Archiv des Autors: Elke von Berkholz

Kunterbunte Subkultur

Nicht jedes Abenteuer beginnt mit einem aufregenden Szenario. Und die echten Abenteurerinnen sind nicht unbedingt die, die sich für besonders abenteuerlustig halten. Zum Bespiel im neuen Bilderbuch des belgischen Bilderbuchkünstlers Leo Timmers: Drei Enten dümpeln in einem Tümpel. »Kommt, wir gehen zum See«, schlägt die vierte vor. Also machen sich drei flugs auf den Weg in unbekannte Gewässer, Abwechslung ist das halbe Leben. Nur Erik ist unsicher: »Zum See? Aber man sagt, dort wohnt ein schreckliches Monster!«

Viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute

Ist Erik ein Feigling? Ein Angsthase? Eine Bangbüx? Ein Schisser? Die deutsche Sprache kennt viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute, die auch mal was in der Frage stellen. Dabei sind die wenigsten wirklich mutig, die meisten schwimmen einfach bequem mit der Mehrheit. Erik ist eher skeptisch. Trotzdem geht er mit zum titelgebenden Monstersee. Während die anderen drei stoisch und gleichförmig über die nun etwas größere Oberfläche paddeln, schwimmt Erik hinterher und hält die Augen offen.
Und tatsächlich, unter ihm gleitet ein riesiges Ungeheuer entlang, mit furchteinflößenden Hauern im Maul. Eindeutig ein »MONSTER!«, wie Erik panisch aufschreit. Von den vorausschwimmenden Wasservögeln wird das nur als schlechter Witz abgetan.

Mit Taschenuhr und verrücktem Zylinder

Bei genauerem Hinsehen – und das tut Erik – sieht dieses türkise Ungetüm aber ziemlich entspannt, sogar sehr freundlich aus. Ein bisschen wie das Yellow Submarine als Lebewesen. Nette Accessoires aus Alice im Wunderland baumeln an ihm, die Taschenuhr des hektischen Kaninchens und ein bunter Miniaturzylinder, direkt aus der Manufaktur des verrückten Hutmachers.

Aberwitzige Wesen im Breitbandpanorama

Als eben dieses Monster Erik wortlos einlädt, ihm zu folgen, überwiegt Eriks Neugier seine Angst. Er taucht ab unter die Oberfläche. Dort wird der Abenteurer wider Willen mehr als belohnt für seinen echten Mut. Über ein aufklappbares Breitbandpanorama erstreckt sich gleich über ganze vier Seiten eine fröhliche und kunterbunte Subkultur am Seegrund. Leo Timmers malt eine sehr lustige und kuriose Straßenverkehrsszene, in der sich die aberwitzigsten Wesen in allen Größen und Formen tummeln. Eine Kreuzung in New York wirkt dagegen wie ein lahmer Abklatsch. Erik hat einen Monsterspaß im fantastischen Schwarm.

Echte Abenteuer warten unter der Oberfläche

Bis die anderen drei Enten ihn vermissen. Also taucht Erik wieder auf und beweist, wie cool er wirklich ist: Er behält das wahre Geheimnis des Monstersees für sich. Man muss gar nicht so mutig sein, um ein Abenteurer zu sein. Aber offen und neugierig unter die Oberfläche sehen. Dann entdeckt man die tollsten Welten. Das zeigt Leo Timmers mit wenigen Worten (die von Eva Schweikart übersetzt wurden). Dafür mit umso vielsagenderen Bildern.

Leo Timmers: Monstersee, Übersetzung: Eva Schweikart, aracari Verlag, 2023, 44 Seiten, ab 6, 18 Euro

Vier Schutzheilige namens John, Paul, George und Ringo

Wo auf der Schwelle vom Kind zum Teenager sich das Mädchen Magali befindet, kann sie nicht so genau sagen. Aber wo sie definitiv auf keinen Fall sein möchte, weiß das Nowhere Girl absolut und ohne Zweifel: In der neuen Schule.
Das sagt der Elfjährigen sogar ziemlich bald ihr Körper ganz unmissverständlich: Erst fällt sie vor der versammelten Klasse in Ohnmacht. Dann kotzt sie jeden Morgen, wenn sie auch nur in die Nähe der gefürchteten Schule kommt.

Vom Ranzen erdrückt

So beginnt Magali Le Huche ihren umwerfenden, autobiografischen Comic Nowhere Girl. Paris in den 1990er Jahren, die junge Magali kommt auf die weiterführende Schule, wo auch ihre große Schwester ist. Schon bald wird das verspielte Mädchen mit den Pippi-Langstrumpf-orangeroten Haaren von selbstauferlegtem Perfektionismus und den Leistungsforderungen unsensibler Lehrkörper zunehmend erdrückt. Immer größer und schwerer wird der Ranzen auf ihrem Rücken. Sie verschwindet fast unter der übermenschlich schweren Last, die sie auf dem geradezu höhnisch sanftrosa kolorierten Schulweg schleppt. Flächiges Rosa ist neben Magalis roten Haaren die einzigen Farben auf den schwarz-weiß gezeichneten Panels der ersten Seiten. Die gestalterisch wahrscheinlich nicht ganz zufällig an ein anderes, allerdings ungleich unbekümmerteres und lebenslustigeres Mädchen ihres Alters erinnern – Kay Thompsons fabelhafte Eloise in Paris, ein Klassiker aus den 1950er Jahren.

Diagnose: Schulphobie

Magalis Eltern sind beide Experten für kranke Seelen, die Mutter Psychoanalytikerin, der Vater Phonetiker, der Stotternden und anderweitig Sprachgehemmten das Sprechen beibringt. Doch bei der eigenen Tochter sind sie ratlos. Zumal doch die Ältere die Schule problemlos, sogar mit Bravour und Spaß wuppt. Was tut man mit einem Mädchen, das unerklärliche Angst vor der Schule hat. Eine Schulpsychologin gibt der Sache sogar eine solide wissenschaftliche Diagnose: Schulphobie. Allerdings ohne eine wirkliche Lösung anbieten zu können, außer – Vorteil des französischen Schulsystems – der Schulpflicht per Fernunterricht von zu Hause nachzukommen, was per zugeschicktem Material funktioniert.

Schockverliebt in nie zuvor gehörte Musik

Und dann, eines Tages, entdeckt Magali ganz andere, bisher noch nie gehörte Musik: die der Beatles. Und ein psychedelisches Feuerwerk an Farben und fantastischen Figuren fließt über die Seiten. Magali ist schockverliebt in die Melodien und Stimmen. Eine Liebe, die ihr ganzes Leben verändern wird. Sie flüchtet sich in wohlklingenden Harmoniegesang und schräge Parallelwelten, geht mit dem Yellow Submarine auf Tauchstation und entflieht ihren Ängsten. Nebenbei wird sie zur Expertin, liest alles über die Fab Four. Und fällt ihrer Umgebung auch ein bisschen auf die Nerven mit ihrem unerschöpflichem kuriosen Wissen, das sie leidenschaftlich jedem kundtut.

Die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer

John, Paul, George und Ringo werden zu Magalis Schutzheiligen. Wobei sie alle vier gleich wertschätzt, den einen wegen seiner bodenständigen Art, den anderen wegen der frechen, unbekümmerten oder auch zurückhaltenden Natur. Die klassische Frage Beatles oder Stones stellt sich für sie nie, ebenso wenig die, ob man John oder Paul lieber mag.
Ihr Körper verändert sich, sie bekommt ihre erste Periode, die behütete Zeit des Fernunterrichts zu Hause endet nach zwei Jahren – doch die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer. Durch die Bilder in ihrem Kopf entdeckt die junge Magali für sich auch das Zeichnen – eine Leidenschaft und Berufung, die die französische Comickünstlerin schließlich zu ihrem Beruf macht.

Nowhere Girl ist eine zauberhafte Geschichte vom Ende der Kindheit – und wie man sich trotzdem Fantasie und das Spielerische bewahrt. Von den Beatles lernen, heißt nicht nur richtig gut Englisch lernen, die Songtexte haben sich bei vielen unvergesslich ins Gedächtnis gegraben.
Von den Beatles lernen heißt manchmal auch fürs Leben lernen.

Magali Le Huche: Nowhere Girl, Übersetzung: Silv Bannenberg, Reprodukt, 120 Seiten, ab 11, 24 Euro

Aus dem Tunnel ins Leben

Tunnel

Büchergutscheine, wie sie jetzt bestimmt wieder tausendfach unterm Weihnachtsbaum gelegen haben, sind ja eher Verlegenheitsgeschenke. Man kennt sich nicht genug, kennt auch nicht den Geschmack des zu Beschenkenden. Auch traut man sich nicht, beherzt etwas zu überreichen, was man selbst gern lesen würde. Und irgendwas muss man ja schenken …

Jetzt gegen das beste Buch des Jahres tauschen

Aber genug gelästert. Büchergutscheine sind klasse, denn die glücklich Beschenkten können sie jetzt (in ihrer Lieblingsbuchhandlung und nicht beim grausamen Amazon) in das beste Buch des Jahres tauschen (das sie hoffentlich noch nicht gelesen haben).
Und das wird hier jetzt einfach mal so gesagt, obwohl auch dieses Jahr einige außerordentlich gute Bücher veröffentlicht wurden, vor allem exzellente Graphic Novels und einige besonders schöne Bilderbücher. Also, gleich mal losgehen,  Büchergutschein gegen Nächte im Tunnel von Anna Woltz eintauschen!

»Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben«

Ein Buch, das im Krieg spielt? Das von schrecklicher Angst, lebensbedrohlicher Krankheit, Verkrüppelung und Beklemmung erzählt? Das von brutaler Armut, krassen Klassenunterschieden und gemeinen gesellschaftlichen Zwängen handelt? Und am Ende eine der Hauptpersonen stirbt?
»Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das. Jetzt schon, bevor ich anfange«, sagt Ella gleich zu Anfang. »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da.
Unser Leben fängt gerade erst jetzt an.«

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Ja, das ist das beste Buch! Weil die Figuren so absolut liebenswert sind! Allen voran die Erzählerin, die 14-jährige Ella. Sie ist gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, Kinderlähmung, für viele ein Todesurteil, bevor es eine Impfung dagegen gab. Weil auch die Atemmuskulatur gelähmt werden und man grausam ersticken kann. Ella hat Wochen in einer sogenannten eisernen Lunge eingesperrt gelegen. Ihr linkes Bein wird für immer teilweise gelähmt und verdreht bleiben. Dazu eine Panik vor engen Räumen und dem Gefühl eingesperrt zu sein.

Von zu Hause weggelaufen, um zu helfen

Sie begegnet Quinn, die vom Landsitz ihrer reichen Familie irgendwo in der friedlichen Countryside mit einem riesigen Koffer und einer Tasche voll mit Mutters Schmuck nach London weggelaufen ist. Sie will im Krankenhaus als Sanitäterin arbeiten, irgendetwas tun, um den Menschen in der bombardierten Stadt zu helfen. Dass sie fast noch ein Kind ist, hält sie nicht ab. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich sofort einziehen lassen.« Auf Ellas Einwand »Du bist doch erst fünfzehn?« antwortet Quinn wütend und für Ella schockierend unverblümt: »Das ist doch wohl egal? Ich habe keinen Pimmel, das finden sie das größte Problem.«
Außerdem sucht Quinn ihren älteren Bruder Sebastian in der Hauptstadt, dem einzigen in ihrer arroganten und gefühlskalten Very-stiff-upper-lip-Familie, dem sie sich in ihrem gemeinsamen Freiheitsdrang und Anderssein verbunden fühlt. Aber Sebastian scheint ein Faschist geworden zu sein. Sie muss ihren Bruder finden und zur Rede stellen.

London Blitz

Woltz wollte vom »London Blitz« erzählen, den massiven Luftangriffen, denen die Menschen in London im zweiten Weltkrieg durch Hitlers Bombardierungen ausgesetzt waren. Außerhalb Englands ist wenig über das Leid und die Entbehrungen der Menschen in der britischen Hauptstadt bekannt, die Nacht für Nacht vor den Bomben in den stickigen Bahnhöfen und Tunneln der Tube, der U-Bahn, Schutz suchen. Anfangs alles sehr provisorisch, Alte, Junge, Familien mit kleinen Kindern und Babys, die kreuz und quer auf dem blanken Bahnsteig und den nachts stillgelegten Gleisen in den Schächten liegen, mit einem stinkenden Eimer hinter einem Fetzen Stoff als Klo.

Eine Extremsituation, wie die Pandemie

Woltz fand es auch als eine Extremsituation interessant, die wie die Pandemie alle betrifft. Die für alle alles ändert, auf die alle reagieren und mit der man sich arrangieren muss, um zu überleben, ohne zuvor etwas Vergleichbares erfahren zu haben und sich darauf einstellen zu können. Eine weitreichende Veränderung, die vor allem junge Menschen mit eben erst wachsenden Träumen, Plänen und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, brutal ausgebremst hat.

Furchtbar aktuell

Ella, Quinn, Jay, Ellas kleiner Bruder Robbie und auch Sebastian, jeder einzelne ist absolut lebendig, vielschichtig und liebenswert. Man möchte sie alle kennenlernen, mit ihnen im Dunkeln ausharren, durch die Straßen Londons ziehen, kämpfen, helfen. Das sind keine Figuren aus einem Historiendrama. Woltz lässt sie zeitlos jung, ehrlich und authentisch miteinander reden. Andrea Kluitmann hat es bewährt und ungeheuer frisch übersetzt. Der Carlsen Verlag hat dieses Mal Anna Woltz‘ Buch auch in einen sehr schönen Buchumschlag gehüllt.
In ihren schlimmsten Albträumen hätte Woltz es sich nicht träumen lassen, dass, wenn ihr Buch erscheint, tatsächlich wieder Krieg in Europa geführt wird und Menschen erneut vor Bombenangriffen in die U-Bahn flüchten müssen.

»Ich kann mich entscheiden«

Auch wegen der furchtbaren Aktualität ist Nächte im Tunnel das beste Buch des Jahres.
Vor allem aber ist es auf eine zauberhafte, herzzerreißende Art lebensbejahend. Es erzählt davon, wie es ist, jung zu sein, die Welt entdecken zu wollen, Menschen kennenzulernen, sich auszuprobieren. Wie man etwas finden möchte, das einen glücklich macht. Man möchte neugierig bleiben, etwas wagen, nicht aufgeben, nichts als in Stein gemeißelt und unausweichlich vorbestimmt hinnehmen, sich nicht lähmen lassen. Ich kann mich entscheiden, denkt Ella, als nachts erneut der Fliegeralarm losgeht, die Flakgeschütze sich in Stellung bringen und sie in der Ferne das Dröhnen von Motoren hört. In Nächten im Tunnel können auch Tage eines neuen Lebens beginnen. Auf jeden Fall sollten sie der Beginn eines neuen Lesejahres sein.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14

Wenn Kraken träumen …

Grau in grau, dunkel und kalt – angesichts des derzeitigen Laufs der Erde um die Sonne um diese Jahreszeit und der Weltläufte (Krieg, Pandemie, Klimakrise) speziell in dieser Zeit würde man am liebsten nur noch schlafen. Winterschlaf wäre gut. Aber auch wenn man sich nicht mal eben sechs Monate zusammenrollen, die Körpertemperatur auf unglaubliche minus ein Grad runterkühlen und ausklinken kann wie der Gartenschläfer, das Tier des Jahres 2023 – Schlaf tut gut, er ist sogar lebenswichtig.
Im Schlaf werden die Informationen und Reize, die den ganzen Tag auf unsere Sinne einprasseln, sortiert, verarbeitet und, wenn gut und wichtig, gespeichert und mit bereits Vorhandenem verknüpft. Überflüssiges wird weggeworfen, sogar wortwörtlich, mit der Hirnflüssigkeit wird Defektes und Stoffwechselmüll abtransportiert. Am meisten passiert, wenn wir träumen. Kurz gesagt: Wer nicht schläft, stirbt.

Schlaf für Sekunden oder mit halbem Gehirn

Jedes Lebewesen muss schlafen. Wie unterschiedlich Tiere, vom Elefanten bis zur Gartenkreuzspinne, diesem lebenswichtigen Bedürfnis nachgehen, das zeigt Beatrix Mannels und Karolina Benz‘ absolut faszinierende Bilderbuch Wer schläft, wer wacht in der Nacht?
Erstaunlich viele Tiere sind nachts wach. Verblüffend viele schlafen nur kurz, wenige Minuten, manche nur Sekunden. Oder sie schlafen lediglich mit einer Hälfte des Gehirns. Wie Wale und Delfine. Die andere muss nämlich aufpassen, dass die Meeressäuger regelmäßig zum Luftholen nach oben an die Wasseroberfläche kommen.

Walkälber würden Menscheneltern in den Wahnsinn treiben

Pottwale aber schalten für zwei Stunden richtig ab und bringen das ganze Gehirn zur Ruhe. Das machen sie verrückterweise vertikal im Wasser treibend, es sieht aus, als würden sie auf ihrer Schwanzflosse stehen. Und Walbabies, Kälber genannt, würden alle menschlichen Eltern in den Wahnsinn treiben – weil sie die ersten Wochen ihres Lebens überhaupt nicht schlafen! Wo doch sonst alle anderen neugeborenen Säugetiere sehr viel schlafen, um die auf sie einprasselnden Informationen zu verarbeiten.

Riesige Kulleraugen und den Kopf rundum gedreht

Solche und viele weitere kuriose, unglaubliche und entzückende Informationen machen Beatrix Mannels Tierporträts absolut lesenswert und fesselnd. Koboldmakis jagen nachts und behalten den Durchblick durch ihre riesigen Kulleraugen, die jeweils soviel wie ihr Gehirn wiegen. Weil diese aber unbeweglich in den Augenhöhlen sitzen, können sie ihre Köpfe um 360 Grad drehen, um die Blickrichtung zu ändern. Diese leicht gruselige Bewegung beherrschen nur noch die lautlosen Nachtjäger, die Eulen.

Farben spiegeln Gefühle

Oder Kraken: weich, superklug, Meister der Tarnung. Und wenn sie schlafen, wechseln sie die Farbe. Das tun sie, wenn sie träumen. Jede Farbe des Kraken spiegelt eine Erinnerung oder ein Gefühl, das der Krake tagsüber erlebt. Giraffen schlafen nur kurz, nicht zu lange wegen der Fressfeinde, meist im Stehen. Aber wenn sie träumen, dann mit zusammengeklappten Beinen unter dem Körper. Und ihr Kopf liegt auf ihren Hinterbeinen, damit er nicht auf den Boden knallt.

