Extrem gefährlich

Ponger

Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.«
So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?

Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen

Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«

Was die Menschen so umtreibt

Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten.
Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist.
Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.

Bilder, die zu Orten entstehen

Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort.
Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten

Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick

Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt:
»Erinnern sie sich an ihre Kindheit?«
»Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?«
»Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?«
»Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.«
»Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«

Erwachsene sind kein bisschen schlauer

Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert.
Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.

Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14

Trümmerkinder

heul doch

Hamburg im Juni 1945. Der Krieg ist seit gut sechs Wochen zu Ende, als sich im neuen Roman von Kirsten Boie – Heul doch nicht, du lebst ja noch – die Wege von Jakob, Hermann und Traute kreuzen. Die drei Jugendlichen haben auf unterschiedliche Art unter den Folgen des Weltkrieges und der langjährigen Nazi-Diktatur zu leiden.

Hermann, der ehemalige HJ-Junge, muss zu Hause seinen kriegsversehrten Vater auf die Toilette im Treppenhaus schleppen. Im Krieg hat dieser beide Beine verloren und ist zutiefst verbittert. Hermann, der immer noch im braunen Hemd der Jugendorganisation herumläuft (ohne die Armbinde allerdings), fühlt sich samt seiner nationalsozialistischen Glaubenssätze verraten. Er verachtet die britischen Soldaten, die nun in der Stadt das Sagen haben.

Traute hingegen vermisst ihre Freundinnen, die beim Feuersturm 1943 ums Leben gekommen sind. Sie möchte so gern wieder mit anderen Kindern spielen. Dafür klaut sie ein wertvolles Brot aus der Backstube des Vaters. Das bleibt natürlich nicht unbemerkt, aber zunächst wird die ostpreußische Flüchtlingsfamilie beschuldigt, die in der Wohnung von Trautes Familie einquartiert ist. Das Zusammenleben mit sieben Personen auf engstem Raum gestaltet sich schwierig.

Jakob wiederum ist ein halbjüdischer Junge, dessen Mutter kurz vor Ende des Krieges doch noch nach Theresienstadt deportiert wurde. Der Vater, der als „jüdischversippt“ galt, musste in der Organisation Todt Zwangsarbeit leisten und kam dabei ums Leben. Jakob versteckt sich in den Ruinen und wird von einem ehemaligen Nachbarn mit Lebensmittel versorgt. Als der jedoch eines Tages nicht mehr kommt, muss der Junge sein Versteck verlassen. Er denkt, dass immer noch Krieg herrscht …

Drei Erzählperspektiven, drei Lebenseinstellungen

Im zeitlichen Rahmen von einer Woche schildert Boie das Leben in der zerbombten Hansestadt. Dies konsequent aus der Sicht der drei Jugendlichen, deren personale Erzählstränge sich beständig abwechseln. So kann Boie in die unterschiedlichen, ja konträren Gedankenwelten der Protagonisten quasi hineinkriechen. Hermann ist immer noch überzeugter Anhänger der Nazis, denkt in in deren Vokabular, hegt weiter die Vorurteile gegenüber Juden, verachtet die Besatzer, glaubt an Feindpropaganda und dass das deutsche Volk betrogen wurde.
Traute zeigt zunächst wenig Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Ostpreußen, mag deren Dialekt nicht. Sie kann und will vielleicht nicht nachvollziehen, was diese Menschen durchgemacht haben.
Jakob vermittelt den Lesenden die Ängste der Verfolgten. In seinem Versteck denkt er immer wieder an seine jüdische Mutter und was sie im Laufe der vergangenen Jahre alles nicht mehr durfte (z. B. Straßenbahn fahren, auf einer Bank sitzen). Ihre Kennkarte (der damalige Personalausweis) wurde mit einem J und dem Namen „Sara“ versehen, so dass sie für alle als Jüdin erkennbar war. Dass Jakob in seinem Versteck lange nicht weiß, dass der Krieg vorbei ist, wird über weite Strecken des Lesens zu einem spannend-irritierenden Rätsel – das natürlich am Ende aufgelöst wird.

Zertrümmerte Seelen, zertrümmerte Sprache

Kirsten Boie schafft es mit diesen drei Protagonist:innen, zu denen sich noch die Kinder Max und Adolf gesellen, ein kondensiertes Bild der deutschen Gesellschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zeichnen. Die Stadt liegt in Trümmern, und genauso sind die Seelen der Jugendlichen zertrümmert, was sich dann in elliptischen Sätzen sogar in einer zertrümmerten Sprache offenbart. Gleichzeitig sind die Überzeugungen, die zwölf Jahre das Land beherrscht haben noch da.
Das Zusammentreffen von Hermann und Jakob offenbart dann die verschobenen Sichtweisen der Nazis, die sich als Opfer der Alliierten generierten, obwohl sie den Krieg angezettelt haben. Jakobs stille Verwunderung über Hermanns seltsame Wut verdeutlicht eine Dramatik, mit der nicht nur die Jugendlichen im Roman zu kämpfen haben, sondern die deutsche Gesellschaft insgesamt, und das jahrelang: »In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.«

