht Lesen lernen solchen Spaß. Für Erwachsene ist es eine Neuentdeckung der Zeichen, die eine Welt bedeuten – eine Welt, in der man wohnen möchte.

Maja Knochenhauer, Jonas Tjäder: Buchstabenhausen, Übersetzung: Stefan Pluschkat, Oetinger, 2024, 40 Seiten, ab 4, 17 Euro

Spektakulär schön

Zuerst eine Feststellung: Ich bin die Königin der Prokrastination. Obwohl Kathrin Passig vielleicht eher Anspruch auf den Thron erheben würde, immerhin hat sie schon vor fast 15 Jahren ein bahnbrechendes Buch zum Thema geschrieben – allerdings zusammen mit Sascha Lobo, wer weiß, alleine würde sie es womöglich immer noch vor sich herschieben.
Diesmal habe ich aber selbst für meine Verhältnisse krass überzogen – und mir über ein Jahr Zeit gelassen (wo ist die nur wieder hin?), um das schönste Weihnachtsbuch der vergangenen Jahre zu empfehlen: Jims brillante Weihnachten.
Und damit nicht noch der alte Witz, Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – und wenn das fünfte Lichtlein brennt, haste Weihnachten verpennt Wirklichkeit wird, hier also kurz vor knapp der ultimative Weihnachtsgeschichten-Tipp.

Als lebendige Kaminbürste missbraucht

Die fabelhafte, englische Schauspielerin Emma Thompson, unter anderem bekannt als Nanny McPhee, hat Jims brillante Weihnachten geschrieben. Nach ein paar Neuerzählungen von Beatrix Potters Peter Rabbit Geschichten, hierzulande als Peter Hase bekannt, ist es ihr Kinderbuchdebüt. Und was für eins: Es handelt von Jim, einem Hund, einem umwerfend liebenswerten, der auf sehr sehr krude Weise seinem Menschen oder Herrchen zugelaufen, genauer zugefallen ist. Der Streuner wird nämlich als lebendige Kaminbürste missbraucht und plumpst schließlich aus einem Kamin des Victoria & Albert Museums im Herzen Londons. »Zum Glück war es Sommer und es brannte kein Feuer, weshalb nichts Schlimmere passierte, als dass auf die Menschen in der Nähe des Kamins eine ansehnlich Menge Ruß niederging und Jim sich in einer Art schwarz gesprenkeltes Stachelwesen verwandelt fand.
Ein ziemlich beleibter Her mit einem wilden, weißen Haarschopf schlug vor, Jim zu säubern und seinem Besitzer zurückzubringen.
Nach mehreren Waschgängen, in denen Jim – sehr zu seinem Missvergnügen – untergetaucht, eingeseift, abgeschrubbt und abgespült wurde, sah er wieder aus wie zuvor.
Der rußgeschwärzte beleibte Herr war, wie sich herausstellte, niemand anderes als Sir Henry Cole, der Direktor des Museums.«

Treuer Begleiter des Museumsdirektors

Sir Henry behält den Hund, der sich schon bald in den weiten Hallen des Museums und dessen Umgebung bestens auskennt und Botengänge unternimmt. Soweit die Vorgeschichte dieser besonderen Freundschaft. Die historisch verbürgt ist. Sir Henry Cole war aber nicht nur der Direktor des von Prinz Albert, Mann der englischen Königin Victoria, gegründeten Museums. Sondern auch der Erfinder einer der schönsten Traditionen Großbritanniens: Der Weihnachtskarte.
Emma Thompson erzählt, was Jim damit zu tun hat. Der ist nämlich nicht nur ein sehr netter, kluger und umtriebiger Hund. Sondern auch ein leidenschaftlicher Leser. Und weil sein eines Auge immer tränt und nicht viel taugt und das andere auch immer schlechter wird, träumt er von so etwas wie einer Brille für ein Auge, etwas, das er für sich Brill nennt. Was der Siegeszug der Weihnachtskarten mit der königlichen Familie und einem Monokel zu tun haben, erzählt Thompson absolut furios, hinreißend und zauberhaft.

Geniales Wortspiel

Anu Stohner gelingt es großartig, das ursprüngliche Wortspiel aus spectacular und Spectacles, englisch für Brille (kurz: Spex, wie eine exzellente, deutsche Musikzeitschrift hieß) zu übersetzen: mit brillant. Auch sonst trifft sie Thompson lässig liebevollen Tonfall sehr gut. Nur als Jim mit einem im Original gamey whiff behaftet beschrieben wird, greift Stohners herber Geruch zu kurz. Gamey whiff ist auch ein wilder Hauch, etwas abenteuerlustiges, fast anarchistisches schwingt mit.

Wenig royal, dafür umso herzlicher

Illustriert hat die Geschichte Axel Scheffler, bekannt als der Gestalter und Miterfinder des legendären Grüffelos. Thompson und Scheffler kannten sich über kleine Auftragszeichnungen schon länger, sind sich aber erst Jahre später persönlich begegnet. Und das, obwohl sie für Londoner Verhältnisse fast Nachbarn sind. Jims brillante Weihnachten ist ihre erste Zusammenarbeit, und man kann jetzt schon sagen, sie ist so kongenial wie Schefflers Werke gemeinsam mit der Kinderbuchautorin Julia Donaldson. Im Gegensatz zum Grüffelo sieht man hier mehr Schefflers subtilen Witz und Spaß an skurrilen Typen und Szenen, wie etwa in Vater Eichhorn fällt vom Baum, dem allerbesten pixi Buch.

Königlich bekleckert

Wer schafft es schon in ein Bilderbuch ein Kind, das aus einem Glas Wein trinkt, hereinzuschmuggeln? Ist aber historisch verbürgt, über die erste Weihnachtskarte. Oder die nahbare, lebensechte und freundliche Darstellung der königlichen Familie bei Jims Besuch im Buckingham Palast: »Zu guter Letzt betraten sie einen Raum, der voller Kinder zu sein schien. Dazu kamen fast genauso viele Kindermädchen, und es dauerte einen Moment, bis Jim in dem Gewimmel etwas sah, was ihm bis ans Ende seiner Tage im Gedächtnis bleiben würde.
Die Königin, denn nur um sie konnte es sich bei der kleinen rundlichen Person mit Krone handeln, hatte sich offensichtlich mit Tee oder etwas ähnlichem bekleckert, und Prinz Albert, denn nur um ihn konnte es sich handeln, versuchte den Fleck mit einem Taschentuch fortzutupfen.« Schefflers Familienbild ist wenig royal, dafür umso herzlicher und ein entzückendes Vergnügen.

Also, nicht zögern, Jims brillante Weihnachten gleich im Buchladen des Vertrauens kaufen und lesen. Und viele Weihnachtskarten an liebe Menschen verschicken. Das wird ein spektakulär schönes Fest!

Emma Thompson, Axel Scheffler: Jims brillante Weihnachten, Übersetzung: Anu Stohner, Beltz & Gelberg, 3. Auflage 2023, 80 Seiten, 18 Euro, ab 6

Vielsagende Vögel

Wiedehopf

Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.« So beginnt die Hamburger Illustratorin und Cartoonistin Maren Amini ihren ersten Comic, Ahmadjan und der Wiedehopf.
Was für ein Debüt als Graphic-Novel-Autorin!
Es ist die bewegte, mitreißende Biografie ihres Vaters Ahmadjan. Es ist auch die Wiederentdeckung und moderne Neuerzählung der Konferenz der Vögel, eines großen persischen Epos aus dem 12. Jahrhundert des mystischen Dichters Fariduddin Attar.