Wunderschöne Ölgemälde in Mitternachtsblau

Die Texte sind schon klasse. Aber die Bilder, die Karolina Benz dazu erschaffen hat, sind wunderschön und brillant. Bilder erschaffen im wahrsten Sinne des Wortes: Die in Mitternachtsblau getauchten Geschöpfen sind tatsächlich Ölgemälde! Jedes einzelne ist ein Meisterwerk für sich, ebenso lebensecht wie poetisch. Eindringlich blickt uns der Tiger an. Wale und Kraken tanzen mit Medusen im Mondschein durchs Meer. Die Giraffe träumt unter der funkelnden Milchstraße. Ein Luchs stromert durch glitzernde Schneelandschaften.

Ein traumhaft schönes Bilderbuch, das den Kopf wegen seines wunderbaren Wisseninhalts so erfrischt wie der beste Schlaf.

Beatrix Mannel, Karolina Benz: Wer schläft, wer wacht in der Nacht?, Rowohlt, 64 Seiten, ab 8, 20 Euro

Absolut ausgeflippt

Katzen sind keine Macher. Sie sind auch nichts für Machertypen (auch nicht solche, die sich einbilden, welche zu sein). Die Zukunft ist ihnen herzlich egal.
Katzen leben im Hier und Jetzt. Und davon verschlafen sie die meiste Zeit (zum Thema Schlafen hier demnächst mehr).
Katzen passen zu Menschen, die eher ambitionslos durchs Leben schlurfen, nach dem Motto Leben und leben lassen.

Normalzustand: dösen, entspannen, chillen, pennen

Wenn Katzen dann aber mal ausnahmsweise wach sind und nicht dösen, entspannen, pennen, chillen und auch nicht futtern – dann sind sie schlagartig sehr sehr wach und flippen total aus. Etwa so, wie wenn koffeinempfindliche Menschen sich ein Dutzend Espressi direkt in die linke Herzkammer kippen (um Helge Schneider und seine Paris-Impressionen zu zitieren). Und genau von diesen so wilden, verrückten und rätselhaften Momenten im Felinen-Leben erzählt Emily Joes furioses Bilderbuch Katzen können Geister sehen.

Plötzlich Springteufel im Zickzack

Eben noch liegt das dunkel getigerte Kätzchen entspannt ausgestreckt auf der Matte. Und im nächsten Moment steht es wie elektrisiert mit aufgerissenen Augen und Bürstenschwanz auf der Unterlage, die ebenso aufgewühlt wirkt.
Und dann geht es los . Mit gesträubtem Fell rast die Katze los, Menschenkinder lesend hinterher. Sie lauert im Schrank. Wie ein Springteufel schießt sie aus dem Versteck. Macht Kung-Fu-Tritte in die Luft. Läuft im Zickzack durchs ganze Haus. Springt die Wände hoch. Und dann …

Totale Entspannung.

Emily Joe malt die irre Jagd in flächigen, überwiegend gedeckten Farben, schwarz, braun,  graublau, verschattetes Gelb der Bettdecke, sanftes Ockerorange des reinscheinenden Tageslichts. Als kontrastierendes Element die knallgelben, weit aufgerissenen Augen der Katze, in deren Pupillen sich Gespensterumrisse spiegeln. Die neuseeländische Illustratorin Joe kennt Katzen wirklich: Faszinierend akkurat fängt sie die absurden Bewegungen und Positionen des tobenden Tieres ein.

Gerade fürs zweckfreie Verhalten geschätzt

In gereimten und von Jana Grohnert liebevoll und treffsicher übersetzten Texten erklärt Emily Joe absolut logisch dieses bei allen Katzen zu beobachtende Verhalten: Katzen können Geister sehen! Das ist es!
Nach der furiosen Jagd putzt sich die Geisterjägerin. Und fordert Streicheleinheiten und einen Platz im Bett. »Ein kleiner Preis – den zahl‘ ich gern. Denn dafür hält sie die Geister fern.« Dieses mitreißende und außergewöhnliche Katzenbuch ist für alle, die ihre felligen Mitbewohner auch gerade für deren zweckfreies, irrationales Verhalten schätzen.

Emily Joe: Katzen können Geister sehen, Übersetzung: Jana Grohnert, aracari Verlag, 24 Seiten, ab 4, 15 Euro

Extrem gefährlich

Ponger

Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.«
So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?

Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen

Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«

Was die Menschen so umtreibt

Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten.
Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist.
Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.

Bilder, die zu Orten entstehen

Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort.
Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten

Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick

Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt:
»Erinnern sie sich an ihre Kindheit?«
»Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?«
»Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?«
»Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.«
»Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«

Erwachsene sind kein bisschen schlauer

Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert.
Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.

Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14

Faustdick hinter fluffigen Löffeln

Ein etwas morsches Schloss in den karpatischen Bergen. Zum Frühstück serviert der Butler Ringo dem leicht kauzigen Schlossherrn Mr. Constantin Tee mit Milch, Scones und Orangenmarmelade. Die Konversation besteht aus freundlichem und anerkennendem Brummen. Ringo ist ein eleganter mittelgroßer Windhund, ein sogenannter Whippet.
Das ist die grandiose Szenerie von Katja Spitzers Gruselgeschichte Ringo und die Vampirkaninchen. Die verheißungsvolle Mischung aus urbritischer Krimikonstellation und klassischem Vampirambiente entwickelt sich zum schaurig-schönem Vergnügen.

Anti-Aggressions-App leistet ganze Arbeit

Eines Tages bringt die Postbotin ein Paket mit Luftlöchern, raus hüpft ein flauschiges Kaninchen, das laut Begleitbrief den Namen Moffat trägt, aber nicht drauf hört. Fortan hat Mr. Constantin nur noch Augen für das Fellknäuel und verwöhnt es mit Leckereien, bettet es auf Seidenkissen, richtet ein plüschiges Zimmer mit Himmelbett und Schaukel ein, und sogar einem kleinen Whirlpool.
Für Ringo bleibt da kein Streicheln, kein nettes Wort, nicht mal ein anerkennendes Brummen. Da muss die Anti-Aggressions-App auf seiner Fitnessuhr ganze Arbeit leisten. »Whippets hassten Kaninchen, und Ringo war ein reinrassiger Whippet.«

Spitze Zähne und bizarre Tänze

Tatsächlich hat der »Flauschbruder«, ein whippettypisches spezielles Schimpfwort für Kaninchen, es faustdick hinter seinen fluffigen Löffeln. Ringo beobachtet nachts im Garten bizarre Rituale und Tänze marodierender Kaninchenhorden. Im Dunkeln blitzen unheimlich zwei zusätzliche spitze Zähne in den überhaupt nicht niedlichen Mäulchen auf. Vampire, eindeutig! Immerhin sind wir doch mitten in den Karpaten.
Und wer erinnert sich nicht an das kopfabbeißende Monster aus Monty Pythons Ritter der Kokosnuss?!
Es ist aber nicht alles so, wie es scheint. Und wie Kochkunst, gepaart mit exzessiv viel Knoblauch eine überwältigende, nicht nur Vampirkaninchen den Appetit verderbende Wirkung entfaltet, das erzählt Illustratorin Katja Spitzer in ihrem ersten selbstgeschriebenen Kinderbuch. Dazu hat sie auf den ersten Blick kindlich-einfache Bilder gemalt, die bei genauerem Hinsehen aber eine Fülle von Details, Anspielungen und kuriosen Überraschungen beinhalten.

Bezaubernder Grusel in Orange und Lila

Absolut außergewöhnlich und faszinierend ist Spitzers Farbwahl: Dominierend sind Orange und Lila, gelegentlich kontrastiert von Schwarz. Das gibt den Illustrationen eine mal fast schon zu idyllisch-warme, dann wieder gewittrig-kippende Stimmung. Ganz eindeutig – es liegt was in der Luft. Mit einem so bezaubernden Vampirkrimi kann man dem eindimensionalem Halloweenkommerz perfekt Paroli bieten.

Katja Spitzer: Ringo und die Vampirkaninchen, mairisch, 56 Seiten, 18 Euro, ab 6

Leben und leben lassen

Oar, Leute! Aber sonst geht’s euch gut, ja?!« Kaum im Waldkrankenhaus angekommen und die frische Schusswunde selbst (mit dekorativem Kreuzstich) vernäht, rettet durch verrückten Zufall ein Kaninchen dem Wolf das Leben. Und jetzt muss sich der coole Einzelgänger auf der Suche nach sichereren Jagdgründen um das kleine Beutetier kümmern. »Frag nicht, Wolfskodex«.

Furioses Road-Comic

Mit dem Kaninchen hat der Wolf gleich noch einen Infusionsständer, einen Koffer mit Medikamenten und einen langen Therapieplan im Schlepptau, das Kaninchen hat nämlich Krebs und fünf Monate Chemo vor sich. Und so macht sich das kuriose Duo auf einen Trip mit Tropf, wie Josephine Marks furioses Road-Comic heißt.

Stiernackige Motorradrocker und gutmütige Bärin

Stilecht bewegen sich die beiden erst im Pickup, zwischendurch auf Motorrad mit Beiwagen und schließlich zu Fuß auf Schleichwegen durch Wälder, an Flüssen entlang und über verschneite Bergketten. Sie begegnen üblen, stiernackigen Motorradrockern, gutmütigen Touristen, freundlichen Wolfkumpeln und einer gutmütigen Bärin – immer den fiesen Jäger und seinen ebenso unerfreulichen Hund im Nacken. Als wäre das nicht schon genug, verliert das kranke Kaninchen sein Fell, kotzt sich die Seele aus dem Leib und leidet unter Nasenbluten.