Es gab keine Stunde Null

Wenn im Geschichtsunterricht gelehrt wird, dass der Krieg mit der Kapitulation im Mai 1945 zu Ende war, so könnte man meinen, dass damit alles davor ausgelöscht war und die Menschen sofort bekehrt waren. Dass es aber diese Stunde Null, von der in Bezug auf die ersten Jahre nach dem Krieg immer gesprochen wird, nicht gab, sagte bereits Richard von Weizsäcker 1985 und sprach von einem »Neubeginn«. Das auch dieser Neubeginn nicht von einem Tag auf den nächsten startete, illustriert Kirsten Boie in ihrem Buch überaus anschaulich. Es ist der Kampf ums tägliche Überleben, das Organisieren von Lebensmitteln auf dem Schwarzmarkt, der Suche nach besser bezahlter Arbeit, der Suche nach Angehörigen, der Hoffnung auf ein Wiedersehen, der Hoffnung auf einen Neuanfang in einem anderen Land vielleicht. Lang geschürte Überzeugungen werden nicht einfach von heute auf morgen über Bord geworfen, das schwingt in dieser Geschichte mit. Viele dieser Überzeugungen sind leider auch heute noch vorhanden und bekommen wieder vermehrt Zulauf – was es zu verhindern gilt.
Kirsten Boies Heul doch nicht, du lebst ja noch liefert jungen Lesenden viel Material zum Nachdenken und Einfühlen in eine Zeit, in der die heutigen Großeltern Kind waren. Es ist jedoch kein schwarz-weißes Material, sondern vielmehr eine facettenreiche Darstellung einer Gesellschaft nach der Katastrophe, die so nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Städten Deutschlands zu finden war. Vielleicht ermutigt dieses Buch die Lesenden, ihre eigenen Großeltern nach deren Kindheit und Erlebnissen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu fragen – denn die Traumata aus Krieg und Verfolgung leben in uns ja bekanntermaßen weiter.

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch, Oetinger, 2022, 176 Seiten, ab 14, 14 Euro

Hummel, Hummel – Mors, Mors

Sbuchholzimone Buchholz wird vielen von euch vermutlich als Krimi-Autorin bekannt sein. Nun hat sie ihr erstes Kinderbuch vorgelegt – ich als Hamburgerin, die eher selten Krimis liest, war nun doch neugierig.

In Johnny und die Pommesbande erzählt Buchholz von der Clique um den 12-jährigen Johnny, der bei seinem Opa, einem alten Seebären, in einer Hafenstadt aufwächst.
Johnny ist mit seinen Kumpels, Ella, der Seiltänzerin, Sue und Buxe, den Zwillingen, Carlos, seinem besten Freund, und Tomek, dem Hafentroll, der auf einem alten Kahn wohnt, täglich an der Waterkant unterwegs. Sie haben eine clevere Masche entwickelt, um ihr Taschengeld aufzubessern. Ahnungslosen Touristen, die von Hafen und Kiez so dermaßen beeindruckt sind, dass sie kaum noch klar denken können, bieten die Kids an, die Sache mit der Kurtaxe für sie zu übernehmen. Ein einträgliches, wen auch nicht ganz legales Geschäft. Aber wie es im Leben so geht, reicht irgendwann das eigene Revier nicht mehr aus und die Kids streben nach Expansion.

So trauen sich Johnny und seine Freunde nach eingehender Diskussion auf die Meile. Dort ist alles bunt, schrill und voller Blingbling – und es gibt noch mehr Touristen, die den Mund vor Staunen nicht mehr zubekommen. Das Geschäft läuft.
Bis die Helden auf eine picklige Bande voller Halbstarker treffen, die es gar nicht gern sieht, wenn jemand in ihrem Revier wildert. Der Stress ist programmiert, und eines Tages verwüsten die Pickel-Brüder den Kiosk von Ellas Eltern und drohen, Schlimmeres anzurichten …

In herrlich schnoddriger Art lässt Buchholz Johnny von den Abenteuern der Clique berichten. Die Namen Hamburg, St. Pauli oder Reeperbahn fallen dabei nicht einmal. Doch jeder Hamburger hat sofort die entsprechenden Straßen und Viertel vor Augen – und freut sich. Alle Nicht-Hamburger bekommen ein cooles Gespür für die Hafenstadt vermittelt.

In Sachen Freundschaft und Gemeinschaftsgefühl finden junge Leser_innen hier großartige Vorbilder, bei denen jede_r seine/ihre Eigenarten hat, die allseits akzeptiert werden. Zusammen bilden die Kids so etwas wie eine Familie, in der die Erwachsenen nur am Rande eine Rolle spielen. Hier macht ihnen niemand Vorwürfe, sondern die Bande merkt selbst sehr schnell, was okay und was nicht gut ist. Auch verurteilt niemand ihre Kurtaxen-Abzocker-Nummer, was völlig in Ordnung ist – denn wenn Touristen zu dusselig sind, den Trick zu durchschauen, müssen sie eben bluten.

