Plötzlich Familie

Es beginnt mit einem Brief. Auf dem Umschlag eine kopfüber aufgeklebte Marke, die neben dem Bild einer Kornelkirsche einen wenige Millimeter kleinen Totenschädel erahnen lässt, zumindest kommt es Edin Melitzky so vor.
Dieser Brief entlockt Edins Mutter Ann einen deutlich dramatischeren Flurschrei als angesichts der üblichen Rechnungen, Mahnungen und Anwaltsschreiben, die sonst ankommen. »Ganz unten, in der rechten Ecke des Papierbogens, stand in zittriger und trotzdem vornehmer Altherrenschrift:  

Zu spät.«

Kurze Zeit später findet Edin sich im Haus seines Großvaters in einem Kaff namens Kamp-Cornell wieder, mit einem Cousin und drei Cousinen sowie drei Tanten, von deren Existenz er vierzehn Jahre nichts geahnt hat. Plötzlich aus dem bisherigen Leben herausgerissen und in eine neue Familienkonstellation in ödester Provinz geworfen, das haben auch die Geschwister in Susan Kreller vorherigem emotionsgeladenem Roman Elektrische Fische erlebt.

Haus mit Eigenleben

Hier nun dämmert der Großvater, Vater von Edins Mutter und deren Schwestern, alt und krank im leergeräumten, ehemaligen Wohnzimmer vor sich hin. In der Küche gehen Leute aus der Nachbarschaft ein und aus, immer mit etwas zu Essen dabei, meist einem riesigen Auflauf. Der Garten ist ein undurchdringliches Gestrüpp aus Kornelkirschsträuchern, kein Obst, sondern ein Hartholzgewächs mit eher ungenießbaren Früchten, das im Frühjahr ginstergelb blüht.
Die Situation ist äußerst angespannt. Es gibt ein ungenutztes Zimmer, das die Mütter prinzipiell nicht betreten. Das Haus führt ein unheimliches Eigenleben. Es klopft und hämmert und sägt und seufzt in der Nacht. Für die Geräusche findet sich ebenso wenig eine Erklärung wie für die regelmäßigen Stromausfälle. Oder die überwiegend undurchsichtigen, aufdringlichen und schroffen Einwohner des Ortes.

Groteskes Verbrechen

Mit den fünf Cousins und Cousinen finden wir uns in bester Thrillerszenerie voll subtilem Grauen wieder. So unterschiedlich, wie die Jungen und Mädchen zwischen dreizehn und vierzehn sind, so unterschiedlich erleben sie das erzwungene Großfamilienleben, das sie aus wechselnden Perspektiven beschreiben. Nicht, dass ihr Leben vorher ein Zuckerschlecken war. Soll aber keiner glauben, dass sie angesichts des plötzlichen Familienzuwachsen in fröhlichem Kelly-Family-Feeling (wie Bernd Begemann es mit wohligem Schauer besingt) versinken, im Gegenteil.
Allmählich kommen die Jugendlichen einem grotesken Verbrechen auf die Spur. Ein Verbrechen, von dessen Ausmaß ihre Mütter nichts geahnt haben. Das aber deren Kindheit und Jugend überschattet hat, ihnen die Mutter nahm und zur Entfremdung der Schwestern führte.

Gefährliche Glücksversprechen

Das Herz von Kamp-Cornell ist eine einzigartige Mischung aus gruseliger Familiengeschichte, Thriller und Haus Horror – wenn es heutzutage sogenannten Body Horror gibt, dann gibt’s Haus Horror schon lange, als großen, alles umgebenden Körper. Susan Kreller hat das Genre auf den Spuren von Charlotte Brontës Jane Eyre oder Daphne du Mauriers Rebecca, legendär in Hitchcocks Verfilmung, neu belebt.

Gleich mehrere Coming-of-Age-Geschichten schwingen ebenfalls mit, treffend zusammengefasst aus der Sicht von Lu Winnefeld, einer der Cousinen: »Lu Winnefeld dachte nach, dachte daran, in den Ferien von hier wegzugehen, und weg hieß: nach Hause, auch wenn ihre Mutter das verboten hatte. Doch was kümmerten Lu Verbote von jemandem, der sowieso nie da war. Lu Winnefeld war immerhin vierzehn Jahre alt! Sie trug einen Hut und eine Lederjacke, trotz der Hitze. Aber Lu schwitzte nicht. Schwitzen war unter ihrer Würde. Wie vierzehn zu sein. Vierzehn zu sein war weit unter Lu Winnefelds Würde.« Kraftvoll, wütend und auf den Punkt beschreibt Susan Kreller hier das Innenleben einer autarken Teenagerin.
Nicht zuletzt geht es auch um gefährliche Glücksversprechen und verlogene Heilsbringer.

Achselzuckende Stille

Die Sprache wiederum spielt eine besondere Rolle in diesem Roman, eine Sprache, die versucht, Unbegreifliches begreifbar zu machen, Unsagbares benennt und diffuse Gefühle in all ihrer Vagheit nachempfinden lässt. Kreller beschreibt zum Beispiel verschiedene Sorten von Dunkelheit, die »der Nacht und die des ausbleibenden Gewitters« (das, so viel sei verraten, später doch noch ganz gewaltig niedergehen wird). Und »die dritte Sorte Dunkelheit, ein wollweißes, liniertes Blatt, das heftig zerknüllt und dann wieder, ebenfalls heftig, glatt gestrichen worden war.«
Oder der Stille: »Von allen Zurückgelassenen konnte einzig Gabriella das quälende Geräusch hören das mit dem Krankenwagen davongefahren war: jene achselzuckende Stille, die von einer Sirene ausging, wenn man sie gar nicht erst angestellt hat.«

Man merkt angesichts ihrer fantasievollen Bilder, vielsagender Wortkreationen und auch mal verwunderlichen Vergleichen, dass Kreller über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promoviert hat. Wenn man sich auf Krellers kreativen Umgang mit Sprache einlässt, auch das manchmal zu viel davon zulässt, ist Das Herz von Kamp-Cornell ein packendes und unvergleichliches Leseabenteuer.

Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell, Carlsen, 2025, 288 Seiten, 15 Euro, ab 14

Leben und leben lassen

Sailor och Pekka gör ärenden på stan lautet der Titel im schwedischen Original. Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt hat Hinrich Schmidt-Henkel es passend entspannt übersetzt. Schon der wunderbar unprätentiöse Titel sagt viel über Jockum Nordströms ebenso brillantes wie bodenständiges Bilderbuch.

Kinderbilder und korrekte Möbelskizzen

Es heißt bewusst nicht » … gehen in die Stadt«, was einen Land-Stadt-Kontrast assoziieren würde. Denn darum geht es nicht. Es passiert auch nichts Spektakuläres. »Eines Morgens als Sailor sich anziehen wollte, war sein Pullover weg. Er wusste absolut nicht, wo der geblieben sein konnte, Sailor durchsuchte das ganze Zimmer.« Ein Mann mit Schnurrbart, bloßem Oberkörper und Käppi auf dem kahlen Kopf sucht. Er sieht aus wie von einem Kind gemalt. Die Kommode, das Bett, die Hutablage und das Sideboard mit dem Globus drauf aber sind reduzierte, doch perspektivisch korrekte Zeichnungen. Drum herum ist anfangs viel Weißraum, der Sailor und auch Pekka, einem Hund in einem blauen Anzug Platz gibt.

»Er rief seinen kleinen Hund Pekka, der gerade Zeitung las.
Hej, Pekka! Hast Du meinen Pullover gesehen?
Nein, hab ich nicht.
Wir müssen in die Stadt fahren, einen neuen kaufen.
Gut, dann kann ich mir auch gleich die Haare schneiden lassen.«

Kein Drama, dann machen sie halt eine Spaziergang

Sie fahren mit dem Auto los, einem offensichtlich betagteren Modell aus den 1920er oder 1930er Jahren. »Der Motor machte seltsame Geräusche. Er hustete und spuckte. Plötzlich quoll schwarzer Rauch unter der Motorhaube hervor.« Das ist kein Drama, dann machen sie halt einen Spaziergang.
Und so sieht man Mann und Hund am Meer entlang in Richtung Stadt laufen. Unterwegs treffen sie einen traurigen Clown, der seine Trompete verloren hat. Und ihre Nachbarin Frau Jackson, die übrigens schwarz ist.

»Moinsen« grüßt der Biber im Vorbeigehen

Zunächst werden die Seiten kleinteiliger, erinnern ein wenig an Comic-Panels. Je näher die beiden dann der Stadt kommen, desto mehr verdichten sich die Bilder. Er gibt tolle, akkurate Architekturzeichnungen, unter anderem von an Le Corbusier erinnernde Hochhäuser mit farbigen Fassadendetails. Detailliert ausgestaltete Straßenkreuzer fahren im Hintergrund herum. Und immer mehr unterschiedlichste Wesen tauchen auf, winken, reden miteinander, tragen Möbel. Menschen und Tiere sind alle mehr oder weniger beschäftigt, auf dem Weg irgendwohin, ohne Hektik, man grüßt sich. »Moinsen«, sagt ein Biber im Vorbeigehen, eine lässig im Mundwinkel hängende Zigarette rauchend.
Sailor und Pekka finden einen Kleiderladen, daneben einen Frisör. Pekka bekommt einen neuen Haarschnitt. Sailor kauft einen neuen Pullover und ein weißes Hemd dazu. Anschließend lässt Sailor sich noch ein Tattoo stechen. Beim Tätowierer treffen sie einen Affen, der die Trompete gefunden hat.

Das Auto sieht wirklich erschöpft aus

Auf dem Rückweg lassen sie das Auto abschleppen. Der Abschleppdienst kommt schnurstracks, wie Hinrich Schmidt-Henkel schön übersetzt. Unterwegs geben sie dem Clown die Trompete zurück, »Juhuu! Tausend Dank! Der Clown freute sich riesig« und nehmen das Auto an den Haken. »Da steht unser Auto. Es sieht erschöpft und dreckig aus.« »Ja es sieht wirklich erschöpft aus«, bestätigt der Abschlepper.

Friedliches Miteinerander von Lebewesen und Stilen

Das friedliche Miteinander aller spiegelt sich auch in Jockum Nordströms lässigem Umgang mit verschiedensten Illustrationsstilen. Mal ein liebevoll ausgemaltes großes Hafenpanorama oder eine bunte Straßenszene oder das kleinteilige Ladensortiment. Dann setzt der Künstler wieder auf einen sehr kindlich wirkenden, für Kleine umso nahbareren Malstil, in denen er comicartige Seiten mit leisem Humor gestaltet. Sehr lustig ist die Szene, wenn Sailor mehrere Pullover anprobiert. Auf dem Vorsatzpapier arbeitet Nordström zur Abwechslung mit Fotos und Collagen.

Gut aufgehoben bei Péridot

Mit größter Selbstverständlichkeit erzählt der KInderbuchautor wunderbar unaufgeregt (wie schon beim Titel) von Vielfalt und Toleranz als gelebte Normalität. »Leben und leben lassen« hat mein Vater immer gesagt. Und es auch so gemeint, obwohl er ein konservativer und bestimmt nicht vorurteilsfreier Mann war. Jockum Nordström malt Bilderbücher unter diesem Lebensmotto. Der Kölner Péridot Verlag hat jetzt eine Geschichte von Sailor und Pekka veröffentlicht, hoffentlich folgen auch die fünf oder sechs weiteren. Wo wären sie hierzulande besser aufgehoben, als bei einem Verlag mit freundlichem Hund als Logo und übersetzt von Schmidt-Henkel. Die Welt von Sailor und Pekka wäre eine bessere, schöner und lebenswerter.

