Ein Mädchen am Scheideweg

AdaAngela Mohr setzt im Jugendbuch Themen: Zivilcourage angesichts rechter Gewalt ist in ihrem Roman Wach auf, wenn du dich traust gefragt. Das geschenkte Leben mit einem neuen Herzen und der Gewissheit, dass jemand anderes starb, berührt schmerzlich in Vergiss nicht, dass du tot bist.

ADA. Im Anfang war die Finsternis heißt ihr drittes Jugendbuch, ein Roman, in dem das eigene Schicksal eine Rolle spielt. Denn ADA erzählt vom Leben in einer sektenähnlichen Gemeinschaft; Angela Mohr ist selbst eine Aussteigerin und weiß also ganz genau, wovon sie spricht.

Ada lebt mit ihren Eltern und Geschwistern im Nirgendwo. »Im Dorf«, umgeben von undurchdringlichem Wald. Die Männer, Frauen und Kinder versorgen sich selbst. Sie bauen Gemüse an, halten Tiere, hüten den einzigen Brunnen, denn sein Wasser ist lebensnotwendig. Im Versammlungshaus trifft sich der Ältestenrat, überhaupt herrscht Hierarchie, ein jeder ist an seinem festen Platz. Männer sind das traditionelle Oberhaupt der Familie. Und es wird noch verheiratet: So wartet auf Ada der junge Hoffnungsträger des Rates, Simon. Gefühle werden nur in der Familie gezeigt, Sittsamkeit, Gehorsam, die Verantwortung für die Gemeinschaft und die Heilige Schrift bestimmen das Leben jedes Einzelnen.

Doch Adas Familie ist ungewöhnlich, sie leidet. Ihre Mutter ist krank, der ältere Bruder Kassian tot. Ada muss stark sein und hält die Familie emotional zusammen. Sie glaubt an die Werte, die ihr von Kindheit an vermittelt wurden.

Und doch: Zweifel kommen auf, als sie eines Tages erfährt, dass Kassian noch lebt. Luca und seine Mutter sind neu ins Dorf gekommen. Luca zeichnet, und unter seinen Skizzen findet sich ein Porträt Kassians. Wie kann das sein? Bohrende Fragen lassen Ada nicht mehr zur Ruhe kommen, aus der folgsamen jungen Frau wird eine Rebellin, die sich auch von Strafandrohungen nicht mundtot machen lässt. Als der Ältestenrat beschließt, sie in eine unterirdische Einzelzelle zu sperren, wächst Adas beste Freundin über sich hinaus und hilft Luca, die Gefangene zu befreien.

Der Weg durch den verbotenen Wald und der Eintritt in »die Welt da draußen«, die als reine Teufelei und Hölle für jeden verdammt wurde, verlangt unglaublichen Mut. Ada überwindet alle Scheu, denn ihre Trauer und ihre Zweifel sind größer. Sie kennt weder Autos noch Züge, keinen Bus, kein Telefon oder Handy, kein Internet. Die Architektur der Stadt ist ihr fremd, die vielen Menschen, die Hektik. Gleichzeitig nimmt sie die Ordnung im Chaos wahr, dazu die Schönheit und die Zwischenmenschlichkeit, denn eine unbekannte Frau hilft ihr, den Ort zu finden, an dem Kassian gesehen wurde.
Es beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Die Ältesten beschatten Abtrünnige wie Adas Bruder. Luca gerät in ihre Fänge, und ein junges Mädchen gibt Geheimnisse preis, die das Leben anderer gefährden.

Adas arrangiertes Leben ist plötzlich auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr wahr, der Boden, auf dem sie sich bewegt, schwankt. Verrat und Lüge erschüttern ihren Glauben und ihr Vertrauen. Doch da ist Luca, da ist Kassian, da ist ihr Wille, die Finsternis hinter sich zu lassen. Um frei zu sein.

Eindringlich erzählt Angela Mohr die Geschichte von Menschen am Scheideweg, an dem nicht nur Ada steht. Die Verführung durch andere, die Hoffnung auf ein ruhiges, sicheres Dasein machen, verfängt bei denjenigen, die sich nach Frieden sehnen und vielleicht zu schwach sind, sich selbst zu wehren. Aber auch bei Menschen, die, von Neugierde und Abenteuerlust durchdrungen, ein wenig leichtfertig sind oder sich unverstanden fühlen und deshalb anderen auf den Leim gehen. Solchen, die psychologisch geschult sind und mit Worten und Taten faszinieren können.