So entwickelt sich Buchholz‘ Geschichte zu einem spannenden, unkonventionellen Lesespaß ohne Moralkeule – und man wünscht sich, dass die Kinder auch im echten Leben immer noch solche Banden bilden und draußen auf der Straße echte Abenteuer erleben, und nicht nur vor Bildschirmen hängen oder von Helikoptereltern in abgezäumten Spielwiesen gehalten werden. Bei erwachsenen Leser_innen mag diese Geschichte einen Hauch von Nostalgie hinterlassen, die jungen mögen nach der Lektüre hoffentlich hinaus auf die Straße wollen und ihren Kiez erkunden. Und in ihrer restlichen Freizeit vielleicht mehr von solch unterhaltsamen Büchern lesen!

Simone Buchholz: Johnny und die Pommesbande, Illustration: Horst Klein, Dressler Verlag, 2018, 160 Seiten, ab 10, 12 Euro

Frühjahrslesetage in Hamburg

lutherIn Hamburg gibt es ja so einige Lesefeste, das Harbour Front Literaturfestival, die Lange Nacht der Literatur und Lesefeste der Seiteneinsteiger, allesamt im Herbst. Nun versucht Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, ein neues Leseevent im Frühjahr zu platzieren. Vom 20. bis 26. April 2017 finden die „High Voltage“-Lesetage zum ersten Mal an verschiedenen Orten in der Hansestadt. Zwölf Veranstaltungen soll es insgesamt geben, unterstützt vom Stromnetz Hamburg.

Letzteres erinnert natürlich an die Vattenfall Lesetage, die nach heftiger Kritik wegen Greenwashing und Markenbranding 2013 zum letzten Mal stattfanden. Bereits 2011 gab es die 1. Anti-Vattenfall-Lesung, aus ihr entstanden die Lesetage „Lesen ohne Atomstrom“, die gerade zum 7. Mal stattgefunden haben – allerdings ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit (an mir sind sie komplett vorbei gegangen…). Das lag vielleicht daran, dass nur sieben Lesungen stattfanden, die keine Kinder- und Jugendliteratur beinhalteten.

Anders sieht es bei den High Voltage Lesetagen aus. Die zwölf Veranstaltungen sind zu gleichen Teilen Kinderbüchern und Erwachsenenlektüre gewidmet. Eine ganz wunderbare Aufteilung, wie ich finde. So lesen immer vormittags Maja Nielsen, Ute Wegmann, Joachim Hecker, Uticha Marmon, Arne Rautenberg und Jan von Holleben für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Abends kann man Jostein Gaarder, Clemens Meyer, Sarah Bakewell, Zsuzsa Bánk oder Eva Menasse lauschen.

Zwei Bücher aus dieser kleinen, aber feinen Kinderbuch-Auswahl haben es mir angetan – und wenn ich nicht anderweitig vergeben wäre, würde ich zu den beiden Lesungen gehen. Passend zum Lutherjahr darf der Reformator natürlich nicht fehlen. Maja Nielsen hat ihm in ihrer Reihe „Abenteuer! Maja Nielsen erzählt“ einen Band gewidmet. Sie schildert das Leben von Luther in klar verständlichen Sätzen, erzählt von dem Leben vor 500 Jahren und macht die Zweifel und Ängste Luthers anschaulich, die ihn schließlich dazu brachten, sich gegen die katholische Kirche aufzulehnen. Margot Käßmann, Lutherbotschafterin 2017, liefert in kurzen Statements die heutige Sicht der Evangelischen Kirche zu ihrem Gründungsvater. Auch dies macht ganz gut deutlich, wie sehr eine Kirche und der Glauben auch in heutiger Zeit immer im Wandel sind.
Fotos von Luthers Wirkungsorten, Illustrationen von Anne Bernhardi und die Abbildungen von vielen Gemälden und Stichen zeigen Luther auf vielfältige Art, so dass sich schon für junge Lesende ein differenziertes Bild des Reformators ergibt.

wegmannEinen Tag nach Maja Nielsen liest Ute Wegmann aus ihrem Kinderbuch Dunkelgrün wie das Meer, das mir vergangenes Jahr leider durch die Lappen gegangen ist. Mit umso mehr Freude habe ich die zarte Geschichte von Linn jetzt gelesen.
Die Sommerferien stehen vor der Tür. Linn fährt wie jedes Jahr mit den Eltern nach Holland in ein Schiffshaus am Meer. Doch dieses Mal ist es nicht so schön wie sonst. Papa muss noch mal zurück in die Stadt, wegen der Arbeit. Mama ist sauer. Und auch Linns Ferienfreundin Smilla will dieses Mal gar nichts von ihr wissen.

Linn erkennt, dass auch in den Ferien nicht immer alles schön und unbeschwert ist. Manche Probleme von zu Hause verfolgen einen bis an den Strand. Vor lauter Kummer macht Linn einen langen Spaziergang und wird schließlich von einem heftigen Gewitter überrascht.

Ute Wegmann paart in ihrem Text die sommerliche Ferienhitze mit dem Unbehagen Linns über all die Veränderungen und schafft trotz der Trauer, die Linn empfindet, eine poetische Stimmung. Diese wird von den zarten dunkelgrün und orangen Illustrationen von Birgit Schössow ganz zauberhaft eingefangen. Man ahnt, dass es für Linn noch ein glückliches Ende gibt, auch wenn diese Erfahrung sie ein Stück reifer hat werden lassen.

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die jedoch die wunderbare Bandbreite des neuen Lesefests spiegeln. Möge es für die Macher von High Voltage diesmal keinen Ärger wegen ihres Sponsors geben. Ich werde das jedenfalls verfolgen.

