Liebe über Grenzen

Maike Stein

Die Feierlichkeiten zum 30-jährigen Mauerfall sind beendet, da bietet sich ein Blick darauf an, was dem Ganzen 28 Jahre zuvor vorausgegangen ist: der Mauerbau.
Maike Stein erweckt mit ihrem Roman Ein halber Sommer das Berlin von 1961 wieder zum Leben. Die Stadt ist in Sektoren unterteilt, als sich Marie aus dem sowjetischen Sektor und Lennie aus dem amerikanischen im Westteil der Stadt zufällig über den Weg laufen.
Die beiden sind sofort voneinander fasziniert, sind überwältigt, dass sie in der konservativ-düsteren Nachkriegsgesellschaft einen Menschen gefunden haben, der genauso tickt wie sie selbst.

Verwundete Familien

Heimlich treffen sie sich in einer Kriegsbrache voller Brombeergestrüpp, schreiben sich Briefchen oder treffen sich bei Lennies Tante im Osten. Beide kommen aus unvollständigen Familien, Lennies Vater ist im Krieg gefallen, Maries Mutter hat den Mann und die zwei Kinder verlassen. Und beide Mädchen sollen nach dem Wunsch des verbliebenen Elternteils etwas werden, was sie nicht wollen. Lennie soll Friseurin werden wie die Mutter, Marie Theaterschneiderin. Verständnis und familiärer Rückhalt ist bei diesen Konstellationen für beide nicht zu erwarten. Zumal Maries Vater einen guten Posten in der DDR-Administration bekleidet und viel auf den Sozialismus hält. Dass Marie regelmäßig in den Berliner Westen fährt, weiß er nicht und würde es auch nicht gutheißen.

Getrenntes Glück

In den ersten Wochen ihrer Liebe können die beiden noch annähernd ungehindert über die Grenze, sie verbringen heimlich ein Wochenende zusammen – denn ihre Liebe können sie nicht offen ausleben.
Im Sommer schließlich riegelt die DDR die Grenze ab, zieht Stacheldraht, baut die Mauer, verweigert ihren Bürgern die Ausreise und kappt die Telefonverbindungen. Lennie und Marie drehen schier durch – jede auf ihrer Seite der Mauer. Und dennoch hoffen sie, glauben an sich und an ihre Liebe, obwohl sie keinen Kontakt zueinander haben. Beide suchen Wege, wie Marie Ostberlin verlassen kann, doch die Grenzkontrollen werden immer schärfer …

Liebenswerte Figuren

Maike Stein hat mit Marie und Lennie zwei wunderbar liebenswerte Frauenfiguren erschaffen, die in ihrer Komplexität die Dramen des Lebens spiegeln und dadurch sehr viel Identifikationspotential liefern. So läuft Lennie am liebsten in den Klamotten ihres verstorbenen Vaters herum, möchte Uhrmacherin werden wie ihre geliebte Tante Ilse und sucht nach Nachrichten zum ungeklärten Tod des Vaters. Marie hingegen berlinert überaus sympathisch, ersetzt dem jüngeren Bruder quasi die Mutter und kann daher nicht so einfach alles stehen und liegen lassen, als sie Lennie kennenlernt. Die Figuren sind, so wie jeder von uns, in ihren eigenen Welten eingebettet und doch Teil des großen Ganzen. In diesem Fall ist es die Stadt Berlin in der heißen Phase des kalten Krieges, die so quasi zur dritten Hauptfigur wird.
Mit gekonnt gesetzten Wendungen hält Maike Stein bei dieser queeren Liebesgeschichte die Spannung wirklich bis zur letzen Seite und zeigt gleichzeitig, wie grausam die DDR-Regierung durch die Mauer das Leben der Menschen beeinflusst und beschädigt hat, wie sehr die Menschen leiden mussten. Erst dieses Wissen macht den Mauerfall dann zu diesem großen Glücksfall, der er gewesen ist.

Irreführendes Cover

Man darf sich bei dieser perfekten Geschichte nur nicht vom knallbunten Cover leiten lassen, das durch die Graffitis eher den Eindruck vermittelt, hier würde etwas aus den 1980er-Jahre erzählt. Ein bisschen mehr Zeitkolorit bei der Grafik hätte ich persönlich passender und authentischer gefunden. Ich frage mich dann immer, ob man jugendlichen Leserinnen so etwas nicht zumuten mag (von den ökonomischen Gründen mal abgesehen). Die Bilder, die Maike Stein mit ihrem stimmigen Text in mir erzeugt hat, sehen auf jeden Fall ganz anders aus und liefern mir quasi meinen eigenen inneren Film. Und den mag ich sehr gern!

