Erhellendes Wiedersehen mit alten Bekannten


Disney

Habe ich eigentlich schon mal erzählt, dass ich Lexika liebe? Ich glaube, nicht. Aber es ist tatsächlich so, und das schon ziemlich lange, wie ich neulich beim Ausmisten feststellen konnte. Da fand ich zwei alte Kinderlexika aus den 1970er Jahre und ich erinnerte mich, wie gern ich darin geblättert, gelesen und geschaut habe. Leider musste ich diese beiden Bücher nun dem Wiederverwertungskreislauf zuführen, da es gewisse Einträge in den Werken gab, die heute nicht mehr akzeptabel sind (die Darstellung und Benennung von Menschen aus anderen Kontinenten und Ländern). Es war jedoch eine gute Erinnerung daran, wie sehr Wissen veraltet und wie sehr wir uns in unserer Weltsicht glücklicherweise weiterentwickeln.

Disneys Welt

Eine gewisse Reise in die Vergangenheit liefert mir nun auch das Who’s-Who-Kompendium zum Disney-Kosmos, war doch Schneewittchen der erste Film, den ich je im Kino gesehen habe. Seit fast fünfzig Jahren begleitet mich Disney also durchs Leben, hält schöne Momente bereit, aber auch ambivalente Gefühle, wenn es um die Darstellung von Mädchen und Frauen in den alten Filmen geht.
In Disneys Who’s Who kann man sich jedoch ganz wunderbar auf die Suche nach seinen Lieblingsfiguren machen, die Inhalte der Filme nachlesen, endlich die Namen der Figuren lernen und richtig zuordnen sowie Wissenswertes über die Verflechtung und die jeweiligen Anspielungen der 61 hier vorgestellten Zeichentrick- und Animationsfilme untereinander erfahren. Unter der Rubrik

Schon gewusst?

gibt es nämlich Fakten zu Figuren, Frisuren und Vorlagen. Welche Filme zitieren welche Figuren aus dem Disney-Kosmos? Tinkerbell, Entschuldigung, Naseweis taucht in jedem Vorspann auf … Eine Fundgrube für kleine und große Schlaumeier, wenn z. B. die Anzahl der animierten Haare der Figuren diskutiert werden. So wartet Sully aus der Monster-AG mit stattlichen 2.320.413 einzelnen Haaren auf, während Eiskönigin Elsa sich mit gerade mal 400.000 begnügen muss. Okay, sie ist nicht ganzkörper behaart … Also, ein Lexikon voll geballtem nützlichen und nutzlosen Wissen, wie ich es liebe.

Von gezeichnet zu animiert

Die Abbildungen der Filmfiguren bringen einem dann jedoch nicht nur die Held:innen der Kindheit wieder, sondern illustrieren zudem überaus anschaulich die technischen und stilistischen Entwicklungen der Trickfilme. Waren Schneewittchen oder Susi und Strolch noch zweidimensional gezeichnet, so geht es bei Findet Nemo schon annähernd dreidimensional zu.
Auch den Wandel der Frauenfiguren lässt sich hier beobachten, von der blonden (!) Blauen Fee aus Pinocchio, für deren Animation in den 1940er Jahren eine Hollywood-Schauspielerin Patin stand, zu den starken Prinzessinnen wie Tiana aus Küss den Frosch oder der entschlossenen Vaiana, die nicht als abgemagertes Etwas mit unmenschlich schmaler Taille daherkommt. Ja, Disney hat im Laufe der Jahre ordentlich Gegenwind für seine klischeehaften Darstellungen von Mädchen bekommen. Ich mag die Hoffnung jedoch nicht aufgeben, dass sich das weiterhin ändert und noch mehr Vielfalt in die Filme einzieht. Auch könnte Disney sicher mal queerer werden. Der Hashtag #GiveElsaAGirlfriend ist meines Wissens bis jetzt nicht umgesetzt worden. Es wäre die Gelegenheit gewesen.

Literarische Vorlagen

Doch noch etwas Anderes wird beim Vor- und Zurückblättern in diesem Kompendium deutlich. Neben den offensichtlichen literarischen Vorlagen wie Pinocchio von Carlo Collodi oder Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo bedient sich das Disney-Team immer wieder an der Literatur. So ist Jim Hawkins aus Der Schatzplanet dem Roman Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson entlehnt. Von Schneewittchen und Cinderella als Märchen-Ikonen mal ganz abgesehen. Hochkultur trifft hier auf Unterhaltung. Die sehr freien Umsetzung bei Disney werden Literaturliebende zwar nicht immer erfreuen, denn oft sind die Unterschiede erheblich, so wie ich das für Pinocchio auf Instagram vor ein paar Monaten angerissen habe.

Das kann man kritisieren und bemängeln, dennoch stecken im Disney-Kosmos unzählige großartige Geschichten und Figuren, seien es Prinzen und Prinzessinnen, Autos, Spielzeuge, Dinos oder Fische, Katzen und Dalmatiner, Micky-Mäuse oder ungarische weiße Mäuse-Damen, gemütliche Bären und hypnotisierende Schlangen, einäugige Glotzkowskis oder heldenhafte Hectors. Im Who’s Who begegnet man allen wieder, macht neue Entdeckungen, geht auf Zeitreise und stellt fest, welche Filme man unbedingt noch nachholen muss. Hier ist also der Disney’sche Kulturschatz aus fast 100 Jahren versammelt. Besser geht’s kaum.