Am 20. April liest Maja Nielsen um 10 Uhr in der Bramfelder Chaussee 130 in Hamburg, im Haus 12 des Betriebshof Stromnetz Hamburg. Ute Wegmann liest am 21. April um 10 Uhr am selben Ort. Der Eintritt kostet jeweils 4 Euro.

Das gesamte Programm der High Voltage Frühjahrslesetage findet sich hier.

Maja Nielsen: Martin Luther. Glaube versetzt Berge, Gerstenberg, 2016, 62 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Ute Wegmann: Dunkelgrün wie das Meer, Illustration: Birgit Schössow, dtv, 2016, 80 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

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Vorweihnachtlicher Schabernack

weihnachten24 Kapitel, 13 wilde Kerle und mindestens vier pfiffige Kinder, dazu kunterbunte, slapstick-witzige Bilder von Susanne Göhlich: Barbara van den Speulhof hat eine kurzweilige Vorweihnachtsgeschichte geschrieben. Zu lesen in einem Rutsch oder an 24 Dezembertagen.

Wer die Autorin kennt, weiß um ihre Liebe zu Island. Und genau dort hat sie sich inspirieren lassen, denn ab dem 12. Dezember kommen 13 wilde Trolle, einer nach dem anderen, aus ihrer Höhle in den Bergen zu den Menschen. Frech sind sie, hungrig und ein wenig rau.

Auch die 13 wilden Weihnachtskerle stammen von der Insel, doch sind sie weniger rau als viel mehr liebenswert. Weshalb auch ihr Vorhaben von Herzensgüte getragen ist: Nichts wünschen sich die Menschenkinder Smilla und Snorre nämlich mehr als einen richtigen Tannenbaum. Doch in ihrer Heimat Island sind Bäume rar. Und so haben die 13 Weihnachtskerle beschlossen, Abhilfe zu schaffen. Aber wo findet man so einen Baum? Natürlich in Hamburg, das weiß der kecke Knut ganz genau. Hamburg ist doch das Land der Weihnachtsbäume! Und als dann im Hafen auch noch das Schiff Hamburg gesichtet wird, gibt es kein Halten mehr: Knut, Lametta, Schnüffelschnäutz, Pottpitt, Remmidemmi, Waumiau, Kuki, Blanco, Langfinger, Oskar, Pokus, Caruso und der Älteste der Brüder, der weise Rübe, entern den Kahn und schippern davon. Ihrem großen Abenteuer entgegen.

Leider sind die Dinge manchmal leichter beschlossen als durchgeführt. Kein Baum am Hamburger Hafen. Was tun? Kurzerhand schmuggeln sich die Kerle in einen Lkw voller Orangenkisten, denn ihr Wagemut ist ungebrochen und ihr Ziel haben sie fest vor Augen. Schließlich haben sie was versprochen — und das wird auch nicht gebrochen!

Mitten in der großen Stadt kreuzen sich ihre Wege mit denen von Malte und Antonia. Zum Glück, denn nur Kinder können die kleinen Kerle sehen, während Erwachsene allein rennende Gegenstände wahrnehmen und sich dann verwundert die Äuglein reiben. Malte und Antonia sind gleich Feuer und Flamme, schließlich geht es gar nicht, dass Smilla und Snorre da oben im hohen Norden Weihnachten ohne Tannenbaum feiern müssen.

Bis eine Lösung gefunden ist, sind natürlich reichlich Hürden zu nehmen und das gemeinsame Abenteuer entwickelt sich schnell zu einem trubeligen Chaos: Erstens sind die 13 kleine Weihnachtskerle ständig hungrig und klauen, was nicht niet- und nagelfest ist. Zweitens tanzt stets mindestens einer aus der Reihe. Und drittens brauchen sie dringend ein Dach über dem Kopf, schließlich ist es im Dezember auch in Hamburg ordentlich frisch. Ach, und viertens sind da noch die Eltern von Malte und Antonia, die manchmal aus dem Staunen nicht herauskommen, wenn gerade frisch gebackene Kekse ohne Mucks verschwinden oder die Wohnung plötzlich im Weihnachts-Osterhasen-Halloween-Geglitzer funkelt.

Doch wie das so ist vor Weihnachten: Eltern sind dann rundum beschäftigt und Kinder können ganz eigene Wege gehen. Deshalb gelingt das Unglaubliche: Eine Riesentanne wird für Smilla und Snorre gefunden und per Flugzeug auf die weite Reise nach Island geschickt. Streng bewacht von 13 wilden Kerlen. Welche Rolle dabei ein Bayrisch sprechender Schwede spielt und wie Antonia und Malte es überhaupt hinkriegen, den schönsten Baum zu ergattern und dabei keinen Kerl zu verlieren — das lest am besten selbst! Oder, noch besser: Schnappt euch ein bis zwei Erwachsene und lasst euch vorlesen. Dann kommen auch die endlich mal zur Ruhe …