Maike Stein: Ein halber Sommer, Oetinger, 2019, 270 Seiten, ab 14, 19 Euro

Gemeinsam stark

lesbeVor einiger Zeit habe ich hier das neueste Buch von David Levithan besprochen und mir gewünscht, des möge doch auch mal Geschichten über lesbische Liebe geben. Das Thema lag wohl in der Luft, denn nun ist Maike Steins Roman Wir sind unsichtbar im Handel.

Stein erzählt die Geschichte von Valeska und Inken. Die 15-jährige Leska färbt sich gern die Haare bunt, betreibt einen Blog und weiß, dass sie Mädchen liebt. Ihrer Familie hat sie das bereits gesagt, nur hat sie noch nie ein Mädchen geküsst. Nichts würde sie gerade lieber tun.
Auf einer Party darf sie schließlich beim Flaschendrehen Inken küssen – was eigentlich so gar nicht nach Leskas Geschmack ist, hält sie Inken doch für „traumalos“, also langweilig und uninteressant. Der Kuss ist zwar nicht besonders weltbewegend und doch merkt Leska, dass hinter Inkens makelloser Fassade etwas steckt. Die beiden Mädchen nähern sich an und verlieben sich, was jedoch – laut Inken – niemand erfahren darf. Mehr und mehr entdeckt Leska, was Inken verbirgt und was ihr Angst macht. Da Leska ein Mädchen der Tat ist und Ungerechtigkeiten nicht ausstehen kann, greift sie schließlich zu Farbe und Pinsel, um Inken zu rächen …

Maike Stein schafft es mitreißend, die zarte und zerbrechliche Gefühlswelt zweier Jugendlichen in Worte zu fassen. Leskas Blogeinträge wechseln mit der Ich-Erzählung von Leska und kurzen Flashbacks auf Inkens Erfahrungen. In den kurzweiligen Kapiteln trifft so der Mut der einen auf die Angst der anderen, doch gemeinsam entsteht schließlich eine große Liebe. Gleichzeitig macht Stein klar, dass es in unserer ach-so-vermeintlich liberalen und aufgeklärten Welt alles andere als liberal zugeht. Die Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlich Liebenden sind immer noch tief in unzähligen Köpfen unserer Gesellschaft verankert. Es ist nicht selbstverständlich, schon gar nicht als Teenager-Mädchen sich offen zu seiner sexuellen Identität zu bekennen, solange sie eben nicht hetero ist. Den jungen Leserinnen dieses Buches jedoch macht Maike Stein durch ihre Heldinnen mit allen Mitteln Mut, zu sich und ihrer Liebe zu stehen. Sie macht Mut, sich zu zeigen, sichtbar zu werden, nicht nur in den entsprechenden Communitys oder am CSD, sondern tagtäglich. Das ist nicht einfach, erfordert Überwindung und viel Kraft. Doch Leska zeigt Inken, dass es immer wieder auch Menschen gibt, die zu einem stehen und helfen.

Und so sollte es im wahren Leben viel öfter sein.

Maike Stein: Wir sind unsichtbarMitarbeit: Kathrin Schüler, Oetinger Taschenbuch, 2015, 192 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Kampf um Emanzipation und Liebe

robin jenniferKonventionen sind eine zweischneidige Angelegenheit. Wir brauchen sie, damit die Gesellschaft und das alltägliche Miteinander funktioniert. Gleichzeitig können Konventionen zu einer Qual werden, wenn sie uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben und zu lieben haben. Dass die gesellschaftlichen Konventionen sich wandeln, ist in so einem Fall ein Glück – nur geht das nicht von heute auf morgen. Gegen die Konvention, die vor hundert Jahren in Deutschland geherrscht haben, kämpfen die Mädchen Robin und Jennifer in dem gleichnamigen Roman von Elke Weigel.