Disney: Who’s Who – Das A bis Z der Disney-Figuren. Das große Lexikon
Das offizielle Standardwerk zu den Heldinnen und Helden aus den Disney-Filmen
, Übersetzung: Rahel Schumacher, Victoria Hahn, CHP Carlsen, 2021, ab 12, 32 Euro

Besser als Netflix

smith

Ich liebe das Kino. Ein Abend, ein Film, ein Erlebnis. Serien streamen ist dagegen überhaupt nicht mein Ding, massenhaft Folgen hintereinander wegzugucken bringt mir nichts. Keine Vorfreude, kein stimmungsvoller Rahmen.
Deshalb hat es bei mir einen negativen Effekt, wenn auf dem Umschlag von Diebische Elstern über dem Foto von drei hübschen, spitzbübisch lächelnden Mädchen der Netflix-Schriftzug prangt, mit den Worten „Ein Netflix Original“.
Zum Glück habe ich mich von dieser zweifelhaften Reklame nicht abschrecken lassen. Weil sich dahinter eine grandiose Geschichte verbirgt, erzählt aus drei Perspektiven.

Selbsthilfegruppe für Kleptomaninnen

Tabitha, Elodie und Moe sind zwischen 15 und 16 Jahre jung, gehen alle in die vorletzte Stufe der High School – und könnten kaum unterschiedlicher sein. Nur eins haben sie gemeinsam. Und deshalb begegnen sie sich in einer Selbsthilfegruppe für Kleptomanie, einem Programm, zu dem man sie verdonnert hat, nachdem jede von ihnen beim Klauen erwischt wurde.
Kirsten Smith hat dieses reizvolle Szenario entworfen, in dem die angehimmelte Schulschönheit Tabitha, die schüchterne Elodie und die leicht punkige, trotzige Moe aufeinandertreffen. Smith ist Drehbuchautorin, hat unter anderem die intelligenten, anspielungsreichen Collegekomödien Natürlich blond und 10 Dinge, die ich an dir hasse geschrieben, außerdem zwei Graphic Novels.
Diese Frau versteht es exzellent, in Bildern zu denken, vielschichtige Charaktere zu schaffen und faszinierend in Szene zu setzen. Das Verwirrende ist, dass man es sich total gut als Film vorstellen kann, obwohl sie durch ihre Erzählweise in wechselnden, tagebuchartigen Passagen genau gegen die elementare Regel für Drehbücher verstößt: Don’t tell, show. Also laber nicht langatmig über Gefühle, zeige sie durch Handlungen. Dem Trailer zur Serie nach wirkt diese auch ziemlich krawallig und etwas plump.

Klauen ist wie Sex

Verfilmt würde man beim filligranen, einfühlsamen Buchtext ein ständiges Voice over hören. »Doch die Wahrheit ist, durch die Angst fühlst du dich lebendiger, als wenn du einfach nur lebst.« So pointiert, geradezu philosophisch, beschreibt Elodie ihre Motivation aus Läden zu stehlen. Ihre Mutter ist an Krebs gestorben, ihr Vater hat zwei Jahre später eine deutlich jüngere Frau geheiratet, Elodie hat mit ihrer Stiefmutter wenig gemeinsam.
»Lebendiger, als wenn du einfach nur lebst«, einfach nur leben, weiterleben, das tut Elodie seit dem Tod der Mutter. Ihr Vater hat seinen Kummer mit sich allein ausgemacht und eine andere Art der Trauerarbeit gewählt. »Du spürst, wie sich deine Lunge weitet und dein Herz pumpt und die Blutkörperchen durch dich hindurch rauschen. Ich hab mal gelesen, dass Sex das Gleiche bewirkt. Aber da ich noch nie welchen hatte, muss ich mich wohl hiermit zufrieden geben.«

Spring Fling trifft Kaputte Suppe

Elodie weiß mit Worten umzugehen und schreibt wie Kirsten Smith Gedichte. Ganz nebenbei wird eine großartige Jugendbuchautorin zitiert und zwar Jenny Valentine mit ihrem Roman Kaputte Suppe, das zeugt echt von Stil. Und Stefanie Frida Lemke hat das amerikanische Original stimmig und schwungvoll übersetzt, nur einzelne, nicht übertragbare Begriffe bleiben stehen wie »Spring Fling«, einer dieser Schulbälle, wo dann doch alle dabei sein müssen.
Natürlich entkommt diese Geschichte nicht den typisch US-amerikanischen Eigenheiten, dieser teils aberwitzig oberflächliche und überflüssige Mist, der seit Jahren zu uns herüberschwappt und weshalb die Eintrittskarten für Abifeiern auch mal über 100 Euro kosten können.

Eher so mittelsexy

Smith nutzt diese Rahmen und Klischees raffiniert, zum Beispiel zeigt sie an der Platzverteilung in der Schulkantine Hierarchien und das Klassensystem innerhalb der Schülerschaft. Verloren haben die, die zu keiner Gruppe dazugehören und in keine Schublade passen, das Individuum zählt nicht viel.
So wie der eigentlich ganz attraktive, aber total uncoole Patrick Cushman, kein Sportheld, kein Emo, auch kein richtiger Nerd, sondern hoffnungslos normal. Er bietet Tabitha ein Kaugummi an. »Das ist Wassermelone. Sicher, dass du keins willst?« »Okay, sage ich und nehme widerwillig ein Kaugummi. Er grinst und ich frage: »Und, war es die Sache wert?« Überrascht sieht er mich an. »Ehrlich gesagt hab ich noch nie im Leben was geklaut. Es war total aus Versehen. Ich geb es jetzt nur als kriminelle Tat aus, um aufregend zu wirken.« »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich aufregend finde, vielleicht eher so mittelsexy?«