Es ist schon eine Kunst, 13 wilde Weihnachtskerle (deren Steckbriefe Vorsatz und Nachsatz im Buch schmücken!) mit so markanten Wesenszügen auszustatten, dass sie einerseits ordentlich gegeneinander rumpeln, andererseits sich immer wieder frohgemut zusammenzuraufen. Es gelingt der Autorin nicht durchgehend, alle Mitglieder dieses Dream-Teams gleichberechtigt auftreten zu lassen. Und anstatt mehrmals laufende Würstchenschlangen oder davon springenden Apfelsinen zu bemühen, hätte hier und da ein anderer witziger Einfall der Geschichte gutgetan. Schade ist es auch, dass nicht alle fremd klingenden Begriffe so einleuchtend erklärt werden wie Kombüse oder Bug … Trotzdem: Barbara van den Speulhof schreibt humorvoll und lebensklug und immer auf respektvoller Augenhöhe mit ihrer Leserschaft. Sie fängt Gefühle und Sehnsüchte genauso ein wie Schabernack und Abenteuerlust. Kurzum: Es gelingt ihr, Geschichten zu spinnen, die Jung und Alt genießen können. Am besten vereint!

Heike Brillmann-Ede

Barbara van den Speulhof: 13 wilde Weihnachtskerle, Illustration: Susanne Göhlich, Fischer KJB, 2016, 176 Seiten, ab 6, 14,99 Euro

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Das x-te Geschlecht

georgeHeute Morgen hat im Rahmen des Harbourfront Literaturfestivals in Hamburg Alex Gino in der Zentralbibliothek Hamburg aus dem Roman „George“ gelesen. Etwa 100 Kinder zwischen zehn und 12 Jahren lauschten und stellten Fragen. Die deutsche Übersetzung von Alexandra Ernst hat die Schauspielerin Jodie Ahlborn einfühlsam vorgetragen. Perfekt moderiert wurde die Veranstaltung von Stefanie Ericke-Keidtel.

In „George“ geht es um ein Transgendermädchen, die irgendwann den Mut aufbringt, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Berichtet habe ich von dem wichtigen Buch bereits hier. Nun Alex Gino live zu sehen, war ein wunderbares und aufschlussreiches Erlebnis, denn die Geschichte von George ist in gewissen Zügen Alex Ginos eigene Geschichte.
Vor 38 Jahren in Staten Island/New York geboren war Alex schon recht früh bewusst, anders zu sein. Nur gab es damals in den 80er Jahren keine Worte für dieses Anderssein. Im Gegensatz zu heute, wo auf die Frage, ob denn die Zuschauer schon mal von Transgender gehört hätte, fast alle Kinder die Finger hoben und wissend nickten, als ob das ein alter Hut wäre.

Alex jedoch kämpfte sich durch Kindheit und Pubertät und eröffnet mit 17 den Eltern, queer zu sein. Mit 20 sagte Alex ihnen dann, transgender queer zu sein. Ein doppeltes Coming-out quasi. Die Qualen, Unsicherheiten und Zweifel ahnt man. Alex hatte Glück, dass die Eltern rückhaltlos zu ihrem Kind standen, Alex auf dem schwierigen Weg also Beistand und Hilfe bekam und sich nicht verstecken musste – etwas, was die Romanfigur George als genauso schwierig bezeichnet.

Alex jedoch ist etwas anders als die Romanfigur George, die genau weiß, dass sie ein Mädchens ist. Alex bezeichnet sich als „gender queer“, was für Alex bedeutet, mal Mann, mal Frau sein zu wollen. Alex  legt sich nicht fest, will einfach Alex sein. Ein sehr nachvollziehbarer Wunsch, der jedoch auch Probleme mit sich bringt.
So stellte ein Mädchen aus dem Publikum umgehend eine der drängendsten Fragen: Wie soll man über Alex reden – als sie oder als er? Das Deutsche kennt ja wie das Englische kein x-tes Geschlecht. Und schon betritt man ein sprachliches Minenfeld, wenn man queeren Transmenschen gegenüber nicht unhöflich und unsensibel auftreten möchte.

alexAlex berichtete dann von der langen Suche nach dem richtigen Pronomen für sich – und der Entscheidung für das englischen Singular they, das auch schon Shakespeare benutzt hat, wie Alex mit einem Augenzwinkern hinzufügt.
Dafür eine Entsprechung im Deutschen zu finden ist nicht einfach. Seit Jahren wird über gender-neutrale Sprache gestritten. Einzelne Worte, wie „Studierende“ statt „Studenten“ und gewissen Neutralisierungen setzen sich langsam durch, haben diese aber auch den Vorteil, eine Gruppe von Menschen zu bezeichnen, bei der wir den Plural ganz entspannt benutzen können.
Beim Reden über Einzelpersonen jedoch wird es kompliziert, wenn diese sich keinem der beiden grammatikalischen Geschlechter zuordnen lassen wollen. Doch es gibt Versuche gender-neutrale zu Pronomen zu finden, z.B. hier und hier. Das Feld ist weit, ich kann es hier und jetzt nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren (bin auch nicht die Expertin dafür, auch wenn ich mich mehr und mehr bemühe, darauf zu achten). Es wird auf jeden Fall spannend, was sich in den nächsten Jahren in unserem Sprachgebrauch durchsetzen wird. Im Englischen hat das gender-neutrale Mx. (statt Mr. oder Mrs.) bereits den Einzug ins Oxford Dictionary gehalten.
Im Deutschen wird es nicht bei den Pronomen bleiben: Alex hat zwei Nichten und prompt fragte ein Junge, wie diese denn Alex nennen würden, Onkel oder Tante? Etwas zögernd erzählte Alex, dass sie in „uncle Alex“ nennen, einfach weil es besser klingen würde … Fast sah es so aus, als hätte Alex diese Frage noch nie beantworten müssen.
Natürlich grübelt mensch dann automatisch über eine deutsche Alternative zu Onkel und Tante nach: Tankel? Onte? Glücklicherweise ist Sprache immer etwas, das sich entwickelt, Neues schöpfen kann und dieses auch in den Alltag integriert. Irgendwann wird es also einen solchen Begriff im Duden geben, da bin ich mir sicher.