Robin wächst als Halbwaise in Cannstadt auf, Jennifer lebt mit Mutter und Stiefvater in Paris. Beide Mädchen fühlen sich zu ihren jeweiligen Freundinnen hingezogen. Robin leidet dabei in dem eher kleinbürgerlichen Umfeld der väterlichen Apotheke mehr als Jennifer, da in dem reichen Haus ihrer Mutter Künstler und Andersdenkende der Pariser Bohéme ein und aus gehen.
Aus den beiden Perspektiven der Mädchen erzählt Weigel die jeweilige Emanzipation. Robin weigert sich schrittweise, die herrschenden Konventionen zu akzeptieren. So lehnt sie das Korsett ab, das ihr die Tante aufdrängen will, stattdessen entscheidet sie sich für Reformkleider und probiert die Herrenklamotten ihrer Brüder. Zudem setzt sie sich durch, dass sie zunächst auf ein Gymnasium, dann auf die Universität gehen kann. Mit Hauswirtschaft und Heiratsplänen hat Robin, im Gegensatz zu ihrer Freundin Paula, nichts am Hut. Als Robins Vater stirbt, zieht Robin zu einem Bruder auf den Monte Verità im Schweizer Tessin.
Jennifer hingegen muss miterleben, wie ihr Stiefvater die Mutter verprügelt und sich, als Jennifer älter wird, an sie heranmacht. Befreiung findet Jennifer im Tanz. Unterstützt von der Mutter lernt sie den so genannten Neuen Tanz. Auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ehemann zieht es auch Jennifer und ihre Mutter in die Alternativkolonie.
Dort begegnen sich die nun schon erwachsenen Mädchen  …

Elke Weigel hat mit Robin & Jennifer einen Coming-of-age-Roman der besonderen Art vorgelegt. Eingebettet in die Zeit von 1900 bis 1913 zeigt sie sehr anschaulich, wie schwer es die Mädchen damals hatten, sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten, wenn sie zum einen mehr wollten als nur einen Ehemann und Kinder und zum anderen gleichgeschlechtlich liebten. Sowohl den Kampf gegen äußere Hindernisse – die lesbische Liebe wurde als krankhaft angesehen – als auch gegen die inneren Ängste – Robin ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Jennifer und der Gefahr, die durch den Paragrafen 175 damals Homosexuellen drohte – schildert Weigel fesselnd und mitfühlend.
Die Kulisse des Monte Verità und der alternativen Lebenswelt, die sich die Bewohner dort erschaffen hatten, illustriert zudem den historischen Hintergrund der Entstehung des Ausdruckstanzes, der auf seine Art zur Befreiung eines Menschen von quälenden Konventionen beitragen kann.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass Elke Weigel von den Anfängen der Frauenbewegung und der Emanzipation erzählt und das, ohne die Umstände zu verklären oder zu mystifizieren. Die Leserinnen bekommen einen hervorragenden Eindruck, wie mühsam es war, für das zu kämpfen, was uns heute selbstverständlich erscheint (von momentanen Gegenbewegungen möchte ich hier grad nicht reden…). Der Blick in die Vergangenheit weist dabei in mehrfacher Hinsicht in unsere Gegenwart, denn das Erkämpfte sollten wir uns um nichts in der Welt wieder nehmen lassen. Gleichzeitig macht die Geschichte von Robin & Jennifer deutlich, dass es nie einfach war, für sein persönliches Glück, seine Überzeugungen und seine Liebe zu kämpfen. Dabei befruchten sich persönlicher und öffentlicher Kampf immer auch gegenseitig und sind vermutlich ohne einander nicht denkbar. In diesem Sinne macht Weigels Roman Mut, sich in den Kampf zu stürzen.

Elke Weigel: Robin & Jennifer, Konkursbuchverlag, 2014, 347 Seiten, 10,90 Euro

 

Die Vielfalt des Lebens, die große Liebe und der eigene Weg

levithanGibt es jemanden, der nicht schon mal gern das Leben eines anderen führen wollte? Wohl kaum. Zu unzufrieden sind wir oftmals mit unserem Dasein, zu neidisch auf andere, zu neugierig, zu ehrgeizig. Doch wir sind in unseren Körper und unserem Alltag gefangen und müssten uns schon ziemlich anstrengen, mal ein komplett anderes Leben zu führen.

David Levithan hat in seinem neuen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal ein Gedankenspiel auf sehr faszinierende Weise zu Ende gebracht.
Die 16-jährige Hauptfigur A wacht jeden Morgen im Körper eines anderen Jugendlichen auf. Jeden Morgen muss er/sie sich an einen neuen Körper, neuen Namen, neue Eltern, neues Haus, neue Umgebung, neue Stadt, neue Schule, neue Freunde oder Feinde gewöhnen. A kann diese Fähigkeit nicht steuern, er/sie weiß nie, wo er/sie am nächsten Morgen aufwacht. Eine Kontinuität gibt es nicht, und wenn dann liegt sie nur im beständigen Wandel.