ADA ist ein Roman, der nach der letzten Seite nicht zu Ende ist. Denn er stellt existenzielle Fragen, auf die wir keine schnellen Antworten finden.
Fragen, die uns bewegen, über die wir nachdenken und reden wollen!
Ein Roman, der zu Recht für den Buxtehuder Bulle 2016 nominiert wurde.

Angela Mohr: ADA. Im Anfang war die Finsternis, Arena Verlag, 2015, 360 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Kinderland ist abgebrannt …

mawilAm kommenden Wochenende nun jährt sich der Mauerfall. Zum 25. Mal. Wie in den vergangenen Jahren auch versuche ich mich dann immer zu erinnern, wo ich am 9. November 1989 war. Aber da ist nur ein Loch in meinem Hirn. Dieses Jahr werde ich in Barcelona weilen, während in Berlin der ehemalige Mauerstreifen illuminiert wird. Man kann eben nicht alles haben. Leider. In all dem Erinnerungsmarathon ist mir jedoch etwas ganz Feines in die Hände gefallen: Kinderland von Mavil.

Das Sandmännchen und Pittiplatsch im ersten Panel weisen den Weg: in eine Kindheit in der DDR. Drei Panels weiter steht eine blau-weiße Schlumpffigur im Setzkasten – und schon ist man als Leser im widersprüchlichen Kosmos von Mawils Graphic Novel gefangen. Darin erzählt er die Geschichte von Mirco Watzke, 13 Jahre.
Der Junge geht in die siebte Klasse, in einer Schule in Ostberlin, im Sommer 1989. Er ist ein guter Schüler, der nur zu spät kommt, wenn der Bus mal ausnahmsweise eine Umleitung fahren muss. Er ist Mitglied bei den Jungen Pionieren, sportlich unbegabt, sammelt Briefmarken und ist Messdiener in der Kirche, also eher von der unauffälligen Sorte, Typ Außenseiter. Das ändert sich, als in der Parallelklasse Torsten auftaucht. Der ist laut, selbstbewusst und kein Pionier. Das Tischtennis bringt die beiden Jungs zusammen. Gemeinsam wollen sie ein Turnier organisieren, aus Anlass des Geburtstages ihrer Pionier-Organisation. Was nicht auf die Begeisterung der Lehrerin stößt.

In diesem Sommer, zwischen Nacktbaden am See, lästiger Klassenfahrt mit fiesen Streichen, Morgenlatte und ersten hormonellen Verwirrungen beim Anblick von Mädchen, dringen nach und nach die Veränderungen, die im Land vor sich gehen, in Mircos Bewusstsein. Torstens Vater ist in den Westen abgehauen, weshalb der Junge nie im Leben dorthin will. Mircos Eltern unterhalten sich über die Fluchtversuche von Freunden, was der Junge vom Flur aus belauscht. Erst fehlt eine Mitschülerin in der Schule, später sogar eine Lehrerin. Mirco nimmt es wahr, ahnt aber nichts von der Gefahr, die hinter allem immer lauert. Das macht ihm erst Torsten klar, der sich nicht einreiht und sich vor allem nicht einschüchtern lässt. Inmitten all des schleichenden Wandels ist für Mirco jedoch immer noch das Tischtennis das Wichtigste.

In der Mitte der Graphic Novel kommt es daher zu einem spektakulären Tischtennis-Match, bei dem Mirco und Torsten gegen zwei große FDJler antreten. Wenn es vor Jahren hieß, der Film The Big Lebowski habe das Bowlen in all seiner Faszination und Schönheit in Bilder gegossen, so kann man heute sagen, dass Kinderland eine Hymne auf das Tischtennis zeichnet, komponiert, darbietet. Rasant, dynamisch und mit Schmackes saust der Pingpong-Ball von einem Panel zum nächsten, durchbricht die Begrenzungen, überspringt die Seiten, lässt sich vom Regen nicht aufhalten. Einfach großartig!
Natürlich kann man hier auch ganz wunderbar interpretatorischen Tiefsinn hineindenken – Außenseiter und Unangepasster gegen den untergehenden Staat. Der vermutlich schönste Abgesang auf die DDR und die ungewöhnlichste Hommage an den Mut der Menschen, sich aufzulehnen.
Aber auch wenn nicht, Kinderland ist ein Spaß für die Leser, selbst wenn es für Mirco und Torsten kein Spaß mehr ist. Das liegt auch an den kleinen Details die Mawil immer wieder einbaut, sei es der CCCP-Satellit, das Gorbi-Foto in der Zeitung, eine Figur namens Angela Werkel oder Mircos subversives „Amen“ statt „Immer bereit“. Der genaue Blick lohnt hier alle Mal.