Jockum Nordström: Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt, Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel, Péridot, 44 Seiten, 16 Euro, ab 6

Eintauchen

Klassiker sind literarische Werke, Dramen, Romane von zeitlosem Wert. Nicht nur wegen ihrer sprachlichen Schönheit und vielschichtigen Charaktere werden sie über Generationen gelesen. Klassiker berühren vor allem wegen ihrer zutiefst menschlichen Themen: Liebe und Hass, Rache, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, der Kampf von Gut und Böse, Mut, Angst, Neugier, Abenteuer, Erwachsen werden.
Also ist es naheliegend, schon die Kleinsten für Klassiker zu begeistern. Der Verlag Coppenrath versucht das jetzt aufs Schönste. Logischerweise fängt man bei sehr jungen Kindern mit Bildern an. Tatsächlich sind die sechs bereits erschienenen Klassiker für Kleine visuell eine Wucht. Jedes Buch ist von einer anderen Illustratorin oder einem Illustrator ganz individuell bebildert und bekommt jeweils optisch einen besonderen Charakter.

Im Sarg mit Vampirteddy

Zum Beispiel Bram Stokers Dracula: Anfangs wirkt der berühmteste Vampir fast niedlich mit seinem riesigen Kopf und den prominenten Zähnchen. Zwar schläft er tagsüber im Sarg, aber mit Katze und kleinem Vampirteddy. Blut schlürft er durch einen Strohhalm aus dem Glas. Und nachts verwandelt sich der lichtscheue Graf in eine Fledermaus und flattert aus dem Fenster seines Schlosses.

Zeitlos moderne Vampirsaga

Doch irgendwo muss das Blut ja herkommen. Und hier sind wir bei einem der Urthemen der Menschheit: Böse Mächte, die einem nach Freiheit und Leben trachten. Schlimmer noch, ihre Opfer zu willenlosen Untoten machen, die vom Biss infiziert selbst zu blutdürstigen Monstern werden. Für weibliche Wesen schwingt noch eine weitere Gefahr mit und das begründet auch den Erfolg moderner Vampirsagas, allen voran der von Stephenie Meyers Twilight-Saga: Der Biss des Vampirs als Synonym für ersten Sex, die Entjungferung und damit die Verwandlung in ein sexuelles Wesen, das spätestens mit einer Schwangerschaft in Abhängigkeit gerät.
Das erkennt man natürlich nicht so explizit im Bilderbuch, im Kopfkino spielen sich aber gleich mehrere Filmversionen ab, auch das macht eine starke klassische Vorlage aus.

Architektur gibt Struktur

Für Mina, der Verlobten des erzählenden Anwalts, wird es im Bilderbuch ziemlich knapp, nachdem Dracula seine Zähne in ihren Hals geschlagen hat. Nur ein Trank des herbeigerufenen Arztes und Vampirjägers van Helsing haucht der sehr blutarmen und totenblassen jungen Frau wieder Leben ein. Jacobo Muñiz erzählt das sehr spannend und geschickt angelehnt am literarischen Original mit seinen Illustrationen: Karikaturesk und kindlich großkopferte Personen, elegant historisches Setting. Architektur strukturiert die Bilder, Räume sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet: Hohe, gotische Fensterbögen, bunte Dachschindeln, Backsteinwände und Straßenpflaster, gemaserte Holzböden.

Ein freundliches und schlaues Wesen

Anders nähert sich Mariona Cabassa Moby Dick. Bei ihren wie kindliche Buntstiftbilder wirkenden Illustrationen dominieren die Farben. Vielfarbig gemusterte Kleidung, rote Erdbeerwangen, knallbunt lackierte Boote. Vor allem aber die Unterwasserwelt ist ein Farbspektakel. Der berühmte weiße Wal ist ein freundliches und schlaues Wesen, stets begleitet von einem Schwarm bunter Fische. Auch ein weiteres vermeintliches Ungeheuer, ein Riesenkrake, kommt ungeheuer sympathisch und praktisch daher. Walfang ist kein zeitgemäßer Broterwerb mehr. Und hier lässt Moby Dick den von Rachegelüsten zerfressenen Käpten Ahab entspannt lächelnd abblitzen und schwimmt seiner Wege.

Psychedelische Pilze und Wildblumenwiesen

Angemessen psychedelisch wiederum setzt Zuriñe Aguirre Lewis Carolls Alice im Wunderland in Szene. Auch sehr bunt, jedoch gespickt mit vielen Details und Anspielungen an das Original – der hohe Hut des Hutmachers, die Taschenuhr des weißen Kaninchens, Schachbrettmuster, Spielkarten und etliche riesige Pilze – gestaltet die spanische Malerin Alices Abenteuer als wunderlichen Trip. Toll sind naturalistischen Hintergründe: Wildblumenwiesen, Getreidefelder, Waldboden und Rasen, dichtes Laub und exotische Pflanzen.  Auf der Schwelle vom Kind zum Erwachsenen stellt das selbstbewusste und dickköpfige Mädchen die verquere Erwachsenenwelt in Frage, absurde Rituale, die überkandidelte und rücksichtslose Regentin.

Es bleibt: Das Lächeln der Grinsekatze

Zum hübschen Bilderrausch gehört auch eine kiffende (oder sogar Opium rauchende?) Raupe, dafür ist der Hutmacher diesmal nicht nutty und hat auch nichts von Johnny Depp. Schon der Umschlag der Pappe (wie die dickseitigen Bücher für Kleinkinder in der Branche genannt werden) fasst die Geschichte treffend zusammen. Vorne geringelte Strumpfbeime und ein bauschiger Tüllrock auf einem Pilz, auf dem Alice nach ihrem Sturz ins Kaninchenloch gelandet sein könnte. Und auf der Rückseite ist das was bleibt: Das Lächeln der Grinzekatze.

Starke Klassiker in Bildern erzählt

Diese Klassiker für Kleine sind optisch eine Klasse für sich. Nur Cornelia Boeses putzige Reime dazu hätte es nicht gebraucht, hoffentlich wird die Co-Autorin angesichts dieser Kritik nicht ihrem Nachnamen gerecht. Ein paar Stichworte und Namen hätten gereicht, um die Vorlesenden die Geschichten frei erzählen zu lassen. Und wären auch für Erwachsene eine gute Anregung, sich mit den Klassikern wieder zu beschäftigen.

Einen Klassiker zitiert auch Sophie Blackall in ihrem Bilderbuch Ahoi! Alle an Bord und Leinen los!. Die Rückseite umspielt eine Variante der berühmtesten Welle aller Zeiten, der japanische Holzschnitt von Hokusai, den Klappentext. Und wie beim Original, das auch ein ausgewachsener Tsunami werden könnte, geht aber nichts Bedrohliches davon aus. Die aufeinander geschichteten, ineinander fließenden und einander umspielenden Wassermassen sind einfach nur schön. Man möchte darin eintauchen.
Genau das gelingt dem kleinen Helden hier: seinen Vater mitzunehmen ins Spiel. Der muss eigentlich Aufräumen, Staubsaugen, Erwachsenenkram erledigen. Stühle, ein Korb und ein paar Blätter Papier werden zum Segelboot, der Teppich ist das Meer, ein Sturm zieht auf. Los geht’s …

Unkonzentrierte Erwachsene

Aber als sein Telefon klingelt, lässt der Vater sich schnell wieder rausreißen. Totale Flaute im Spiel, das Kind liegt gestrandet und frustriert bäuchlings auf dem Boden.  Abgesehen von der derzeit inflationär gestellten Selbstdiagnose ADS/ADHS sind hier eindeutig die Erwachsene diejenigen, die sich nicht konzentrieren können, von Anrufen ablenken lassen, alles gleichzeitig machen wollen und nichts richtig können.
Im zweiten Anlauf kommt die fantastische Seereise richtig in Fahrt. Über mehrere in intensiven Farben und wunderbar ausgestalteten Doppelseiten und Bildsequenzen entkommen sie einem Oktopus, gleiten mit Walen dahin, werden von wilden Wellen durch die Luft geschleudert, laufen auf Grund, erleiden Schiffbruch und erreichen umkreist von hungrigen Haien in letzter Sekunde den Leuchtturm.

Heimliche Heldin

Als nach wildem, intensivem Spiel doch noch mal kurz überlegt wird, den Teppich zu saugen, kommt es unisono aus zwei Mündern: »Welchen Teppich?«. Das bringt die Kraft der Fantasie anschaulich zum Ausdruck. Und die Fähigkeit, völlig einzutauchen in eine mitreißende Geschichte. Die durch ihre stille Heldin noch entzückender wird: eine kleine schwarze Katze, die in allen Szenen und auf allen Seiten auftaucht und in die wunderbare Reise eintaucht.

Klassiker für Kleine, nacherzählt in Reimen von Cornelia Boese, Coppenrath, jeweils 24 Seiten, 14 Euro, ab 3
Bram Stoker: Dracula, illustriert von Jacobo Muñiz
Hermann Melville: Moby Dick, illustriert von Mariona Cabassa
Lewis Caroll: Alice im Wunderland, illustriert von Zuriñe Aguirre

Sophie Blackall: Ahoi! Alle an Bord und Leinen los!, Übersetzung; Bettina Obrecht, Penguin, 48 Seiten, 16 Euro, ab 4

Lasst Blumen sprechen

Pflanzen

Meister – bei dem Begriff denkt man zunächst an Weltmeister oder, schon seltener, an Weltmeisterinnen, zum Beispiel im Fußball oder einer anderen sportlichen Disziplin. Dann vielleicht an Alte Meister, also Meisterwerke der Kunst und ihre Maler. Oder an Handwerksmeister. Also an Menschen, meist Männer.
Wer kommt da auf Pflanzen? Genau mit diesem Überraschungsmoment lockt Riz Reyes in den Garten und die wunderbare Welt der Pflanzen. Pflanzen können alle etwas, das alle anderen Wesen nicht können. Sie leben tatsächlich von Luft und Liebe sozusagen, genauer von Kohlendioxid, für uns Menschen verbrauchte Luft und Licht. Durch Kohlenstoff wachsen sie und bilden Blätter und Früchte. Und als Abfallprodukt setzen sie den für uns lebensnotwendigen Sauerstoff frei.

Meisterinnen der Erneurung

Zusätzlich sind aber alle Pflanzen noch Meisterinnen und Meister ihrer Klasse und können jeweils etwas ganz Besonderes und Einzigartiges. So sind Narzissen Meisterinnen der Erneuerung, wie der von den Philippinen stammende Riz Reyes erklärt. Die Zwiebeln ruhen im Winter in der Erde. »Wenn es wärmer wird und die Tage länger, begrüßen sie mit ihren leuchtend bunten Blüten den Frühling«, schreibt der Gärtner und Pädagoge. Osterglocken heißen nicht so, weil sie eben meist um Ostern herum blühen. Wegen ihrer Fähigkeit, wiederaufzublühen, sind sie im Christentum ein Symbol für Auferstehung und ewiges Leben.

Geniale Partnerschaft

Oder Pilze, die eine eigene Art für sich sind. Sie sind Meister der Kommunikation und Vernetzung. »Anders als Pflanzen können Pilze sich nicht mithilfe der Photosynthese von Sonnenenergie ernähren, da sie kein Chlorophyll haben. Stattdessen lassen sie sich von Pflanzen, mit denen sie durch ihr Mycel, ein dichtes, fadenartiges Geflecht, verbunden sind, mit Nährstoffen wie Zucker versorgen. Im Gegenzug liefert der Pilz der Pflanze Wasser und und andere Nährstoffe, die er aus der Erde aufnimmt.« Was für eine geniale Partnerschaft! Dagegen sind sogenannte win-win-Situationen aus der Wirtschaft ein lascher Witz.

Pflanzen hinreißend in Szene gesetzt

Jede Pflanze und auch die Pilze bekommen jeweils zwei ähnlich aufgebaute Doppelseiten, auf denen unter anderem Herkunft, Verwandte und Besonderheiten kurz und prägnant erklärt werden. Auch, wie junge Leserinnen und Leser die Pflanzen selbst ziehen können. Die Illustratorin Sara Boccaccini Meadows hat die faszinierenden Pflanzen hinreißend, lebendig und vielfarbig mit Aquarell und Tusche in Szene gesetzt. Ihre Illustrationen sind absolut meisterhaft und Grund genug, dieses Sachbuch lieben.

