Ich muss dich etwas fragen.« Mr Willoughby kaute einen Moment an seiner Lippe.
»Ja, Liebster?«
»Magst du unsere Kinder?«
»Oh, nein«, antwortete Mrs Willoughby. »Hab ich noch nie. Besonders den Großen. Wie heißt der noch mal?«
»Timothy Anthony Malachy Willoughby.«
»Genau, der. Den mag ich am allerwenigsten. Aber die anderen sind ebenfalls schrecklich. Das Mädchen quengelt ständig, und vor zwei Tagen hat sie sogar versucht, mich dazu zu bringen, einen hässlichen Säugling zu adoptieren.«
Ihrem Mann schauderte.
»Und dann sind da noch die beiden, die ich nie auseinanderhalten kann«, fuhr Mrs Willoughby fort.
»Die Zwillinge.«
»Ja, genau die. Wieso um Himmels willen müssen die so gleich aussehen?«
Mr und Mrs Willoughby können ihre Kinder nicht ausstehen.
Kein Wunder, dass die Abneigung längst gegenseitig ist und sich die vier Willoughby-Kinder, der zwölfjährige Timothy, die Zwillinge Barnaby A und B, zehn Jahre alt, sowie ihre sechsjährige Schwester Jane nichts sehnlicher wünschen als Waisen zu sein.
Vertrackt. Teuflisch. Gruselig
Als Ältester härtet Timothy seine jüngeren Geschwister mit Schikanen, demütigenden Spielen und Beschimpfungen gegen jede Gefühlsduselei ab, was ihn im Vergleich mit den Eltern sehr fürsorglich macht. Dass Mr und Mrs Willoughby überhaupt so viele Kinder bekommen haben, liegt daran, dass sie einander in ihrer Bösartigkeit sehr zugetan sind – Unfähigkeit oder Unwillen, Kinder groß zu ziehen, schützen leider nicht vor Schwangerschaft.
Als Erwachsener ist man noch kurz geneigt, die Eltern teilweise zu entschuldigen: Dass die Mutter nur widerwillig kocht, macht sie fast sympathisch. Auch dass der Vater Waffen hasst und Ehrfurcht ihn abstößt, sind nicht die schlechtesten Charakterzüge.
Doch spätestens als die Erwachsenen sich auf eine Reise begeben, das Haus zum Verkauf anbieten und ihre Kinder rausschmeißen lassen wollen, ist klar: Diese Eltern sind wirklich schrecklich! Oder wie die Kinder ganz richtig sagen: »Vertrackt. Teuflisch. Gruselig. Widerlich, absolut widerlich.«
Kinderbuchklassiker mit schrägem Humor
Das ist die perfekte Ausgangssituation für eine wunderbar altmodische Geschichte, die gleichzeitig zahlreiche Kinderbuchklassiker und Märchen karikiert.
Zwar sind es vor allem angloamerikanische Erzählungen wie Der geheime Garten, Die Abenteuer des Huckleberry Finn, James und der Riesenpfirsich oder Betty und ihre Schwestern, aber das Prinzip ist auch hierzulande verinnerlicht worden: Grundvoraussetzung ist fast immer, dass die Helden dieser Geschichten Waisen und auf sich allein gestellt sind.
Zur schrecklichen Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby gehören noch ein Findelkind und ein depressiver Millionär, dessen Frau und Kind von einer Lawine verschüttet wurden.
Autorin Lois Lowry, Jahrgang 1937, mischt exzellent Kinderbücher, die sie geprägt haben, mit erfrischender Direktheit und schrägem Humor: Zum Beispiel zeigt sie Amerikaner in der Schweiz, die genau jene Arroganz an den Tag legen, wie umgekehrt alle die Leute, die denken, sie könnten Englisch sprechen, weil es vermeintlich so simpel ist. »It makesch me vant to kotz«, ist zwar sehr treffend, aber kein Deutsch, nicht mal Schwyzerdütsch. Johanna Spyris Heidi wird von Tim beim Anblick eines späten Heimkehrers originell zusammengefasst: »Das ist der Ziegenpeter! Wir könnten ihm Lesen und Schreiben beibringen, und danach lächeln wir, umarmen uns und sagen irgendwelche religiösen Sachen.«
Kompetentes Kindermädchen
Es ist eine ziemlich gefühlskalte und kinderfeindliche Welt, in der sich nicht nur die Geschwister Willoughby behaupten müssen. Das Gegenteil der Realität vieler Kinder heutzutage, die sich vor ihren Helikoptereltern kaum retten können.
Und wenn wirklich alles ganz elend ist, dann geschieht manchmal ein Wunder – in diesem Fall in Gestalt einer handfesten, grundehrlichen und herzensguten Kinderfrau, die aber auf gar keinen Fall mit Mary Poppins verglichen werden will. »Diese Nachtschwärmerin, ich werde fast zuckerkrank, wenn ich nur an sie denke.« Womit sie P .L. Travers selbstbewusster und eigenwilliger Originalfigur Unrecht tut, aber das gleichnamige Musical dominiert eben das Image.
»Ich bin einfach ein kompetentes und professionelles Kindermädchen«, sagt sie über sich selbst.
Neben ihr ist die kleine Jane die zweite, anders starke und sehr intelligente weibliche Figur. Beide bieten den notorischen Dulderinnen von Unglück und sozialer Ungerechtigkeit wie Jane Eyre oder Polyanna Paroli.
Wie am Ende (fast) alle glücklich werden und was das mit Schokoriegeln, einem sehr unglücklichen Jungen in der Schweiz und der Tatsache, dass eine protestantische Nanny nicht ins Kloster gehen kann, zu tun hat, erfährt man in dieser schrecklich schönen und abscheulich witzigen Geschichte.
Lois Lowry: Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby (Und wie am Ende alle glücklich wurden), Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, dtv junior, 2019, 176 Seiten, ab 9, 12,95 Euro