1000 Vögel für vielfältige Kultur

Vor allem aber ist es die Geschichte eines faszinierenden Landes – Afghanistan. Ja, genau, das Land irgendwo eingeklemmt in Zentralasien, das heute nur noch mit engstirnigen religiösen Fundamentalisten assoziiert wird. Das bitterarme Land, von verschiedensten Gegnern zurückgebomt in die Steinzeit, wo Frauen entrechtet, geradezu entmenschlicht werden. In dem alle Andersdenkenden und Freiheitsliebenden brutal unterdrückt, getötet oder vertrieben werden.
Als die Taliban erneut die Macht ergreifen, reagiert der 1953 in Afghanistan geborene und in Hamburg lebende Ahmadjan Amini mit Kunst. Die 1000 Vögel beziehen sich auf Die Konferenz der Vögel, stellvertretend für die vielfältige und reiche Kultur Afghanistans und das Zusammenleben zahlreicher Ethnien. Für Freiheit, Sinnsuche und den lebenslangen Weg zur Erkenntnis. Seine Kunst hat Ahmadjans Leben gelenkt, geprägt, er hat von ihr gelebt und sie hat ihn immer wieder gerettet.

Raffiniert Lebensgeschichte und mystische Dichtung verknüpft

Zu ihrem großen Bedauern war Maren Amini, geboren 1983, noch nie im Heimatland ihres Vaters. Auch die mystische Dichtung kannte sie bis zur jetzigen Zusammenarbeit mit ihrem Vater nicht. Umso beeindruckender ist es, wie raffiniert und stimmig sie seine Lebensgeschichte mit Fariduddins Parabel erzählerisch in Text und Bild verknüpft.
In meist kleinen cartoonesken Bildern, mit flottem schwarzem Strich erzählt die international gefragte Illustratorin seine wilde, wandlungssreiche, manchmal fast märchenhafte Reise zwischen zwei Welten. Ein bisschen ist ihre Darstellung eine Mischung aus Charles M. Schulzs Peanuts und Sempé, eine knollennasige Figur mit dichtem Haarschopf, später mit typischen Schlaghosen. Ahmadjans Mutter stirbt früh, er wächst in einer lieblosen Stieffamilie von Schafhirten auf. Schon früh entdeckt er das Zeichnen für sich. Auch dank seines Talents entkommt er der Enge des Tals, bitterer Armut, Hunger und Kälte, zunächst mit einem Stipendium für ein Internat in Kabul. Dann mit einer Ausbildung zum Bauzeichner.

Wechselhaftes Leben zwischen Welten

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre war Kabul ein Hotspot für Hippies. Durch sie lernt er Musik, traditionelle und westliche, sowie Filme und moderne Kunst kennen. Immer wieder begegnet er Menschen, die seinem Leben eine entscheidende Richtung geben, ihn inspiriert oder gefördert haben. Diese malt Maren Amini als Vögel, die für ganz unterschiedliche Typen stehen. Außerdem tauscht sich Ahmadjan mit einem imaginären Wiedehopf aus, den Amini ganz entzückend wie Woodpecker, Snoppys gefiederten Freund, darstellt. Und sie zitiert begleitend Fariduddin Attars fabelhafte Verse.
Das spannende und wechselhafte Leben ihres Vaters bewegt sich zwischen Afghanistan und Hamburg. 1972 kommt er zum ersten Mal mit einem Touristenvisum nach Deutschland, lebt in besetzten Häusern, lernt in einer Malschule im Karoviertel beim Begründer der Schlumper (einer Ateliergemeinschaft für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen), studiert an der Hochschule für Bildende Künste, reist nach London, Amsterdam, Ibiza, besucht Musikclubs und Museen, wird schließlich abgeschoben. Als die Russen in Afghanistan einmarschieren, kommt er als einer der ersten asylsuchenden Flüchtlinge zurück nach Hamburg, das mittlerweile nach Pakistan und Iran die größte Gemeinde von Exil-Afghanen beherbergt. Hier lernt er Marens Mutter kennen, bekommt mit ihr zwei Töchter.

Genial pointierter Cartoon eines bunten Lebens

Spätestens jetzt kommt noch eine weitere Facette dieser außergewöhnlichen Graphic Novel zum Tragen: Die behutsame und berührende Annäherung von Tochter und Vater. Ahmadjan war überfordert vom Familienleben, hat Frau und Kinder früh verlassen. Jetzt erzählt er seiner Tochter seine Lebensgeschichte. Und sie kommen zusammen über die Kunst, über das Erzählen in Bildern, über ihre individuelle, brillante Bildersprache.
Und so kann man Maren Aminis Cover von Ahmadjan und der Wiedehopf als Essenz und absolut genial pointierten Cartoon des Lebens ihres Vaters erkennen. Begleitet von nunmehr dreißig, wie ein farbenprächtiger Schweif aus einer unter den Arm geklemmten Mappe aufsteigenden Vogelschemen, und gefolgt vom treuen, titelgebenden Wiedehopf geht Ahmadjan seines Weges. Das Porträt eines Künstlers, Individualisten und Träumers. Und das eines einzigartigen Landes. Absolut umwerfend und wunderbar.

Maren und Ahmadjan Amini: Ahmadjan und der Wiedehopf, Carlsen, 2024, 240 Seiten, 26 Euro, ab 12

Zombieapokalypse leicht gemacht

Ende der Welt

It’s the End of the World as We Know It sang die College-Indie-Band R.E.M. in den 1980er Jahren. Tja, man denkt, man wüsste wie das Ende der Welt wird: Feuerregen, Lavaströme, Sintflut, nukleare Explosionen, Zombieapokalypse. R.E.M. konterkarierten es mit einem schlaksigen, verschmitzt lächelnden Jungen, der durch ein sehr chaotisches Zimmer tobt, kaputtes Spielzeug in die Kamera hält und Skateboardtricks macht. Auch für Atlas und Elena sieht das Ende der Welt ganz anders als man es sich vorstellt.

Im Zentrum des Shitstorms

Elena muss zu Beginn der Sommerferien abtauchen: Nach einem lustigen Video mit Lebenshilfetipps steht die Dreizehnjährige im Zentrum eines massiven Shitstorms. Der gesamte Hass des Internets scheint ihr entgegenzuschlagen, Verwünschungen und Morddrohungen inklusive. Keine Freundin will mit ihr verreisen. Selbst ihre Mutter fliegt lieber nach Indien in ein Schweige-Retreat.
So landet Elena ausgerechnet bei ihrer Tante irgendwo auf dem Land und deren creepy neuer Familie. Dort trifft sie auf Atlas und seine jüngere Schwester Kennedy. In diesem überhaupt nicht idyllischem Setting erzählt Anna Woltz von Cybermobbing, Verlust, Tod, Krankheit, traumatisierter Familie. Aber auch von Vertrauen, Liebe, Stärke und Solidarität – furios und ganz anders, als man es kennt.

Viel zu schwerer Rucksack

Wie bereitet man sich auf das Ende der Welt vor, wenn die eigene Welt bereits untergegangen ist. Atlas trainiert hart für alle Eventualitäten. Seinen Rucksack mit allem Überlebensnotwendigen hat er immer gepackt und griffbereit. Der Rucksack ist viel zu schwer für einen vierzehnjährigen Jungen. Und doch schleppt Atlas das Teil  kilometerweit. Er hortet Lebensmittelkonserven. Wenn alle Netze zusammenbrechen, wenn es keinen Strom, kein Wasser, kein Internet, kein Geld und keine Supermärkte mehr gibt, will Atlas die Last schultern und vorbereitet sein, um seine Familie zu retten. Das, was von ihr übrig ist. Und da darf Elena ihm nicht in die Quere kommen.