Schräg romantisch im Pyjama

Das ist erfrischend ehrlich und charmant, und dabei hat Patrick keine Ahnung, dass er mit einer absoluten Expertin spricht. Tabithas Motivation fürs Klauen lautet: »Leute verschwinden, aber Dinge bleiben.« Ein schöner Dialog, zu dem man leicht zurückblättern kann. Und nicht mühsam zurück zappen muss, sodass die Stelle, wenn man sie endlich gefunden hat, nur noch halb so nett ist.
Noch eine Besonderheit des Buchs: Die drei Perspektiven sind auch typografisch unterschiedlich gestaltet, sodass gar nicht jedes Mal der Name des jeweiligen Mädchens drüber stehen müsste. Elodies Texte lesen sich eher wie moderne Lyrik. Sie verliebt sich ausgerechnet in Moes Bruder Marc, schräg romantisch ist die nächtliche Begegnung der beiden, bei der sie einen Pyjama trägt – mehr wird hier nicht verraten.
Jetzt wird nichts mehr erzählt, Diebische Elstern muss man unbedingt selbst lesen. Viel besser als Netflix!

Kirsten Smith: Diebische Elstern, Übersetzung: Stefanie Frida Lemke, Carlsen, 2019, 272 Seiten, ab 13, 12 Euro

Ein Genre – tausend Welten

Hans ist ein netter Kerl. Aber zum Haareschneiden hat er kein Talent, wie Øyvind Torseter auf der ersten Seite seines neues Kinderbuchs Hans sticht in See sehr lustig zeigt, wochenlange bad hair days garantiert. Also verliert der sanftmütige Schlacks mit dem freundlichen Gesicht, einer Mischung aus Mumin und Elchkopf, gleich wieder seinen ersten Job. Kurz darauf ist auch noch seine Wohnung weg, seine Habe weggeschlossen und nur gegen 70.000 Kronen auslösbar.
»Ich brauchte etwas Starkes«, denkt Hans und geht in die Hafenkneipe, wo er sonst nie hinkommt. »Was Starkes« sind Chilinüsse – aber die sind aus! Hans hat ziemliches Pech.
In der sozialen Realität von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot beginnt der norwegische Autor und Zeichner Torseter seine charmante Neuerzählung von Hans im Glück. Seinen Hans, schüchtern und sanftmütig, kennt man von seiner Neuinterpretation der norwegischen Sage Der siebente Bruder. Vom Äußeren her erinnert er auch an sein niederländisches Pendant Krawinkel, bester Freund des Hundes Eckstein.
Weil Hans wirklich nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich von einem großspurigen Millionär anheuern, das größte Auge der Welt für dessen außergewöhnliche Sammlung zu suchen.

Keine Graphic Novel – hier wird über die Bilder erzählt

Auf einer stimmig kolorierten Doppelseite zeigt Torseter mit viel Liebe zum Detail zahlreiche Kuriositäten. So vielfältig und einfallsreich wie die Geschichte, die sich zu einer Odyssee und Liebesgeschichte entwickelt, sind auch die Bilder, mit denen der mehrfach ausgezeichnete Autor erzählt. Mal sind es nur ganz reduzierte Schwarzweißzeichnungen, gerade mal die Konturen mit leicht verwackeltem Strich angedeutet, dann malt er Tableaus von Kneipeninterieurs, Stadtansichten, Schiffsquerschnitten und Tiefseewelten. Dabei setzt Torseter Farbe dezent und meist flächig ein, um Stimmungen zu erzeugen. Als Innenarchitekt wäre er wohl auch sehr überzeugend.
Obwohl andere es so nennen, Hans sticht in See ist keine Graphic Novel, und zwar nicht nur, weil der Text deutlich unterliegt. Es ist die perfekte Mischung aus Comic und Kinderbuch, hier wird über die Bilder erzählt, Dialoge stehen in klassischen Sprechblasen.

Synthetischer Seemannspulli und Gin Tonic

Witzig ist die Mischung aus Märchen und Anspielungen an das Hier und Jetzt. Seinen Seemannspulli verschenkt Hans an einen frierenden Delfin, der sich sehr darüber freut, »obwohl es nur Synthetikwolle ist«. Gegen Skorbut auf große Fahrt mitgenommene Zitronen verschwinden im Gin Tonic, mit dem sich die blinde Passagierin unter Deck über Wasser hält. Es tauchen mythische Figuren auf wie ein sehr wütender Wal und ein gefährlicher Zyklop, wuschelig weiche Reisebegleiter spielen ebenso eine Rolle wie ein verlorenes Medaillon. Manchmal hat man das Glück direkt vor der (weichen, großen) Nase – und findet es aber erst nach langer Irrfahrt.
Hans sticht in See ist ein wunderbares Comic mit allem, was richtig gute Bildergeschichten brauchen.

Ein sprachlich und optisch höchst unterhaltsames Vergnügen ist der erste Band der neuen Comicreihe Atom Agency. Die Juwelen der Begum basieren auf einem dreisten Blitzüberfall 1949 an der Côte Azur, bei dem historisch verbürgt der Begum, Frau des Aga Khans, Schmuck im Wert von zwei Millionen Mark geraubt wurden. Der junge Atom, armenischstämmiger Sohn eines Polizeikommissars in Paris, wittert seine große Chance als Privatdetektiv. Gemeinsam mit Freundin und Assistentin Mimi sowie dem ehemaligen Catcher Jojo versucht er den Schmuck zu finden.