Leckere und duftende Verwandte

Auch die Familien gehören immer zum großen Ganzen. Da kommen ganz erstaunliche Verbindungen zu Tage. Oder zur Nacht, denn dass die Tomaten zu den Nachtschattengewächsen gehören und ursprünglich aus Süd- und Mittelamerika stammen, wie auch Kartoffeln, Paprika und Auberginen hat man schon mal gehört. Nicht nur leckeres und gesundes Gemüse gehört dazu, sondern auch einige giftige Pflanzen. Aber wer hätte gedacht, dass Apfel, Erdbeeren und Wildrosen eine wohlschmeckende und duftende Familie bilden, die Rosengewächse nämlich.

Kürbis wiederum gedeiht besonders gut zusammen mit Mais und Bohnen, die zwar nicht zur selben Familie gehören, sondern eine weitere kluge Partnerschaft eingehen, was bereits die indigenen Völker Nord- und Südamerikas entdeckt haben. Wie die funktioniert oder warum Orchideen Meisterinnen der Eleganz und der Raffinesse sind … unbedingt selbst lesen und entdecken in diesem absolut faszinierendem Pflanzenbuch, das weit über den Garten hinausgeht.

Pflanzen

Anders, aber mit mindestens ebenso großem Respekt, taucht Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen in das Reich der Plantae ein. Das Setting von Yarrow Townsends Abenteuerroman wirkt dystopisch: karg, arm, düster, raues Leben, immer feucht.
Die Titelheldin Alva ist spröde und stur, seit dem Tod ihrer Mutter vier Jahre zuvor voller Wut und Misstrauen. Ihr Zuhause ist eine kleine Holzhütte mit einem Garten voller Nutz- und Heilpflanzen, die leise mit ihr sprechen und sie zum Beispiel beraten, wie sie den kranken Huf ihres Pferdes behandeln soll. Captain ist ihr einziger Gefährte, ihre ganze Familie. Diese wird bedroht durch den neuen Ausbruch einer rätselhaften, tödlichen Krankheit, an der auch Alvas Mutter gestorben ist. Sie war eine anerkannte und geschätzte Expertin für Heilpflanzen, die mit ihrem Wissen vielen Menschen geholfen hat. Doch nach ihrem Tod hat der Ortsvorsteher sie als Scharlatanin dargestellt, ihre Fähigkeiten wurden in Zweifel gezogen.

Rettung der flüsternden Freundinnen

Angeblich sind die Pflanzen, nicht nur die in Alvas Garten, die Wurzel allen Übels und sollen alle vernichtet werden, einschließlich dem Getreide. Um das Gegenteil zu beweisen und ihr Zuhause, ihr konfisziertes Pferd und ihre flüsternden Freundinnen zu retten, begibt sich Alva auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse. Unterwegs bildet Alva, wider Willen eine Not- und Zweckreisegesellschaft mit dem Jungen Idris, dessen Bruder im Sterben liegt, und der vermeintlich verwöhnten, aus reichem Hause stammenden Ariana.

Bewusste Außenseiterin

Alva ist eine interessante Heldin, gerade weil sie so schroff und misstrauisch ist, und wirklich alle vor den Kopf und von sich stößt. Sie traut niemandem, kann auch erschreckend gemein sein und beharrt auf ihrer Unabhängigkeit. Sie ist bewusst Außenseiterin, man spürt ihre Verletzung und ihre Trauer. Nur in der Welt der Pflanzen fühlt sie sich wohl, weil sie deren Sprache versteht. Getragen von dieser Antiheldin entwickelt sich die Geschichte zu einem vielschichtigen Krimi, der zeigt, was passieren kann, wenn Geldgier auf die Spitze getrieben und Gesundheit zur unerschwinglichen Ware wird.

Auch für Veganer ein Vergnügen

Natürlich bleibt ihre abenteuerliche Reise mit zahlreichen halsbrecherischen Situationen und dramatischen Stunts nicht ohne Folgen auf Alvas weitere Weltsicht. Apropos sehen, den Anfang jedes Kapitels hat Torben Kuhlmann, der Meister famoser und tollkühner Mäusegeschichten, mit einer ausgewählten Heilpflanze illustriert, versehen mit ein paar Information zur Verwendung.
Dies ist beileibe kein rein pflanzlicher Schauerroman. Aber auch für Veganer ein spannendes Vergnügen.

Riz Reyes: Im Garten – Die wunderbare Welt der Pflanzen, Illus: Sara Boccaccini Meadows, Übersetzung: Andreas Jäger, ars Edition 2023, 64 Seiten, 20 Euro, ab 8

Yarrow Townsend: Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen, Illus: Torben Kuhlmann, Übersetzung: Cornelia Panzacchi, Carlsen, 320 Seiten, 9 Euro, ab 10

Größter Unfall, schönster Glücksfall

Super-Gau

Unsere explosive gesellschaftliche Erregung hängt auch mit überschießenden Sprache zusammen. Selbst reflektierte Medien und bedächtigere Menschen benutzen Begriffe, die die Stimmung weiter aufheizen, teils, weil sie „nur“ zititeren, teils, weil ihnen selbst mittlerweile die nötige Distanz zu fehlen scheint. Man sei „entsetzt“ und „fassungslos“ heißt es, nur weil zum Beispiel entgegen der Wahlversprechen der Preis für das Schulessen nicht wieder um ein paar Cent gesenkt wird.
„Super-Gau“ ist auch so ein sprachlicher Granatwerfer. Kaffeedose morgens leer – Super-Gau. Lieblingsporridge ausverkauft – Super-Gau. Deshalb ist man erstmal vorsichtig, wenn eine Graphic Novel mit dem Titel Super-Gau daherkommt. Doch an dem Tag, an dem Bea Davies‘ Geschichte spielt, der 11. März 2011, passierte genau das: Der Schlimmste Größte anzunehmende Unfall, die höchste Eskalationsstufe der alten Weisheit: Schlimmer geht immer.

Schlimmste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl

Am Nachmittag bebte östlich der japanischen Küstenstadt Sendai, 400 Kilometer nordöstlich Tokios, die Erde. Das löste einen Tsunami mit stellenweise gigantischen, bis zu vierzig Meter hohen Wellen aus. Mit 800 Stundenkilometern drangen die Wassermassen ins Land. Dadurch kollabierten im örtlichen Kernkraftwerk Fukushima mehrere Kühlsysteme, es kam zur Kernschmelze. Wasserexplosionen verteilten die austretende Radioaktivität über die Luft weit über Japan. Die Reaktorkatastrophe in Japan war die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl im Jahr 1986.
Im Prolog zeigt Bea Davies den Beginn der Katastrophe, bei der 18.500 Menschen ihr Leben und eine halbe Million zumindest für lange Zeit ihr Zuhause und ihre Heimat verloren, anhand eines Mannes. Statt sich sofort in Sicherheit zu bringen, versucht er verzweifelt aus einer Telefonzelle jemanden in Deutschland (angedeutet durch die +49 auf dem Display) zu erreichen.

Immer wieder Wasser, vieles verschwimmt

Und hier beginnt die Geschichte: Eine junge Frau gleitet durch die Luft über ein überflutetes Berlin. Plötzlich greift aus dem Wasser eine Hand nach ihrem Knöchel und unter sich sieht sie Menschen wie im Moment eingefroren aufrecht im Wasser treiben. Ein Traum, den Lea einem Freund beschreibt.
Bea Davies erzählt mit klassischen Panels, immer wieder durchbrochen von großformatigen Panoramen. Die Affinität zum Manga ist deutlich, nur ist das Buch an an die westliche Leserichtung angepasst. Auch sind ihre minimalistisch und fein gezeichneten Bilder nicht einfach schwarz-weiß. Nicht nur in der Traumsequenz verschwimmen Konturen in Grauschattierungen, selten gibt es scharfe Kontraste. Und immer wieder taucht Wasser auf, Menschen sitzen am Ufer, träumen von Wasser, schwimmen im Wellenbad, sehen Bilder des Tsunamis.

Menschen begegnen und verlieren sich

Weitere Personen tauchen auf, ein eigenbrötlerischer Autor, eine nervöse, elegante  Frau, eine freundliche Säuferin, ein traumatisiserter Junge mit erfrorenen Fingern, eine blinde Alte, ein zugewandter Kreuzberger Bohemien. Sie begegnen sich und verlieren sich, laufen aneinander vorbei, wechseln mal ein paar Worte, mal nehmen sie einander überhaupt nicht wahr.
Der Regisseur Robert Altman verknüpfte in seinem Film Short Cuts von 1993 verschiedene Handlungsstränge innerhalb eines Tages locker miteinander. Bea Davies hat jetzt mit Super-Gau dieses episodische Erzählen, konzentriert auf einen erschütternden Tag, perfektioniert. Ihr gelingen hervorragend vielschichtige Figurenzeichnungen komplexer, sperriger Charaktere. Das meiste wird nur angedeutet, mal ist es das Foto eines kleinen Mädchens im Badeanzug mit Brille und spitzem Hut, eine doppelt gekaufte Zeitung, ein Familienbild auf einem Nachttisch, Berge von ungespültem Geschirr, ein dreckiger Verband, eine überschießende Reaktion, ein Gewaltausbruch oder eine  liebevolle Geste, die so viel mehr vom Leben dieser Menschen erahnen lassen.

Episodisches Erzählen perfektioniert

Super-Gau ist Bea Davies‘ Debüt als Autorin. Man kennt Graphic Novels als Memoir, als Biografie von Musikern, Sportlern, Zeitzeugen oder auch als Sachbuch (Wölfe). Diese Graphic Novel ist tatsächlich und wortwörtlich ein Roman – ein großer, ein globaler Gesellschaftsroman. Angelegt als ein eng geknüpftes Netz aus spannenden Einzelschicksalen, als eine Momentaufnahme eines Tages, der nicht nur bezüglich der Energieerzeugung viel geändert hat. Er endet in einem Epilog, wiederum in einer Telefonzelle in der Jetztzeit im fernen Japan, wo man mit den von der Katastrophe aus dem Leben gerissenen Menschen reden kann, Unausgesprochenes in einen Hörer sagen kann.

Viel Raum für imaginierte Leben

Super-Gau ist ein Roman, erzählt in bezaubernden und minimalistischen, auf das Wesentliche reduzierten Bildern. Berührend und mit viel Raum für Imagination.Und das verheißungsvolle und raffinierte Cover, in haptischem Prägedruck mit schäumender Gischt und einem Schriftzug gestaltet, der alle Protagonisten beinhaltet, ist ein wahres Kunstwerk für sich.
Bea Davies ist für das Genre der Graphic Novel ein Super-Gag – ein großartiger Glücksfall.

Bea Davies: Super-Gau, Carlsen, 208 Seiten, 26 Euro, ab 12

Friedliche Koexistenz mit dem Wollnashorn

Ratgeber

Prinzipiell kann jeder Blödi, der es sonst zu nichts bringt, ganz einfach zwei bis drei Ratschläge zusammenschustern, schreibt die schwedische Autorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch Das Orakel spricht. Und trotzdem oder gerade deshalb werden diese selbsternannten Expertinnen und Experten im Internet und den sozialen Medien gefeiert. Aber warum? Warum vertrauen viele Menschen sich selbst, ihren Gefühlen und Instinkten überhaupt nicht mehr? Und suchen stattdessen zu wirklich jeder Frage, sei es Ernährung, Gesundheit, Karriere oder Kinder Rat bei ihnen völlig unbekannten Leuten, nur weil diese so überzeugend und allwissend auftreten. »Man verliert den Glauben, dass man selbst weiß, wie frühstücken geht«, bringt Strömquist die Absurdität dieses Trends auf den Punkt.