Vielleicht selber mal nachdenken

Neun Romane hat die niederländische Autorin Anna Woltz in den vergangenen Jahren allein auf Deutsch im Carlsen Verlag veröffentlicht. Es sind berührende und spannende, gegenwärtige oder historische Geschichten mit vielschichtigen, verletzlichen, wütenden, manchmal ein bisschen verrückten, doch durchweg liebenswerten Charakteren, auch mal einem Hund. Kinder und Jugendliche, die konfrontiert sind mit Trauma, Trennung, Krieg, Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. So unterschiedlich sie sind, trotzig und empathisch sind sie alle. Sie raufen sich zusammen und lösen gemeinsam ihre Probleme, um ihre Welt lebenswerter und ihre Leben schöner zu machen. Und Anna Woltz schafft es jedes Mal zu überraschen.
Denn natürlich kommt auch in Atlas, Elena und das Ende der Welt alles anders, als man denkt. Weil eben die Welt und die Menschen anders sind, als man denkt. Anna Woltz lässt Atlas und Elena im Wechsel erzählen. In ihrem eigenen, emotionalen Chaos denken sie sehr kluge Gedanken. »Tja, vielleicht hätten diese Follower selbst mal nachdenken sollen?«, überlegt Atlas angesichts von Elenas folgenreichem Video. Wenn mehr Menschen öfter mal nachdenken, dann wäre die Welt tatsächlich freundlicher und besser. Und Cybermobbing kein Thema.

Die Probleme anderer Leute

»Man stellt es sich immer schlimmer vor, als es ist«, lautete Elenas Ermutigungsmantra früher. Jetzt weiß sie, »manchmal sind die Sachen ganz genau so schlimm, wie man sie sich vorgestellt hat. Und manchmal sind sie noch viel schlimmer.« Auf dem harten Lehmboden eines unheimlichen Schuppens ist Elena auf dem noch viel härteren Boden der Realität angekommen. Dabei war sie doch die lustige und wagemutige Troubleshooterin.
»Die Probleme anderer Leute sind total witzig«, erklärt Kennedy Elena. »Aber unsere Probleme sind einfach … Probleme.« Damit hat Atlas‘ jüngere Schwester eine zeitlose Erkenntnis Ally McBeals grandios neu interpretiert. Ally McBeal war eine Serie um die gleichnamige Anwältin in einer großen Kanzlei in Boston. In der Unisex Toilette (sehr fortschrittlich, 90er Jahre!) fragt eine der biestigen Kolleginnen Ally: »Warum sind deine Probleme eigentlich immer so wichtig?« »Weil es MEINE Probleme sind«, bringt es Ally schlagfertig auf den Punkt. Deshalb ist es auch so schwierig, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Ob lähmende Sprachlosigkeit, absolute Leere, herzzerreißender Kummer – es fehlt der Abstand. Man braucht jemanden, der die Sache aus anderer Perspektive betrachten kann. Und umgekehrt. Davon erzählt Anna Woltz immer wieder neu.

Märchenhafte Kulisse

»Und dann hört der Wald auf und ein Märchen fängt an. Der Pfad führt durch riesige, langgezogene Weiden. Das hohe Gras glitzert silbern im Mondlicht, der tiefblaue Himmel ist mit Sternen übersät und in der Ferne funkelt ein Fluss. Wenn ich Netflix wäre, würde ich für so eine Kulisse Millionen bezahlen«, durchfährt es Elena nachts. »Aber dann fällt mir ein, dass ich kein Streamingdienst bin, sondern jemanden verfolge. Und wenn man jemanden verfolgt, sind ausgedehnte Weiden höchst ungünstig.« Sätze voller Witz und Selbstironie, viel besser als die meisten nach bewährtem Schema geschriebenen Serien. Andrea Kluitmann hat sie mitreißend übersetzt.

»Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Tatsächlich kommt der Ritter auf einem weißen Pferd zur gestrauchelten Heldin. Und es ist überhaupt nicht kitschig. Nein, das ist definitiv nicht das Ende der Welt, wie wir es kennen. Es ist der Beginn einer neuen, wunderbaren Geschichte.

Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt, Übersetzung; Andrea Kluitmann, Carlsen, 2024, 192 Seiten, 12 Euro, ab 11

Die Taylor Swift der Germanistik

classy

Lange habe ich nichts mehr rezensiert, denn irgendwie ist die Zeit bei all den Übersetzungsprojekten auf meinem Schreibtisch knapper geworden. Aber als neulich die Pressemitteilung vom Carlsen Verlag zu But make it classy! von Teresa Reichl bei mir eintrudelte, war ich auf der Stelle angefixt: eine Literaturgeschichte über deutsche Klassiker auf feministisch gebürstet. Wow! Wie sehr hätte ich mir das in der Schulzeit oder im Studium gewünscht. Im vergangenen Jahrtausend habe ich mal Germanistik studiert und den einen oder anderen klassischen Text gelesen, geliebt, gehasst oder auch nicht verstanden. Einiges konnte ich nun mit viel Spaß wiederentdecken.

Mehr als der klassische Kanon

Terea Reichl, Kabarettistin und YouTuberin, unternimmt nämlich in diesem für Literaturgeschichten eher schmalen Bändchen eine Reise vom Barock bis zur Romantik der deutschen Literatur. Vieles davon ist vermutlich (aus der Schule bin ich ja noch länger raus als aus dem Studium) immer noch Stoff in den hiesigen Mittel- und Oberstufen. Reichl umreißt jeweils die wichtigsten Merkmale der einzelnen Epochen und stellt dann jeweils drei Werke daraus vor. Neben den bekannten Allzeit-Klassikern wie Lessings Emilia Galotti, Goethes Faust oder E.T.A. Hoffmanns Sandmann hat sie wunderbare Werke von klassischen Schriftstellerinnen ausgegraben, die es allesamt wert wären, mehr gelesen, weiter analysiert, weiter verbreitet und in der Schule behandelt zu werden. Ich muss zugeben, die meisten davon kenne ich nicht – im vergangenen Jahrtausend waren Schulunterricht und Studium echt noch komplett männlich geprägt.

Classy Literatur von Frauen

Umso wichtiger ist, dass das jetzt mal geändert wird. Auf meiner To-read-Liste stehen jetzt also auch Sibylla Schwarz, Christiane Karoline Schlegel, Luise Adelgunde Victorie Gottsched und Bettina von Arnim. Bei diesen vier ist die Zugänglichkeit zu den Werken zumindest gegeben, z. T sind sie sogar kostenlos im Netz zu finden. Das Theaterstück der einzigen Sturm-und-Drang-Autorin, Sophie Albrecht, hingegen ist nicht einmal mehr zu haben (außer in der Nationalbibliotheken in Frankfurt und Leipzig, was bei zwei Exemplaren für ganz Deutschland jedoch etwas spärlich ist). Allein für diese Perlen liebe ich Reichls Buch.