Erfreulich an diesem heiteren Vormittag in der Zentralbibliothek waren – neben einex umwerfend charmanten und überzeugenden Alex Gino – die Offenheit und Neugierde der Kinder. Natürlich fanden es ein paar viel spannender, dass Alex das Computerspiel Mario Kart und die Figur Toad liebt, doch mir war, dass die meisten zumindest ein Gefühl für die Ängste und Nöte von Transmenschen mitbekommen haben. Für einen respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft ist damit wieder jede Menge Saat ausgebracht, die hoffentlich reichlich Frucht tragen wird.
Gleichzeitig haben die Kids hautnah erlebt, wie mitreißend fröhlich mensch sein kann, wenn er/sie einfach zu sich steht und sein/ihr Ding macht. Und genau dafür ist das Buch von Alex Gino einfach enorm wichtig!

Alex Gino: George, Übersetzung: Alexandra Ernst, Fischer Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

[Gastrezension] Ein cooler Kumpel

bärEigentlich macht Leonard einen Ausflug in den Zoo. Die anderen Kindergartenkinder sind ganz hin und weg von den kleinen Eisbären und staunen, was die Robben und das Walross so können. Leonard scheint nicht so beeindruckt. Da legt sich etwas Schweres auf seine Schulter – die Tatze des Eisbären. „Gehst du ein Stück mit mir?“, fragt der Bär. Und jetzt wird der Ausflug für Leonard richtig spannend: Die beiden fahren mit der U-Bahn zum Hafen, essen Currywurst, spielen mit Leonards Holzeisenbahn und verdrücken Berge von Broten.

Genau dieser Kontrast von totaler Normalität dessen, was getan wird, und dem ganz und gar nicht alltäglichem Begleiter macht das Bilderbuch Ausflug mit Bär von Constanze Semidei so charmant. Das spiegelt sich auch in den grandiosen, außergewöhnlichen Illustrationen Volker Fredrichs: Der Hintergrund in gedeckten Farben ist fast hyperrealistisch, von den künstlichen Felslandschaften im Zoo über das geschmacklose Fleckenmuster der U-Bahn-Sitze bis zum ebenso stylischen wie unpraktischen Küchenmülleimer mit Federdeckel im typischen Beige-Emaille. Die Bilder wirken wie übermalte, dadurch akzentuierte Fotos einer Welt, die fast jedes Kind kennt und verinnerlicht hat, inklusive Hüpftierchen und Flachbildschirmfernseher (der sich nicht einfach so anschalten lässt, eine für Kinder sehr realistische Erfahrung).

Die Menschen und Tiere davor sind bunt und lebendig gemalt, wie Figuren aus einem richtigen Zeichentrickfilm, wobei die Erwachsenen ein bisschen karikaturesk rüberkommen und die Kinder unverstellt und einfach nett aussehen.

Der Eisbär ist groß, souverän, lässig, irgendwie erwachsen und doch für jeden kindlichen Spaß zu haben, ein echt cooler Kumpel. In einer Umhängetasche trägt er als Snack ein paar Fische mit sich und hinterlässt eine Spur abgenagter Gräten, was auch erklärt, warum die beiden in der Bahn so viel Platz haben: „Mein Freund roch ein wenig nach Fisch“, sagt Leonard. Die Gräten finden sich auch wie ein Emblem als skurriles Tapetenmuster auf den Innenseiten des Buchdeckels und dezent auf dem Titel wieder.

Ein ausgewachsener Eisbärenvater macht natürlich auch ganz erwachsene Sachen: Zur Wurst will er ein Bier und öffnet die Flasche mit den bloßen Pfoten. „Toll“, findet nicht nur Leonard. Der lakonische Tonfall, in dem Leonard vom Ausflug mit Bär erzählt, passt perfekt zu Geschichte: Wenn sich zwei auf Anhieb verstehen und sympathisch sind, braucht es nicht vieler, unnötig schmückender Worte. Die beiden sind ein tolles Gespann und man lässt sich nur zu gern auf dieses eigentlich unspektakuläre und doch absolut fantastische Abenteuer ein.