Mircos Kindheit zwischen Pittiplatsch, Schlümpfen, Winnetou-West-Filmen und Depeche-Mode-Klassenfahrt-Disco-Abenden endet am 10. November 1989. Politisch wie privat sehr dramatisch. Für den Leser geht das Nachdenken  weiter. Und das Erinnern, an die Zeit vor 25 Jahren, als das Kinderland vieler verschwand und etwas anderes einkehrte …

Mawil: Kinderland, Reprodukt, 2014, 280 Seiten, 29 Euro – ausgezeichnet mit dem „Max und Moritz“-Pries Internationalen Comic-Salons Erlangen als „Bester deutschsprachiger Comic“ 2014.

Das Ende des Buches

scanner rob m. Sonntag„Findest du das Buch gut?“ Mit dieser Frage hatte wohl keiner gerechnet. Gestellt hat sie ein etwa 10-jähriger Junge bei der Lesung von Robert M. Sonntag an diesem Donnerstagabend im März 2013 auf dem Campus Rütli in Berlin. Der Autor, der vor Schülerpublikum aus seinem Roman Die Scanner liest, zögert kurz, dann erzählt er offen, dass, ja, er das Buch jetzt wieder gut findet. Vor drei Jahren hat er im Indien-Urlaub angefangen an dieser brandaktuellen Dystopie zu schreiben. Zwischendrin, bei all dem Überarbeiten, hatte er auch mal keine Lust mehr auf das Buch, etwas, was wohl jedem Autor während des Schreibens passiert. Doch nun sei genug Zeit vergangen – und „Bücher brauchen Zeit“, so Sonntag – dass er wieder richtig Lust hat, daraus vorzulesen.

Robert M. Sonntag liest von einer fremden Welt in einer gar nicht so ferner Zukunft, dem Jahr 2035, und doch ist vieles dort so, wie man es nicht haben möchte. Das Leben findet fast ausschließlich im digitalen Ultranetz statt. Die Menschen kommunizieren über die so genannte Mobril, eine Datenbrille, die alles aufzeichnet und sofort an die angeschlossenen Freunde verschickt. Unbeobachtet ist man nur noch auf den Toiletten. Finanziert wird das Ultranetz und die Accounts der Nutzer über omnipräsente Werbung. Die Nutzer werden regelmäßig abgefragt und bei falschen Antworten verwarnt. Die Natur ist in einer großen Vergnügungshalle aus Plastik nachgebaut und das Essen besteht nur noch aus einer einförmiger Masse, die mit künstlichen Aromen angereichert wird. Dafür macht die Alltagsdroge Nador angeblich „satt und glücklich“, im Grunde jedoch willenlos und träge. Die Stadt ist in Zonen eingeteilt, A für die vermögenden Leistungsträger, C für Rentner, Kranke und Außenseiter.

In dieser Welt lebt der 25-jährige Ich-Erzähler Rob und verdient sein Geld mit Scannen. Er arbeitet für die Scan-AG und ist mit seinem Freund Jojo ständig auf der Jagd nach bedruckten Papier. Denn die Scan-AG scannt alle Bücher und stellt sie im Ultranetz zur Verfügung. Propagiert wird das Ganze mit dem Slogan „Alles Wissen für alle! Jederzeit! Kostenlos!“ Zu diesem Zweck kaufen die Scanner den Menschen ihre letzten Bücher für viel Geld ab. Rob denkt sich nichts dabei. Er kennt es nicht anders, er ist mit dem Ultranetz groß geworden.