Klare Worte zu alten weißen Männern

Doch Teresa Reichl geht weiter. Die ausgewählten Klassiker erzählt sie auf ihre ganz eigene Art und Weise nach. Dazu sollte man wissen, dass Reichl als YouTuberin mit den Literaturanalysen angefangen hat – man kann sich so einige Clips im Netz ansehen. Und so wie Reichl in ihren Videos spricht, so schreibt sie dann auch: Rasant, rotzfrech, gespickt mit Jugendsprache, die ich zum Teil nachschlagen musste – was mir doch ziemlich deutlich vor Augen geführt hat, WIE alt ich bin –, aber genau das macht auch den Spaß an ihren Texten aus. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, sondern benennt, was bis vor einigen Jahren meist als »normales« Verhalten von Männern gegenüber Frauen akzeptiert wurde. Faust verführt eine Minderjährige, von wahrer Liebe keine Spur, Männer lassen Frauen nicht (aus)reden bzw. die Frauen äußern sich eigentlich so gut wie gar nicht (Emilia Galotti), sondern bringen sich lieber um oder werden umgebracht. Aber auch die Frauenfiguren verhalten sich manchmal nicht viel besser, wenn sich beispielsweise in Maria Stuart die Königinnen Elizabeth I. und Maria von Schottland anzicken. Sie wurden allerdings auch von einem Mann geschaffen und aus einer männlichen Perspektive heraus dargestellt.

Reichl regt zum Lesen an

In But make it classy! finden Schüler:innen jede Menge Anregungen, wie man klassische Texte interpretieren kann – und sollte. Gleichzeitig lernen sie etwas über den respektvollen Umgang zwischen den Geschlechtern und den Menschen überhaupt. Und ganz nebenbei regt Reichl natürlich zum Lesen an: Zum einen ihr eigenes Buch, das man quasi in einem Zug verschlingen kann, zum anderen macht sie auf die Originale neugierig, selbst wenn die nicht so einfach zu bewältigen sind. Mag Reichls Werk selbst vielleicht kein Klassiker werden – dazu ist die Jugendsprache viel zu aktuell und an die Gegenwart gebunden und vermutlich im nächsten Jahr bereits wieder überholt – ihr Ansatz und Blick auf die klassische Literatur ist super. Ich wünsche mir eine Fortsetzung über die Literatur des späten 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts. Da gibt es noch so viele männliche Autoren, die mal unter die Reichl-Lupe genommen werden könnten. Und die Schriftstellerinnen jener Zeit brauchen natürlich weiterhin unseren Support!

Teresa Reichl: But make it classy! Ein feministisches Close-up deutscher Literatur, Illustration: Hanna Wenzel, Carlsen Verlag, 2024, ab 14, 10 Euro

Wie Leben geht

Magali ist 13 Jahre alt und wünscht sich, möglichst bald geküsst zu werden. Herr Krekeler ist 98 Jahre alt und möchte sterben. Was das junge Mädchen und den alten Mann verbindet und wie das mit dem großen Ganzen zusammenhängt, das man Leben nennt, erzählt Nikola Huppertz sehr geistreich und berührend und umwerfend lustig im Roman Fürs Leben zu lang.

Ein Tagebuch von allen anderen

Magali ist sehr groß für ihr Alter, mit 1,82 Meter überragt sie alle Gleichaltrigen. Auf 1,89 bis 1,92 Meter wird sie mindestens noch wachsen, so die Prognosen. Ihr eigenes Leben findet die Teenagerin langweilig. Alle anderen scheinen ihr interessanter. Und deshalb beginnt sie in »das überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen« zu schreiben, das ihre Eltern ihr etwas einfallslos zum Geburtstag geschenkt haben: »Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.«
Niedliche Mädchen und hübsche Jungs, die chaotische Familie ein Stockwerk tiefer, eine exzentrische Nachbarin, ihre ältere Schwester Malve, mit Hang zum Melodram, ihre Seneca zitierende Mutter und ihr schweigsamer Vater, beide Anhänger der »bewussten Elternschaft« … Magali ist eine hervorragende Beobachterin und äußerst witzige Tagebuchautorin.

Rumpelstilzchen springt von Treppenabsatz

»Guten Tag, Magali«, begrüßt Alfred R. Krekeler sie, wenn sie sich im Treppenhaus begegnen. »Ich habe schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam.«  Doch dann beschließt Herr Krekeler, 98 Jahre sind genug.
Und damit springt KK in Magalis Leben, wortwörtlich vom Treppenabsatz. Der Gleichaltrige begrüßt sie mit: »Wir kennen uns!« »Ich war zu Tode erschrocken. Er erinnerte mich irgendwie an das Rumpelstilzchen (1,53 Meter maximal und überaus wuselig), aber sonst an niemanden.« Kieran Krekeler ist Herrn Krekelers Enkel. Er erzählt Magali, dass sein Großvater sterben will.

Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit

Magali akzeptiert das zunächst nüchtern als die Entscheidung ihres freundlichen Nachbarn, von dem sie sonst fast gar nicht weiß. Immerhin ist der Mann 98.
Doch je länger sie drüber nachdenkt, desto klarer wird ihr: »Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit«. Besser kann man es nicht Punkt bringen.
Das macht Nikola Huppertz‘ Roman so brillant: Ihre Sprache und wie sie durch Magali die Menschen und die Welt beschreibt. Auch ihre Dialoge und Textnachrichten sprühen vor Witz, Screwballcomedy at it’s best.

Keine Anleitung, keinen Plan

In ernsten, ja todernsten Passagen schafft die Autorin eine intensive, fühlbare  Atmosphäre, als wäre man selbst dabei: »Mühle ist ein langweiliges Spiel. Wenn man es kann, gewinnt immer, der der beginnt. Trotzdem spielten KK und ich dreizehn Partien, sechs gewann er, sieben ich. Irgendwann sagte KK: ›Hättest du gedacht, dass Sterben so geht?‹ Er fragte es nur so, als handele es sich um den Wetterbericht oder darum, was es morgen zum Osterfrühstück geben sollte, fragte es mitten in die Langeweile hinein. Und auch mir rutschte die Antwort einfach über die Lippen, sie stand schon im Raum, ehe ich darüber nachdenken konnte, sagte sich selbst: ›Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wie Leben geht.‹«
Magali und Kieran erfahren, dass niemand es weiß. Nicht die Eltern, nicht die ganz Alten, auch nicht der Philosoph, den die Kinder per Mail fragen (übrigens ein realer Philosoph, den Huppertz angeschrieben hat). Es gibt keine Anleitung, keinen Plan. Jedes Leben ist einzigartig.

Einfach grandiose Literatur

Wie Huppertz diese ebenso simple wie wertvolle Erkenntnis mit lebendiger Sprache, mit einem Sumoringer oder der Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamar, mit Worten wie Würde, Walddrama, Schuk, Struwen, Nagelfetisch, Nazimutter, Beinkind und Zusammenstoßkind erzählt, oder von der wunderbaren Magali ins Tagebuch schreiben lässt, das ist ganz große Literatur. Keine weitere Comig-of-age Geschichte, keine Sick Lit (was für eine kranke Genrebezeichnung!) und erst recht kein Kinderbuch. Einfach grandiose Literatur.

Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang, Tulipan, 200 Seiten, ab 12, 16 Euro

Der Geruch des Grolls

Naphtalin

Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«

Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise

Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde?
Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.

Verflohte Katze

Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.

Großen Familienroman gezeichnet

Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet.
Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt.
Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.

Durch Türen aus dem Leben verschwunden

Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.

Eigene Fehler machen

Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«

Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Vier Schutzheilige namens John, Paul, George und Ringo

Wo auf der Schwelle vom Kind zum Teenager sich das Mädchen Magali befindet, kann sie nicht so genau sagen. Aber wo sie definitiv auf keinen Fall sein möchte, weiß das Nowhere Girl absolut und ohne Zweifel: In der neuen Schule.
Das sagt der Elfjährigen sogar ziemlich bald ihr Körper ganz unmissverständlich: Erst fällt sie vor der versammelten Klasse in Ohnmacht. Dann kotzt sie jeden Morgen, wenn sie auch nur in die Nähe der gefürchteten Schule kommt.