Gedankengänge als mäandernde Sprechblasenschlangen

Mit ihrem brillanten Debüt Der Ursprung der Welt hat Strömquist ein eigenes Genre erschaffen, man kann es Graphic Essay nennen. In Comicform beleuchtet sie ein Gegenwartsthema gründlich und aus verschiedenen Blickwinkeln, sei es der weibliche Körper, Schönheitsideale, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft oder eben aktuell der Ratgeberkult zur Selbstoptimierung. Sie zitiert Philosophinnen und Soziologen, Mediziner, Biologinnen, Anthropologen und zahlreiche Studien. Und gestaltet das Ganze eingängig in ihrem einzigartigen Stil, mit schrägen Schaubildern, pointiert positionierten Protagonisten und Stichwortgebern, darunter auch immer mal wieder ihr Alter Ego. Gedankengänge oder Rede- und Widerrede mäandern als Sprechblasenschlangen über ganze Seiten. Ihr besonderer Bildwitz visualisiert und unterstreicht die intelligenten Gedankengänge und Analysen.

Leben verlängern, aber nicht genießen

Im Orakel kommen unter anderem kluge Köpfe wie die Philosophen und Theoretiker Byung Chul Han, Theodor Adorno und Slavoj Žižek und die Schriftstellerin Doris Lessing zu Wort. Und versuchen zu ergründen, warum man mit sich immer unzufrieden ist, den eigenen Gesundheitsstatus an Messwerten festmacht und das eigenen Leben zwar meint verlängern zu müssen, aber nicht genießen kann. Auch mit deren Hilfe demontiert Strömquist in sieben Kapiteln minuziös diverse erfolgreiche und obskure Influencer, über die Jahrhunderte hinweg.
Dabei verliert sie sich teils zu sehr in Details und nicht immer ist schlüssig, warum sich manche Leute angebliche, in der Kindheit erlittene Traumata (die bei näherer Betrachtung eher narzistische Kränkungen sind) ein- und dafür ihre freundschaftliche Hilfsbereitschaft ausreden lassen.

Der Motor des Lebensberatungskults

Der interessanteste Teil findet sich in der Mitte des Buches im vierten Kapitel, wenn das Orakel schließlich tatsächlich spricht. Es fängt an mit Meghan ehemals Markle, heute Frau von Prince Harry, die bei einer Wohltätigkeitsaktion für Sexarbeiterinnen, anstatt Tüten mit Lebensmitteln zu füllen, Bananen beschriftete: »Smile«, »Dream Big«, »Work hard«, »Inspire yourself and others«, »Show and share your worth«. »Für die Empfänger:innen sind diese Ratschläge überhaupt nicht hilfreich, deprimierend und sie schwächen ihr Selbstbewusstsein«, fasst Strömquist den Effekt einer Banane mit »Live, laugh, love« für eine misshandelte Prostituierte in einem treffenden Bild zusammen, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Warum tut jemand etwas bestenfalls Gedankenloses, eigentlich ziemlich Gemeines?
Tatsächlich geht es Markle und allen anderen ungefragt Ratschläge gebenden Leuten nur um sich selbst. Es macht ihnen nicht nur Spaß, es bestärkt sie. »Sie fühlen sich wichtig, wenn sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Das ist der eigentliche Motor der ganzen Lebensberatungs/Expertinnenkultur.«

Folge keinem Rat

Das bringt Strömquist zu einer ganz anderen Beratungsinstanz, nämlich dem bereits im Titel angedeuteten Orakel von Delphi. Hier gab es keinen Personenkult. Zu den besten Zeiten der 1200 Jahre betriebenen Kultstätte verrichteten drei berufene Priesterinnen, meist Frauen über 50, Dienst. Ihre Ratschläge waren mehr Hilfestellungen für die Fragenden, selbst nachzudenken und das Problem zu verstehen. Und der beste Rat, den eine Phytia je gegeben hat, lautete: »Folge keinem Rat.«
Zu dieser klugen Erkenntnis gelangt Strömquist auf teils etwas langatmigen, kryptischen  und detailverlorenen Umwegen. Wahrscheinlich, weil sie versucht zu ergründen, warum selbst sie als selbstbewusste, rationale und gebildete Frau nicht davor gefeit ist, bei vermeintlichen Expert:innen und deren Selbstoptimierungstricks hängen zu bleiben, Zeit zu verplempern und sich verunsichern zu lassen. In der zweiten Hälfte verliert sie  sich zudem in etwas plumper Konsumkritik und den Gefahren von un-sozialen Medien.
»Folge keinem Rat« sagt das Orakel und allein das macht Strömquists Buch lesenswert. Und das ist jetzt kein Rat, sondern eine Empfehlung, selbst nachzudenken.

Ratgeber

Sehr und ohne Einschränkungen empfehlenswert ist auch das neue Sachbuchcomic von Lucia Zamolo. In Und dann noch … zeigt sie witzig, schlau und sehr persönlich, wie man den allgegenwärtigen Selbstoptimierungszwang bezwingt.
Obwohl schon ihr Debüt als Illustratorin und Autorin, ihre Bachelorarbeit Rot ist doch schön über Menstruation, ausgezeichnet wurde und seitdem jedes ihrer Bücher hochkarätige Preise gewonnen hat, kennt sie das Gefühl, sich immer wieder beweisen zu müssen.
Denn »Leistungsgesellschaft bedeutet, Du musst etwas leisten, um Teil der Gesellschaft zu sein«, wie Zamolo ausführt. Die Gleichung lautet »du bist = du machst«, also »du machst nichts = du bist nichts«. Also muss man immer machen, immer was leisten. Das stresst. Anschaulich und eindringlich illustriert Zanolo, was Stress in Körper und Geist auslöst, wenn man permanent bereit ist, zu kämpfen oder zu fliehen, obwohl weit und breit weder Säbelzahntiger noch Wollnashorn in Sicht sind.

Nicht toxisch und sehr persönlich

Eine Pause ist nur nach einem Burnout erlaubt, man muss also erst so viel geleistet haben, dass man sehr krank wird. Anstatt zu pausieren, bevor man krank wird. Eigentlich dachte Zanolo, nachdem sie alles reflektiert und rational erfasst hat, »als super ungestresstes Beispiel vorangehen zu können und sogar noch kluge Tipps geben, wie das so geht.« Tja, denkste. Nur weil man die Zusammenhänge von Stressauslösern und Symptomen verstanden hat, lässt sich das Wollnashorn nicht einfach abschütteln.
Geradezu kontraproduktiv sind solche Ratschläge, vorzugsweise von selbsternannten Experten ungefragt erteilt, die immer nur auf das Positive abzielen. Jeder kann alles erreichen, und wenn nicht, dann hat man sich halt nicht genügend angestrengt, sprich, sich nicht ausreichend optimiert. Toxic Positivity nennt man das, was Menschen, die nicht permanent auf der Sonnenseite stehen, endgültig ins Unglück treiben kann.

… und ohne To-Do-Listen

Wie sie versucht, mit dem Wollnashorn in friedlicher, nicht krankmachender Koexistenz zu leben, zeigt Lucia Zamolo auf ihre mitreißende und besondere Art. Und mit To-do-Listen sollte man nur eins tun: alle wegwerfen. Stattdessen Lucia Zanolos liebenswertes Buch beherzigen. Auch das ist kein Rat. Und bestimmt kein toxischer Tipp.

Liv Strömquist: Das Orakel spricht, Übersetzung: Katharina Erben, avant, 2024, 248 Seiten, 25 Euro, ab 15
Lucia Zamolo: Und dann noch … Wie Stress weniger stresst – fast ohne Toxic Tipps!, Bohem, 2024, 108 Seiten, 18 Euro, ab 14

Gesellschaftspanorama zwischen Tomaten und rosa Klopapier

Supermarkt

Es gibt Leute, die gehen nicht gern einkaufen. Vor allem nicht in großen Supermärkten. Anderen macht es sogar Spaß, Zeit zwischen den gefüllten Regalen zu verbringen, dreißig verschiedene Sorten Senf zu entdecken oder sich an entzückenden Kuchendekorationen zu erfreuen, wie silbernen und goldenen Kugeln, Neonfarben aus der Tube, bunte Sternchen und lustige Augen aus Zuckerguss. Während der Corona-Pandemie hat man jede Gelegenheit genutzt, aus dem Haus zu kommen und auf keinen Fall einen Einkaufszettel geschrieben. Wenn man wieder was vergessen hatte, konnte man noch mal raus. In Frankreich sind Passanten gelegentlich kontrolliert worden, ob sie wirklich frische Lebensmittel des täglichen Bedarfs in der Tasche hatten, etwa Baguette und Milch. Aber wann braucht man zuckersüße, winzige Einhörner in rosa und hellblau mehr als während einer globalen Seuche?

Schikanöse Supermarktleiterin

Man kann auch hervorragende Sozialstudien im Laden betreiben. Wie Susie im Supermarkt im famosen, gleichnamigen Bilderbuch. »Samstags ist frei. Für mich. Nicht für Mama. Sie muss heute arbeiten. Ich begleite sie. Wie jeden Samstag.« Susies Mutter arbeitet als Kassiererin an der Supermarktkasse, am Samstag, wenn andere ihre Wochenendeinkäufe machen.
Die plietsche Grundschülerin und ihre Mutter sind ein gut eingespieltes Team. Und der Supermarktleiterin ein Dorn im Auge: »Ihre Chefin mag es nicht, wenn ich hier bin. ›Wo soll sie sonst sein?‹, fragt Mama. ›Wir sind kein Hort‹, sagt die Chefin. ›Hier kann sie nicht sein.‹« Geschickt umgeht Daniel Fehr in seiner wunderbar in Susies Worten erzählten Geschichte hier schon das erste Klischee. Kein Mann, sondern eine Frau hat kein Verständnis für die Probleme der alleinerziehenden Mutter. Vielleicht hat sie keine eigenen Kinder. Oder einen fürsorglichen Partner zu Hause. Oder rührende Großeltern, die den Nachwuchs hüten, während sie als Chefin Leute in weniger privilegierter Situation schikaniert.

Nur ein Brot und etwas dazu

»Also bin ich nicht hier. Wie jeden Samstag.« Also ist Susie nicht beim Gemüse, wo sie jeden Samstag Frau Riebel beobachtet, wie sie jede Tomate von allen Seiten genau ansieht, bevor sie sie in ihren Korb legt. Susie ist nicht bei den Fischen, wo Herr Wrobel bedient und die Fische stumm herum liegen. Auch nicht beim Brot. »Beim Brot ist Herr Herrlich. Er kauft immer nur sehr wenig. Ein Brot und etwas dazu. Mama sagt, Herr Herrlich habe nur eine kleine Rente, er könne sich nur wenig leisten.« Treffender und eindringlicher kann man Altersarmut nicht beschreiben.

Platz für ganz unterschiedliche Menschen

Die kluge Beobachterin ist auch weder bei den Saucen, wo Robert emsig die Regale immer wieder auffüllt. Noch beim Toilettenpapier, wo Frau Gruber immer rosa Toilettenpapier kauft. Mit Veilchenduft. Und sie ist auch nicht bei den Nudeln. »Bei den Nudeln ist Frau Görlich. Sie schaut nach, ob alles an seinem Platz ist. Es ist immer alles an seinem Platz. Dafür sorgt Robert. Mama sagt, Frau Görlich kommt jeden Tag in den Laden, weil sie nicht weiß, wo ihr eigener Platz ist. Ich glaube, Frau Görlich hat ihren Platz gefunden.«
In klaren Worten beschreibt das empathische Mädchen einen Raum, wo für viele ganz diverse Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und individuellen Marotten Platz ist: Paare und Familien, einsame Menschen, alte und junge, Leute, die nur das Nötigste kaufen oder sich für eine Party mit Getränken und Knabberkram eindecken. Wo auch erstaunlich viele Kinder rumwuseln, in Büchern blättern oder Käse aus dem sogenannten Kindersortiment probieren, »milder Gouda, Mozzarella Sticks«.

Buntes Spektrum und Sortiment

Claudia Burmeister illustriert dieses Gesellschaftspanorama in unmittelbar ansprechenden, ebenso lebendigen wie vielfarbigen Buntstiftzeichnungen. Mit großer Liebe zum Detail zeigt sie das riesige Sortiment eines großen Supermarkts mit Unmengen an Produkten. Kleine Kinder können beim Betrachten der Bilder viele erkennen und benennen. Sie begegnen den vorgestellten Leuten auf verschiedenen Seiten wieder. Und verstecken sich mit Susie geschickt vor der alle Bereiche kontrollierenden Chefin, zwischen Konservendosen, in einer Schlange, unten im Einkaufswagen. Nebenbei sammelt Susie noch Zutaten fürs Abendessen zusammen. »Heute Abend ist frei. Für Mama. Nicht für mich. Ich mache Abendessen für uns. Weißt du was?« Allein diese Frage ist ein guter Anlass, dieses sehr schöne Buch gleich noch einmal zu lesen.