In der Tradition belgischer Comickünstler

So wohlbekannt das Genre, so klassisch sind auch die Zeichnungen. Olivier Schwartz ist ein Vertreter der Nouvelle Ligne claire, in der Tradition der großen belgischen Comickünstler wie Hergé und André Franquin, letzterer bekannt für Spirou und Fantasio. Deren Abenteuer setzt Schwartz gemeinsam mit dem Szenaristen Yann seit einigen Jahren fort. Und jetzt hat dieses kongeniale Duo ein schlaues und schlagkräftiges Trio ins Leben gerufen.
Schwartz‘ Bilder leben von der Detailtreue: in einer Autowerkstatt sind mehrere Michelinmännchen zu sehen, an der Wand hängt ein Plakat des Autorennens in Monaco von 1937. Das Bistro wird dekoriert mit Martini-Reklame, auf den Tisch kommt Ricard. Auf dem Boulevard wirbt ein Plakat für Orson Welles Der dritte Mann, Straßenkreuzer bekannter Automarken rauschen vorbei, historische Neonschriftzüge blinken an Fassaden.

Vielmehr ein Paradigmenwechsel

Yann setzt alles stimmig und spannend in Szene. Seine Dialoge sprühen vor Wortwitz, besonders die sehr selbstbewusste, kluge und unabhängige Mimi nimmt kein Blatt vor den Mund. Jojo, der die Ermittlungen finanziert, stellt klar: »Ich spiele auf keinen Fall den Muskelprotz, den Idioten mit ´ner Erbse im Schädel, der die Türen eintritt, den Frontmann, der die Bösen verhaut und den Strohkopf, der die Koffer schleppt! Nee! Njet! Nichts da!« Und schlägt »vielmehr einen Paradigmenwechsel vor«.
Ganz klassisch, ganz ohne Klischees. Nebenbei lernt der Leser einiges über die Résistance. Aus sehr unterschiedlichen Menschen mit diversen Motiven setzte sich die französische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer während des zweiten Weltkriegs zusammen. Kommunisten, aufrechte Franzosen, politisch Verfolgte und echte Gangster kämpften gemeinsam für ein freies Frankreich und die Demokratie. Alte Netzwerke und merkwürdige Konstellationen blieben bis weit in die Nachkriegszeit bestehen.

Résistance und Armenier, Geschichte und Familienkonflikt

Man erfährt zudem etwas über Armenier in Frankreich, von denen der als guter Bekannter von Atoms Vater genannte Aznavourian der bekannteste ist, der Chansonier und Schauspieler Charles Aznavour. Atom ist ein traditionell armenischer Vorname, den sein Vater ihm zu Schadenfreude seiner ihm wohlgesonnenen Onkel verpasst hat, zusammen mit der Forderung, ein »anständiges armenisches Mädchen« zu heiraten. Also auf keinen Fall eine wie die emanzipierte und freiheitsliebende Mimi. Hier vermischt sich sehr raffiniert Geschichte mit Fiktion, wahre Verbrechen mit Krimistory, Familienkonflikt mit Zeitkolorit. Ein toller Auftakt, der große Lust auf Fortsetzung macht.

spiderman

Spiderman – A New Universe ist das, wie mehrfach auf den ersten Seiten betont wird, offizielle Buch zum Film. Also das Buch zum Film, der das Anime zum Spielfilm zum Comic ist – Comic auf der Metaebene. Und ein Band aus der Sachbuchreihe für Erstleser aus dem Dorling-Kindersley-Verlag. Jetzt können ganz junge Superheldenfans das neue Universum des Spinnenmanns erkunden.
Aber was heißt ein Universum oder Spinnenmann?! Viel besser, auch Marvel erweitert sein Weltbild. Seit dem Animationsfilm von 2018 wissen wir: Es gibt nicht nur einen Spiderman. Sondern ganz viele. Es sind Frauen und Mädchen, junge Schwarze und düstere Typen vom alten Schlag, und Spider-Ham, in dessen Universum es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, dass Schweine Superhelden sind.

Helden und Schurken gibt es so viele wie Parallelwelten

Es gibt so viele Helden wie es denkbare Parallelwelten gibt. Und jede braucht Leute, die gegen das Böse antreten. Denn auch die gibt es weiterhin massenweise, da bleibt Marvel konservativ. Oder wie Toby Maguire in einer meiner Lieblingsszenen sagt, wenn er sich nach dem Kampf mit dem Sandmann auf einem Hochhaus sitzend den Sand aus den Schuhen kippt: »Wo kommen diese Typen nur alle her?«
Dieses Sachbuch erweitert auf originelle Weise das Weltbild ganz junger Leser_innen und lässt erfahrenere Leser (und Filmliebhaber_innen) die früher etwas eindimensionalen Superheldengeschichten mit neuen Augen sehen.

Drei Bücher, die zeigen, wie vielfältig und klug, erfrischend und lebendig das Comicgenre ist.