Vom Ranzen erdrückt

So beginnt Magali Le Huche ihren umwerfenden, autobiografischen Comic Nowhere Girl. Paris in den 1990er Jahren, die junge Magali kommt auf die weiterführende Schule, wo auch ihre große Schwester ist. Schon bald wird das verspielte Mädchen mit den Pippi-Langstrumpf-orangeroten Haaren von selbstauferlegtem Perfektionismus und den Leistungsforderungen unsensibler Lehrkörper zunehmend erdrückt. Immer größer und schwerer wird der Ranzen auf ihrem Rücken. Sie verschwindet fast unter der übermenschlich schweren Last, die sie auf dem geradezu höhnisch sanftrosa kolorierten Schulweg schleppt. Flächiges Rosa ist neben Magalis roten Haaren die einzigen Farben auf den schwarz-weiß gezeichneten Panels der ersten Seiten. Die gestalterisch wahrscheinlich nicht ganz zufällig an ein anderes, allerdings ungleich unbekümmerteres und lebenslustigeres Mädchen ihres Alters erinnern – Kay Thompsons fabelhafte Eloise in Paris, ein Klassiker aus den 1950er Jahren.

Diagnose: Schulphobie

Magalis Eltern sind beide Experten für kranke Seelen, die Mutter Psychoanalytikerin, der Vater Phonetiker, der Stotternden und anderweitig Sprachgehemmten das Sprechen beibringt. Doch bei der eigenen Tochter sind sie ratlos. Zumal doch die Ältere die Schule problemlos, sogar mit Bravour und Spaß wuppt. Was tut man mit einem Mädchen, das unerklärliche Angst vor der Schule hat. Eine Schulpsychologin gibt der Sache sogar eine solide wissenschaftliche Diagnose: Schulphobie. Allerdings ohne eine wirkliche Lösung anbieten zu können, außer – Vorteil des französischen Schulsystems – der Schulpflicht per Fernunterricht von zu Hause nachzukommen, was per zugeschicktem Material funktioniert.

Schockverliebt in nie zuvor gehörte Musik

Und dann, eines Tages, entdeckt Magali ganz andere, bisher noch nie gehörte Musik: die der Beatles. Und ein psychedelisches Feuerwerk an Farben und fantastischen Figuren fließt über die Seiten. Magali ist schockverliebt in die Melodien und Stimmen. Eine Liebe, die ihr ganzes Leben verändern wird. Sie flüchtet sich in wohlklingenden Harmoniegesang und schräge Parallelwelten, geht mit dem Yellow Submarine auf Tauchstation und entflieht ihren Ängsten. Nebenbei wird sie zur Expertin, liest alles über die Fab Four. Und fällt ihrer Umgebung auch ein bisschen auf die Nerven mit ihrem unerschöpflichem kuriosen Wissen, das sie leidenschaftlich jedem kundtut.

Die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer

John, Paul, George und Ringo werden zu Magalis Schutzheiligen. Wobei sie alle vier gleich wertschätzt, den einen wegen seiner bodenständigen Art, den anderen wegen der frechen, unbekümmerten oder auch zurückhaltenden Natur. Die klassische Frage Beatles oder Stones stellt sich für sie nie, ebenso wenig die, ob man John oder Paul lieber mag.
Ihr Körper verändert sich, sie bekommt ihre erste Periode, die behütete Zeit des Fernunterrichts zu Hause endet nach zwei Jahren – doch die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer. Durch die Bilder in ihrem Kopf entdeckt die junge Magali für sich auch das Zeichnen – eine Leidenschaft und Berufung, die die französische Comickünstlerin schließlich zu ihrem Beruf macht.

Nowhere Girl ist eine zauberhafte Geschichte vom Ende der Kindheit – und wie man sich trotzdem Fantasie und das Spielerische bewahrt. Von den Beatles lernen, heißt nicht nur richtig gut Englisch lernen, die Songtexte haben sich bei vielen unvergesslich ins Gedächtnis gegraben.
Von den Beatles lernen heißt manchmal auch fürs Leben lernen.

Magali Le Huche: Nowhere Girl, Übersetzung: Silv Bannenberg, Reprodukt, 120 Seiten, ab 11, 24 Euro

Aus dem Tunnel ins Leben

Tunnel

Büchergutscheine, wie sie jetzt bestimmt wieder tausendfach unterm Weihnachtsbaum gelegen haben, sind ja eher Verlegenheitsgeschenke. Man kennt sich nicht genug, kennt auch nicht den Geschmack des zu Beschenkenden. Auch traut man sich nicht, beherzt etwas zu überreichen, was man selbst gern lesen würde. Und irgendwas muss man ja schenken …

Jetzt gegen das beste Buch des Jahres tauschen

Aber genug gelästert. Büchergutscheine sind klasse, denn die glücklich Beschenkten können sie jetzt (in ihrer Lieblingsbuchhandlung und nicht beim grausamen Amazon) in das beste Buch des Jahres tauschen (das sie hoffentlich noch nicht gelesen haben).
Und das wird hier jetzt einfach mal so gesagt, obwohl auch dieses Jahr einige außerordentlich gute Bücher veröffentlicht wurden, vor allem exzellente Graphic Novels und einige besonders schöne Bilderbücher. Also, gleich mal losgehen,  Büchergutschein gegen Nächte im Tunnel von Anna Woltz eintauschen!

»Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben«

Ein Buch, das im Krieg spielt? Das von schrecklicher Angst, lebensbedrohlicher Krankheit, Verkrüppelung und Beklemmung erzählt? Das von brutaler Armut, krassen Klassenunterschieden und gemeinen gesellschaftlichen Zwängen handelt? Und am Ende eine der Hauptpersonen stirbt?
»Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das. Jetzt schon, bevor ich anfange«, sagt Ella gleich zu Anfang. »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da.
Unser Leben fängt gerade erst jetzt an.«

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Ja, das ist das beste Buch! Weil die Figuren so absolut liebenswert sind! Allen voran die Erzählerin, die 14-jährige Ella. Sie ist gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, Kinderlähmung, für viele ein Todesurteil, bevor es eine Impfung dagegen gab. Weil auch die Atemmuskulatur gelähmt werden und man grausam ersticken kann. Ella hat Wochen in einer sogenannten eisernen Lunge eingesperrt gelegen. Ihr linkes Bein wird für immer teilweise gelähmt und verdreht bleiben. Dazu eine Panik vor engen Räumen und dem Gefühl eingesperrt zu sein.

Von zu Hause weggelaufen, um zu helfen

Sie begegnet Quinn, die vom Landsitz ihrer reichen Familie irgendwo in der friedlichen Countryside mit einem riesigen Koffer und einer Tasche voll mit Mutters Schmuck nach London weggelaufen ist. Sie will im Krankenhaus als Sanitäterin arbeiten, irgendetwas tun, um den Menschen in der bombardierten Stadt zu helfen. Dass sie fast noch ein Kind ist, hält sie nicht ab. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich sofort einziehen lassen.« Auf Ellas Einwand »Du bist doch erst fünfzehn?« antwortet Quinn wütend und für Ella schockierend unverblümt: »Das ist doch wohl egal? Ich habe keinen Pimmel, das finden sie das größte Problem.«
Außerdem sucht Quinn ihren älteren Bruder Sebastian in der Hauptstadt, dem einzigen in ihrer arroganten und gefühlskalten Very-stiff-upper-lip-Familie, dem sie sich in ihrem gemeinsamen Freiheitsdrang und Anderssein verbunden fühlt. Aber Sebastian scheint ein Faschist geworden zu sein. Sie muss ihren Bruder finden und zur Rede stellen.