Eines Tages jedoch steckt er/sie im Körper von Jason, der mit Rhiannon zusammen ist, das Mädchen jedoch nicht besonders gut behandelt. A verliebt sich auf den ersten Blick in sie und verbringt mit ihr einen wunderschönen, perfekten Tag am Meer. Von da an versucht A, so oft es geht zu Rhiannon zu fahren und sie zu treffen. Da A jedoch ständig in einem anderen Körper, also mal als Junge, mal als Mädchen, auftaucht, muss er/sie das Mädchen irgendwann in sein Geheimnis einweihen.
Natürlich will sie von diesem merkwürdigen Zustand zunächst nichts wissen, zu absurd ist diese Vorstellung. Doch je öfter A bei ihr auftaucht, umso schneller erkennt sie A in den verschiedenen Körpern wieder. Nach und nach kommen sich die beiden immer näher …

David Levithan hat hier vermutlich eine der ergreifendsten und ungewöhnlichsten Liebesgeschichten geschrieben, die mir je untergekommen ist. Trotz der fantastischen Idee ist man bereits auf den ersten Seiten gebannt, akzeptiert das Konstrukt, das Levithan im Laufe der Geschichte genau erklärt, uneingeschränkt. Und während man bei der Lektüre immer mehr mit A und Rhiannon liebt und leidet und sich fragt, wie das alles enden soll, erfährt man so ungemein viel über das Leben von anderen Menschen. Denn A steckt zwar immer wieder in neuen Körpern, kann aber durch seine Erfahrung und durch seinen „Außenblick“ ganz genau erkennen, ob der jeweilige Mensch gut oder schlecht zu seinem Körper ist.

Dabei sind zunächst das Geschlecht und die Hautfarbe völlig egal. A ist mal Junge, mal Mädchen, mal schwul, mal lesbisch, mal transsexuell, er/sie ist weiß, Afroamerikaner_in, Latino/a. Es ist egal, seine Liebe zu Rhiannon bleibt unverändert, und auch ihr ist es zunehmend egal.
Aber A ist daneben auch schon mal alkoholabhängig, übergewichtig, depressiv. Er/Sie steckte eines Tages im Körper eines Mädchens, das Suizidabsichten hegt. Normalerweise hält A sich aus den Leben der anderen heraus, hinterlässt keine Spuren, nur vage Erinnerungen an den Tag, an dem er/sie Besitz von dem/der anderen genommen hat. Doch in diesem Fall hält er/sie sich nicht heraus.
Ansonsten wertet A die körperlichen Zustände der anderen Jugendlichen nicht, zeigt aber, dass die Missachtung des eigenen Körpers ihn/sie an diesen Tagen in Schwierigkeiten bringt. Allerdings macht er/sie auch immer klar, dass es für diese Missachtung durchaus Gründe gibt, die eigentlich hinterfragt werden müssten. Doch dafür reicht sein/ihr einer Tag im Leben eines anderen nicht aus.
In diesen Betrachtungen findet man eine große Liebe und jede Menge Respekt für alle möglichen Lebensarten, bis A schließlich klar macht, dass man sich von den Dingen, die man vielleicht erstrebt und haben möchte auch wieder frei machen muss, um schließlich seinen ganz eigene Weg zu gehen.

Sprachlich gilt bei diesem Roman mein ganzer Respekt der Übersetzerin Martina Tichy, die es ganz fein verstanden hat, dieser ungewöhnlichen Figur A eine geschlechtsneutrale Sprache zu geben. Da A ja eigentlich körperlos ist und daher auch kein festgelegtes Geschlecht hat, kann er/sie nicht durch männliche oder weibliche Sprache charakterisiert werden. Ich-Erzähler_in A, der/die nie eine Aussage macht, welches Geschlecht ihm/ihr am liebsten wäre, erzählt daher in einer so unaufdringlichen und neutralen Sprache, das man als Leser nie stolpert oder gar zu einer Schlussfolgerung über As Geschlecht genötigt wird. Das im Deutschen so hinzukriegen ist eine große Kunst.