»Born to be wild«

Aber manchmal genießt das ungleiche Paar Verschnaufpausen in schäbigen Motels und einsamen Hütten. Sie futtern Chips und gucken Filme im Fernsehen. Oder singen laut und lustvoll die Hymne aller Abenteurer und Roadtrips »Born to be wild«. Josephine Marks Comic ist ein actionreiches, mitreißendes Feuerwerk an brenzligen Situationen, krassen Unfällen und wundersamen Wendungen. Es vibriert von Zitaten und Anspielungen.

Genervt, skeptisch, kaltschnäuzig

Am liebsten zeichnet Mark Wölfe – und das sieht man. Erstaunlich, wie dieses schmale, einfach konturierte, graue Wesen so viele Stimmungen, Launen und Gefühle zeigt. Also vor allem wirkt er genervt, ungeduldig, skeptisch, fassungslos, wütend, kaltschnäuzig. Auch mal wild und ausgelassen. Aber immer verbirgt sich dahinter unerschütterliches Verantwortungsgefühl und zupackende Hilfsbereitschaft für das Häuflein Elend, das der Wolf konsequent »Nager« nennt. Und ja: echte Zuneigung. Die Sache mit dem Wolfskodex hat wahrscheinlich eine sehr lange Geschichte, wie nicht nur die Bärin Beate vermutet.

Schönste und lebensbejahendste Antwort

Dazu passt auch die entzückende Schlussszene. Wolf und Kaninchen sitzen voll kitschig nebeneinander auf einem Findling auf einer Frühlingswiese und betrachten das gegenüberliegende Bergmassiv. Der Wolf macht einen vagen Vorschlag und stellt die Frage, die eigentlich in jeder Beziehung tabu ist und nur bei wirklicher Offenheit für jede Antwort gestellt werden sollte: »Was denkst du?«

Und das Kaninchen gibt die schönste, witzigste und absolut lebensbejahendste Antwort darauf, die man sich nur vorstellen kann. Aber die wird hier natürlich nicht verraten.

Josephine Mark: Trip mit Tropf, Kibitz, 192 Seiten, 20 Euro, ab 12

Kurzschluss der Sinne

mmmmIiiiiiiihummmmmm, schlürschfütsch, zzzschschschsch, ksksksksksks … Spinne spielt Klavier. Es klingt vermutlich ganz anders, wenn ein achtbeiniges Tierchen sich an den schwarz-weißen Tasten versucht. So lautet aber der ulkige Titel von Benjamin Gottwalds einzigartigem Bilderbuch. Es ist voller schön bunter Bilder. Auf zwei Seiten sind Situationen oder Gegenstände in Gebrauch gegenübergestellt. Außerdem gibt es viele doppelseitige Panoramabilder: Herbstwind braust und fegt das Laub von den Bäumen. Wellen brechen sich an Felsen und Gischt spritzt. Ein Kind zieht einen Schlitten über die Schneedecke. Steine flitschen über den See. 

Worte im Kopf fühlen

Doch es fehlen die Worte. Das ist bei echten Bilderbüchern für ganz junge, noch nicht des klassischen Lesens Kundige nicht ungewöhnlich. Die Worte und Geschichten zu den Bildern entstehen im Kopf.
Bei Gottwalds fantasievoll gemalten Szenarios passiert jedoch etwas ganz anderes. Sie explodieren im Kopf. Man kann geradezu fühlen, wo: Da, wo der der Hörsinn sitzt. Man hört die Bilder. Und sofort und instinktiv versucht jeder, das Geräusch, das im Kopf beim Anblick der Bilder entsteht, nachzumachen: von knisterndem Feuer und leisem Geflüster, rauschenden Wasserfällen und speienden Vulkane, startender Rakete und im Wind steigenden Drachen, aus dem Reifen zischender Luft und züngelnder Schlange, Spaghetti schlürfen und zwei, die sich küssen.

Lautmalerei vom Feinsten

Das ist Lautmalerei im wortwörtlichen Sinne und vom Feinsten. Viel besser und origineller, als wenn Benjamin Gottwald versucht hätte, onomatopoetische, also lautmalerische Wörter zu formulieren. So wie es am Anfang dieses Textes eher unbeholfen imitiert wurde.

Pfütze und Zischen

Der Blick und auch das Gehör auf dieses vor allem in Comics wesentliche Element verändert sich. Häufig behelfen sich die Comictexter mit Verben: »schlürf, schlürf« etwa. Oder »schnüffel«, »tropf«, »flüster«, »murmel, murmel« – alles unpassende Verlegenheitslösungen. »Peng!« funktioniert ganz gut, »knall« dagegen gar nicht, weil ein Knall eben nicht wie »knall« klingt. Es gibt ein paar hübsche, lautmalerische Bezeichnungen, die das Geräusch dazu mittransportieren und illustrieren: Pfütze zum Beispiel, klingt ein bisschen so, wie wenn jemand in eine kleine Wasserlache tritt und der Matsch hochspritzt. Matsch ist auch ganz treffend. Oder »zischen«.

Zapperwusch

Der ungekrönte König der Onomatopoesie ist Don Martin, bekannt aus dem Satiremagazin Mad. Ein wahres Feuerwerk der Lautmalerei fackelte er zum Beispiel mal auf einer Seite ab, die ein Verkaufsgespräch in einem Laden für Steppschuhe zeigt. Die Schuhe springen, hüpfen, tanzen über Tresen, Wände und Decke mit »zapperwusch« und »klapperdoing« und »tickertacherklonk«. Am Schluss stehen sie wieder ganz brav parallel als Paar auf dem Tresen. Und der Kunde fragt: »Gibt’s die auch in braun?«

Zum Bilderbuch mit Geräuschen statt Worten passt ein Comic (fast) ohne Bilder. Dafür aber mit umso mehr Worten, genauer gesagt: Super witzigen und kuriosen Dialogen – im Dunkeln. Oder in der Unsichtbarkeit. Denn die Geschichte des Autorenduos aus Patrick Wirbeleit (bekannt für die Comicreihe Kiste) und Andrew Matthews spielt im unsichtbaren Raumschiff, der Invisibility 2. Wer sich jetzt fragt, wieso 2? Der ahnt vielleicht, wo das Problem auf solchen Raumschiffen liegt. Daraus ergibt sich für die vier Crewmitglieder, die auf dubiose Art für diese Mission gewonnen wurden, grandios absurde Situationen.

Man spricht Honk

Uwe Heidschötter hat dieses urkomische Abenteuer im Weltall raffiniert mit farbigen Sprechblasen in Szene gesetzt. Das beginnt schon auf dem Cover, wo der Titel schwarz auf schwarz eher haptisch zu lesen ist. Und das ist bereits ein gutes Stichwort: »Du bist doch ein haptischer Mensch?«, fragt Kapitän Bück, genannt Käpten, seinen technischen Offizier Honk. Doch dieser ist nun mal ein Honk, ein Wookiee-artiges Wesen. Und er spricht auch nur Honk. Ein Wort sagt manchmal mehr als tausend Worte. Oder um es mit Leutnant Bot, einem hochkomplexen Droiden, den es natürlich auf jedem ordentlichen Raumschiff gibt, zu sagen: »Ich verstehe Honk. Um Honk zu sprechen, müsste ich einen großen Teil meiner Denkfunktion kurzschließen.«

Hörspiel zum Lesen

In all dem Schlamassel schaltet sich auch noch Kapitän Bücks Erzfeind ein, um ihn zu vernichten. Und es ist nicht Marcus Beinschere aus der vierten Klasse. Aber die Crew der Invisibility 2 hat wirklich andere Probleme.
Das unsichtbare Raumschiff funkelt vor Anspielungen und Zitaten. Dieser Ausflug ins All ist ein Hörspiel zum Lesen und ein überirdischer Spaß.

Benjamin Gottwald: Spinne spielt Klavier, Carlsen, 160 Seiten, 18 Euro, ab 3

Patrick Wirbeleit, Andrew Matthews, Uwe Heidschötter (Illustrationen): Das unsichtbare Raumschiff, Kibitz, 80 Seiten, 15 Euro, ab 6

Kleider machen Helden

Superheldinnen und Superhelden, die mit sich hadern, gibt es einige. Man denke nur an Tobey Maguire als Spiderman nach seiner ersten Begegnung mit dem Sandman. Frustriert hockt er auf einem Dach, kippt Sand aus seinen Schuhen und fragt sich: »Wo kommen diese Typen immer her?« Verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: »Und warum muss ausgerechnet ich mich um alles kümmern?«

Identität aus Liebe versteckt

August Crimp hingegen versteckt seine Heldenidentität aus Liebe. Seine Frau fürchtet Superhelden seit ihre Eltern bei der Rettung Londons als Kollateralschaden getötet wurden. »Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zwei Menschen gegen eine ganze Stadt. Ein fairer Tausch, schätze ich«, sagt sie lakonisch.
Aber dann geschieht eine Mordserie an Transvestiten. Und das Nachbarsmädchen, das den kleinen Sohn babysittet, bittet August um Hilfe, die Seelen ihrer Eltern wiederzufinden. Sie kennt nämlich sein Geheimnis.