London Blitz

Woltz wollte vom »London Blitz« erzählen, den massiven Luftangriffen, denen die Menschen in London im zweiten Weltkrieg durch Hitlers Bombardierungen ausgesetzt waren. Außerhalb Englands ist wenig über das Leid und die Entbehrungen der Menschen in der britischen Hauptstadt bekannt, die Nacht für Nacht vor den Bomben in den stickigen Bahnhöfen und Tunneln der Tube, der U-Bahn, Schutz suchen. Anfangs alles sehr provisorisch, Alte, Junge, Familien mit kleinen Kindern und Babys, die kreuz und quer auf dem blanken Bahnsteig und den nachts stillgelegten Gleisen in den Schächten liegen, mit einem stinkenden Eimer hinter einem Fetzen Stoff als Klo.

Eine Extremsituation, wie die Pandemie

Woltz fand es auch als eine Extremsituation interessant, die wie die Pandemie alle betrifft. Die für alle alles ändert, auf die alle reagieren und mit der man sich arrangieren muss, um zu überleben, ohne zuvor etwas Vergleichbares erfahren zu haben und sich darauf einstellen zu können. Eine weitreichende Veränderung, die vor allem junge Menschen mit eben erst wachsenden Träumen, Plänen und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, brutal ausgebremst hat.

Furchtbar aktuell

Ella, Quinn, Jay, Ellas kleiner Bruder Robbie und auch Sebastian, jeder einzelne ist absolut lebendig, vielschichtig und liebenswert. Man möchte sie alle kennenlernen, mit ihnen im Dunkeln ausharren, durch die Straßen Londons ziehen, kämpfen, helfen. Das sind keine Figuren aus einem Historiendrama. Woltz lässt sie zeitlos jung, ehrlich und authentisch miteinander reden. Andrea Kluitmann hat es bewährt und ungeheuer frisch übersetzt. Der Carlsen Verlag hat dieses Mal Anna Woltz‘ Buch auch in einen sehr schönen Buchumschlag gehüllt.
In ihren schlimmsten Albträumen hätte Woltz es sich nicht träumen lassen, dass, wenn ihr Buch erscheint, tatsächlich wieder Krieg in Europa geführt wird und Menschen erneut vor Bombenangriffen in die U-Bahn flüchten müssen.

»Ich kann mich entscheiden«

Auch wegen der furchtbaren Aktualität ist Nächte im Tunnel das beste Buch des Jahres.
Vor allem aber ist es auf eine zauberhafte, herzzerreißende Art lebensbejahend. Es erzählt davon, wie es ist, jung zu sein, die Welt entdecken zu wollen, Menschen kennenzulernen, sich auszuprobieren. Wie man etwas finden möchte, das einen glücklich macht. Man möchte neugierig bleiben, etwas wagen, nicht aufgeben, nichts als in Stein gemeißelt und unausweichlich vorbestimmt hinnehmen, sich nicht lähmen lassen. Ich kann mich entscheiden, denkt Ella, als nachts erneut der Fliegeralarm losgeht, die Flakgeschütze sich in Stellung bringen und sie in der Ferne das Dröhnen von Motoren hört. In Nächten im Tunnel können auch Tage eines neuen Lebens beginnen. Auf jeden Fall sollten sie der Beginn eines neuen Lesejahres sein.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14

Wenn Kraken träumen …

Grau in grau, dunkel und kalt – angesichts des derzeitigen Laufs der Erde um die Sonne um diese Jahreszeit und der Weltläufte (Krieg, Pandemie, Klimakrise) speziell in dieser Zeit würde man am liebsten nur noch schlafen. Winterschlaf wäre gut. Aber auch wenn man sich nicht mal eben sechs Monate zusammenrollen, die Körpertemperatur auf unglaubliche minus ein Grad runterkühlen und ausklinken kann wie der Gartenschläfer, das Tier des Jahres 2023 – Schlaf tut gut, er ist sogar lebenswichtig.
Im Schlaf werden die Informationen und Reize, die den ganzen Tag auf unsere Sinne einprasseln, sortiert, verarbeitet und, wenn gut und wichtig, gespeichert und mit bereits Vorhandenem verknüpft. Überflüssiges wird weggeworfen, sogar wortwörtlich, mit der Hirnflüssigkeit wird Defektes und Stoffwechselmüll abtransportiert. Am meisten passiert, wenn wir träumen. Kurz gesagt: Wer nicht schläft, stirbt.

Schlaf für Sekunden oder mit halbem Gehirn

Jedes Lebewesen muss schlafen. Wie unterschiedlich Tiere, vom Elefanten bis zur Gartenkreuzspinne, diesem lebenswichtigen Bedürfnis nachgehen, das zeigt Beatrix Mannels und Karolina Benz‘ absolut faszinierende Bilderbuch Wer schläft, wer wacht in der Nacht?
Erstaunlich viele Tiere sind nachts wach. Verblüffend viele schlafen nur kurz, wenige Minuten, manche nur Sekunden. Oder sie schlafen lediglich mit einer Hälfte des Gehirns. Wie Wale und Delfine. Die andere muss nämlich aufpassen, dass die Meeressäuger regelmäßig zum Luftholen nach oben an die Wasseroberfläche kommen.

Walkälber würden Menscheneltern in den Wahnsinn treiben

Pottwale aber schalten für zwei Stunden richtig ab und bringen das ganze Gehirn zur Ruhe. Das machen sie verrückterweise vertikal im Wasser treibend, es sieht aus, als würden sie auf ihrer Schwanzflosse stehen. Und Walbabies, Kälber genannt, würden alle menschlichen Eltern in den Wahnsinn treiben – weil sie die ersten Wochen ihres Lebens überhaupt nicht schlafen! Wo doch sonst alle anderen neugeborenen Säugetiere sehr viel schlafen, um die auf sie einprasselnden Informationen zu verarbeiten.

Riesige Kulleraugen und den Kopf rundum gedreht

Solche und viele weitere kuriose, unglaubliche und entzückende Informationen machen Beatrix Mannels Tierporträts absolut lesenswert und fesselnd. Koboldmakis jagen nachts und behalten den Durchblick durch ihre riesigen Kulleraugen, die jeweils soviel wie ihr Gehirn wiegen. Weil diese aber unbeweglich in den Augenhöhlen sitzen, können sie ihre Köpfe um 360 Grad drehen, um die Blickrichtung zu ändern. Diese leicht gruselige Bewegung beherrschen nur noch die lautlosen Nachtjäger, die Eulen.

Farben spiegeln Gefühle

Oder Kraken: weich, superklug, Meister der Tarnung. Und wenn sie schlafen, wechseln sie die Farbe. Das tun sie, wenn sie träumen. Jede Farbe des Kraken spiegelt eine Erinnerung oder ein Gefühl, das der Krake tagsüber erlebt. Giraffen schlafen nur kurz, nicht zu lange wegen der Fressfeinde, meist im Stehen. Aber wenn sie träumen, dann mit zusammengeklappten Beinen unter dem Körper. Und ihr Kopf liegt auf ihren Hinterbeinen, damit er nicht auf den Boden knallt.