Eines Tages jedoch trifft er auf Mitglieder der Büchergilde, ehemalige Buchhändler, Autoren, Buchagenten, Übersetzer, die ihre Leidenschaft für Bücher nicht kampflos aufgeben wollen. Auf den Chef der Büchergilde ist ein enormes Kopfgeld ausgesetzt, und Rob will sich das nicht entgehen lassen. Als ein E-Bombenanschlag die elektronischen Geräte zerstört, wird zunächst die Büchergilde verdächtigt. Ultranetz verspricht großzügigen Ersatz von Mobrils, mit deren neuer Generation man sogar per Augenbewegung bezahlen kann. Die Überwachung nimmt weiter zu. Die Gildenmitglieder überzeugen ihn schließlich, dass Ultranetz selbst sein eigenes System sabotiert, um im Endeffekt noch mehr Kontrolle und Macht auszuüben.
Dann sterben kurz hinter einander Robs Gruppenleiter Nomos bei der Scan AG und Jojo. Rob hat Nomos am Abend vorher zufällig auf der Toilette belauscht. Nomos wollte aus der Scan AG aussteigen, am nächsten Tag stirbt er bei einem Unfall. Jojo hingegen nimmt sich das Leben, weil seine Freundin Melli, mit der er über das Ultranetz eine Fernbeziehung führt, ihn angeblich betrogen hat und ein Film davon im Netz kursiert. In Rob steigen Zweifel an dem ganzen System auf. Während er zur Büchergilde zurückkehrt, wird Rob von Ultranetz zum Top-Terroristen erklärt und muss untertauchen. Da explodiert die nächste E-Bombe und zerstört die kompletten Datenspeicher …

Die jungen Zuhörer des Campus Rütli lassen sich von den komplizierten Zuständen und technischen Gimmicks der Zukunftswelt nicht schrecken und fragen nach – woher die Idee zu der Dystopie stammt, welche Vorbilder es für die C-Zone gab, warum die Menschen in dieser Welt Glatzen tragen. Der Autor antwortet ausführlich, über die Lust an einem eigenen Zukunftsentwurf, indische Slums und eine „glatzig-gute Welt“, in der aber gleichzeitig auch seine Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus steckt. Er erzählt von dem Erschrecken, als die eigene Vision einer Datenbrille tatsächlich von Google umgesetzt wird, und dass er immer noch lieber reale Bücher liest und keine E-Books.  So weckt er die Neugierde auf ein Buch, dessen ganze kulturpolitische Dimension den jungen Zuhörern in diesem Moment wahrscheinlich nicht bewusst sein dürfte.

Denn Robert M. Sonntag, ein Pseudonym von Nahostexperte Martin Schäuble, legt hier eine überaus düstere und gleichzeitig faszinierende Zukunftsvision vor. Das Ende des Buches. Dabei spielt er ganz bewusst mit Anklängen und Verweisen auf Ray Bradburys Fahrenheit 451, wo sich Guy Montag vom Büchervernichter zum Dissidenten entwickelt. Bradburys Roman ist vor genau 60 Jahren erschienen – und hat mit Die Scanner einen würdigen Nachfolger gefunden, der den aktuellen Gegebenheiten Rechnung trägt. Sonntag denkt konsequent das zu Ende, was wir momentan immer wieder erleben: Die Umsonstkultur des Internets ist einer der Gründe für das Verschwinden von Printprodukten. Sicher sind die Zusammenhänge heute extrem komplex und lassen sich  nicht einfach in Gut und Böse kategorisieren. Doch wird immer deutlicher, dass ein Umdenken stattfinden muss, und zwar hin zu einer Wertschätzung von Urhebern und Machern von Gedrucktem. Diese Wertschätzung darf jedoch nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss sich in angemessenen Honoraren, Beteiligungen und so genanntem Payed Content spiegeln. Denn nur so können auch in Zukunft qualitativ hochwertige Geschichten, Reportagen, unabhängig investigative Texte entstehen.

Was passieren könnte, wenn wir heute, jetzt, in diesen Tagen die Kurve nicht mehr kriegen und den großen Internetkonzernen dieser Welt das Netz und die Schriftkultur überlassen, zeigt Sonntag eindrücklich und in Form eines Pageturners allererster Güte. Bleibt zu wünschen, dass diese Geschichte das Bewusstsein der Leser für gut gemachte Bücher und die Gefahren durch die Gratis-Unkultur weiter schärft.

Von all dem ahnen die Rütli-Schüler vermutlich noch nichts, aber dieser Abend zeigt ganz klar, dass sie das Buch gut finden. Bei der abschließenden Verlosung von drei Exemplaren reißen sie begeistert die Arme in die Höhe. Die Gewinner können sich über eine coole, spannende Geschichte freuen, die sie vielleicht zu treuen Bücherlesern macht und ihnen einen Hauch von Kritik gegenüber dem Internet vermittelt.