Verhedderte Lebenslinie

Das ist der Auftakt für Steven Applebys brillanten, einzigartigen, autobiografischen und schonungslos ehrlichen Comic Dragman. Schon als Kind wollte August Crimp ein Mädchen sein und weibliche Kleidung tragen. Wer jetzt wissend und vielleicht sogar mittlerweile leicht gelangweilt denkt »Ah, Transgender« irrt. Es geht um so viel mehr in diesem lesens- und sehenswertem Bilder- und Bildungsroman. Schon auf dem Vorsatzpapier sehen wir August Crimps Selbstfindungsreise: Vom Baby am Anfang mäandert, schlängelt, verheddert, zerfasert, verknäuelt und verwirrt sich seine Lebenslinie und sprengt den Rahmen.

Superhelden-Genre durcheinandergewirbelt

August Crimp ist Dragman. Wenn er Frauenkleider trägt, entwickelt er Superkräfte und kann fliegen. Was Spitzenunterwäsche, Seidenstrümpfe, figurbetonte Kleider und Langhaarperücke mit ihm machen, entdeckt er durch Zufall.
Schon die Ausgangssituation und die ersten Zeichnungen zeigen: Dies ist ein besonderer Superheldencomic. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Helden ganz zu schweigen. Raffiniert spielt Steven Appleby mit dem Genre und wirbelt es virtuos durcheinander. Es beginnt mit einem Comic im Comic, in nostalgischem Grauweiß gestaltet. Alle Rückblenden erinnern an alte Fotografien. Die Gegenwart wiederum ist in warmen Farben gehalten, aquarelliert von Applebys Frau Nicola Sherring, hauptberuflich übrigens wie August Crimps Liebste Schreinerin.

Seitenhieb auf Marvel-Universum

Kaum hat August seine Superkraft entdeckt, lernt er auch die straff organisierte Held:innenparallelwelt kennen. Ein schöner Einstieg ist die imposante Ahnengalerie. Und zu jedem gibt es eine eigene Comicserie – ein satirischer Seitenhieb auf das unendlich scheinende Marvel-Universum, das uns immer neue, mal mehr, mal weniger gelungene  Spinoffs und Fortsetzungen beschert (Apropos: »Wo kommen die nur immer alle her?«). Doch kaum hat Dragman einigen abstürzenden Menschen und in Baumwipfeln verirrten Katzen das Leben gerettet, ist es auch schon wieder vorbei mit seiner Karriere.

Völlig intolerant oder einfach nur dumm

Auch unter Superhelden gibt’s Spießer und es grassieren Vorurteile, manche sind völlig intolerant und andere einfach nur dumm. Der angeberische, fiese Fist, eine Mischung aus Michelinmännchenkörper und Transformersfigur, mit sehr kleinem, nur angedeutetem Kopf und noch winzigerer, umso lächerlicherer Unterhose hält einen Mann in Frauenkleidern für pervers. Tatsächlich scheitert Augusts alias Dragmans Aufnahme in den Superheldenkosmos daran, dass er seine Kraft aus seiner Kleidung bezieht. Und das ist streng verboten – seit es einen tragischen Unfall gegeben hat. Wiederum eine entzückende Anspielung auf die sehr gelungene Parodie Die Unglaublichen, wo eindringlich vor weiten Umhängen gewarnt wird. Bei Dr. Strange wiederum entwickelt der Umhang ein Eigenleben um Benedict Cumberbatch herum. Aber das ist eine andere Geschichte.

Seelen als Ware und Heizmaterial

Bei Dragman geht es um Identität. Um die Suche danach und den harten Kampf, seine Identität zu zeigen, zu ihr zu stehen und sie zu leben. Und es geht um nichts geringeres als Seelen.
Kaum wurden die menschliche Seele von einem ehrgeizigen Wissenschaftler entdeckt, ist sie auch schon kommerzialisiert. Alles hat seinen Preis. So entwickelt sich ein zynischer Handel mit Seelen. Menschen verkaufen ihre Seele, mal für einen Urlaub, mal, um ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Reiche Leute implantieren sich die Seelen schöner, intelligenter, kreativer Menschen. Alle durchschnittlichen landen beim Teufel als Heizmaterial in der Hölle. Die gibt’s nämlich auch, wie August und Supernase Dog Girl, seine treue Freundin aus Dragman-Tagen, im Laufe der spannenden und fantastischen Geschichte herausfinden.

Teuflische Konzerne und fragwürdige Unterhaltung

Der ganz reale Teufel aber ist ein Superkonzern, der von Versicherungen und Resourcen, Lebensmitteln und Dingen, die niemand braucht, bis zu den Medien und schon die Jüngsten indoktrinierenden und verblödenden Programmen alles beherrscht und verkauft. Eine bissige Groteske auf die Jeff Bezos, Elon Musks & Co. dieser Welt.
Parallel beschreiben Textpassagen krasse Gewaltfantasien aus dem Kopf eines Serienkillers. Wer sich an hirnlosem Schund im Stile Fitzeks ergötzt, den schockt das wahrscheinlich nicht. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur perversen Massenware. Im Laufe der Geschichte erfährt man den ebenso schrecklichen wie nachvollziehbaren Grund dieser grausamen Abgründe: Der Killer hat keine Seele. So spießt Appleby nebenbei ein weiteres, fragwürdiges Phänomen unserer Zeit auf – der »Genuss« abscheulichster Gewaltdarstellung zur Unterhaltung.

Es braucht Superkräfte, sich nicht mehr zu verkleiden

Dragman ist Steven Applebys eigene Geschichte, wortwörtlich. Appleby ist Autor, Cartoonist, Ehemann, Vater. Und er kleidet sich als Frau. Nicht mehr heimlich. Sondern offen und ausschließlich. Manchmal braucht man Superkräfte, um sich eben nicht mehr zu verkleiden und seine Identität zu leben. Appleby erzählt davon in seinem wunderbar witzigen und vielfältigen, philosophischen und gesellschaftskritischen, schlicht genialen Comic.

Steven Appleby: Dragman, Übersetzung: Ruth Keen, Schaltzeit Verlag, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Revolution auf zwei Rädern

Ein Mann auf einem Fahrrad ist ein Mann auf einem Fahrrad. Eine Frau auf einem Fahrrad symbolisiert, auch wenn sich Frauen heutzutage dessen kaum bewusst sind, Unabhängigkeit, Selbstbehauptung, Freiheit. Revolution auf zwei Rädern.
Hannah Ross zitiert am Anfang von Revolutions, ihrer mitreißenden und beeindruckenden Geschichte von Frauen und Fahrrädern, die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony: »Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen als irgendetwas anderes auf der Welt«, erkennt die Aktivistin und Sozialreformerin bereits Ende des 19. Jahrhunderts.
Als das Fahrrad in den 1880er Jahren aufkam, veränderte es das Leben der Menschen. Mit ihm konnten relativ einfach große Entfernungen überwunden und weit entfernte Orte erreicht werden. 1885 brachte die Firma Starley & Sutton aus Coventry (nicht nur Fußball hat seinen Ursprung in England) das Rover Safety auf den Markt – Vorbild für das Rad wie wir es heute kennen. Kein Laufrad, kein artistisches Hochrad, das immerhin das erste mit Pedalantrieb war.

Körperliche und geistige Bewegung

Der Name Safety für dieses Gefährt mit zwei gleich und normal großen Felgen ist Programm. Revolutionär ist der Kettenantrieb, mit dem das Hinterrad angetrieben wird. So einfach wie genial. Und als John Dunlop, ein schottischer Tierarzt, auch noch luftgefüllte Reifen erfindet, ist der Siegeszug des Fortbewegungsmittels kaum zu bremsen.
Auf dem Safety kann man sogar in langen Röcken und Petticoats aufsatteln. Und so entdecken auch Frauen, zunächst angesichts des Anschaffungspreises die bessergestellten, das Radfahren für sich. Statt im Haus festzusitzen und depressiv zu werden (früher nannte man das hysterisch, ein Zustand, der gewöhnlich mit einer Ruhekur »therapiert« wurde), beginnen sie, sich zu bewegen, körperlich und geistig, und die Welt zu erfahren.

Der Anfang der Freiheitsmaschine

Zwar warnten Ärzte und sogenannte Wissenschaftler vor den gesundheitlichen Schäden, die das Fahrradfahren angeblich auf den weiblichen Körper habe. Es führe zu Unfruchtbarkeit und Promiskuität. Zum Glück waren nicht alle so bekloppt oder verbohrt oder auf den Erhalt der eingefahrenen Hierarchien und Rollenverteilung bedacht. Heute ist bekannt, wie gut Bewegung dem Körper und auch der Psyche tut.
Das war erst der Anfang der »Freiheitsmaschine«, wie Susan Anthony das Fahrrad nannte. Die Suffragetten, die für gleiche Rechte, Wahlrecht und Zugang zu Universitäten für Frauen kämpften, konnten per Pedalkraft viel mehr Frauen erreichen. In ihren Fahrradkörben transportierten sie nicht nur Flugblätter. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, setzten einige Briefkästen und sogar leerstehende Häuser in Brand. Und konnten auf dem Fahrrad schnell entkommen.