Wunderschöne Ölgemälde in Mitternachtsblau

Die Texte sind schon klasse. Aber die Bilder, die Karolina Benz dazu erschaffen hat, sind wunderschön und brillant. Bilder erschaffen im wahrsten Sinne des Wortes: Die in Mitternachtsblau getauchten Geschöpfen sind tatsächlich Ölgemälde! Jedes einzelne ist ein Meisterwerk für sich, ebenso lebensecht wie poetisch. Eindringlich blickt uns der Tiger an. Wale und Kraken tanzen mit Medusen im Mondschein durchs Meer. Die Giraffe träumt unter der funkelnden Milchstraße. Ein Luchs stromert durch glitzernde Schneelandschaften.

Ein traumhaft schönes Bilderbuch, das den Kopf wegen seines wunderbaren Wisseninhalts so erfrischt wie der beste Schlaf.

Beatrix Mannel, Karolina Benz: Wer schläft, wer wacht in der Nacht?, Rowohlt, 64 Seiten, ab 8, 20 Euro

Extrem gefährlich

Ponger

Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.«
So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?

Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen

Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«

Was die Menschen so umtreibt

Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten.
Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist.
Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.

Bilder, die zu Orten entstehen

Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort.
Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten

Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick

Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt:
»Erinnern sie sich an ihre Kindheit?«
»Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?«
»Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?«
»Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.«
»Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«

Erwachsene sind kein bisschen schlauer

Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert.
Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.

Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14

Grammatik-Liebe

Grammatik

So manches Mal stehe ich trotz langer Jahre Textarbeit mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß und habe nicht sehr viel Lust, mich eingehender damit zu befassen. Zu dröge sind die gängigen Grammatikbücher.

Auf der Frankfurter Buchmesse ist mir nun noch jedoch eine absolut sinnliche Variante in die Hände gefallen: Hunde im Futur der Geschwister Susanna und Johannes Rieder.
Ohne allzu lange theoretischen Erklärungen geht es mit den Illustrationen von Arinda Crăciun gleich zur Sache. Haptischer Clou auf jeder Doppelseite ist die zweigeteilte rechte Seite, die ausgeklappt wird. Sie fungiert quasi als Titelseite für ein neues Thema und durch das Aufklappen gelangt mensch beispielsweise zum Subjekt, zu den Pronomen oder dem Tempus.

Ausklappen macht neugierig

Die Worte, Sätze, Erklärungen mäandern dann durch die bunten Seiten, machen Singular und Plural deutlich, stellen die passenden Fragen zum Genus, zeigen den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv.
Und so blättert mensch sich durch die Seiten, stellt fest, dass die schmale Mittelseite beim Umklappen perfekt zur Illu der Vorseite passt. Der buchherstellerische Aufwand (Carsten Aermes hat die Gestaltung übernommen) ist durchweg zu spüren und auch die große Liebe, die hier dem eigentlich trockenen Thema entgegen gebracht wird.

Lerneffekt garantiert

Junge Lesende, die noch am Anfang ihres Grammatik-Lernpensums stehen, werden spielerisch mit den Fachbegriffen konfrontiert und bekommen eingängige Erläuterung oder Beispiele. Auch der Hinweis, dass mensch beim Lernen von neuen Sprachen gewisse Dinge einfach auswendiglernen sollte, fehlt genauso wenig, wie die Tatsache, dass Sprache sich ständig verändert und eigentlich nie fertig ist – so wird auf die aktuelle Genderdebatte und die sich wandelnden Ausdrucksformen verwiesen.
Und auch Grammatik-Profis finden vielleicht noch die ein oder andere Neuigkeit. Für mich war es das wunderbare Wort »Wunschsatz« als Kategorie der Satzarten, der dann in Form eines Ausrufungszeichen mit Herz statt Punkt dargestellt wird.

Diversität in den Illustrationen

In den Illustrationen von Arinda Crăciun fällt aber nicht nur die anregende Verspieltheit auf, sondern auch die Diversität der Figuren. Da küssen sich zwei Männer, es gibt Menschen mit verschiedenen Hautfarben, mit und ohne Kopftuch, mit Kippa, alt und jung, alte Römer mit Hunden, eine Polizistin auf der Jagd nach Mister X. und Rosa Parks. Und natürlich Hunde aller Art, aber auch Hasen, Fische, Schmetterlinge und (Fleder-)mäuse. So mischen sich abstrakte Wissenseinheiten mit wimmelbildartigen Kunstwerken.

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022

Zurecht war diese wunderbare Buch in diesem Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Und auch wenn es nicht gewonnen hat – der Preis für die Sparte Sachbuch ging an Der Duft der Kiefern vonBianca Schaalburg –, ist es ein Schatz, der das Zeug zum Dauerbrenner hat.
Für Kids, die beim Thema Grammatik das Gesicht verziehen, ist dieses Buch möglicherweise eine Hilfe und Augenöffner.

Susanna Rieder/Johannes Rieder: Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern, Illustration Arinda Crăciun, Susanna Rieder Verlag, 2021, 128 Seiten, ab 8, 30 Euro

Leben und leben lassen

Oar, Leute! Aber sonst geht’s euch gut, ja?!« Kaum im Waldkrankenhaus angekommen und die frische Schusswunde selbst (mit dekorativem Kreuzstich) vernäht, rettet durch verrückten Zufall ein Kaninchen dem Wolf das Leben. Und jetzt muss sich der coole Einzelgänger auf der Suche nach sichereren Jagdgründen um das kleine Beutetier kümmern. »Frag nicht, Wolfskodex«.

Furioses Road-Comic

Mit dem Kaninchen hat der Wolf gleich noch einen Infusionsständer, einen Koffer mit Medikamenten und einen langen Therapieplan im Schlepptau, das Kaninchen hat nämlich Krebs und fünf Monate Chemo vor sich. Und so macht sich das kuriose Duo auf einen Trip mit Tropf, wie Josephine Marks furioses Road-Comic heißt.

Stiernackige Motorradrocker und gutmütige Bärin

Stilecht bewegen sich die beiden erst im Pickup, zwischendurch auf Motorrad mit Beiwagen und schließlich zu Fuß auf Schleichwegen durch Wälder, an Flüssen entlang und über verschneite Bergketten. Sie begegnen üblen, stiernackigen Motorradrockern, gutmütigen Touristen, freundlichen Wolfkumpeln und einer gutmütigen Bärin – immer den fiesen Jäger und seinen ebenso unerfreulichen Hund im Nacken. Als wäre das nicht schon genug, verliert das kranke Kaninchen sein Fell, kotzt sich die Seele aus dem Leib und leidet unter Nasenbluten.

»Born to be wild«

Aber manchmal genießt das ungleiche Paar Verschnaufpausen in schäbigen Motels und einsamen Hütten. Sie futtern Chips und gucken Filme im Fernsehen. Oder singen laut und lustvoll die Hymne aller Abenteurer und Roadtrips »Born to be wild«. Josephine Marks Comic ist ein actionreiches, mitreißendes Feuerwerk an brenzligen Situationen, krassen Unfällen und wundersamen Wendungen. Es vibriert von Zitaten und Anspielungen.

Genervt, skeptisch, kaltschnäuzig

Am liebsten zeichnet Mark Wölfe – und das sieht man. Erstaunlich, wie dieses schmale, einfach konturierte, graue Wesen so viele Stimmungen, Launen und Gefühle zeigt. Also vor allem wirkt er genervt, ungeduldig, skeptisch, fassungslos, wütend, kaltschnäuzig. Auch mal wild und ausgelassen. Aber immer verbirgt sich dahinter unerschütterliches Verantwortungsgefühl und zupackende Hilfsbereitschaft für das Häuflein Elend, das der Wolf konsequent »Nager« nennt. Und ja: echte Zuneigung. Die Sache mit dem Wolfskodex hat wahrscheinlich eine sehr lange Geschichte, wie nicht nur die Bärin Beate vermutet.