Øyvind Torseter: Hans sticht in See – Die Irrfahrt eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg 2019, 160 Seiten, ab 12, 26 Euro

Yann, Olivier Schwartz: Atom Agency – Band 1 Die Juwelen der Begum, Übersetzung: Marcel Le Comte, Carlsen 2019, 56 Seiten, ab 12, 12 Euro

Marvel: Spiderman – A New Universe. Das offizielle Buch zum Film, aus der Reihe Sach-Geschichten für Erstleser, Dorling Kindersley, 95 Seiten, ab 6, 7,95 Euro

Hommage auf eine Stadt und einen Regisseur

BerlinEr war irgendwie immer da, in meiner persönlichen Film-Historie: Wim Wenders. Heute wird der Meister 70.  Und pünktlich zu diesem Anlass ist die Graphic-Novel-Adaption seines Films Der Himmel über Berlin erschienen.
Ich habe tatsächlich drei bis vier Anläufe gebraucht, bis ich Wenders Film  aus dem Jahr 1987 vollständig gesehen und einigermaßen verstanden habe. Warum das so war, kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht muss man eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen, um alle Ebenen dieses Meisterwerkes ganz zu verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich immer noch nicht alle Facetten erfasst und begriffen. Dabei kann mir nun auch diese Graphic-Novel helfen, mit der ich in meinem langsamen Tempo die Geschichte und die philosophischen Texte („Als das Kind  Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war …“) nachlesen, nach-denken und genießen kann.

Das Autoren-Duo Sebastiano und Lorenzo Toma haben für die Comic-Adaption auf Basis des Drehbuches von Wim Wenders, Peter Handke und Richard Reitinger die Geschichte der Engel Damiel und Cassiel vor der Kulisse des heutigen Berlins neu inszeniert. Sie haben die Szenen mit Schauspielern nachgestellt, fotografiert und in Federzeichnungen verwandelt. Vor schwarzem Hintergrund, in zarten Strichen, die sich in manchen Panels Van-Gogh-mäßig am Himmel kringeln und drehen, lauschen die Engel den Gedanken der Menschen. Sie hören ihre Sorgen und Nöte, ohne selbst gesehen zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Damiel sich in eine Akrobatin verliebt, sein ewiges Dasein aufgibt und sich ins Leben und die Liebe stürzt. Denn erst die Vergänglichkeit macht aus jedem Augenblick des Lebens etwas ganz Besonders.

Mögen die Darsteller anders aussehen als im Film, so hält sich diese Adaption relativ dicht an das Drehbuch. Wer Zeit und Muße hat, kann eine komparatistische Abhandlung über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verfassen (ja, der Film-Dreh mit Peter Falk fehlt …). Es wird sicher ein Spaß.
Doch auch ohne den genauen Vergleich ist diese Graphic Novel eine Freude, denn das wirklich Besondere ist, dass die Engel im Berlin von heute umherstreifen. Sie stehen auf dem Brandenburger Tor, belauschen die Menschen nicht in der Bibliothek, sondern am Holocaust-Mahnmal. Die Curvy-Brache – die jetzt schon wieder ganz anders aussieht – und der Molecule Man in Kreuzberg dienen als Kulisse, genauso wie die Lohmühlenbrücke. War die in Wenders Film noch durch die Mauer versperrt, so ist jetzt der Weg frei, hinüber in den Osten. Berührend ist, dass auch der Potsdamer Platz selbst heute noch nicht aufzufinden ist, trotz alter Ampel und protzigen Neubauten.
Neben den Locations sind auch manche Gedankengänge und Dialoge den gegenwärtigen Realien angepasst – da sehnt man sich nach einer SMS oder diskutiert über Cent und Euro.

Vater und Sohn Toma haben mit ihrer Version von Der Himmel über Berlin eine doppelte Hommage geschaffen: auf die große Stadt und auf den großen Regisseur. So ist diese Graphic Novel sowohl ein Muss für Hauptstadt-Liebhaber, als auch für Verehrer von Wim Wenders. Zudem beweisen sie nonchalant, wie zeitlos und allgemeingültig Wenders Geschichte weiterhin ist.

Wim Wenders sei hiermit herzlich zum Geburtstag gratuliert und gedankt für unzählige wunderbare, rätselhafte und groovende Filme. Mögen noch viele folgen. Der Himmel über Berlin werde ich mir heute Abend noch ein weiteres Mal, mit anderen Augen, anschauen.

Sebastiano & Lorenzo Toma: Der Himmel über BerlinJacoby & Stuart, 2015,  200 Seiten, 24 Euro

Boy sucht Girl

margoSeit gestern läuft in den Kinos die zweite Verfilmung eines Romans von John Green, amerikanischer Jugendbuchautor, über den ich vor drei Jahren hier, hier und hier berichtet habe. Da war ich natürlich neugierig, ob es wieder so ein Erlebnis wird. Folglich habe ich mir Margos Spuren, der bereits 2010 auf Deutsch erschienen ist, in diesen Tagen im Doppelpack gegeben: erst die Lektüre, dann den Film.

Green erzählt, in der Übersetzung von Sophie Zeitz, – man muss schon fast sagen – gewohnt locker-flockig die Geschichte des 18-jährigen Quentin, der seit Kindertagen in seine gleichaltrige Nachbarin Margo verknallt ist. Doch Margo will eigentlich nichts von ihm wissen. Bis sie eines Nachts Quentin als Helfershelfer für eine Rachetour an ihrem Ex-Freund braucht. Gemeinsam cruisen sie durch Orlando, Florida, verteilen Frischfisch, scheuchen Margos Ex beim Sex auf, entfernen einem anderen Klassenkameraden eine Augenbraue mit Enthaarungscreme, brechen bei Seaworld ein.
Margo geht unerschrocken und cool vor, Quentin überwindet ein ums andere Mal seine Ängste – so sehr ist er von Margo fasziniert. In ihm wächst die Hoffnung, dass Margo nun endlich seine Liebe erwidert. Doch am nächsten Morgen ist Margo verschwunden.

margoEs folgt eine Spurensuche, bei der Quentin mit seinen Freunden Ben, Radar und Lacey schließlich von Florida im Auto in den Staat New York fährt, um Margo in Agloe – einer so genannten Papierstadt, weil sie nur als Kopierschutz auf Straßenkarten existiert – aufzugabeln. Green brennt während dieser Roadtour ein Feuerwerk an Witzen und Gags ab, die im Kino den Saal zum Lachen brachte. Details verrate ich hier natürlich nicht.

Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte ein scheinbar spaßiger Highschool-Roman und leicht naive Teenie-Liebe, die mir fast ein bisschen auf die Nerven ging, weil mir die Richtung nicht klar war, in die John Green will. Im Buch haben dann jedoch die letzten 20 Seiten die entscheidende Wendung gebracht.
Green ist ein Meister für Projektionen. Denn so wie Miles in Eine wie Alaska und Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter schickt er auch hier seinen Protagonisten Quentin auf die Suche. Quentin hat dabei eine ziemlich genaue, mystifizierte Vorstellung von der gesuchten Margo. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn es ist quasi unausweichlich, dass diese Suche nicht zu dem Ergebnis führt, das der Junge sich wünscht. Denn: „Die Vorstellung ist nie vollkommen“, schreibt Green (S. 325). Darin liegt die Lektion, die für Jugendliche vermutlich sehr viel bitterer ist als für Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung. Doch auch als Erwachsener kann man sich immer wieder gern an diese allzu menschliche Neigung erinnern, dass man etwas in geliebte Menschen hineinprojiziert, war gar nicht da ist, dass man sich Dinge wünscht, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass man sich selbst viel zu wichtig nimmt.

Der Film ist perfekt gemachtes, sehr unterhaltsames Popcorn-Kino, mit frischen Jungschauspielern – Cara Delevingne ist zweifellos ein verdammt schönes Mädchen mit einem sehr cool-ironischen Gesichtsausdruck, allerdings habe ich im Nachhinein den Eindruck, dass sie bis jetzt eben nur diesen einen drauf hat. Nun gut, es, nach ein paar Kurzauftritten in Fernsehfilmen und Serien, ist ihre zweite große Filmrolle. Das wird also noch. Eine echte Entdeckung allerdings ist Ben-Darsteller Austin Abrams, der das Green’schen Witzefeuerwerk mit jugendlichem Verve abbrennt. Ich wünsche ihm, dass er sein Talent noch in weiteren Filmen zeigen kann.

Natürlich gibt es im Film Veränderungen im Vergleich zum Buch. Doch die sind sinnvoll und dem Medium entsprechend angepasst, gedreht und verdichtet. Da könnte man kleinlich die Unterschiede aufzeigen, doch das bringt einen nicht weiter. Die Lektüre geht natürlich in die Tiefe, bieten über 300 Seiten eben mehr Platz für Details und Hintergründe, als knapp zwei Stunden Film-Spaß. Doch so ergänzen und bereichern die beiden Medien die Geschichte von Quentin und Margo: das Buch liefert die Hintergründe, der Film eine ganz spezielle Art von Happy-End.

Und den Anteil der echten John-Green-Fans im Kino erkennt man spätestens, wenn der junge Tankwart seinen Auftritt hat …

John Green: Margos Spuren, Übersetzung: Sophie Zeitz,

Ausgezeichnet mit dem Corine – Internationaler Buchpreis, Kategorie Kinder- und Jugendbuch 2010. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011,
Hanser, 2015, 336 Seiten, ab 13, 16,90 Euro (Hardcover-Neuauflage)

Das Buch zum Film: Reihe Hanser dtv Taschenbücher, 2015, 336 Seiten, 9,95 Euro

Liebe im Angesicht des Todes

schicksalEigentlich bin ich bei Sonnenschein ja am liebsten draußen, aber heute drängte es mich ins Kino. Am Nachmittag. Die Neugierde trieb mich hin. Denn lange angekündigt ist nun endlich Das Schicksal ist ein mieser Verräter in den deutschen Kinos angekommen.

Nachdem ich den gleichnamigen Roman von John Green vor zwei Jahren verschlungen und hier, hier und hier besprochen habe, war es für mich fast wie ein Pflichttermin, nun auch die Verfilmung zu begutachten. Als Vorbereitung hatte ich mir die Geschichte noch einmal per Hörbuch ins Gedächtnis gerufen. Gelesen von Anna Maria Mühe lieferte das mir einen ersten Vorgeschmack, wie es ist, wenn eine Geschichte das Medium wechselt, also vom selbst zu lesenden Text auf einmal von einer fremden Stimme vorgetragen wird.
Anfangs war ich von der Lesung etwas irritiert, da mir die Stimme von Anna Maria Mühe zu hoch und mädchenhaft vorkam. Doch zur 16-jährigen Hazel passt das ziemlich gut, und so war ich zum Schluss mit diesem Hörbuch sehr glücklich.