Robert M. Sonntag: Die Scanner, Fischer Verlag, 2013, 180 Seiten, 12,99 Euro

Verratene Kindheit

Gerade habe ich ein „Kinderbuch“ der anderen Art zu Ende gelesen und bin noch ganz berührt. Das Sachbuch Stasi-Kinder von Ruth Hoffmann befasst sich mit einem der dunklen Kapitel der DDR-Geschichte.

23 Jahre nach dem Fall der Mauer hat die Autorin die Familiengeschichten von 13 Menschen aufgezeichnet, deren Eltern hauptamtlich bei der Stasi tätig waren. Was sich im ersten Moment vielleicht völlig unspektakulär anhört, entpuppt sich beim Lesen als reinster psychologischer Horror. Denn die Zugehörigkeit der Väter zum Überwachungsapparat der Deutschen Demokratischen Republik wirkte sich auch unmittelbar auf das Klima in den Familien aus. Gehorsam war oberste Pflicht, systemkonformes Benehmen eine Grundvoraussetzung. Kritik an den bestehenden Verhältnissen durfte auf gar keinen Fall geübt und unbequeme Fragen schon gar nicht gestellt werden. Taten die Kinder und Heranwachsenden dann doch, was in ihrem Alter nur natürlich ist und zu einer selbstbewussten Entwicklung gehört – also kritisch hinterfragen, sich auflehnen, den eigenen Weg suchen – konnte es sein, dass die Väter ihren Dienstherren davon berichteten und Sohn und Tochter verrieten. Was sich heute ungeheuerlich anhört, war bei den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit anscheinend üblich, hatten sie sich doch eidesstattlich zu absoluter Treue verpflichtet. Die leidtragenden waren zumeist die Kinder, die sich nicht gegen das wehren konnten, was nicht zu durchblicken und zu verstehen war. Und die im schlimmsten Fall ins Gefängnis gesteckt wurden.

Die Geschichten von Frank, Vera, Pierre, Edina oder Martin gehen ans Herz, lösen Unbehagen und gleichzeitig ein immenses Mitgefühl aus. Denn die heute Erwachsenen kämpfen zum Teil immer noch mit den Folgen dieser überwachten und schockierenden Kindheit. Manche konnten Vergangenes aufarbeiten, die Eltern befragen, sich im besten Fall mit ihnen aussöhnen, anderen ist dieser Trost verwehrt geblieben, sei es, weil die Eltern sich von den Kindern losgesagt haben, weil sie beharrlich schweigen oder weil sie verstorben sind, bevor es zur klärenden Aussprache kommen konnte.

Ruth Hoffmann gelingt es fabelhaft die Gefühlslagen der Kinder in den 70er und 80er Jahren in Worte zu fassen. Der Leser spürt förmlich am eigenen Leib die Eiseskälte, die Härte und das Misstrauen, die in diesen Familien geherrscht haben. Gleichzeitig schafft die Autorin so plastische Bilder, dass auch die Orte, hauptsächlich die trostlosen grauen Plattenbau-Viertel Ost-Berlins, vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar werden, in denen aber Häkeldeckchen Heimeligkeit verbreiten und die man auf einem knallroten Dreirad ziemlich gut erkunden kann. So fern die DDR mittlerweile ist, so gegenwärtig ersteht sie auf diesen Seiten wieder auf.

Die Berichte der Kinder wechseln mit Exkursen, in denen die Autorin die Struktur des MfS, das Selbstverständnis der Mitarbeiter, die Disziplin und das Funktionieren dieses Überwachungsungetüm umreißt und erklärt. So fügen sich die Texte zu einer Facette eines Psychogramms zusammen, dem Psychogramm eines ganzen Staates. Manches des untergegangenen sozialistischen Staates versteht man als Westdeutscher nach der Lektüre besser, anderes bleibt einfach nur unfassbar.

Der Aufarbeitung der DDR-Geschichte fügt die Hamburger Journalistin mit ihrem bewegenden Buch ein wichtiges Puzzleteil hinzu, in dem die schwächsten Bürger der DDR endlich ein Forum bekommen und gehört werden. Man kann nur hoffen und wünschen, dass weitere Stasi-Kinder dadurch den Mut finden, sich zu öffnen und zu erzählen – damit weder sie noch ihre Familien und Kinder weiter an Unausgesprochenem leiden müssen.

Ruth Hoffmann: Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat, Propyläen, 2012, 317 Seiten, 19,99 Euro