Man möchte dieses repräsentative soziale Spektrum allen Politikern ans Herz legen. Vor allem die fraktionsstärksten Parteien scheinen sich erschreckend wenig für Alleinerziehende, oder für solche, mit weniger als dem laut Friedrich Merz durchschnittlichen Jahreseinkommen von hundert- bis zweihundertfünfzigtausend Euro, für einsame oder von Altersarmut betroffene Menschen zu interessieren. Ein Hoch auf Susie im Supermarkt und alle, die die Läden trotz aller Widrigkeiten am Laufen halten.

Daniel Fehr: Susie im Supermarkt, Illus: Claudia Burmeister, Bohem, 32 Seiten, 18,50 Euro, ab 4

Gebäude voller Leben

Buchstabenhausen

In Kritiken liest man häufiger den Satz: »Ein Buch, in dem man wohnen möchte.« Diese Art von Resümee lässt potenzielle Leserinnen und Leser ratlos zurück. Eigentlich ist es nur eine austauschbare Rezensionsworthülse wie »Der Roman des Jahres«, »Ein Pageturner«, »konnte nicht aufhören zu lesen«, die sich auf die meisten Buchrückseiten drucken lässt.
Ganz anders bei diesem brillanten Bilderbuch: Hier möchte man in (fast jedem) Buchstaben hausen! Und das ist nicht nur ein (zugegebenermaßen sehr naheliegendes) Wortspiel mit dem fast identischen Titel dieses gedruckten Meisterwerks.

Ein Affe im Atelier

Die schwedischen Architekten Maja Knochenhauer und Jonas Tjäder haben jeden der 26 Buchstaben des Alphabets als Gebäude gestaltet. Es beginnt mit einem A wie Atelier. In den von Stefan Pluschkat humorvoll übersetzten Reimen dazu wird ein bisschen über künstlerische Arbeit erzählt. Interessant ist bereits das wohlbekannte Objekt, dass in diesem Atelier in verschiedenen Varianten dargestellt wird. Und oben, unterm Dach, hangelt sich ein Affe entlang – ein erster Hinweis auf die alle Seiten und Buchstaben verbindenden Rätsel.

Gelbes U-Boot in der Garage

Gleich das zweite Buchstabenhaus ist natürlich der Paradebau des Alphabets: B wie Bibliothek. Auf fünf Ebenen sieht man prallvolle Regale mit Büchern über unterschiedlichste Themen wie »Bohnen, Brasilien, Banditenbetrug«, Köchinnen, Kinder, Opernsängerinnen … und Bär. Wo kommt der denn her?
Und so geht es munter, lustig und fantasievoll gestaltet weiter: Das D ist ein Delphinarium, das in nur anfangs vermeintlich harmlos dahinplätschernden Versen in Frage gestellt wird, weil die Delphine sich »schmerzlich nach Freiheit und Meer sehnen«. Das G ist eine Garage, in der nicht nur Autos parken, sondern auch ein gelbes U-Boot und ein Ufo. Und passende tierische Gäste finden sich auch hier.

Ganz schön was los in Buchstabenhausen

Mit viel Liebe zum Detail ist das H wie Hotel eingerichtet, im L wie Leuchtturm liest nicht nur ein Kind, das M ist ein Museum, aus dem alle Bilder geklaut wurden, im Q findet sich eine Quinoakocherei und im S wie Supermarkt schlängeln sich auch schräge Kundinnen zwischen den Regalen durch. Ganz schön was los in Buchstabenhausen. Aus jedem Buchstaben entspringen Geschichten, lautmalerisch vertraute und auch schön absurde. Und die passenden Tiere finden sich auch dazu. Was es mit den tierischen Bewohnern auf sich hat, zeigt sich beim Z wie Zoo.

Hingucker, die bleibenden Eindruck hinterlassen

Ganz zum Schluss gibt’s noch ein paar weitere Rätsel zu knacken. Und so beginnt ein munteres Vor-und Zurückblättern (ein wahrer Pageturner!). Daraus erschließt sich das große Ganze des Alphabets: Diese 26 Elemente sind nicht nur einzelne Häuser. Alles hängt mit allem zusammen. Und aus allem zusammen entstehen Texte, Reime und Beschreibungen, Erzählungen und Sprache. Diese Buchstaben sind keine abstrakten Zeichen, sondern hinreißende Hingucker, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Selten macht Lesen lernen solchen Spaß. Für Erwachsene ist es eine Neuentdeckung der Zeichen, die eine Welt bedeuten – eine Welt, in der man wohnen möchte.

Maja Knochenhauer, Jonas Tjäder: Buchstabenhausen, Übersetzung: Stefan Pluschkat, Oetinger, 2024, 40 Seiten, ab 4, 17 Euro

Das Schwein und das Nichts

Na, das ist doch gleich mal eine Ansage: »In ein paar Tagen werde ich von einem Drachen verschlungen.« Das stellt ein sympathisches, schwarzes Schweinchen gleich zu Anfang des Kindercomics Kleine Hexe Nebel klar. Und schiebt hinterher: »Ein Schwein, das von einem Drachen gefressen wird. Wen kümmert das?« Und schon ist man drin in der neuen Comicreihe aus Frankreich bei Carlsen, die mit einem Hang zum realistischen Pessimismus beginnt. Frei nach Werner Enkes »Es wird böse enden«, übrigens auch das Lebensmotto der Autorin dieser Zeilen, für das sie von einer Freundin mal übelst beschimpft wurde. Zwanghafte Optimisten können sehr aggressiv reagieren, wenn man ihre Einstellung nicht teilt.

Herkunft nebulös

Aber zurück zur Geschichte: »Eins gleich vorweg, ich bin nicht der Held dieser Geschichte«, sagt das an die niedlichen Hängebauchschweine, Stars des Tierparks Schwarze Berge bei Hamburg, erinnernde nette Tier (weil es stets aufrecht auf den Hinterbeinen läuft, ist von einem Hängebauch allerdings nichts zu sehen, trotz einer Vorliebe für Schokocroissants). Denn der vermeintliche Held des Comicdebüts von Jérôme Pelissier und Carine Hinder ist eine Heldin, die titelgebende kleine Hexe namens Nebel. Die Herkunft des forschen und unerschrockenen Mädchens ist nebulös. Ihr Vater, ein Fischer in einem kleinen Dorf, hat sie als Kleinkind an einem nebeligen Tag am Waldrand gefunden. Zusammen mit einem Buch, das er ihr jetzt, ein paar Jahre später, gibt. »Wenn man dem Glauben schenkt, was darin geschrieben steht, ist es ein wahres Zauberbuch.«

Globale Gefahr zauberhaft besiegt

»WOUAAAAAH!!« Nebel ist völlig aus dem (Baum-)Häuschen. Ist sie etwa doch eine echte Hexe? Gemeinsam mit ihrem Freund Hugo und dem kleinen Schwein stürzt sie sich ins Abenteuer. Kaum ist ein klassischer Kessel besorgt, hext sie auch schon munter los – und entfacht, Stichwort sprechende Namen, einen gewaltigen, alles umhüllenden, phänomenalen und alle Dorfbewohner ängstigenden und lähmenden Nebel.
Das Illustratoren-Paar Pelissier und Hinder ist tatsächlich vor ein paar Jahren in ein kleines Dorf in der Bretagne gezogen. Moment, ein kleines gallisches Dorf? Tatsächlich findet man hier wie beim berühmtesten Gallier lauter skurrile Typen mit ihren alltäglichen kleines Zwistigkeiten. Und dann kam noch ein die ganze Welt umfassendes, tatsächliches Ereignis dazu: Die globale Covid-Pandemie. Anfangs schwer zu begreifen, diffus, bedrohlich wie ein Nebel. Die große Gefahr und wie man sie schließlich besiegt, haben die beiden zu einer ungeheuer lustigen und zauberhaften Geschichte verwandelt.

Räsonabler Liebhaber von Pain aux Chocolat

Damit reiht dieses Buch sich in aktuelle, sehr liebenswerte Geschichten um freundliche Hexen und ihre positive Magie ein, wie in André Bouchards Ein Tag im Leben einer Fee oder Kat Leyhs Snapdragon. Carine Hinder hat diesen Kindercomic famos bebildert, mit anfangs eher klassischen, teils kleinteiligen Panels. Im Laufe der Geschichte werden es großflächigere, berückende Tableaus in satten Farben, die einen tief in animierte Waldlandschaften eintauchen lassen, wo man sagenhaften Gestalten begegnet. Mehr davon, s’il vou plaît, von diesen frischen Galliern, der frechen, kleinen Hexe und dem räsonablen Pain-aux-Chocolat-Liebhaber.

Mehr möchte auch die Titelfigur im Bilderbuch von Regina Schwarz und Florence Dailleux, nämlich mehr sein: »Ich bin ein Nichts und ich bleibe ein Nichts. Und ich sehe nach Nichts aus. Wie ein Nichts eben. Aber das ist ja nichts Neues. Da kann man nichts machen.« So nölt das Nichts vor sich hin. Das von Florence Dailleux gemalte Nichts ist eine unscharfe schwarze Aussparung zwischen sich dicht nebeneinander bewegenden, klar konturierten Tieren, Pflanzen und Formen. Und weil es traurig ist, erkennt man noch zwei Punkte und einen nach unten geöffneten Bogen, das vage Gegenteil eines Smileys.
Am liebsten würde es sich in nichts auflö… (hier verschwindet die Schrift). So raffiniert beginnt Regina Schwarz ihre verblüffend existenzialistische Geschichte.

Wenn niemand mehr mit nichts was zu tun haben wollte …

Oh, jetzt sind aber alle ganz schön erschrocken: »Und dann? Ständen alle da ohne das Nichts.« Alle vergewissern das Nichts, dass sie es unbedingt brauchen. Es beginnt ein auch linguistisch sehr reizvolles, ermutigendes Plädoyer: »Niemand könnte mehr sagen: Nichts da!« und die Katze davon abhalten, den Vogel aus dem Käfig zu futtern, oder »Macht nichts!«, wenn ein Malheur passiert. …  »Stell dir vor, wenn niemand mehr mit nichts was zu tun haben wollte. Und sich aus rein gar nichts mehr etwas machen würde.«

Dann wäre es sehr finster, zappenduster, echt deprimierend. Weshalb gleich zwei Doppelseiten rabenschwarz sind. Nur ganz oben links findet sich der verzweifelte Ruf nach dem Nichts. »Denn wir brauchen das Nichts. Denn es ist nicht für nichts gut. Sondern für vieles.« Also Aus und Ende? Stille Apokalypse. Urknall retour? Ist jetzt alles zu spät?  

Ohne Nichts ist alles nichts, oder?

Wie sich mit dem überhaupt nicht nihilistischen Blick auf das Nichts die Sichtweise aller ändert, zeigen wiederum auch Florence Dailleuxs Illustrationen – mit bunten Wesen aus kräftigen Wachsmalstiftstrichen auf schwarzem Karton. Und in ihrem Zentrum, in ihrer Mitte? Seht selbst! Man versteht: Ohne nichts ist alles nichts.
Wer hätte gedacht, dass ein Bilderbuch so charmant derart komplexe semantische und philosophische Fragen umfassen kann. Und die auch noch so außergewöhnlich hübsch, mit klassischen Anklängen bebildert gestellt werden.