Symbol und Instrument des Widerstands

Im zweiten Weltkrieg wurde das Fahrrad vor allem in den Niederlanden zum Symbol und Instrument des Widerstands. Auch die junge Audrey Hepburn schmuggelte in ihrer Heimatstadt Arnheim Nachrichten und Munition. Und in Frankreich lernte eine Ikone der Frauenbewegung, Simone de Beauvoir, erst als junge Erwachsene das Radfahren und dann die Freiheit, die man damit erfährt, kennen.
Die Londoner Autorin und Verlagsmitarbeiterin Hannah Ross, selbst eine leidenschaftliche Radlerin, hat spannende, bewegende und manchmal unglaubliche, trotzdem wahre Geschichten um Frauen und das Radfahren zusammengetragen. Überzeugend stellt sie Zusammenhänge der Frauenbewegung und der Mobilität auf zwei Rädern her.

Den Konkurrentinnen alle Schläuche und Reifen geklaut

In Revolutions vereint sie mehr als hundert Porträts von Pionierinnen, Abenteuerinnen, Aktivistinnen und Rennradfahrerinnen. An letzteren lässt sich sehr anschaulich und geradezu tragikomisch erzählen, dass es nicht nur in sportlicher Hinsicht bis zur Gleichberechtigung noch ein langer Weg ist. 1958 gab es das erste Straßenrennen für Frauen – schlappe 65 Jahre nach dem ersten Rennen für Männer. Wenn Frauen mal mitfahren durften, manchmal aus kriegsbedingtem Fahrermangel, manchmal wegen des Spektakels, kamen die Frauen den Männern so nahe, dass diese sich einmal nicht anders zu helfen wussten, als alle  Ersatzschläuche und -reifen ihrer Konkurrentinnen zu stehlen.

Mutige Abenteuerinnen und leuchtende Vorbilder

Bis heute ist das Fahrrad wichtig für die Freiheit. Um rauszukommen, zur Schule und an Bildung zu gelangen, sich zu bewegen, Gleichgesinnte zu treffen. Nicht nur in Afghanistan, das 2018 noch als das für Frauen zweischlimmste und zweitgefährlichste Land (nach Indien) eingestuft wurde. Die Taliban haben es jetzt zielsicher auf Platz eins terrorisiert. In Saudi Arabien dürfen Frauen erst seit 2013 Fahrrad fahren, unter den strengen Augen der Sittenwächter.
Ross gibt Fahrradkurse für geflüchtete Frauen, die so selbstbewusster und unabhängiger werden. Leuchtende Vorbilder für alle Radfahrerinnen sind die extrem mutigen Abenteuerinnen, die bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Fahrrad weit entfernte Länder bereisten oder sogar allein die ganze Welt umrundeten.

Zeit für weitere Revolutionen

Anlässlich der faszinierenden und bewegenden Geschichte der Irin Dervla Murphy, die ausgerechnet im eiskalten Winter 1963 auf einem ganz schlichten Rad zu einer Reise über 5000 Kilometer nach Indien aufbricht, spricht Ross ein wichtiges Thema an: Alleinreisende Frauen. Als Leserin fühlt man sich sofort ertappt. Denn es ist immer noch in den Köpfen: Frauen, die allein reisen, sind leichtsinnig. Männer abenteuerlustig. Frauen müssen sich für den vermeintlichen Leichtsinn rechtfertigen, persönliche Krisen und Selbstfindung müssen es schon mindestens sein, um so etwas Unverantwortliches wie eine Weltreise allein auf dem Rad zu machen. Es ist eindeutig Zeit für ein weitere Revolutionen.
Das ist nur ein sehr interessanter Aspekt, den Hannah Ross in ihrem klugen, wissensreichen und inspirierendem Buch anspricht. Ein auch sehr hübsch gestaltetes und vom mairisch Verlagschef Daniel Beskos angenehm unaufgeregt übersetztes Buch. Tatsächlich ist eine Frau auf einem Fahrrad sehr viel mehr als eine Frau auf einem Fahrrad.

P.S.: Apropos einem Rad. Nicht nur Hannah Ross verbringt viel Zeit damit, über das nächste Fahrrad nachzudenken, das sie »wirklich« braucht.
P.P.S.: Am 3. Juni ist Weltfahrradtag. Aber eigentlich ist jeder Tag Tag des Fahrrads.

Hannah Ross: Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2022, 320 Seiten, 24 Euro

Mut zur Wut

In diesen zwei exzellenten Bilderbüchern geht es um Gefühle, mit denen ich mich sehr gut auskenne: Wut und schlechte Laune. In der Kinderliteratur wurden diese Emotionen bisher sträflich vernachlässigt und wenn, dann eher negativ dargestellt. Oder zumindest als etwas, was nicht ausgelebt und möglichst vermieden werden sollte. Wie bei dem hochexplosiven Mädchen in Stefanie Höflers Helsin, Apelsin und der Spinner. Oder ausgelagert und stellvertretend eingesetzt in Manfred Mais Der Zornickel.

Ein Fest furioser Wut

Ganz anders bei Britta Teckentrup. Wütend ist ein Fest der grundlosen, furiosen Wut. Ein Mädchen sieht rot. Und feuerrot lodert es um sie herum. Es ist erst der Anfang eines tosenden Sturms, Orkans, gewaltigen Unwetters. Das Kind entfesselt Naturgewalten, der Himmel schwärzer als schwarz, Blitze, Donnerkrachen, alles umhauende Riesenwellen.
Alles von Teckentrup überwältigend und mitreißend in Szene gesetzt in vielschichtigen, computeranimierten Collagen aus kräftigem Pinselstrich, plastischem Farbauftrag, die Seiten sprengend.

Typographie außer Rand und Band

Dazu tanzen die Verse wie verrückt über die Seiten, auch die Typographie ist außer Rand und Band: »Ich donnere, blitze, schreie blase. / Wüte, wirble, heule, rase! / Ich sause und brause. Tobe und krache. / Ich fauche und fluche. Wie ein wütender Drache!«
Schließlich klart der Himmel auf, die Farben werden blasser, die Wut hat gewirkt: »Jetzt ist alles raus. Ich fühle mich frei / Ich atme tief aus. Der Sturm ist vorbei. / Meine Reise geht weiter, und nimmt ihren Lauf / Der Weg beginnt hier, die Tür steht nun auf.«

Wut ist ein Anfang

Britta Teckentrup zeigt in Wütend nicht nur einen beeindruckenden Wutanfall, unbegründet, wie ein reinigendes Gewitter. Die Wut ist ein Anfang, sie eröffnet Möglichkeiten und Wege. Durch die Wut wird das Kind sich seiner Kraft zu Veränderung bewusst.
So ist das nachgestellt Zitat der Schweizer Menschenrechts-Aktivistin und Flüchtlingshelferin Anni Lanz nur logisch: »Man muss eine Wut so umsetzen, dass sie Veränderung bewirkt.«

Ihre grundsätzlich schlechte Laune bewirkt bei Motzemieze leider keine Veränderung und bewegt auch nichts. Außer vielleicht die verstörte andere kleine Katze, die die flauschige Meckerliese mehrmals ohne Not von deren Schlafplatz vertreibt. Die Sonne ist zu hell, das Futter zu trocken, die Katzenminze zu anregend und der Staubsauger monstermäßig laut.

Glückliche sind einfach nur langweilig

Da nützt es auch nichts, dass ein Eichhörnchen der verwöhnten Kitty den Kopf wäscht und erklärt, wie gut sie es eigentlich hat. Motzemieze ist grundsätzlich schlecht gelaunt und tut das gelegentlich auch laut und sehr ausdauernd miauend seitenweise kund.
Die Literaturkritikerin und -liebhaberin Elke Heidenreich hat zwar jüngst betont, dass nur die Unzufriedenen die Welt verändern und vor allem interessante literarische Figuren abgeben. Die Glücklichen sind in ihrem Glück zufrieden und einfach nur langweilig.

Amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen gelegt

Die Welt wird Motzemieze bestimmt nicht verbessern. Interessant ist das missgelaunte Fellknäuel auf jeden Fall. Jory John legt ihr höchst amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen, von Andreas Steinhöfel herrlich nölig übersetzt. Und Lane Smith zeichnet den zeternden Ministubentiger unwiderstehlich niedlich. Und damit lässt man dem Kätzchen einiges durchgehen, was sich sonst keiner leisten kann. Auf keinen Fall kommt ein Erwachsener mit so dekonstruktiver und misanthropisch mieser Laune durch. Außer man ist die famose Fran Lebowitz. Die exzentrische New Yorkerin und Schriftstellerin mit bereits jahrzehntelanger Schreibblockade ist einzigartig. Vor allem in Sachen Wut und schlechte Laune ist sie die ungekrönte Königin.

Britta Teckentrup: Wütend, Prestel, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre

Jory John, Lane Smith (Illustr.): Motzemieze, Übersetzung: Andreas Steinhöfel, Carlsen, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre

Strudel und Stromschnellen

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss – kann sein, zumindest ist das der Titel einer reizenden, philosophischen Verwechslungskomödie um eine liebevoll chaotische Proletarierfamilie und einem gefühlskalten Bildungsbürgerhaushalt.
Sprache und Sprechen sind aber wilde Gewässer voller Stromschnellen, Turbulenzen und Untiefen. Das erfährt der elfjährige Billy Plimpton drastisch und tagtäglich in Helen Rutters  mitreißenden und extrem (wort-)witzigen Roman. Solange sich Billy erinnert, hat er gestottert. Er braucht einfach unheimlich lange, oft zu lange für die die Geduld seiner Zuhörer, um auch nur ein paar Worte, geschweige denn zusammenhängende Sätze rauszubringen.

