Unsere explosive gesellschaftliche Erregung hängt auch mit überschießenden Sprache zusammen. Selbst reflektierte Medien und bedächtigere Menschen benutzen Begriffe, die die Stimmung weiter aufheizen, teils, weil sie „nur“ zititeren, teils, weil ihnen selbst mittlerweile die nötige Distanz zu fehlen scheint. Man sei „entsetzt“ und „fassungslos“ heißt es, nur weil zum Beispiel entgegen der Wahlversprechen der Preis für das Schulessen nicht wieder um ein paar Cent gesenkt wird.
„Super-Gau“ ist auch so ein sprachlicher Granatwerfer. Kaffeedose morgens leer – Super-Gau. Lieblingsporridge ausverkauft – Super-Gau. Deshalb ist man erstmal vorsichtig, wenn eine Graphic Novel mit dem Titel Super-Gau daherkommt. Doch an dem Tag, an dem Bea Davies‘ Geschichte spielt, der 11. März 2011, passierte genau das: Der Schlimmste Größte anzunehmende Unfall, die höchste Eskalationsstufe der alten Weisheit: Schlimmer geht immer.
Schlimmste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl
Am Nachmittag bebte östlich der japanischen Küstenstadt Sendai, 400 Kilometer nordöstlich Tokios, die Erde. Das löste einen Tsunami mit stellenweise gigantischen, bis zu vierzig Meter hohen Wellen aus. Mit 800 Stundenkilometern drangen die Wassermassen ins Land. Dadurch kollabierten im örtlichen Kernkraftwerk Fukushima mehrere Kühlsysteme, es kam zur Kernschmelze. Wasserexplosionen verteilten die austretende Radioaktivität über die Luft weit über Japan. Die Reaktorkatastrophe in Japan war die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl im Jahr 1986.
Im Prolog zeigt Bea Davies den Beginn der Katastrophe, bei der 18.500 Menschen ihr Leben und eine halbe Million zumindest für lange Zeit ihr Zuhause und ihre Heimat verloren, anhand eines Mannes. Statt sich sofort in Sicherheit zu bringen, versucht er verzweifelt aus einer Telefonzelle jemanden in Deutschland (angedeutet durch die +49 auf dem Display) zu erreichen.
Immer wieder Wasser, vieles verschwimmt
Und hier beginnt die Geschichte: Eine junge Frau gleitet durch die Luft über ein überflutetes Berlin. Plötzlich greift aus dem Wasser eine Hand nach ihrem Knöchel und unter sich sieht sie Menschen wie im Moment eingefroren aufrecht im Wasser treiben. Ein Traum, den Lea einem Freund beschreibt.
Bea Davies erzählt mit klassischen Panels, immer wieder durchbrochen von großformatigen Panoramen. Die Affinität zum Manga ist deutlich, nur ist das Buch an an die westliche Leserichtung angepasst. Auch sind ihre minimalistisch und fein gezeichneten Bilder nicht einfach schwarz-weiß. Nicht nur in der Traumsequenz verschwimmen Konturen in Grauschattierungen, selten gibt es scharfe Kontraste. Und immer wieder taucht Wasser auf, Menschen sitzen am Ufer, träumen von Wasser, schwimmen im Wellenbad, sehen Bilder des Tsunamis.
Menschen begegnen und verlieren sich
Weitere Personen tauchen auf, ein eigenbrötlerischer Autor, eine nervöse, elegante Frau, eine freundliche Säuferin, ein traumatisiserter Junge mit erfrorenen Fingern, eine blinde Alte, ein zugewandter Kreuzberger Bohemien. Sie begegnen sich und verlieren sich, laufen aneinander vorbei, wechseln mal ein paar Worte, mal nehmen sie einander überhaupt nicht wahr.
Der Regisseur Robert Altman verknüpfte in seinem Film Short Cuts von 1993 verschiedene Handlungsstränge innerhalb eines Tages locker miteinander. Bea Davies hat jetzt mit Super-Gau dieses episodische Erzählen, konzentriert auf einen erschütternden Tag, perfektioniert. Ihr gelingen hervorragend vielschichtige Figurenzeichnungen komplexer, sperriger Charaktere. Das meiste wird nur angedeutet, mal ist es das Foto eines kleinen Mädchens im Badeanzug mit Brille und spitzem Hut, eine doppelt gekaufte Zeitung, ein Familienbild auf einem Nachttisch, Berge von ungespültem Geschirr, ein dreckiger Verband, eine überschießende Reaktion, ein Gewaltausbruch oder eine liebevolle Geste, die so viel mehr vom Leben dieser Menschen erahnen lassen.
Episodisches Erzählen perfektioniert
Super-Gau ist Bea Davies‘ Debüt als Autorin. Man kennt Graphic Novels als Memoir, als Biografie von Musikern, Sportlern, Zeitzeugen oder auch als Sachbuch (Wölfe). Diese Graphic Novel ist tatsächlich und wortwörtlich ein Roman – ein großer, ein globaler Gesellschaftsroman. Angelegt als ein eng geknüpftes Netz aus spannenden Einzelschicksalen, als eine Momentaufnahme eines Tages, der nicht nur bezüglich der Energieerzeugung viel geändert hat. Er endet in einem Epilog, wiederum in einer Telefonzelle in der Jetztzeit im fernen Japan, wo man mit den von der Katastrophe aus dem Leben gerissenen Menschen reden kann, Unausgesprochenes in einen Hörer sagen kann.
Viel Raum für imaginierte Leben
Super-Gau ist ein Roman, erzählt in bezaubernden und minimalistischen, auf das Wesentliche reduzierten Bildern. Berührend und mit viel Raum für Imagination.Und das verheißungsvolle und raffinierte Cover, in haptischem Prägedruck mit schäumender Gischt und einem Schriftzug gestaltet, der alle Protagonisten beinhaltet, ist ein wahres Kunstwerk für sich.
Bea Davies ist für das Genre der Graphic Novel ein Super-Gag – ein großartiger Glücksfall.
Bea Davies: Super-Gau, Carlsen, 208 Seiten, 26 Euro, ab 12