Jérôme Pelissier (Text), Carine Hinder (Illustrationen): Kleine Hexe Nebel – Das Erwachen des Drachen, Ü: Marcel Le Comte, Carlsen, 64 Seiten, 15 Euro, ab 8

Regina Schwarz (Text), Florence Dailleux (Bild): Die Geschichte vom Nichts, aracari, 32 Seiten, 15 Euro, ab 5

Unheimlich gute Serien

Geisterhelfer

Genug der hyggen Heimeligkeit im trauten Kreis der Familie. Nach mehreren Tagen volle verwandtschaftliche Breitseite spielt man zumindest mit dem Gedanken, wie es wohl in einer ganz anderen Familie wäre? Mit mehr Action? Amanda Black allerdings hat im Moment keine Zeit über ihre soeben entdeckte Familie nachzudenken: »Mein größtes Problem ist, dass die Bank meine Tante Paula und mich noch vor dem Wochenende aus der Villa Black werfen wird. Zumindest war das mein größtes Problem – bis vor drei Sekunden. Dann wurde das Seil durchgeschnitten. Jetzt stürze ich aus 477 Metern Höhe, mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 55 Metern pro Sekunde. Aber das ist nicht mein größtes Problem. Mein größtes Problem ist, dass derjenige, der das Seil durchgeschnitten hat, mein bester Freund ist. Oder zumindest dachte ich, dass er das ist.«

Perfekte Superheldinnenlandung statt Hackbällchen

Juan Gómez-Jurado und Barbara Montes beginnen den Auftakt ihrer Serie  Amanda Black furios mit einem packenden Cliffhanger. Doch zunächst ein kurzer Rückblick: Amanda lebt mit ihrer fürsorglichen und liebevollen Großtante Paula in einer winzigen Einzimmerwohnung. Ihre Eltern sind kurz nach ihrer Geburt gestorben. Amanda und Tante Paula sind einander die ganze Familie und sie sind sehr arm. Amanda kennt es nicht anders. Bis kurz vor ihrem zwölften Geburtstag.
Da springt sie, nur um dem meckernden Vermieter auszuweichen, als wäre es das Normalste der Welt, zum Nachbarhaus und von da in die Tiefe: »Ich fiel durch den Regen, das rechte Bein unter meinem Körper angewinkelt, das linke zur Seite ausgestreckt, sodass sie ein Dreieck bildeten. Meinen linken Arm hatte ich über die Schulter nach hinten gebogen und die rechte Hand mit der Handfläche nach unten gerichtet, um mich abzufangen. Ich dachte ja, ich würde mir ein Bein brechen oder wie ein Hackbällchen, das aus dem Topf entkommen war, über den Boden kullern. Aber nein: keine Knochenbrüche, und auch kein kullerndes Hackbällchen. Nur eine perfekte Landung und ein merkwürdig surreales Gefühl.«

Das hätte den Jedis Darth Vader und etliche Problem erspart

Das spanische Autor-Autorin-Gespann spielt virtuos mit den klassischen Versatzstücken des Action- und Agentinnen-Genres: Die liebe Großtante, ein bisschen wie Peter Parkers Tante May, arm wie Aschenputtel, merkwürdige Veränderungen, unbekannte Herkunft, ein loyaler, altmodischer Typ mit ausgefeilten Techniktricks, wie bei Batman oder James Bonds Q. Und plötzlich eine Superheldinnenbewegung, wie man sie von Scarlett Johansson als Black Widow kennt. Über die sich im gleichnamigen Film ihre kleine Schwester lustig macht. Gleich auf den ersten Seiten von Amanda Black gibt’s reichlich Assoziationen.
Das macht auch den charmanten, von Tamara Reisinger flott übersetzten Tonfall des ersten Abenteuers von Amanda Black als frisch gebackene Schatzjägerin und Superheldin aus. Es ist ungeheuer spannend, ein bisschen surreal, doch immer auch mit einer raffinierten, humorvollen und sehr zeitgemäßen Brechung. Die Familie Black hat es sich nämlich seit Generationen zur Aufgabe gemacht, alle möglichen schrecklichen Waffen zu stehlen und wegzusperren, um Konflikte zu befrieden. Ihre Fähigkeiten und Superkräfte dürfen sie aber nur für Gutes nutzen, nicht zu persönlichen Bereicherung und für Böses, sonst kehrt ihr Talent sich gegen sie.
Sehr schlau, das hätten die Jedis auch mal so festlegen sollen, es hätte ihnen Darth Vader und etliche Probleme erspart.

Unfassbarer Reichtum ist eine supergefährliche Waffe

Schon im ersten Band deutet sich an, dass eine der gefährlichsten Waffe unfassbarer Reichtum und die damit einhergehende Macht ist. Eine kluge und zeitgemäße Interpretation, siehe die derzeit unheilvollste Symbiose des Bösen in den USA. Im bereits erschienenen zweiten Band geht es auf Geheimoperation im Untergrund. Mehr davon!

Geisterhelfer

Mehr gibt es auch demnächst von den Geisterhelfern. Das sind Leo und Antonia. Leo wurde angeblich mitten auf einem Friedhof in einem Sarg geboren. Weshalb sein zweiter Vorname Helsing ist, nach dem Vampirjäger. Seine Eltern finden das lustig, Leo weniger. Er ist nämlich eher ein ängstlicher Typ, vor allem Dunkelheit kann er nicht ertragen.
Er würde also nie auf die Idee kommen, im Dunkeln auf einen Friedhof zu gehen. Doch genau das passiert. Dort begegnet er drei Gespenstern, grün wabernden Wesen. Nur er kann sie sehen, ausgerechnet. Sie sehen aus »als würde man eine Kerze unter eine Schüssel Wackelpudding stellen, Sorte Waldmeister.« Und nur er kann verstehen, was sie sagen und was sie umtreibt. Und deshalb bitten sie ihn um Hilfe, einen dauernd jammernden Quälgeist zu vertreiben.

Queere Geister

Tatsächlich wird Leo, zusammen mit Antonia, der leicht morbiden, konsequent schwarz gewandeten Enkelin der Nachbarin, den Gespenstern helfen. Aber ganz anders als gedacht. Es kommen Ex-Fußballprofis und uralte Lederbälle, meterlange Häkelschlangen und alte Blumentöpfe ins Spiel. Dabei macht Tina Blase ganz nebenbei ein paar Klischees den Garaus: Warum sollen Geister nicht queer sein, also einst queer gelebt haben. »Alte Menschen sind nicht automatisch dumm«, bringt Antonia es auf den Punkt. Später merkt Leo über das Mädchen anerkennend »verrücktes Gefasel und Häkelgardine bedeutet nicht automatisch unsportlich.« Kapitalismuskritisch ist sie auch: »Wie langweilig, immer geht es nur ums Geld.«
Deshalb geht es in diesem Buch um mehr. Tina Blase macht ihre schräge Geistergeschichte zur turbulenten Schatzjagd. Und erzählt so von Freundschaft, Solidarität und Vertrauen. Von Feigheit und schlechtem Gewissen. Von nachvollziehbaren Ängsten und irrationalen Phobien. Und von wahrem Mut – nämlich über seinen eigenen Schatten zu springen.

Lebende sind manchmal wirklich gruselig

Das ist auch sprachlich ein Lesevergnügen: »Solche Jungs sind mir ehrlich gesagt suspekt. Niemand ist in echt so cool. Ich sehe es an meinem Bruder«, sagt Leo über den Star seiner neuen Schulklasse. Überhaupt spielt Leos älterer, schwer pubertierender Bruder Valentin eine wichtige Rolle wegen seiner egozentrischen und gruselig gemeinen Prophezeiung: »Wenn du dich nicht änderst, wirst du ein schlimmes Ende nehmen! Als einsamer Nerd, der seine Tage unter der Bettdecke fristet, während anderer ihr Leben leben. Du wirst nie Freunde haben, nie eine Familie gründen, vermutlich auch nie arbeiten und am Ende jämmerlich – « Die Lebenden, besonders die in nächster Umgebung, sind manchmal die wirklich Unheimlichen. Doch manche werden auch unheimlich gute Freundinnen und Freunde.

Juan Gómez-Jurado, Barbara Montes: Amanda Black – Die Mission beginnt, Ü: Tamara Reisinger, cbj, 2024, 208 Seiten, 14 Euro, ab 9

Tina Blase: Die Geisterhelfer – Traue sich, wer kann!, cbj, 2024, 224 Seiten, 13 Euro, ab 8

Spektakulär schön

Zuerst eine Feststellung: Ich bin die Königin der Prokrastination. Obwohl Kathrin Passig vielleicht eher Anspruch auf den Thron erheben würde, immerhin hat sie schon vor fast 15 Jahren ein bahnbrechendes Buch zum Thema geschrieben – allerdings zusammen mit Sascha Lobo, wer weiß, alleine würde sie es womöglich immer noch vor sich herschieben.
Diesmal habe ich aber selbst für meine Verhältnisse krass überzogen – und mir über ein Jahr Zeit gelassen (wo ist die nur wieder hin?), um das schönste Weihnachtsbuch der vergangenen Jahre zu empfehlen: Jims brillante Weihnachten.
Und damit nicht noch der alte Witz, Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – und wenn das fünfte Lichtlein brennt, haste Weihnachten verpennt Wirklichkeit wird, hier also kurz vor knapp der ultimative Weihnachtsgeschichten-Tipp.

Als lebendige Kaminbürste missbraucht

Die fabelhafte, englische Schauspielerin Emma Thompson, unter anderem bekannt als Nanny McPhee, hat Jims brillante Weihnachten geschrieben. Nach ein paar Neuerzählungen von Beatrix Potters Peter Rabbit Geschichten, hierzulande als Peter Hase bekannt, ist es ihr Kinderbuchdebüt. Und was für eins: Es handelt von Jim, einem Hund, einem umwerfend liebenswerten, der auf sehr sehr krude Weise seinem Menschen oder Herrchen zugelaufen, genauer zugefallen ist. Der Streuner wird nämlich als lebendige Kaminbürste missbraucht und plumpst schließlich aus einem Kamin des Victoria & Albert Museums im Herzen Londons. »Zum Glück war es Sommer und es brannte kein Feuer, weshalb nichts Schlimmere passierte, als dass auf die Menschen in der Nähe des Kamins eine ansehnlich Menge Ruß niederging und Jim sich in einer Art schwarz gesprenkeltes Stachelwesen verwandelt fand.
Ein ziemlich beleibter Her mit einem wilden, weißen Haarschopf schlug vor, Jim zu säubern und seinem Besitzer zurückzubringen.
Nach mehreren Waschgängen, in denen Jim – sehr zu seinem Missvergnügen – untergetaucht, eingeseift, abgeschrubbt und abgespült wurde, sah er wieder aus wie zuvor.
Der rußgeschwärzte beleibte Herr war, wie sich herausstellte, niemand anderes als Sir Henry Cole, der Direktor des Museums.«

Treuer Begleiter des Museumsdirektors

Sir Henry behält den Hund, der sich schon bald in den weiten Hallen des Museums und dessen Umgebung bestens auskennt und Botengänge unternimmt. Soweit die Vorgeschichte dieser besonderen Freundschaft. Die historisch verbürgt ist. Sir Henry Cole war aber nicht nur der Direktor des von Prinz Albert, Mann der englischen Königin Victoria, gegründeten Museums. Sondern auch der Erfinder einer der schönsten Traditionen Großbritanniens: Der Weihnachtskarte.
Emma Thompson erzählt, was Jim damit zu tun hat. Der ist nämlich nicht nur ein sehr netter, kluger und umtriebiger Hund. Sondern auch ein leidenschaftlicher Leser. Und weil sein eines Auge immer tränt und nicht viel taugt und das andere auch immer schlechter wird, träumt er von so etwas wie einer Brille für ein Auge, etwas, das er für sich Brill nennt. Was der Siegeszug der Weihnachtskarten mit der königlichen Familie und einem Monokel zu tun haben, erzählt Thompson absolut furios, hinreißend und zauberhaft.