Stotterer und Stand-up-Comedian

Deshalb sieht er seinen Schulwechsel nach der Grundschule als Chance. Bewusst will er auf die Schule, gegen die sich fast alle seiner bisherigen Mitschüler entschieden haben. Billy beschließt, einfach gar nichts zu sagen. Selbst morgens beim Abhaken der Anwesenheitsliste drückt er sich mit einem heiseren Räuspern darum, seinen Namen stotternd preis zu geben.
Tragisch ist, dass Billy großen Spaß an Sprache hat. Er liebt Witze, die klug und gewitzt mit Wortspielen arbeiten. Und er träumt davon, eines Tages als Stand-up-Comedian auf der Bühne zu stehen und das Publikum in seinen Bann zu ziehen und vor Lachen von den Stühlen zu hauen. Leider ist hier Timing alles – der Sprachfluss muss geschickt gelenkt werden, anfangs flott und widerstandslos fließend, dann kurz an- und innegehalten, um sich dann überraschend mit voller Wucht Bahn zu brechen und mitzureißen.

Ermutiger, Gedankenleser und Abwartende

Billy kennt aber kein begeistertes Publikum, das an seinen Lippen klebt – seine Zuhörer sind ganz andere Typen: Das sind die Ermutiger, die mit gutgemeinten, aber nutzlosen Vorschlägen wie »Hol erst mal tief Luft« und »Bleib ganz locker« das Gegenteil bewirken. Oder die Gedankenleser, die vermeintlich netterweise die Sätze vervollständigen. Am ärgerlichsten findet Billy die Scherzbolde, die zum Spaß sein Stottern nachäffen. Da sind ihm die Abwartenden noch am liebsten, »die so lange zuhören, bis ich zum letzten Wort eines Einzeilers komme«. Und jüngere Kinder wie die Freundin seiner kleinen Schwester, die direkt fragen, warum er so komisch spricht, die Antwort wertfrei und kommentarlos akzeptieren und über Billys Witze lachen.

Der Mobber macht einen richtig guten Job

Leider gibt’s auch richtig üble Typen, wie den grobschlächtigen neuen Mitschüler, nicht die hellste Kerze auf der Torte, nicht mal gut in Sport, dafür um so fieser. »Er macht einen richtig guten Job als Mobber«, wie Billy sarkastisch anerkennt. Der zierliche Junge lässt die Demütigungen über sich ergehen, weil er fürchtet, dass alles noch schlimmer wird, wenn er sich jemandem anvertraut. Und es gibt immer noch genügend Schönes in Billys Leben. Er hat eine liebevolle Familie. Er findet richtige Freunde an der neuen Schule. Sein Klassenlehrer ermutigt Billy auf unterschiedliche Weise, erkennt sein gutes Gespür für Rhythmus und bringt ihm nicht nur Schlagzeugspielen bei.

Billy Plimpton ist so viel mehr

Billy glaubt, dass alles gut und er ein ganz anderer wird, wenn er sein Stottern loswird, koste es, was es wolle. Dabei macht so viel mehr Billy Plimpton aus. Das wird nicht nur ihm in Helen Rutters turbulenten, wundervollen, teils irre komischen und manchmal herzzerreißend traurigen Geschichte klar. Henning Ahrens hat diese unwiderstehlich fließend und einfühlend übersetzt.

Wenn »Ich heiße Billy Plimpton« zweifellos das witzigste Buch zum Thema Stottern ist, dann ich »Ich bin wie der Fluss« das schönste, ja, sogar das poetischste.
Der kanadische Dichter Jordan Scott erzählt von seinem lebenslangen Kampf gegen das Stottern. An einem besonders schlimmen Tag, als die ganze Klasse Jordan anglotzt, auf seinen Mund starrt, alle kichern, ihn auslachen, seine Angst sehen und nichts verstehen, macht sein Vater mit ihm einen Ausflug. »Er legt einen Arm um mich, zeigt auf den Fluss und sagt: ›Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist, wie du sprichst. Das bist du.‹«

Es sprudelt, wirbelt, gischtet, drängt vorwärts

Und da versteht Jordan. Er sieht das Wasser wie es sprudelt, wirbelt, gischtet, vorwärtsdrängt. Und auf dem Weg zur Mündung einige Hindernisse überwinden muss. Und er lässt sich treiben und tragen vom Fluss. »Und ich denke an den stillen, ruhigen Fluss hinter den Stromschnellen, wo das Wasser weich und sanft schimmert. Der Fluss ist wie ich. So spreche ich. Auch der Fluss stottert. Wie ich.«
Mit wenigen Worten beschreibt Jordan Scott umso vielsagender die Gefühle derer, die mit dem Sprechen hadern. Was es mit einem macht, wenn man schon beim Aufwachen den Klang von Wörtern hört, die man nicht sagen kann. Wenn man fast erstickt an all dem Unausgesprochenem. Wenn man schweigt, weil man kein Wort rausbringt. Schöner hat kaum jemand den Begriff Sprachfluss in Wortbilder verwandelt.

Metapher in bezaubernde Bilder übersetzt

Sydney Smith hat die Metapher des Flusses und Fließens in fantastische und berauschende Bilder übertragen. Die Einsamkeit des schweigenden Kindes, die Mitschüler, die vor seinen Augen zu amorphen Masse verschwimmen, wie er selbst sich immer grotesker vorkommt. Und dann in großen Panoramen, satten, natürlichen Farben und funkelnden Lichtreflexen der Fluss, die Natur. Und das Kind, wie es versteht und sich darauf einlässt und eins wird mit dem Wasser.
Es ist eine ganz besondere Bildsprache, die die Kinderbücher des kanadischen Illustrators und Kinderbuchautors Sydney Smith auszeichnen. Da ist nichts Niedliches und Kindliches an seinen Aquarellen und vielschichtigen Gemälden. Smith‘ Bilder sind durchdrungen von einer betörenden Ruhe und Kraft. Ob er einem Kind auf der Suche nach seiner Katze durch die Stadt folgt wie im bezauberndem Unsichtbar in der großen Stadt. Oder sich tief unter Tage vergräbt wie im beeindruckenden Stadt am Meer – seine Bilder faszinieren und sprechen einen auf ganz besondere Weise an.

Helen Rutter: Ich heiße Billy Plimpton, Übersetzung: Henning Ahrens, Atrium, 288 Seiten, 15 Euro, ab 11 Jahren

Jordan Scott, Sydney Smith (Illustrationen): Ich bin wie der der Fluss, Übersetzung: Bernadette Ott, Aladin, 44 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahren

Vertrauen ist dicker als Blut

Vater

Stell dir vor, mein Vater hätte in diesem Moment zufällig am Ufer gestanden. Hätte er mich dann nicht erkannt? Er hat nur ein Babyfoto von mir gesehen, aber trotzdem. Wäre da nicht etwas, eine Art Blitz, in dem ihm klar wird: Das ist mein Kind! Kann man ein Blutsband spüren?« Mit diesen Überlegungen steckt Eva schon mittendrin in einem furiosen Abenteuer in Suriname, weit weg von ihrer niederländischen Heimat. In dem kleinen Land an Südamerikas Nordostküste ist die Zwölfjährige mit den elf Zehen auf der Suche, denn: »Der Urwald hat meinen Vater verschluckt«, wie Simon van der Geests neuer, mitreißender Roman heißt.

Die Lücke in Evas Leben

Eva soll in Biologie eine Projektarbeit zu einem Thema schreiben, das sie ganz besonders interessiert. Und das sind Biologische Väter, genauer: ihr Vater, den sie nie gesehen und kennengelernt hat. Oder »der Wurm«, wie ihre Mutter sagt, wenn sie ihn überhaupt erwähnt. Eigentlich versteht sie sich mit ihrer Mutter sehr gut. Trotzdem ist in Evas Leben eine Lücke, weil sie nichts über ihren Vater weiß und ihre Mutter, eine berühmte Popmusikerin, beharrlich darüber schweigt.

Wie feiert man einen fast-nur-Männer-Geburtstag

Andere Kinder wachsen auch ohne Vater auf, zum Beispiel weil ihre Eltern sich getrennt haben. Aber sie wissen, wer ihr Vater ist. Eva weiß anfangs nichts über ihren Vater. Außer dass er dunklere Haut hat, weil sie selbst eines der wenigen Kinder mit dunkler Hautfarbe an ihrer Schule ist. Ihre Mutter hingegen ist sehr hellhäutig mit weißblonden Haaren.
Der Unterschied ist so extrem, dass gehässige Mitschülerinnen vermuten, sie sei adoptiert. Und Evas bester Freund Luuk will auf Anregungen seines Vaters seinen zwölften Geburtstag als Männerwochenende feiern, also seine Freunde mit ihren Vätern. Natürlich macht er einen »Fast-nur-Männer-Geburtstag« draus. Trotzdem reizt das Thema »Biologische Väter« Eva zunehmend wortwörtlich – und sie beginnt gegen den Widerstand ihrer Mutter und ihrer vorsichtigen Lehrerin zu recherchieren.