Schönste und lebensbejahendste Antwort

Dazu passt auch die entzückende Schlussszene. Wolf und Kaninchen sitzen voll kitschig nebeneinander auf einem Findling auf einer Frühlingswiese und betrachten das gegenüberliegende Bergmassiv. Der Wolf macht einen vagen Vorschlag und stellt die Frage, die eigentlich in jeder Beziehung tabu ist und nur bei wirklicher Offenheit für jede Antwort gestellt werden sollte: »Was denkst du?«

Und das Kaninchen gibt die schönste, witzigste und absolut lebensbejahendste Antwort darauf, die man sich nur vorstellen kann. Aber die wird hier natürlich nicht verraten.

Josephine Mark: Trip mit Tropf, Kibitz, 192 Seiten, 20 Euro, ab 12

Krieg erklären – Frieden suchen

Die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen zwei Wochen haben mich – wie vermutlich jeden von uns – schockiert, deprimiert, wütend und ängstlich gemacht. Nach dem ersten News-Overflow, ersten Demos, blau-gelben Posts und Spenden für die humanitäre Hilfe konnte ich jetzt den Blick wieder auf die Bücher richten.

Krieg ist jedoch ein so großes, so komplexes Thema, dass es hier in einem kleinen Post kaum aufzufangen ist, selbst wenn es nur um Bücher geht. In dem Jahrzehnt, den es diesen Blog nun schon gibt, haben wir immer wieder Bücher über und gegen den Krieg vorgestellt. Es sind das jedoch vor allem Bücher über die beiden Weltkriege, zum Beispiel Elisabeth Zöllers Der Krieg ist ein Menschenfresser, Maja Nielsens Feldpost für Pauline, Dorothee Haentjes-Holländers Paul und der Krieg oder auch Joke van Leeuwens Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor. Das sind allerdings immer auch Geschichten über lang zurückliegende Ereignisse, die vielleicht das Verhalten von Großeltern und Eltern erklären, für Kinder aber eher abstrakt bleiben.

Mit dem Ukraine-Krieg rückt das Geschehen nun räumlich näher, wie schon in den 1990er Jahren im Serbien-Krieg, und hat aber, dadurch, dass mit Putins Russland eine Großmacht einen Nachbarstaat angreift, eine weltpolitische Reichweite, der sich niemand mehr entziehen kann. Und die Kinder spüren natürlich unsere Ängste, hören unsere Gespräche, gehen mit auf die Demos und stellen Fragen. Einige dieser Fragen lassen sich mit den folgenden drei Büchern ansatzsweise beantworten.

Die einfachen Grundregeln des Zusammenlebens

Louise Spilsbury erklärt in Wie ist es, wenn es Krieg gibt? in 13 kurzen Kapiteln die Grundvoraussetzungen für einen Krieg: den Streit zwischen Menschen und die Gründe für Konflikte unter ihnen. Die unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern und Religionen gehören dazu. Der Krieg verändert das Leben der betroffenen Menschen, viele verlassen die Heimat, flüchten und suchen Sicherheit.
Spilsbury kann das alles natürlich nur kurz anreißen, zeigt aber in wenigen Worten und durch die eindrücklichen, aber nicht traumatisierenden Illustrationen von Hanane Kai, welche Lösungen es für Kriege und Konflikte gäbe: miteinander reden, Regeln aufstellen und diese auch einhalten. Dazu der Versuch, andere Menschen zu verstehen und zu respektieren. Im Fall eines Konfliktes ist es wichtig zu helfen, und auch dazu gibt es in diesem Buch einige Anregungen, die den jungen Leser:innen helfen können die eigene Ohnmacht zu überwinden. Dies hier so einfach aufzuschreiben, kommt mir fast unwirklich vor, weil es im Grunde so simpel ist – und doch von gewissen Machthabern nicht befolgt wird.

Die machtgierigen Männer

Wie es dazu kommt, dass Männer machtgierig werden, zeigte David McKee bereits 2014 in seinem Buch Sechs Männer. Diese Parabel heute zu lesen, lässt einen quasi erschaudern: Es wirkt wie die Blaupause zu Putins Verhalten.
Es beginnt harmlos mit sechs Männern, die einen friedlichen Ort zum Leben und Arbeiten suchen. Dort werden sie Baumeister und Bauern – und reich. Mit dem Reichtum kommen die Sorgen, weil sie ihr Gut schützen und behalten wollen. Die Männer stellen sechs Wachen an, vorsorglich. Doch die Wachen haben nichts zu tun. Die Herrscher wollen ihr Geld aber nicht umsonst ausgegeben haben. Also werden die Soldaten losgeschickt, andere Bauern zu überfallen und deren Land zu rauben.
Die Spirale der Gewalt kommt in Gang: mehr Soldaten werden gebraucht. Die Bauern auf der anderen Seite des Flusses bekommen Angst, rüsten ebenfalls auf. Ein dummer Zufall löst den Krieg aus … Die einfachen Strichzeichnungen von McKee treffen so ins Mark, dass ich diese wenigen Seiten eigentlich nur ungläubig anschauen kann. Hier ist die gesamte Absurdität des Krieges drin: Die Soldaten der kämpfenden Parteien sind nicht mehr auseinanderzuhalten und am Ende herrscht nur der Tod. Krieg ist keine Option. Niemals. Das begreifen mit dieser Lektüre bereits Kinder.

Give Peace a chance

Das Plädoyer für den Frieden kommt von Baptiste & Miranda Paul, zusammen mit den farbenfrohen Illustrationen von Esteli Meza. Kinder sind hier auf jeder Seite mit Tieren zusammen, seien es Elefanten, Füchse, Koalas, Pandas, Pferde oder Löwen. In kurzen, oftmals gereimten Zeilen beschwören die Pauls die Schönheit des Friedens, das Wohlgefühl, das Zuhause sein und die Sicherheit herauf, die der Frieden uns gibt. Mit wenigen Sätzen erklären sie, wie wichtig es ist, die eigenen Freunde wirklich anzusehen, ihre Namen zu kennen und gemeinsam etwas Mutiges zu tun. Das Geben wird über das Nehmen gestellt und viele kleine Fische können den spitzzähnigen Hai besiegen. Im Frieden werden auch die Kleinsten gehört und der Satz »Es tut mir leid« schafft Versöhnung und echten Frieden.

Frieden ist ein hoffnungsfrohes Buch, das die Tiere mit im Blick hat, denn auch sie leiden in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die warmen Farben der Bilder, die Kinder aus allen Nationen, die mit den Tieren kuscheln und am Ende um das Lagerfeuer sitzen und einer Vorleserin lauschen – all dies ist so tröstlich und erstrebenswert. Es gibt keine andere Option als Frieden.

Das blau-gelbe Bild mit der Taube vom Anfang dieses Posts stammt aus dem Buch der Pauls – und die Farbwahl sehen wir heute natürlich mit ganz anderen Augen. Es dürfte einer dieser seltsamen Zufälle sein, die dieses Leben auch immer wieder so erstaunlich macht.

Die drei Bücher werden momentan nachgedruckt. Louise Spilsbury ist ab 7. April wieder zu haben.

Baptiste Paul & Miranda Paul: Frieden, Illustration Esteli Meza, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2021, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Louise Spilsbury: Wie ist es, wenn es Krieg gibt?, Illustration: Hanane Kai, Übersetzung: Jonas Bedford-Strom, Gabriel Verlag, 2022, 32 Seiten, ab 5, 10 Euro

David McKee: Sechs Männer, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2014, 48 Seiten, ab 5, 13,99 Euro