Geniales Wortspiel

Anu Stohner gelingt es großartig, das ursprüngliche Wortspiel aus spectacular und Spectacles, englisch für Brille (kurz: Spex, wie eine exzellente, deutsche Musikzeitschrift hieß) zu übersetzen: mit brillant. Auch sonst trifft sie Thompson lässig liebevollen Tonfall sehr gut. Nur als Jim mit einem im Original gamey whiff behaftet beschrieben wird, greift Stohners herber Geruch zu kurz. Gamey whiff ist auch ein wilder Hauch, etwas abenteuerlustiges, fast anarchistisches schwingt mit.

Wenig royal, dafür umso herzlicher

Illustriert hat die Geschichte Axel Scheffler, bekannt als der Gestalter und Miterfinder des legendären Grüffelos. Thompson und Scheffler kannten sich über kleine Auftragszeichnungen schon länger, sind sich aber erst Jahre später persönlich begegnet. Und das, obwohl sie für Londoner Verhältnisse fast Nachbarn sind. Jims brillante Weihnachten ist ihre erste Zusammenarbeit, und man kann jetzt schon sagen, sie ist so kongenial wie Schefflers Werke gemeinsam mit der Kinderbuchautorin Julia Donaldson. Im Gegensatz zum Grüffelo sieht man hier mehr Schefflers subtilen Witz und Spaß an skurrilen Typen und Szenen, wie etwa in Vater Eichhorn fällt vom Baum, dem allerbesten pixi Buch.

Königlich bekleckert

Wer schafft es schon in ein Bilderbuch ein Kind, das aus einem Glas Wein trinkt, hereinzuschmuggeln? Ist aber historisch verbürgt, über die erste Weihnachtskarte. Oder die nahbare, lebensechte und freundliche Darstellung der königlichen Familie bei Jims Besuch im Buckingham Palast: »Zu guter Letzt betraten sie einen Raum, der voller Kinder zu sein schien. Dazu kamen fast genauso viele Kindermädchen, und es dauerte einen Moment, bis Jim in dem Gewimmel etwas sah, was ihm bis ans Ende seiner Tage im Gedächtnis bleiben würde.
Die Königin, denn nur um sie konnte es sich bei der kleinen rundlichen Person mit Krone handeln, hatte sich offensichtlich mit Tee oder etwas ähnlichem bekleckert, und Prinz Albert, denn nur um ihn konnte es sich handeln, versuchte den Fleck mit einem Taschentuch fortzutupfen.« Schefflers Familienbild ist wenig royal, dafür umso herzlicher und ein entzückendes Vergnügen.

Also, nicht zögern, Jims brillante Weihnachten gleich im Buchladen des Vertrauens kaufen und lesen. Und viele Weihnachtskarten an liebe Menschen verschicken. Das wird ein spektakulär schönes Fest!

Emma Thompson, Axel Scheffler: Jims brillante Weihnachten, Übersetzung: Anu Stohner, Beltz & Gelberg, 3. Auflage 2023, 80 Seiten, 18 Euro, ab 6

Vielsagende Vögel

Wiedehopf

Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.« So beginnt die Hamburger Illustratorin und Cartoonistin Maren Amini ihren ersten Comic, Ahmadjan und der Wiedehopf.
Was für ein Debüt als Graphic-Novel-Autorin!
Es ist die bewegte, mitreißende Biografie ihres Vaters Ahmadjan. Es ist auch die Wiederentdeckung und moderne Neuerzählung der Konferenz der Vögel, eines großen persischen Epos aus dem 12. Jahrhundert des mystischen Dichters Fariduddin Attar.

1000 Vögel für vielfältige Kultur

Vor allem aber ist es die Geschichte eines faszinierenden Landes – Afghanistan. Ja, genau, das Land irgendwo eingeklemmt in Zentralasien, das heute nur noch mit engstirnigen religiösen Fundamentalisten assoziiert wird. Das bitterarme Land, von verschiedensten Gegnern zurückgebomt in die Steinzeit, wo Frauen entrechtet, geradezu entmenschlicht werden. In dem alle Andersdenkenden und Freiheitsliebenden brutal unterdrückt, getötet oder vertrieben werden.
Als die Taliban erneut die Macht ergreifen, reagiert der 1953 in Afghanistan geborene und in Hamburg lebende Ahmadjan Amini mit Kunst. Die 1000 Vögel beziehen sich auf Die Konferenz der Vögel, stellvertretend für die vielfältige und reiche Kultur Afghanistans und das Zusammenleben zahlreicher Ethnien. Für Freiheit, Sinnsuche und den lebenslangen Weg zur Erkenntnis. Seine Kunst hat Ahmadjans Leben gelenkt, geprägt, er hat von ihr gelebt und sie hat ihn immer wieder gerettet.

Raffiniert Lebensgeschichte und mystische Dichtung verknüpft

Zu ihrem großen Bedauern war Maren Amini, geboren 1983, noch nie im Heimatland ihres Vaters. Auch die mystische Dichtung kannte sie bis zur jetzigen Zusammenarbeit mit ihrem Vater nicht. Umso beeindruckender ist es, wie raffiniert und stimmig sie seine Lebensgeschichte mit Fariduddins Parabel erzählerisch in Text und Bild verknüpft.
In meist kleinen cartoonesken Bildern, mit flottem schwarzem Strich erzählt die international gefragte Illustratorin seine wilde, wandlungssreiche, manchmal fast märchenhafte Reise zwischen zwei Welten. Ein bisschen ist ihre Darstellung eine Mischung aus Charles M. Schulzs Peanuts und Sempé, eine knollennasige Figur mit dichtem Haarschopf, später mit typischen Schlaghosen. Ahmadjans Mutter stirbt früh, er wächst in einer lieblosen Stieffamilie von Schafhirten auf. Schon früh entdeckt er das Zeichnen für sich. Auch dank seines Talents entkommt er der Enge des Tals, bitterer Armut, Hunger und Kälte, zunächst mit einem Stipendium für ein Internat in Kabul. Dann mit einer Ausbildung zum Bauzeichner.

Wechselhaftes Leben zwischen Welten

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre war Kabul ein Hotspot für Hippies. Durch sie lernt er Musik, traditionelle und westliche, sowie Filme und moderne Kunst kennen. Immer wieder begegnet er Menschen, die seinem Leben eine entscheidende Richtung geben, ihn inspiriert oder gefördert haben. Diese malt Maren Amini als Vögel, die für ganz unterschiedliche Typen stehen. Außerdem tauscht sich Ahmadjan mit einem imaginären Wiedehopf aus, den Amini ganz entzückend wie Woodpecker, Snoppys gefiederten Freund, darstellt. Und sie zitiert begleitend Fariduddin Attars fabelhafte Verse.
Das spannende und wechselhafte Leben ihres Vaters bewegt sich zwischen Afghanistan und Hamburg. 1972 kommt er zum ersten Mal mit einem Touristenvisum nach Deutschland, lebt in besetzten Häusern, lernt in einer Malschule im Karoviertel beim Begründer der Schlumper (einer Ateliergemeinschaft für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen), studiert an der Hochschule für Bildende Künste, reist nach London, Amsterdam, Ibiza, besucht Musikclubs und Museen, wird schließlich abgeschoben. Als die Russen in Afghanistan einmarschieren, kommt er als einer der ersten asylsuchenden Flüchtlinge zurück nach Hamburg, das mittlerweile nach Pakistan und Iran die größte Gemeinde von Exil-Afghanen beherbergt. Hier lernt er Marens Mutter kennen, bekommt mit ihr zwei Töchter.

Genial pointierter Cartoon eines bunten Lebens

Spätestens jetzt kommt noch eine weitere Facette dieser außergewöhnlichen Graphic Novel zum Tragen: Die behutsame und berührende Annäherung von Tochter und Vater. Ahmadjan war überfordert vom Familienleben, hat Frau und Kinder früh verlassen. Jetzt erzählt er seiner Tochter seine Lebensgeschichte. Und sie kommen zusammen über die Kunst, über das Erzählen in Bildern, über ihre individuelle, brillante Bildersprache.
Und so kann man Maren Aminis Cover von Ahmadjan und der Wiedehopf als Essenz und absolut genial pointierten Cartoon des Lebens ihres Vaters erkennen. Begleitet von nunmehr dreißig, wie ein farbenprächtiger Schweif aus einer unter den Arm geklemmten Mappe aufsteigenden Vogelschemen, und gefolgt vom treuen, titelgebenden Wiedehopf geht Ahmadjan seines Weges. Das Porträt eines Künstlers, Individualisten und Träumers. Und das eines einzigartigen Landes. Absolut umwerfend und wunderbar.

Maren und Ahmadjan Amini: Ahmadjan und der Wiedehopf, Carlsen, 2024, 240 Seiten, 26 Euro, ab 12

Aussicht auf viele Lücken

Welt

Jeder vermisst jemanden. Und jeder wird vermisst.« Das wird Deetje, genannt Dee, und ihrem Freund Vito bei der Suche nach dem Empfänger eines Briefes bald klar. Deetje hat ihn an einem feuchten Samstagnachmittag beim Briefkasten gefunden, kurz nachdem dieser geleert worden war. Die Adresse dick durchgestrichen mit dem Vermerk Retour an Absender, der aber ist vom Regen verwischt und unleserlich.
Die Zeilen berühren Deetje: »Mein Liebling, Die Tage sind so kahl wie die Bäume im Herbstwind. … Wie kurz das Leben doch ist und wie sehr ich Dich vermisse. Vielleicht sollten wir vergessen, was alles geschehen ist. …« Irgendjemand in der Hochhaussiedlung wird vermisst. Deetjes Zuhause ist ein Mikrokosmos, über den sie sagt, »von hier aus kann man die ganze Welt sehen«.

Prinzessin mit Swimmingpool

Das ist auch der Titel von Enne Koens‘ außergewöhnlicher Erzählung mit einer besonderen Heldin. Die Neunjährige ist offenherzig, forsch, neugierig, kratzbürstig, stur, lebendig und einfühlsam. Und auch sie vermisst jemanden, sogar gleich zwei Menschen, ihre Eltern nämlich. Weil sie ganz anders ist als ihre Mutter und ihr auch gar nicht ähnlich sieht, ist Deetje überzeugt, dass sie adoptiert wurde. Vielleicht auch entführt, aus dem Kinderwagen gestohlen. Wahrscheinlich suchen ihre richtigen Eltern nach ihr. Vielleicht ist sie eine Prinzessin und könnte in einem Schloss mit Swimmingpool wohnen.
»Deine Haare wollen einfach nicht gehorchen, sagte meine Mutter. Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht meine Haare meinen, sondern mich. Und wieder dachte ich das. Eine echte Mutter kommt doch mit den Haaren ihres Kindes zurecht. Wir gehören überhaupt nicht zusammen, dachte ich.«

Haarige Gedanken

»Und in diesem Moment änderte sich alles. Ich schaute zu ihr. Die Haare meiner Mutter hängen gerade herab, wenn sie offen sind. Meine Haare springen zu allen Seiten. Ich kenne fast alle aus der Nachbarschaft, sie kennt fast niemanden. Sie hat eine helle Haut und ich eine dunkle. Sie will, dass alles praktisch ist, nützlich, säuberlich, pünktlich und an der richtigen Stelle. Ich will nur tanzen, mein Herz so offen wie eine Ladentür am verkaufsoffenen Sonntag«, stellt Deetje fest.
»Wenn man uns beim Memory umdrehen würde, darf man ganz bestimmt nicht noch einmal«, resümiert das Mädchen mit umwerfend trockenem Humor, von Andrea Kluitmann schön spröde übersetzt. Wegen dieses Gefühls des Fremdseins gegenüber ihrer wortkargen, verschlossenen Mutter forscht Deetje zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund Vito weiter, nach Empfänger oder Absender des Briefes. Und in eigener Sache.

Religiösität mit Folgen

Tatsächlich wirkt Deetjes Mutter anfangs fast autistisch. Oder depressiv. Dann wird klar, dass Religion und Frömmigkeit eine wichtige Rolle spielen. Christliche Religion. Das irritiert zunächst. Wie man aber am Beispiel der USA sieht, geht von protestantischen Splittergruppen und Sekten eine weit größere Bedrohung als vom durchschnittlichen Islam aus. Schon im bloßen Wort scheint das Radikale enthalten zu sein: Protestantismus. Klingt wie Islamismus, islamistisch. Zumindest kann diese weltabgewandte, fundamentalistische und engstirnige Form des Christentums  verheerende Wirkung haben. Im Großen, und, wie man im Roman zurückhaltend, aber eindrücklich lesen kann, auch im Einzelnen.