»Suriname packt mich. Bäm«

Schließlich landet Eva, mithilfe eines Filmteams, in Suriname. »Suriname packt mich. Im wahrsten Sinne. Die Luft schlägt ihre Arme um mich, die Hitze hält mich fest umschlungen, klebrig und klamm. Bäm.« Als Leser:in spürt man genauso direkt wie Eva die Hitze, die Luftfeuchtigkeit. Man hört den Straßenlärm, das Prasseln des Regens auf Wellblechdächer, das Rauschen und Gurgeln des reißenden Flusses, das Zirpen und Grollen des Urwalds, die schrillen Schreie der Vögel. Riecht die feuchte Erde, süßen Früchte, scharfen Speisen, Dieselabgase des Busses, Benzingestank der Motorboote, Blut geschlachteter Tiere.

Einige Prozent mehr übereinstimmende Gene

Durch ein Team der Fernsehsendung »Verlorene Zeit« ist Eva dorthin gekommen. Mit deren Hilfe suchen Menschen nach lang verschollenen Verwandten. Auch bei diesem Format stellt sich die Frage: Ist biologische Abstammung tatsächlich so wichtig? Was verbindet einen mehr mit jemandem, dessen Erbgut zu ein paar Prozent mehr mit dem eigenen übereinstimmt, als mit dem Rest der Menschheit? Eva hängt die wenig sensiblen, dafür umso mehr auf die Tränendrüsen drückenden Fernsehleute ab und dringt allein ins Landesinnere vor.

Heimweh nach einem Ort, an dem sie noch nie war

Sie stößt im Verlauf ihrer Suche einige Menschen vor den Kopf, auch wortwörtlich: Einem Mitschüler, in den sie kurz ein bisschen verliebt war, gibt sie eine Ohrfeige und den Laufpass, als der sich lustig macht.
Doch ist es bewundernswert, wie mutig und zielstrebig sie sucht. Weil sie eine Leere, eine Lücke, ein Loch in ihrem Herzen zu spüren meint. Und Heimweh verspürt nach einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war.
Während ihrer Suche erfährt Eva einiges über Familienbande und ihre unterschiedlichsten Formen. Sie versteht ihre Mutter und auch sich selbst besser. Und sie erkennt sehr direkt und brutal ehrlich, dass biologische oder genetische Bande keinen Vater ausmachen.

Drehbuch für den besten Weihnachtsfilm

Simon van der Geest erzählt erneut eine ganz besondere Familiengeschichte. Bei Das Abrakadabra der Fische reiste Vonkie in die Vergangenheit, enthüllte das traurige Geheimnis ihres brummeligen Großvaters und half ihm, sich auszusöhnen. Der Urwald hat meinen Vater verschluckt ist ein spannender Abenteuerroman – und ein fantastisches Drehbuch für einen der besten Weihnachtsfilme aller Zeiten. Denn es geht um Familie und Freundschaft, Vertrauen und Verbundenheit. „Luuk ist eine Art Bruder. So fühlt es sich an. Kann ein Blutsband wachsen? Ich meine, kann jemand allmählich dein Bruder werden? Vielleicht ist es auch egal, wie ich ihn nennen, aber Freund ist nicht genug. Luuk ist mehr als das.«

Bekannteste Patchworkfamilie

Übrigens war bei der weihnachtlichen Urfamilie auch schon ein Stiefvater dabei, die heilige Familie ist eine der bekanntesten Patchworkonstellationen.
Evas Suche nach ihrem Vater ist so mitreißend, staunend und offenherzig geschrieben, dass man alles wirklich sieht, fühlt und miterlebt. Andrea Kluitmann hat es absolut stimmig und lebendig mit ein paar wichtigen, gut überlegten Einsprengseln aus dem Niederländischen übersetzt. Spannendes Thema, brillantes Buch, großes Kino.

Simon van der Geest: Der Urwald hat meinen Vater verschluckt, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Thienemann Verlag, 432 S., 17 Euro, ab 10 Jahre

Gefährliche Comics

Comics

Als Kind habe ich einer Mitschülerin ein paar Comics geliehen, vor allem Asterix-Bände, darunter auch ein oder zwei englischsprachige, die uns Geschwistern die englische Freundin meiner Mutter geschenkt hatte. Ich habe die Comics nie wiedergesehen. Nach einiger Zeit gestand mir das Mädchen, dass ihre Mutter die Hefte bei ihr entdeckt und weggeworfen hatte. Natürlich habe ich mich ziemlich geärgert. Und meine Freundin tat mir auch leid.
Vor allem aber war ich fassungslos, wie jemand Bücher, noch dazu Asterix-Geschichten, die doch auch von Erwachsenen gelesen werden, wegwerfen konnte!
Vielleicht hat sie geahnt, wie gefährlich Comics sein können. Das Lesen der bunt illustrierten Bildergeschichten mit den Sprechblasen kann nämlich zum eigenständigen Denken anregen.

Verführung zum zivilen Ungehorsam

Comics hinterfragen Vorurteile. Sie erweitern den Horizont. Und womöglich verführen sie zum zivilen Ungehorsam. So wie die beiden umwerfenden Kindercomics Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt und Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde.
Die ungewöhnliche Paarung mit Landfluchttenzenz haben sich Martin Baltscheit,  Grandseigneur tierisch kluger Kindergeschichten (Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte) und der mindestens ebenso tiervernarrte Illustrator Max Fiedler ausgedacht.
Jeder Tag beginnt mit Fressen und Gefressenwerden, wie gleich in einer sehr lustigen, zweiseitigen Bilderfolge gezeigt wird. Aber nicht nur: Im Licht der aufgehenden Sonne erlebt man, wie der Elefant und Frau Grau erste zarte Bande spinnen. In schüchternen  Dialoge mit sich munter türmenden Sprechblasen landen sie beim gemeinsamen Du: Horst und Elvira.

Ein Liebesbeweis als onomatopoetisches Feuerwerk

Ganz en passant ein entzückender Liebesbeweis am Wasserloch, als ein Krokodil mit Frühstückshunger aus dem Wasser auftaucht.
Hier zündet auf zwei Seiten ein onomatopoetisches Feuerwerk. Mit PFLATSCH, BATSCH und FFFFITSCHHHHHHHHHHH setzt Herr Elefant das Riesenreptil außer Gefecht und schleudert es weit in die Savanne.
Das Besondere: Frau Elvira Grau ist eine Antilope. Das ist für die beiden Verliebten gar kein Thema. Für viele andere aber schon. Zum Beispiel das Gnu, das sein Weltbild aus bei den Rangern mitgeguckten TV-Serien herleitet. Und für die albernen Fotosafaritouristen. Der erste zarte Kuss geht gleich viral.

Individuelle Wasserlöcher und Uuuuu-Bahnen

Dabei bleibt ein merkwürdiger, flacher, sprechender Käfer namens Siri auf der Strecke. Der bringt das Liebespaar auf die Idee, ihr gemeinsames Glück in der Stadt zu versuchen. Zu Städten mit riesigen Termitenbauten, Wasserlöchern für jeden einzelnen und Regenschauern wann immer man will, Aufzügen und Uuuuuu-Bahnen, vor allem zu ihren Bewohnern, den haarlosen Affen, gibt’s dann viele Meinungen und Ansichten. Und noch mehr sehr witzige und anspielungsreiche Bilder. Ob es in der Stadt – Siri hat Hamburg vorgeschlagen – wirklich so aussieht, das erfährt man dann vielleicht im nächsten Band.

Comics

Schlaue, lebenskluge Tiere spielen auch eine wichtige Rolle in Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde der lettischen Illustratorin Elina Braslina. Jakob wird vorübergehend bei seiner Cousine Mimi und ihrem Vater Falk einquartiert. Die wohnen im schraddeligen, runtergekommenen und bunten Viertel Maskatschka. Jakob dagegen kommt aus Rigas schickem, modernem Zentrum. Anfangs sind sich die beiden gar nicht grün, nicht nur, weil sie aus verschiedenen Welten kommen.
Auch das Rudel Hunde, das durch die Maskatschka – heißt übersetzt »Moskauer Vorstadt« – stromert, ist auf Menschen im allgemeinen und die – wie sie finden – »zickige Mimi« im besonderen nicht so gut zu sprechen. Aber plötzlich rücken Bagger und Betonmischer der Baufirma Raffke an. Alle Bäume im Park sollen gefällt werden und Wolkenkratzer inmitten der alten Holzhäuser hochgezogen werden. Nur gemeinsam können sie die Maskatschka retten.

Die Kraft von Bildern und Plänen

Dieser auf einem Zeichentrickfilm basierender Kindercomic ist eine entzückende Entdeckung des Reprodukt-Verlags. Einerseits ist es eine sehr charmante, geradezu klassische Kinder-Heldengeschichte, in der Zusammenhalt, Mut und Fantasie schließlich gewinnen. Die manchmal gefährliche Kraft von Bildern und Plänen spielt auch eine Rolle. Erzählt wird sie in lebendigen, liebevoll ausgestalteten und sehr schön kolorierten Panels.
Das bunte, dynamische Abenteuer erklärt auch das sehr gegenwärtige Problem der Gentrifizierung – dem Wandel von Städten, der Macht des Kapitals und die Verdrängung aller, die nicht so viel Geld haben. Aber mit Vielfalt, Kreativität und Solidarität kann der Trend zu überteuerten, seelenlosen und anonymen Städten gestoppt werden. Nicht nur in diesem zauberhaften Comic.

Martin Baltscheit, Max Fiedler (Illus.): Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt, Kibitz Verlag, 64 Seiten, 14 Euro, ab 6

Elina Braslina: Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde, Übersetzung: Matthias Knoll, Reprodukt, 80 Seiten, 14 Euro, ab 6