Als kleines Kind hatte ich das Bilderbuch „Ein dicker Mann wandert“ von Günter Bruno Fuchs. Für die damalige Zeit erfrischend anders und modern gestaltet, ganz einfach mit dicken Pinselstrichen konturiert, reduziert auf Schwarz, Blau, Rot und Grün, lebte auch diese Geschichte vom Kontrast aus vordergründig Banalem und dem subtilem Witz sowie einer inneren, verquerer Logik. Es war auch das Lieblingsbilderbuch meiner Mutter. Jetzt habe ich ein Lieblingsbilderbuch gefunden. Schade, dass mein Kind nicht mehr im entsprechenden Alter ist. Um so mehr wünsche ich mir, dass jetzt ganz viele jüngere Kinder einen Ausflug mit Bär machen und von Constanze Semideis Erzählung und Volker Fredrichs Illustrationen genauso begeistert sind, wie ich.

Einziger Einwand: Gut, dass der Bär sich ein Bier gönnt. Aber die gemalte Bierflasche gleicht der einer großen, ursprünglich Bremer Brauerei. Beck’s ist aber kein Synonym für Bier. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber in Hamburg, wo die Geschichte eindeutig spielt, trinkt man an den Landungsbrücken eher Astra, aus einer Knolle; macht sich auch gut in einer Tatze. Wenn schon Wiedererkennungseffekt und kindliche Lebenswelt, dann richtig. Ansonsten: Toll!

Elke von Berkholz

Constanze Semidei: Ausflug mit Bär, Illustration: Volker Fredrich, Tulipan, 2016, 36 Seiten, ab 3, 14,95 Euro

Der Sinn des Lebens ist mehr als Eierbrötchen

kunoDass Bücher wahre Wundertüten sein können, ist für Buchliebhaber nichts Neues.   Ein ganz knalliges Exemplar dieser Spezies ist das Bilderbuch Kuno Knallforsch von Dietmar Jacobs, Andreas Schnermann und Horst Klein.

Jacobs, der unter anderem für die TV-Serien „Stromberg“ und „Pastewka“ geschrieben hat, erzählt hier die Geschichte von Frosch Kuno, der lieber knallt, als quakt. Kuno knallt so laut, dass er aus dem heimischen Froschteich fliegt. Er macht sich auf den Weg in die große, weite Welt und sammelt andere Tiere ein, die ebenfalls ungewöhnliche Geräusche machen und etwas aus der Art fallen: Der Specht Woody dingel-dongelt, der Elch Sören röhrt, Hahn Breular bringt den Eierschneider zum Klingen und Katze Mimi bubbeldibabt. Gemeinsam wollen sie nach Hamburg in den berühmten Club Bubalubalu, um dort zu rocken und berühmt zu werden. Dass nicht immer alles so kommt, wie man es sich vorstellt, müssen die fünf Freunde dann natürlich feststellen.

Aber bis es so weit ist, machen sie Musik. Die findet sich als Musical-Hörbuch auf einer beigelegten CD. Die Texte und Noten der Songs von Andreas Schnermann sind gleichzeitig im Buch zum Mitsingen und – wer ein Instrument beherrscht – zum Mitspielen abgedruckt. Die Lieder gehören unterschiedlichen Gattungen an, von der ruhigen Ballade über die peppige Polka bis zum geschmeidigen Swing, und zeigen den Kindern so, was Musik alles zu bieten hat.
So wie die Musik die Geschichte zum Rocken bringt, so steht die Sprache auf der Textebene dem in nichts nach: Es knallt und reimt, plingt und plongt, erzählt von Flummis, die pinkeln müssen, überrascht mit Schweden-Wortwitzen, die zwar nur die Erwachsenen verstehen dürften, und bubbeldibabelt vor sich hin, wie es nicht nur junge Leser gern haben.
Die dritte Ebene, die dann die Wundertüte fast zum Platzen bringt, sind die Bilder von Horst Klein: Großzügig, flächig, in leicht gedämpften Farben verpasst er jedem Musik-Tier eine eigene Persönlichkeit, so dass man sie allesamt sofort ins Herz schließt.
Diese Kombination aus Text, Bild und Musik liefert den Lesern, Zuschauern und Zuhörern nicht nur jede Menge Spaß, sondern auch ein wunderbares Beispiel, was interdisziplinäre Kunst alles kann.

Die Kirsche auf diesem Bilder-Buch-Musik-Leckerbissen ist dann natürlich die Botschaft von Kuno: Selbst wenn man wegen einer durchgeknallten Eigenschaft aus dem heimischen Teich fliegt, kann man viel Spaß und gute Freunde im Leben finden. Man sollte sich also nie von seinem Knall abbringen lassen und fröhlich weiter machen.

Dietmar Jacobs/Andreas Schnermann,: Kuno Knallfrosch. Musical für Kinder, m. Audio-CD, Illustration: Horst Klein,  Fischer KJB, 2014, 48 Seiten, ab 2, 19,99 Euro

Nachkriegsleiden

unterlandAls Kind von Kriegsflüchtlingen üben Nachkriegsgeschichten auf mich eine sonderbare Anziehungskraft aus. Dabei sind das keine „schönen“ oder gar lustigen Geschichten, sondern bitterernste, traumatisierende Erlebnisse, die da geschildert werden. Vielleicht versuche ich, die Erfahrungen meiner Eltern dadurch wenigstens noch ein Stückchen besser nachvollziehen zu können.