Letztendlich sind wir dem Universum egal ist ein großartiger Roman über die Liebe, das Leben und den Respekt, den man allen Arten von Liebe und Leben entgegenbringen sollte. Und das kann man in der heutigen Zeit nicht oft genug zum Ausdruck bringen.

David Levithan: Letztendlich sind wir dem Universum egal, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer FJB, 2014, 400 Seiten, 16,99 Euro

 

Die Poesie der sexuellen Identitätsfindung

liebeDas Leben ist verwirrend. Umso mehr, wenn man nicht den angeblichen Standards der Gesellschaft entspricht. Das erfährt die 17-jährige Anna im Roman Über ein Mädchen. Geschrieben hat die zarte Coming-of-age-Geschichte die Australierin Joanne Horniman.

Anna arbeitet in einer Buchhandlung und verliebt sich bei einem Popkonzert in die Musikerin Flynn. Der Zufall will, dass sich die beiden Mädchen in einem Cafè wiedersehen. Vorsichtig nimmt Anna Kontakt auf – denn sie weiß schon seit ihrem sechsten Lebensjahr, dass sie Mädchen mag. Und Flynn ist genau der Typ Frau, der Anna fasziniert: Sie ist geheimnisvoll, frech, unberechenbar. Die Mädchen kreisen umeinander, Flynn kommt und geht, wie es ihr gefällt. Anna ist verunsichert, denn sie kann sich bei Flynn nicht sicher sein, ob sie wirklich bei ihr bleiben wird, während sie selbst immer mehr für die andere brennt und ohne sie nicht mehr sein kann.

Nach und nach erzählt Anna ihre Familiengeschichte – die Eltern sind geschieden, die kleine Schwester Molly ist lernbehindert, der Vater hat eine neue Freundin, in die sich Anna anfangs auf den ersten Blick verliebt hatte. Über allem hadert die Ich-Erzählerin mit ihrer „Andersartigkeit“. Sie wagt es nicht, sich der Mutter anzuvertrauen.
Stattdessen bekommt sie Depressionen, liest Finnigans Wake, trägt schwarz, überwirft sich mit ihrem besten Freund und fühlt sich völlig verloren. Sie schmeißt das Studium und zieht in eine andere Stadt – wo sie schließlich Flynn trifft und neue Zuversicht schöpft. Doch Flynn ist nicht nur das leidenschaftliche Mädchen mit der Gitarre, sondern auch sie hat ihre dunklen Seiten.

Auf den ersten Seiten von Über ein Mädchen dachte ich zunächst noch, das würde eine ganz normale Teenie-Liebesgeschichte, wenn auch mit gleichgeschlechtlichen Vorzeichen. Doch dann entwickelte der Roman so einen feinen Sog, dass ich das Buch nicht mehr weglegen konnte. Annas Verunsicherung und Einsamkeit gehen einem ans Herz, ihre Sehnsucht nach Nähe und der schönen, selbstbewussten Flynn nimmt man ihr sofort ab. Und man begreift, was für eine Gefühlsverwirrung diese Liebe auslöst, die nicht dem Mainstream entspricht. Doch genau das macht das allen Leserinnen, die noch auf der Suche nach ihrer sexuellen Veranlagung sind, Hoffnung und Mut.

Über ein Mädchen ist ein leiser, poetischer Roman, sehr feinfühlig von Brigitte Jakobeit übersetzt. Dabei handelt der Roman weniger von einem Coming-out als viel mehr von einem Coming-of-age, bei dem sich die jugendliche Verwirrung der Protagonistin sich auch am Ende nicht legt, denn ihr Weg in die Zukunft eröffnet sich gerade erst. Anna lernt die Liebe kennen, erfährt aber auch, dass Abschied und Tod genauso zum Leben dazu gehören wie Leidenschaft. Dass sich Anna in ein Mädchen verliebt bzw. lesbisch ist, ist hier zunächst einmal eine ganz persönliche Lebensvariante, die in der Gesellschaft durchaus akzeptiert wird. Joanne Horniman moralisiert in keiner Zeile, sondern zeigt die homosexuelle Liebe als gleichberechtige, selbstverständliche Art von Zuneigung und Miteinander. So wird dieses Buch zu einem gelungenen Beispiel, wie man zu sich selbst und seiner sexuellen Identität findet.

Joanne Horniman: Über ein Mädchen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carlsen Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 14, 15,90 Euro