Mit dem Film ist es ähnlich, was die Gewöhnung angeht. Wie immer, wenn man nach einer Lektüre eigene Bilder von den Figuren, Settings und Szenen im Kopf hat, ist jede visuelle Umsetzung erst einmal ein kleiner Schock. Da John Green über die sozialen Netzwerke im vergangenen Jahr kontinuierlich von den Filmaufnahmen gebloggt, getwittert, getumblert, gevbloggt hat, konnte ich mich schon im Vorfeld an die beiden jungen Hauptdarsteller Shailene Woodley und Ansel Elgort gewöhnen. Woodley hätte ich aus The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten kennen können, war aber nicht so (wahrscheinlich hat mich damals George Clooney zu sehr von ihr abgelenkt). Elgort ist für mich ein ganz frisches Gesicht.
Frisch sind die Hauptdarsteller beide, und erfrischend ist es, wie sie wortlos miteinander kommunizieren, nur mittels hochgezogenen Augenbrauen oder Augenzwinkern. Woodley und Elgort haben das Zeug zu einem der tränenreichsten und dramatischsten Film-Liebespaare der Filmgeschichte zu werden. Das muss ich auf jeden Fall weiterverfolgen.
Auch sonst ist die Film-Version durchaus handfest. Regisseur Josh Boone hat sich so dicht es ging an die Vorlage gehalten, an einigen Stellen medienbedingt gekürzt und verändert, was aber durchaus vertretbar ist. So ist ein typischer Hollywood-Mainstream-Film entstanden, der zu Tränen rührt und keinen Zuschauer kalt lassen dürfte. Die deutsche Synchronisation entspricht in weiten Teilen dem Buchtext, was einen angenehmen Wiedererkennungseffekt birgt.

Was mir jedoch beim Schauen auf den Nerv ging, war das Phänomen, dass die visuelle Umsetzung extrem zum Kitsch neigt. Das, was im Buch völlig logisch daher kommt, nämlich das Hazel so unbedingt die Antworten ihres Lieblingsautor Peter Van Houten zu ihrem Lieblingsbuch haben will, wirkt im Film merkwürdig aufgesetzt. Da mag ich jetzt zu streng sein (schließlich ist dies ein Dreh- und Angelpunkt im Buch und gehört folglich im Film unbedingt dazu). Aber dennoch kam es für mich nicht richtig glaubwürdig rüber, dass ein krebskrankes Mädchen nichts Wichtigeres im Kopf hat als ein Buch (was ihr irgendwann auch Peter Van Houten, gespielt von Willem Dafoe, entgegenhält. Ich verbünde mich also gerade mit dem depressiven Säufer des Films … hoffentlich heißt das nicht, dass ich schon völlig verbittert bin …) Vermutlich ist es aber gerade das, was eine todkranke 16-Jährige umtreibt und so liebenswert macht. Und liebenswert ist Hazel allemal. Nur ob das eben einen ganzen Film trägt, das frage ich mich gerade. Vermutlich bin ich verdorben. Ich bin gespannt, wie andere das sehen werden.
Was mir allerdings echt zu dick aufgetragen war, war die Kuss-Szene im Anne-Frank-Haus. Auch hier hält sich der Regisseur sehr genau an die Buch-Vorlage. Doch wenn man es dort im Rausch des Lesens in sich aufsaugt, fast darüber hinwegfegt, so kann man im Film dem amerikanischen Pathos und dem Hollywood-Zuckerguss einfach nicht entkommen. Ich habe mich ein wenig gewunden. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen. Aber vermutlich würden sich dann die Hardcore-Fans beschweren. Okay … mit der Film-Kritik ist es ein Kreuz.

Menschen beim Sterben zuzusehen ist nicht schön. Nie. Nicht im echten Leben und im Film auch nicht. Das geht echt an die Nieren. Handelt es sich dann noch um Jugendliche, ist es noch eine Umdrehung härter. So etwas in eine Geschichte zu gießen ist schwierig, und John Green hat es mitreißend gemacht. Das dann noch in bewegte Bilder umzusetzen, die uns viel direkter treffen, ist eine Gratwanderung. Doch die ist hier – trotz meiner Einwände – mit Respekt und Liebe gelungen. Eben à la Hollywood. Aber mal ehrlich: Wer wünscht sich das nicht – die bedingungslose, große Liebe seines Lebens bis in den Tod … und um das geht es in Das Schicksal ist ein mieser Verräter, um nicht mehr und nicht weniger. Alles andere sind Nebenwirkungen des Lebens und des Sterbens.

 

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter – Filmausgabe, 5 Audio-CDs, Gekürzte Lesung. 369 Min., Übersetzung: Sophie Zeitz, Gelesen von Anna Maria Mühe, Silberfisch, 2014, ab 12, 14,99 Euro

Der Traum aller Mädchen

Es ist immer noch Grimm-Jahr, und eigentlich wollte ich die Märchen der Gebrüder nachgelesen haben. Aber selbst mein Vorhaben, jeden Tag nur ein Märchen zu lesen, konnte ich bis jetzt nicht umsetzen. Zu viele schöne aktuelle Geschichten haben mich abgehalten. Doch an einem konnte ich nicht vorbeigehen: Aschenbrödel. Besser gesagt an der Nacherzählung des tschechisch-ostdeutschen Märchenfilms Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.

Mit dem Film aus dem Jahr 1973 bin ich quasi groß geworden. Jährlich zu Weihnachten war das eine feste Verabredung vor dem Fernseher. Den Text kann ich quasi mitsprechen, die Musik mitsummen. Keiner der anderen osteuropäischen Märchenfilme der damaligen Zeit löst bei mir so ein heimeliges Gefühl aus, keiner hat mich je so in den Bann gezogen. Mag sein, dass das an der Ausstattung (vor allem den Roben von Aschenbrödel) lag, vielleicht auch an der eingängigen Musik, sicher aber habe ich Aschenbrödel bewundert: Die herzensgute, gerechtigkeitsliebende Heldin, aber auch die freche Göre, die sich einfach so auf Pferd und Bäume schwingt und vorlauten Jungs Paroli bietet und schließlich auf Augenhöhe mit ihrem Prinzen durch die Winterlandschaft ins Glück reitet. Allerdings nicht, ohne ihn vorher auf die Probe zu stellen. Diese Interpretation der Märchenfigur reizte mich, wurde zu einem lange unausgesprochenen Vorbild. Und auch heute, fast vierzig Jahre später kann ich mich an diesem Film immer noch nicht satt sehen.