Diese Woche war es der Roman Unterland von Anne C. Voorhoeve, der mich nicht mehr losgelassen hat. Er handelt von der 12-jährigen Alice, die mit Mutter, Großmutter und Bruder Henry von Helgoland nach Hamburg evakuiert wird. Der Vater ist in Kriegsgefangenschaft, der Onkel vermisst. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 werden die Helgoländer mit vier anderen Familien in einer Villa einquartiert. Die Eigentümer begegnen den Flüchtlingen alles andere als freundlich, und nur die strenge Reglung der Küchenbenutzungszeiten verhindert Schlimmeres. Zum Kochen ist allerdings nicht viel da, mal fehlen die Lebensmittel, mal der Strom. Der Junge Wim weiht Alice in die Geheimnisse des Tausch- und Schwarzmarkthandels ein und nimmt das Mädchen mit auf Hamsterfahrt und Kohlenklau. Alice muss bei all dem zusätzlich mit dem Handicap eines amputierten Unterschenkels kämpfen. Sie krückt durch das zerbombte Hamburg, hofft auf eine neue, bequemere Prothese und erzählt das Ganze dabei mit so einer trockenen Selbstironie, dass weder Voyeurismus noch falsches Mitleid beim Leser aufkommt.

Viel wichtiger wird die Sehnsucht Alices, auf ihre geliebte Insel zurückzukehren. Bis es soweit ist, will sie mit ihrem Bruder Henry den angeblichen Verräter ausfindig machen, der eine friedliche Übergabe der Insel an die Briten verhindert hat. Dass dies ein sinnloses Unterfangen ist, merkt Alice schneller als ihr großer Bruder.

Überhaupt kommt die Ich-Erzählerin so einigen Geheimnissen auf die Spur: das Schicksal des verschollenen Onkels, das der verschwundenen Juden, die Lager, die Verbrechen der Nazis. Nach und nach wird ihr klar, worin die unermessliche Schuld der Deutschen besteht und warum sich die Besatzer selbst von den Kindern abwenden.

Voorhoeve stellt die Leiden der Nachkriegszeit so eindringlich und plastisch dar, dass man als Leser die Enge, die Kälte und den Hunger förmlich am eigenen Leibe spürt. Wie nebenbei erfährt man zudem, was die Briten mit Helgoland vorhatten (sie wollten die Insel komplett wegsprengen) und wie Nazis und Mitläufer versuchen, ihre Spuren zu verwischen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch viel schlimmer als die körperliche Not sind all die unbeantworteten Fragen, auf die Alice immer wieder stößt, und die Last der unausgesprochenen Schuld.

Unterland ist ein zutiefst berührender und überaus vielschichtiger Roman, der die Erinnerung an das Leid der Kriegskinder und Flüchtlinge sowie an die Gründe, die dazu geführt haben, wach hält. Jungen Leser bietet er jede Menge Anregungen, die eigenen Großeltern nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen aus dieser bewegten Zeit zu befragen.

Anne C. Voorhoeve: Unterland, Ravensburger Buchverlag, 2012,  434 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Signor Eco und der Hamburger

 

Umberto Eco hat mich in Form seiner semiotischen Werke durch die Dissertation begleitet. Da war es fast schon ein Muss, ihn auf seiner Lesereise durch Deutschland einmal live in Augenschein zu nehmen. Und so saß eben der ältere Herr und Überintellektuelle im Hamburger Thalia Theater auf der Bühne,  um seine jüngste Fiktion, Der Friedhof in Prag, zu promoten. Der fast 80-jährige Signor Eco plauderte eloquent – oder sollte man sagen, erwartungsgemäß schlau – über Trottel, Vorurteile, echte Fälschungen, Feindbilder, vom Hass als einem warmen und verbindenden Gefühl sowie über kulinarische Vorlieben (Hamburger). Die medien-massentauglichen Fragen von Denis Scheck forderten den Denker allerdings nicht sonderlich. Da wünscht man ihm wirklich einen etwas tiefgründigeren Interviewpartner.

Bei der Betrachtung dieser beiden stattlichen Herren drängte sich mir so vielmehr der Eindruck auf, in Denis Scheck einen 1-A-Wiedergänger von Umberto Eco vor mir zu haben – da bräuchte man nur ein Bärtchen ankleben, einen Pullunder überziehen und die Ohren anlegen…

Neben dem gefeierten Idol war für mich Paola Barbon die wahre Heldin des Abends. Klein und schmal saß sie zwischen den beiden Schwergewichtern und übertrug Ecos wortreiche Ausführungen souverän und dauerhaft lächelnd ins Deutsche. Und Wolf-Dietrich Sprenger hauchte mit seiner Lesart der Hauptfigur Simonini Leben ein und holte quasi die Kloake von Paris auf die Bühne. Währenddessen verfolgte Umberto Eco in seiner italienischen Ausgabe, leicht vor und zurück schaukelnd, die vorgetragenen deutschen Sätze so aufmerksam, als würde er seinen eigenen Text zum ersten Mal hören und lesen. Ein fast rührender Anblick.

Die italienische Ausgabe von Ecos Roman habe ich hier schon so einige Zeit liegen – jetzt sollte ich die Geschichte endlich mal zu Ende lesen.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag, Hanser Verlag, Übersetzung: Burkhart Kroeber, 528 Seiten, 26 Euro