Manchmal bleibt nur ein Ring, ein Lied, ein Foto

Enne Koens vereint durch Deetje in dieser besonderen Detektivgeschichte viele spannende individuelle Erzählungen vom Vermissen. Maartje Kuipers behutsame, reduzierte Zeichnungen, die Einblicke in verschiedene Fenster und ausschnittweise auf die Bewohner dahinter geben, akzentuieren das sehr schön. Menschen aus aller Welt sehnen sich nach Eltern, Freunden, Liebsten, die sie auf der Flucht zurücklassen mussten, aus den Augen verloren haben, die gestorben oder weggezogen sind oder von denen man sich auseinandergelebt hat. Manchmal bleibt neben der Erinnerung nur ein Ring, an einer Schnur um den Hals getragen. Manchmal nur ein Lied, Regale voller Lebensmittel oder ein verschlucktes Telefon (ja, wirklich!). Oder ein Foto mit einem Paar, das ein kleines Baby hält, Leute, die Deetje viel ähnlicher sehen.
Die niederländische Autorin Enne Koens verwebt diese bewegenden Erzählungen zu einem ebenso überraschenden wie vielversprechenden Ende. Das der Anfang einer neuen, gemeinsamen Suche ist. Mit Aussicht auf die ganze Welt.

Enne Koens: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen, Übersetzung: Andrea Kluitmann, mit Bildern von Maartje Kuiper, Gerstenberg, 208 Seiten, ab 9, 17 Euro

Zombieapokalypse leicht gemacht

Ende der Welt

It’s the End of the World as We Know It sang die College-Indie-Band R.E.M. in den 1980er Jahren. Tja, man denkt, man wüsste wie das Ende der Welt wird: Feuerregen, Lavaströme, Sintflut, nukleare Explosionen, Zombieapokalypse. R.E.M. konterkarierten es mit einem schlaksigen, verschmitzt lächelnden Jungen, der durch ein sehr chaotisches Zimmer tobt, kaputtes Spielzeug in die Kamera hält und Skateboardtricks macht. Auch für Atlas und Elena sieht das Ende der Welt ganz anders als man es sich vorstellt.

Im Zentrum des Shitstorms

Elena muss zu Beginn der Sommerferien abtauchen: Nach einem lustigen Video mit Lebenshilfetipps steht die Dreizehnjährige im Zentrum eines massiven Shitstorms. Der gesamte Hass des Internets scheint ihr entgegenzuschlagen, Verwünschungen und Morddrohungen inklusive. Keine Freundin will mit ihr verreisen. Selbst ihre Mutter fliegt lieber nach Indien in ein Schweige-Retreat.
So landet Elena ausgerechnet bei ihrer Tante irgendwo auf dem Land und deren creepy neuer Familie. Dort trifft sie auf Atlas und seine jüngere Schwester Kennedy. In diesem überhaupt nicht idyllischem Setting erzählt Anna Woltz von Cybermobbing, Verlust, Tod, Krankheit, traumatisierter Familie. Aber auch von Vertrauen, Liebe, Stärke und Solidarität – furios und ganz anders, als man es kennt.

Viel zu schwerer Rucksack

Wie bereitet man sich auf das Ende der Welt vor, wenn die eigene Welt bereits untergegangen ist. Atlas trainiert hart für alle Eventualitäten. Seinen Rucksack mit allem Überlebensnotwendigen hat er immer gepackt und griffbereit. Der Rucksack ist viel zu schwer für einen vierzehnjährigen Jungen. Und doch schleppt Atlas das Teil  kilometerweit. Er hortet Lebensmittelkonserven. Wenn alle Netze zusammenbrechen, wenn es keinen Strom, kein Wasser, kein Internet, kein Geld und keine Supermärkte mehr gibt, will Atlas die Last schultern und vorbereitet sein, um seine Familie zu retten. Das, was von ihr übrig ist. Und da darf Elena ihm nicht in die Quere kommen.

Vielleicht selber mal nachdenken

Neun Romane hat die niederländische Autorin Anna Woltz in den vergangenen Jahren allein auf Deutsch im Carlsen Verlag veröffentlicht. Es sind berührende und spannende, gegenwärtige oder historische Geschichten mit vielschichtigen, verletzlichen, wütenden, manchmal ein bisschen verrückten, doch durchweg liebenswerten Charakteren, auch mal einem Hund. Kinder und Jugendliche, die konfrontiert sind mit Trauma, Trennung, Krieg, Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. So unterschiedlich sie sind, trotzig und empathisch sind sie alle. Sie raufen sich zusammen und lösen gemeinsam ihre Probleme, um ihre Welt lebenswerter und ihre Leben schöner zu machen. Und Anna Woltz schafft es jedes Mal zu überraschen.
Denn natürlich kommt auch in Atlas, Elena und das Ende der Welt alles anders, als man denkt. Weil eben die Welt und die Menschen anders sind, als man denkt. Anna Woltz lässt Atlas und Elena im Wechsel erzählen. In ihrem eigenen, emotionalen Chaos denken sie sehr kluge Gedanken. »Tja, vielleicht hätten diese Follower selbst mal nachdenken sollen?«, überlegt Atlas angesichts von Elenas folgenreichem Video. Wenn mehr Menschen öfter mal nachdenken, dann wäre die Welt tatsächlich freundlicher und besser. Und Cybermobbing kein Thema.

Die Probleme anderer Leute

»Man stellt es sich immer schlimmer vor, als es ist«, lautete Elenas Ermutigungsmantra früher. Jetzt weiß sie, »manchmal sind die Sachen ganz genau so schlimm, wie man sie sich vorgestellt hat. Und manchmal sind sie noch viel schlimmer.« Auf dem harten Lehmboden eines unheimlichen Schuppens ist Elena auf dem noch viel härteren Boden der Realität angekommen. Dabei war sie doch die lustige und wagemutige Troubleshooterin.
»Die Probleme anderer Leute sind total witzig«, erklärt Kennedy Elena. »Aber unsere Probleme sind einfach … Probleme.« Damit hat Atlas‘ jüngere Schwester eine zeitlose Erkenntnis Ally McBeals grandios neu interpretiert. Ally McBeal war eine Serie um die gleichnamige Anwältin in einer großen Kanzlei in Boston. In der Unisex Toilette (sehr fortschrittlich, 90er Jahre!) fragt eine der biestigen Kolleginnen Ally: »Warum sind deine Probleme eigentlich immer so wichtig?« »Weil es MEINE Probleme sind«, bringt es Ally schlagfertig auf den Punkt. Deshalb ist es auch so schwierig, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Ob lähmende Sprachlosigkeit, absolute Leere, herzzerreißender Kummer – es fehlt der Abstand. Man braucht jemanden, der die Sache aus anderer Perspektive betrachten kann. Und umgekehrt. Davon erzählt Anna Woltz immer wieder neu.

Märchenhafte Kulisse

»Und dann hört der Wald auf und ein Märchen fängt an. Der Pfad führt durch riesige, langgezogene Weiden. Das hohe Gras glitzert silbern im Mondlicht, der tiefblaue Himmel ist mit Sternen übersät und in der Ferne funkelt ein Fluss. Wenn ich Netflix wäre, würde ich für so eine Kulisse Millionen bezahlen«, durchfährt es Elena nachts. »Aber dann fällt mir ein, dass ich kein Streamingdienst bin, sondern jemanden verfolge. Und wenn man jemanden verfolgt, sind ausgedehnte Weiden höchst ungünstig.« Sätze voller Witz und Selbstironie, viel besser als die meisten nach bewährtem Schema geschriebenen Serien. Andrea Kluitmann hat sie mitreißend übersetzt.

»Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Tatsächlich kommt der Ritter auf einem weißen Pferd zur gestrauchelten Heldin. Und es ist überhaupt nicht kitschig. Nein, das ist definitiv nicht das Ende der Welt, wie wir es kennen. Es ist der Beginn einer neuen, wunderbaren Geschichte.

Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt, Übersetzung; Andrea Kluitmann, Carlsen, 2024, 192 Seiten, 12 Euro, ab 11

Lesen ist das größte Abenteuer

Nach dem Sommer ist vor der Schule. Jetzt sind ganz viele Kinder eingeschult worden. Da lernen sie rechnen, schreiben und lesen, Plutimikation (wie die Autodidaktin Pippi Langstrumpf sagt) und das ZYX. Hä? Na, das ABC rückwärts, klingt gleich viel interessanter. Mit ABC, die Katze läuft im Schnee kann man wirklich kein Kind mehr aus der aus der per Wärmepumpe fußbodenbeheizten Wohnung rauslocken.

Grummelige Gewitterwolke

Das weiß auch der Comickünstler Flix. Deshalb schickt er das ZYX statt ins Bett in ein furioses umgekehrtes ABC-Abenteuer. Das kleine rüsselnasige Wesen hat überhaupt keine Lust auf »Abmarsch ins Bett!«, ihm lüstet nach Spannung statt Schlafengehen. Genau wie seinem Schöpfer, was Flix am Ende in der Autorenkurzbiografie als Inspiration für seine Geschichten preisgibt. Die grummelige Gewitterwolke über dem ZYX auf dem Weg zum Zähneputzen gleich auf der ersten Seite spricht Bände.

Besser als arbeiten

Lesen lernen ist echt eine Sache, für die sich die Schule lohnt. Für unseren Blog letteraturen sind Lesende auch nicht ganz unwichtig. Die Autorin dieser Zeilen weiß die Schule deshalb auf jeden Fall für alle Zeit zu schätzen, ein bisschen auch, weil sie im Sportunterricht Kraulen gelernt hat. Sie gehört nämlich nicht zu den Überfliegern, die sich schon mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht haben. Später kam noch die Erkenntnis dazu, dass ein paar Stunden täglich in der Schule herumhängen deutlich weniger anstrengend sind, als Tag für Tag mindestens acht Stunden zu arbeiten, mit Leuten, mit denen man nur sehr selten befreundet sein kann. Soweit ein kleines, zugegebenermaßen seht persönliche Plädoyer für die Schule.

Vorteil exzessiven Teetrinkens

Zurück zum ZYX. Mit Schmackes und Witz geht es tollkühn durch Raum und Zeit, über die Planke eines Piratinnenschiffs und überbordende Inseln, durch den Magen von Riesen direkt in eine Zirkusmanege. Wir erleben den Vorteil exzessiven Teetrinkens, und Nachteil von Pizza und Pasta, nicht bis zum Abwinken, sondern ohne Ende. Gemeinsam mit dem umtriebigen Bettflüchter begegnen wir hungrigen Ottern und volatilen Krokodilen und schweben mit ihm durch rosa Himmel voller Donuts.
Das alles erzählt Flix in kuriosen Reimen, die raffiniert das Alphabet rückwärts buchstabieren. Selten war Lesenlernen so ein Spaß.
Der beginnt schon auf dem Vorsatzpapier. Besonders liebevoll gestaltete Bücher erkennt man daran, dass auch auf den vermeintlich nur dekorativen Seiten am Anfang und Ende der Geschichte ebenfalls eine Anekdote erzählt wird.

Affinität für einzigartige Wesen

Wer sich jetzt übrigens angesichts des knuffigen Helden ob meiner Begeisterung wundert, weil meine Abneigung gegen bekleidete Tiere bekannt ist: Das ZYX ist kein Tier, sonders etwas ganz Eigenes. Was, das weiß nur Flix, der eine Affinität zu außergewöhnlichen, einzigartigen Wesen hat. Schließlich durfte er auch als erster die belgische Comic-Serie Spirou weitererzählen und hat mit dem Humboldt-Tier sozusagen ein Prequel des Marsupilamis erschaffen.

Also, liebe Abenteurlustige, lernt das ZYX und lest!

Flix: Das ZYX, Kibitz Verlag, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4