Die schriftliche Nacherzählung dieses Films nun hat mich nicht nur aus diesen Gründen gereizt. Ich war neugierig, ob dieses Experiment gelingt und ob ich mein Gefühl für diesen Film auch in dem Buch wiederfinden würde. Und es ist gelungen. Ganz entzückend sogar. Maike Stein erzählt in schlichten, präzisen Sätzen Aschenbrödels Erlebnisse nach. Sie wählt dafür eine manchmal etwas antiquierte Sprache, die in diesem Kontext jedoch perfekt passt, ohne sonderbar zu wirken. Die Szenen des Films tauchten sofort vor meinem inneren Auge auf, die Original-Dialoge aus dem Drehbuch klangen vollkommen vertraut.

Jetzt könnte man meinen: Okay, alles ganz dicht und treu am Film – wozu das Ganze? Doch damit entgeht einem etwas ganz Entscheidendes. Maike Stein schafft es nämlich, die Geschichte um Dimensionen zu bereichern, die der Film nicht liefern kann: Einfühlsam und wohldosiert schildert sie die Gedanken der Protagonisten, ihre Wünsche und Zweifel. Aschenbrödel, die sich um die liegengebliebene Arbeit sorgt, der Prinz, der vor Wonne „Wolken im Kopf“ hat und kein Wort mehr herausbekommt, während er mit der schönen Unbekannten tanzt. Zudem dufte sie auch noch nach Wald. Und Aschenbrödel spürt die Wärme der royalen Haut …  Diese synästhetischen Einschübe, die Gerüche, Temperaturen oder Materialien schildern, bereichern den inneren Film des Lesers ganz ungemein. So wird diese Nacherzählung zu einem schönen Beispiel, was gut geschriebene Texte können, und wozu das Medium Film immer noch nicht in der Lage ist. Umgekehrt gilt das natürlich auch, denn der Soundtrack, der sich im Laufe der Lektüre zwar in meinem Hirn ganz automatisch einstellte, weil ich den Film eben in- und auswendig kenne, fehlt selbstverständlich. Von den Bildern natürlich ganz zu schweigen.

Zum Glück gibt es im Innenteil des Buches einen – wenn auch viel zu kurzen – Bildteil mit Fotos aus dem Film. Ein schönes Wiedersehen, nur leider ohne die Ballszene, wo Aschenbrödel dem Prinzen das Rätsel aufgibt. Irgendwie ist die für mich eine Schlüsselszene – ohne dass ich das wirklich begründen könnte. Wahrscheinlich bin ich auch hier wieder nur ungemein in ihr zartrosa Kleid verliebt …

Für die große Fangemeinde des Films ist dieses Buch im Grunde ein Muss. Es lässt sich hervorragend vorlesen, und so kann die Faszination dieser Aschenputtel-Version von Fan-Müttern an die kommenden Liebhaberinnen auch beim gemeinsamen Lesen weitergeben werden. Für junge Leserinnen, die den Film noch nicht kennen, ist das Buch ein leicht zu lesendes Märchen, das zum Träumen, Reiten, Klettern und selbstbewusst Sein animiert – doch welches Mädchen kennt diesen Film nicht???

Maike Stein: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, nach dem Märchenfilm von Václav Vorlicek und Frantisek Pavlicek, Ravensburger Buchverlag, 2012, 173 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Burn-out im Vatikan

Eigentlich soll es hier ja um Bücher gehen, doch jetzt muss ich kurz einen Exkurs in die Filmkritik machen. Ich bin nämlich noch ganz beseelt von Nanni Morettis neuestem Werk: Habemus Papam. Den dämlichen deutschen Untertitel lasse ich hier weg, denn der trifft das Ganze so gar nicht.

Moretti schildert die Nöte eines frisch gewählten Papstes (Michel Piccoli). Kurz vor dessen Auftritt auf dem Vatikanischen Balkon erleidet der Pontifex Maximus einen Nervenzusammenbruch und macht sich aus dem Staub. Auch der herbeigerufene Psychoanalytiker (Nanni Moretti) kann, obwohl er mit dem Fluch, der Beste zu sein, geschlagen ist, nichts ausrichten.  Schließlich irrt das Kirchenoberhaupt durch Rom, auf der Suche nach seiner Bestimmung.

Nanni Moretti, feinsinniger Komiker und genauer Beobachter, bringt Menschlichkeit und Volleyball in den Vatikan und die Psychoanalyse an ihre klerikalen Grenzen. Der zarte Humor freut die Zuschauer, und doch bleibt einem das Lachen oftmals im Halse stecken, zu überwältigend sind die Seelenqualen des Hauptdarstellers. Irgendwann musste ich dann doch das Taschentuch zücken …

Michel Piccoli als Papst wider Willen ist einfach großartig. Ständig möchte man ihn trösten, ihm seine Freiheit und Ruhe verschaffen. Gleichzeitig stößt er den Zuschauer auf seine eigenen Zwänge und die Vereinnahmung durch die Umwelt. Man leidet mit – und ist ergriffen von der Auflösung.

Nanni Moretti hingegen, der den Kardinälen zwischendrin die Symptome einer Depression aus der Bibel vorliest, macht mir immer wieder Hoffnung, dass Italien doch noch nicht ganz verloren ist.

Habemus Papam, Regie: Nanni Moretti, Italien/Frankreich 2011, 102 Minuten.